VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2016

FOKUS ▶ SYMBOL
Ein System mit 47 000 Zeichen
Ihre Ursprünge reichen ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurück, ihre Möglichkeiten sind
schier unerschöpflich und ihre Kenntnis ist das Eintrittsbillett in eine höhere Laufbahn. Die
chinesische Schriftsprache diente trotz ihrer Komplexität während Jahrhunderten als
einziges Kommunikationsmittel aller chinesischen Volksgruppen. Heutige Schüler sollten
zwischen 1000 und 4000 Zeichen beherrschen.
Dr. Ulrike Unschuld, Sinologin
Geben Sie einem Kind einen Stift, einen
Pinsel in die Hand, und malen Sie mit
ihm einfache chinesische Zeichen. Welche
Konzentration und Faszination ist da zu
spüren, wenn z. B. bildhafte Zeichen wie
Sonne und Erde, Mond und Baum,
Mensch und Mund auf dem Papier entstehen.
Wie leicht doch Lesen und Verständigung
da erscheinen! Doch die Begeisterung
schwindet, sobald sich zeigt, wie viel
Mühe es kostet, diese Schrift zu erlernen.
Chinesische Kinder sind damit von früh
auf konfrontiert. Die chinesische Schrift
war in der Vergangenheit die Voraussetzung
für einen lukrativen Beamtenposten
im Staat. Sie bleibt auch heute unverzichtbar.
Ganz allgemein dient die Schrift dazu,
Dinge zu dokumentieren und Verbindungen
herzustellen – zum Beispiel zwischen
Menschen an verschiedenen Orten und
über kürzere oder längere Zeiten. Die Anregung,
sich der Zeichen zu bedienen,
deutete ein chinesischer Gelehrter vor
1000 Jahren so: «Obwohl die Schriftzeichen
von Menschen entworfen wurden,
haben sie ihren Ursprung doch in der
Natur. Phoenix und Vogel haben Linienmuster
… Die [Schriftzeichen] sind nicht
von Menschen gemacht, sondern nur
nachgeahmt worden.»
kann ein und dasselbe Schriftzeichen in
einem bestimmten Kontext eine bestimmte
Aussage vermitteln und in einem anderen
Umfeld eine ganz andere.
Im Gegensatz dazu steht die alphabetische
Schrift, in der ein einzelner Buchstabe
keine Bedeutung hat. Im 20.Jahrhundert,
besonders in den 1950er Jahren unter
Mao Zidong, hat es mehrfach Bestrebungen
gegeben, die Zeichenschrift durch
eine alphabetische Schrift zu ersetzen.
Das erwies sich als nicht sinnvoll. China
ist ein riesiges Land mit vielen unterschiedlichen
Völkern, Dialekten und Sprachen.
So wie ein Mathematiker aus Norwegen
mit einem Kollegen aus Portugal
an der Tafel über die Formelsprache wortlos
kommunizieren kann, so können
Chinesen ihre unterschiedlichen Dialekte
in einer einheitlichen Schrift ausdrücken.
Sie mögen sich über das gesprochene Wort
nicht verstehen, aber über die geschriebenen
Zeichen ist das sehr wohl möglich. Die
gedruckte Zeitung, das gedruckte Buch
Schrift als Bindemittel
Die chinesische Schrift benutzt Zeichen,
so genannte Ideogramme. Dabei entspricht
jedes Zeichen einer Silbe. Diese
kann eine Bedeutung haben und einem
Wort entsprechen. Es können aber auch
Worte aus mehreren Zeichen und Silben
gebildet und damit neue Bedeutungen
erschlossen werden. Die Möglichkeiten
sind unerschöpflich. Im Laufe der vergangenen
zwei Jahrtausende sind zudem fast
jedem einzelnen Schriftzeichen mehr als
eine, manchmal unübersehbar viele Bedeutungen
zugesprochen worden. So
Nr. 5 Oktober 2016
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