VSAO JOURNAL Nr. 5 - Oktober 2016
Symbol Gastroenterologie / Nephrologie Vaterschaftsinitiative IFAS
Symbol
Gastroenterologie / Nephrologie
Vaterschaftsinitiative
IFAS
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Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte<br />
Association suisse des médecins-assistant(e)s et chef(fe)s de clinique<br />
Associazione svizzera dei medici assistenti e capiclinica<br />
INHALT<br />
Titelbild: aebi, grafik & illustration, bern<br />
EDITORIAL<br />
5 Die Zeichen erkennen<br />
POLITIK<br />
7 20 Tage Vaterschaftsurlaub<br />
9 Auf den Punkt gebracht<br />
WEITERBILDUNG /<br />
ARBEITSBEDINGUNGEN<br />
10 Alle gewinnen!<br />
12 Auch für Arbeitgeber attraktiv<br />
<strong>VSAO</strong><br />
14 Sektion Bern<br />
14 Sektion Solothurn<br />
15 Sektion St. Gallen / Appenzell<br />
16 <strong>VSAO</strong>-Rechtsberatung<br />
PERSPEKTIVEN<br />
39 Fachserie – Aktuelles aus der Gastroenterologie<br />
– Die Fäkale Mikrobiota-<br />
Transplantation: Renaissance der Yellow<br />
Dragon Soup<br />
41 Aus der «Therapeutischen Umschau»:<br />
Renale Hypertonie – die Rolle der Nieren<br />
bei der Entstehung der arteriellen<br />
Hypertonie und die Nieren als Endorgan<br />
46 Das erlesene Objekt: Arabische Diätetik<br />
im klösterlichen Einband<br />
MEDISERVICE <strong>VSAO</strong>-ASMAC<br />
48 Briefkasten<br />
50 Impressum<br />
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
18 Die Welt als Vorstellung<br />
22 Symbole in der Grabmalkultur<br />
25 Der Code der Pharaonen<br />
28 Unscheinbar, aber aussagekräftig<br />
29 Lebensversicherung für Daten<br />
31 Ein System mit 47 000 Zeichen<br />
35 Von Bildzeichen und Zeichenschrift<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
3
EDITORIAL<br />
Foto: Severin Novacki<br />
Catherine Aeschbacher<br />
Chefredaktorin <strong>VSAO</strong>-Journal<br />
Die Zeichen erkennen<br />
«Was unterscheidet den Menschen vom Schimpansen?», fragte<br />
einst der Berner Chansonier Mani Matter. Und kam zum<br />
Schluss, dass der Mensch Hemmungen habe. Wir wissen aber,<br />
dass Menschen oft viel hemmungsloser mit ihren Artgenossen<br />
umgehen als Tiere. Genauso wenig ist der Werkzeuggebrauch<br />
ein Unterscheidungsmerkmal. 1964 zeigte Jane Goodall auf,<br />
dass frei lebende Schimpansen systematisch Werkzeuge benutzen,<br />
und bestätigte so diverse frühere Beobachtungen. Was<br />
also unterscheidet uns? Es ist die hochentwickelte Sprache, die<br />
Möglichkeit, abstrakte Dinge zu benennen oder einem Objekt<br />
eine zusätzliche Bedeutung zu verleihen. Der Blitz etwa ist ein<br />
Naturphänomen, galt aber lange als Zeichen eines zornigen<br />
Gottes. Die europäische Kunst ist geprägt von Symbolen. Man<br />
denke nur an die Pflanzen auf mittelalterlichen Bildern, die<br />
nebst ihrem dekorativen Charakter auf christliche Tugenden<br />
verweisen oder als Sinnbilder für Maria, Jesus oder Heilige<br />
stehen. Heute haben wir die Fähigkeit teilweise verloren, diese<br />
Zeichen zu entschlüsseln. Dennoch sind Zeichen und Symbole<br />
nicht aus unserem Leben verschwunden, wie wir im Schwerpunkt<br />
zeigen. Neue Formen entstehen, zum Beispiel die Emojis.<br />
Daneben befassen wir uns mit dem Codieren von Datenmengen<br />
oder dem Decodieren von Hieroglyphen. Symbole auf<br />
Grabmälern interessieren uns ebenso wie Landschaftssymbole<br />
in den Schweizer Berggebieten oder chinesische Schriftzeichen.<br />
Es ist ein unmissverständliches Zeichen der Zeit, dass die Vereinbarkeit<br />
von Familie und Beruf ein wachsendes Bedürfnis<br />
ist, und zwar nicht nur von Frauen. Auch Männer möchten<br />
mehr Zeit für die Familie haben und sich aktiv an der Betreuung<br />
der Kinder beteiligen. Arbeitnehmervereinigungen und<br />
weitere interessierte Organisationen haben eine Initiative für<br />
einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub lanciert (s. Politikteil).<br />
Der <strong>VSAO</strong> unterstützt dieses Anliegen und bittet deshalb, den<br />
beiliegenden Unterschriftenbogen zu beachten. Die Zeichen<br />
der Zeit erkannt hat auch das Kantonsspital Graubünden, das<br />
verschiedenste Massnahmen für eine familienfreundliche<br />
Arbeitsumgebung eingeleitet hat. Nachzulesen ist dies in der<br />
Rubrik Weiterbildung/Arbeitsbedingungen.<br />
In Zürich findet vom 25. bis zum 28. <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong> die IFAS<br />
statt. Die zweijährlich stattfindende Messe für das Gesundheitswesen<br />
bietet einen Überblick über das aktuelle Angebot für die<br />
stationäre und ambulante Behandlung.<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
5
6 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
POLITIK<br />
20 Tage Vaterschaftsurlaub<br />
Heute steht einem frischgebackenen Vater in der Schweiz gleich viel bezahlte freie Zeit zu wie<br />
bei einem Wohnungswechsel: ein Tag! Das findet auch der <strong>VSAO</strong> unhaltbar und unterstützt<br />
deshalb die Volksinitiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub». Diese fordert 20 Tage<br />
bezahlten Vaterschaftsurlaub – flexibel und tageweise innert eines Jahres nach der Geburt.<br />
Lisa Loretan Krummen, Projektassistentin Politik und Kommunikation <strong>VSAO</strong><br />
Nico van der Heiden, Stv. Geschäftsführer/Leiter Politik und Kommunikation <strong>VSAO</strong><br />
Da es die nationale Politik abgelehnt hat,<br />
selbst einen moderaten Vorschlag für zwei<br />
Wochen Vaterschaftsurlaub weiterzuverfolgen,<br />
will nun eine breit abgestützte<br />
Allianz von Arbeitnehmerorganisationen<br />
mit einer Volksinitiative in dieser – auch<br />
für viele unserer Mitglieder – wichtigen<br />
Frage zu einer fortschrittlichen Lösung<br />
gelangen. Der <strong>VSAO</strong> unterstützt die Initiative<br />
für einen vierwöchigen Vaterschaftsurlaub.<br />
Vereinbarkeit von Beruf<br />
und Familie<br />
Der <strong>VSAO</strong> engagiert sich für eine bessere<br />
Vereinbarkeit des Arztberufs mit Privatleben<br />
und Familie. Gerade für Ärztinnen<br />
und Ärzte im Spital ist es schwierig, ihre<br />
lange Arbeitswoche (sehr häufig im<br />
Schichtbetrieb) mit dem Wunsch, für die<br />
eigene Familie da zu sein, in Einklang zu<br />
bringen. Der <strong>VSAO</strong> bietet seinen Mitgliedern<br />
deshalb verschiedene Dienstleistungen:<br />
Via Onlineformular auf der Website<br />
kann die KiTa-Vermittlung in Anspruch<br />
genommen werden. Die Unterstützung bei<br />
der zeitraubenden Suche nach freien Plätzen<br />
in Kindertagesstätten ist mittlerweile<br />
seit mehreren Jahren erprobt. Gleiches gilt<br />
für das Coaching-Angebot, das der <strong>VSAO</strong><br />
seinen Mitgliedern kostenlos anbietet. Es<br />
beinhaltet eine individuelle telefonische<br />
Beratung seitens einer Fachperson der<br />
Fachstelle UND. Im Rahmen dieses<br />
Coachings wird die berufliche und familiäre/private<br />
Situation reflektiert. Gestützt<br />
darauf werden Lösungs- und Handlungsansätze<br />
aufgezeigt mit dem Ziel, Arztberuf<br />
und Familie/Privatleben besser vereinbaren<br />
zu können.<br />
Auch auf Seiten der Arbeitgeber versucht<br />
der <strong>VSAO</strong>, Veränderungen zu initiieren.<br />
Die Liste von bewährten Beispielen aus<br />
Spitälern und Kliniken, welche auf unserer<br />
Website unter «Good Practice» aufgeführt<br />
ist, wächst erfreulich. Diese Beispiele<br />
zeigen auf, dass es möglich ist, die nötigen<br />
familienfreundlichen Strukturen zu<br />
schaffen. Informationen hierzu finden<br />
sich nicht zuletzt in der <strong>VSAO</strong>-Broschüre<br />
«Familienfreundliche Massnahmen im<br />
Spital».<br />
Vaterschaftsurlaub<br />
Die Geburt eines Kindes ist ein grosser<br />
Schritt und verändert jede Familie. Nach<br />
der Geburt wird der Vater zu Hause dringend<br />
benötigt; er unterstützt die Mutter,<br />
pflegt das Neugeborene und betreut vielleicht<br />
auch dessen Geschwister. Er übernimmt<br />
Verantwortung. Das wird heutzutage<br />
von Vätern auch erwartet und ist<br />
Die Initiative im Überblick<br />
Die Initiative will nach dem Vorbild des Mutterschaftsurlaubs einen bezahlten Vaterschaftsurlaub<br />
einführen. Dieser soll gemäss Initiativtext die Dauer von mindestens vier Wochen haben. Das entspricht<br />
in der Regel einer Abwesenheit von 20 Arbeitstagen. Es soll – im Gegensatz zum Mutterschaftsurlaub<br />
– der Grundsatz gelten, dass der Vaterschaftsurlaub flexibel bezogen werden kann und zwar innert<br />
eines Jahres nach der Geburt des Kindes. Die Flexibilität gilt sowohl für den Zeitpunkt des Bezugs wie<br />
auch für seine Aufteilung: So soll es auch möglich sein, den Vaterschaftsurlaub als einzelne freie Arbeitstage<br />
zu beziehen. Dahinter steht die Überlegung, dass der Vaterschaftsurlaub auch mit Teilzeitarbeit<br />
verbunden werden kann (z.B. Reduktion von 100% auf 80% während 20 Wochen). Eine Möglichkeit<br />
ist auch, beispielsweise gleich nach der Geburt zwei Wochen Vaterschaftsurlaub am Stück und die<br />
Resttage einzeln zu beziehen. Die mindestens 14 Wochen Mutterschaftsurlaub bleiben unangetastet.<br />
sinnvoll: Denn die Fähigkeit zu kompetenter<br />
Vaterschaft ist biologisch angelegt.<br />
Ob dieses Potenzial aktiviert wird, ist aber<br />
– stärker als bei Müttern – abhängig von<br />
der frühzeitigen Übernahme von Verantwortung<br />
und Betreuungsaufgaben für das<br />
Kind.<br />
90 Prozent der Schweizer Männer wollen<br />
mehr Zeit und Flexibilität, um mehr für<br />
ihre Kinder da sein zu können. 1 Doch die<br />
Rahmenbedingungen stimmen nicht:<br />
Auch und gerade Männer haben Probleme,<br />
Beruf und Familie unter einen Hut zu<br />
bekommen!<br />
Heute gibt es in der Schweiz keine gesetzliche<br />
Regelung für einen Vaterschaftsurlaub.<br />
Üblicherweise wird den frischgebackenen<br />
Vätern ein freier Tag gewährt,<br />
wobei einzelne Arbeitgeber die Zeichen der<br />
Zeit erkannt haben und freiwillig über<br />
dieses gesetzliche Minimum hinausgehen.<br />
Männer stehen heute also verstärkt in der<br />
Verantwortung für die Kinderbetreuung,<br />
treffen aber nicht mehr zeitgemässe Rahmenbedingungen<br />
an. So sind die Väter<br />
auf den Goodwill des Arbeitgebers angewiesen.<br />
Wer es sich leisten kann und das<br />
Einverständnis des Arbeitgebers hat,<br />
nimmt unbezahlten Urlaub. Der grosse<br />
Rest muss heute Ferien nehmen. Die Alternative<br />
ist, bei der Geburt und/oder in der<br />
Zeit nach der Geburt nicht präsent zu sein.<br />
Der <strong>VSAO</strong> ist der Ansicht, dass diese Regelung<br />
nicht im Sinne seiner Mitglieder ist<br />
und geändert werden sollte.<br />
Das Initiativprojekt<br />
Eine breite zivilgesellschaftliche Allianz<br />
von Frauen-, Männer-, Familien- und<br />
1 Meier-Schatz, Lucrezia (2011). Was Männer<br />
wollen. Studie zur Vereinbarkeit von Beruf<br />
und Privatleben. Pro Familia Schweiz<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
7
POLITIK<br />
Arbeitnehmendenorganisationen lancierte<br />
deshalb am 24. Mai eine Volksinitiative<br />
für vier Wochen Vaterschaftsurlaub (siehe<br />
Kasten). Der Geschäftsausschuss des <strong>VSAO</strong><br />
hat einstimmig beschlossen, die Initiative<br />
zu unterstützen: Unsere Mitglieder sind in<br />
einem Alter, in dem häufig eine Familie<br />
gegründet wird. Auch als Familienväter<br />
(und -mütter) wollen viele unserer Mitglieder<br />
mit einem hohen Pensum weiterarbeiten.<br />
Damit trotzdem eine Auszeit<br />
nach der Geburt des eigenen Kindes möglich<br />
ist, unterstützen wir die Idee, dass<br />
künftig alle Männer vier Wochen flexiblen<br />
Vaterschaftsurlaub erhalten sollen. Umso<br />
motivierter werden unsere Mitglieder anschliessend<br />
in den Beruf zurückkehren.<br />
Auch unsere weiblichen Mitglieder profitieren<br />
von der Initiative, wenn sie in der<br />
anspruchsvollen Zeit nach der Geburt eines<br />
Kindes von ihrem Partner noch mehr<br />
als heute unterstützt werden können. Der<br />
<strong>VSAO</strong> bittet Sie deshalb, den Initiativbogen,<br />
der diesem Journal beiliegt, zu unterschreiben<br />
und kostenlos zurückzuschicken.<br />
Herzlichen Dank für Ihre Unterstützung!<br />
■<br />
8 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
POLITIK<br />
Auf den PUNKT gebracht<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen<br />
Arbeiten Sie auch im spannendsten Beruf,<br />
den Sie sich vorstellen können? Was Sie<br />
tun, zeigt Wirkung, verschafft Linderung,<br />
gibt Zuversicht. Wir als Ärzte sind engagiert,<br />
motiviert und bilden uns stetig weiter.<br />
Wir stellen unser Können und Wissen<br />
in den Dienst unserer Mitmenschen. Und<br />
nach getaner Arbeit sind wir nicht selten<br />
erschöpft – aber im Wissen, dass sich der<br />
Einsatz gelohnt hat.<br />
Gut, vielleicht verbringen auch Sie nicht<br />
so viel Zeit mit Patientinnen und Patienten,<br />
wie Sie möchten – dafür umso mehr<br />
vor dem Computer. Nicht zuletzt darum<br />
habe ich wie viele von Ihnen hin und wieder<br />
den Eindruck, unser Beruf sei zu bürokratielastig<br />
geworden.<br />
Doch unsere Arbeitsbedingungen und die<br />
zu erfüllenden Regularien sind nicht gottgegeben,<br />
sondern von Menschenhand<br />
geschaffen. Primär sind die Politik, die<br />
Versicherer und die Spitäler oder andere<br />
Arbeitgeber für die Vorgaben zuständig,<br />
die wir zu erfüllen haben – dabei ist unser<br />
Kernauftrag, für das Wohl unserer Patientinnen<br />
und Patienten zu sorgen!<br />
Doch es hat keinen Sinn, «die Faust im<br />
Sack» zu machen, die Verantwortung auf<br />
andere («die in Bern oben») zu schieben<br />
oder sich entnervt abzuwenden. In unserem<br />
direktdemokratisch aufgebauten<br />
Rechtstaat sind diese Entscheide Sache<br />
der Allgemeinheit, nicht bloss einiger<br />
weniger Berufspolitiker oder Spitalleitungen.<br />
Nicht jede, die mal die Schule besucht<br />
hat, ist eine gute Bildungspolitikerin<br />
und nicht jeder, der schon mal erkältet<br />
war, ein guter Gesundheitspolitiker.<br />
Fachkompetenz ist ein zentraler Faktor<br />
in den entsprechenden Entscheidungsgremien.<br />
Und über diese Fachkompetenz<br />
verfügen Sie, geschätzte Kolleginnen und<br />
Kollegen.<br />
Wir alle sollten Verantwortung übernehmen,<br />
in unserem Arbeitsumfeld und darüber<br />
hinaus. Leider trauen sich viele<br />
unserer Kolleginnen und Kollegen aus<br />
Sorge vor Karrierenachteilen oder vor<br />
Strafaktionen nicht, sich aktiv für Verbesserungen<br />
einzusetzen. Ich verstehe das.<br />
Doch ich habe im Berufsalltag andere,<br />
auch sehr positive Erfahrungen gemacht.<br />
Selbst <strong>VSAO</strong>-skeptische Chefärzte und<br />
Vorgesetzte schätzen meinen Einsatz zugunsten<br />
von Assistenzarzt- und Oberarztkolleginnen<br />
und -kollegen durchaus,<br />
auch dann, wenn sie meine Meinung<br />
nicht teilen.<br />
Unser Berufsstand, unser Verband und<br />
nicht zuletzt unsere Patientinnen und<br />
Patienten sind darauf angewiesen, dass<br />
Sie sich engagieren, liebe Kollegin, lieber<br />
Kollege. Ob in der Politik, im Spital, in der<br />
Hausarztpraxis oder innerhalb unseres<br />
Verbandes. Wir brauchen Sie, heute mehr<br />
denn je.<br />
■<br />
Beste bern-zürcherische Grüsse sendet<br />
Angelo Barrile<br />
Hausarzt, Nationalrat,<br />
Vizepräsident <strong>VSAO</strong> Schweiz<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
9
WEITERBILDUNG / ARBEITSBEDINGUNGEN<br />
Alle gewinnen!<br />
Das Kantonsspital Graubünden hat es geschafft: Ärztinnen und Ärzte, welche dort angestellt<br />
sind, schätzen die Attraktivität ihres Arbeitgebers als hoch ein. Dies ist ein zentrales Element<br />
in der Unternehmensstrategie «KSGR House». Erreicht wurde dieses Ziel nicht zuletzt<br />
dank der vom <strong>VSAO</strong> publizierten Broschüre «Familienfreundliche Massnahmen im Spital».<br />
Patrizia Kündig, Assistenzärztin Anästhesie, Präsidentin <strong>VSAO</strong> Sektion Graubünden<br />
Das Kantonsspital Graubünden will als<br />
«attraktive Arbeitgeberin» wahrgenommen<br />
werden und hat das in seiner Unternehmensstrategie<br />
an zentraler Stelle festgehalten.<br />
Dieses Ziel steht aber nicht nur<br />
auf dem Papier, sondern seit Anfang <strong>2016</strong><br />
wird konkret darauf hingearbeitet. Dabei<br />
stützt sich die Arbeitsgruppe, welche speziell<br />
für die Schaffung geeigneter Umsetzungsmassnahmen<br />
gegründet wurde, seit<br />
Beginn auf die <strong>VSAO</strong>-Broschüre «Familien<br />
freundliche Massnahmen im Spital».<br />
Die Arbeitsgruppe besteht aus fünf Mitgliedern,<br />
die aus diversen ärztlichen Fachdisziplinen<br />
und verschiedenen Kaderstufen<br />
rekrutiert wurde. Sie legen den Fokus<br />
bewusst nicht ausschliesslich auf familienfreundliche<br />
Massnahmen, sondern<br />
beziehen auch Aspekte mit ein, welche<br />
allen ärztlichen Mitarbeitenden punkto<br />
Arbeitszufriedenheit zugutekommen. Bei<br />
der Wahl der Teilnehmer der Arbeitsgruppe<br />
wurde denn auch Wert darauf gelegt,<br />
möglichst unterschiedliche Altersgruppen<br />
und Lebensphasen einzubeziehen.<br />
Bedürfnisse ermittelt<br />
Zunächst analysierte die Arbeitsgruppe den<br />
Status quo. Zu diesem Zweck erfolgte einerseits<br />
eine elektronische, selbstredend anonyme<br />
Umfrage, die an alle Assistenz- und<br />
Oberärztinnen und -ärzte des Hauses gesendet<br />
wurde. Gefragt wurde nach deren<br />
Meinung zur Teilzeitarbeit und zur Vereinbarkeit<br />
von Karriere und reduziertem Arbeitspensum.<br />
Dass die Antworten deutlich<br />
den Wunsch nach teilzeitfreundlichen Arbeitsbedingungen<br />
aufzeigten, ist wenig<br />
überraschend. Das entspricht auch der vom<br />
Kantonsspital durchgeführten Erhebung<br />
zur Mitarbeiterzufriedenheit, welche ebenfalls<br />
als Datenquelle hinzugezogen wurde.<br />
Basierend auf den Umfrageergebnissen<br />
ermittelte die Arbeitsgruppe folgende<br />
Themenfelder: Teilzeitarbeit, Karriereplanung,<br />
zeitgemässe Wissensvermittlung,<br />
Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie<br />
Wiedereinstieg ins ärztliche Berufsleben.<br />
Die Gruppe erarbeitete schliesslich sieben<br />
Massnahmen, welche sie Ende 2015 der<br />
Geschäftsleitung des KSGR präsentierte.<br />
Die Vorschläge wurden wohlwollend aufgenommen<br />
(siehe Kasten).<br />
Umsetzung kontrollieren<br />
Seit <strong>2016</strong> sind die Massnahmen in Kraft.<br />
Sie wurden in den diversen ärztlichen<br />
Departementen vorgestellt und werden<br />
Feedback-Pool<br />
(D)ein kleiner, aber wertvoller<br />
Beitrag für eine gute<br />
Weiter- und Fortbildung<br />
Um im Bereich der ärztlichen Weiter- und Fortbildung Meinungen<br />
unserer Mitglieder zu einem Thema einholen zu<br />
können, wurde der Feedback-Pool eingerichtet.<br />
Macht mit, und helft dem <strong>VSAO</strong> damit, den Horizont im Ressort<br />
Weiterbildung etwas zu erweitern und Überlegungen<br />
breiter abzustützen.<br />
Weitere Infos unter www.vsao.ch und Anmeldung per E-Mail<br />
an bertschi@vsao.ch.<br />
Deine Erfahrung zählt!<br />
Visitationen bilden ein Element für das Überprüfen und Sicherstellen<br />
der Weiterbildungsqualität an einer Weiterbildungsstätte.<br />
Ein Visitationsteam, bestehend aus Vertretern des<br />
SIWF, der entsprechenden Fachgesellschaft und des <strong>VSAO</strong>,<br />
besucht die Klinik; vor Ort können die Umsetzung des Weiterbildungskonzeptes<br />
und die Verhältnisse überprüft werden. Ziel<br />
ist es, im Sinne einer positiv-konstruktiven Rückmeldung<br />
mögliche Verbesserungspotenziale zu erkennen und zu nutzen.<br />
Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte, die gerne für den<br />
<strong>VSAO</strong> Visitationen begleiten möchten, melden sich bei Béa trice<br />
Bertschi, unserer Sachbearbeiterin für Weiterbildung/Visitationen<br />
im <strong>VSAO</strong> (bertschi@vsao.ch).<br />
10 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
WEITERBILDUNG / ARBEITSBEDINGUNGEN<br />
Strategische Massnahme 1: Strukturierte Karriereplanung auf allen hierarchischen Ebenen<br />
unabhängig vom Arbeitspensum. Aktueller Status: in Umsetzung innerhalb der Departemente.<br />
Strategische Massnahme 2: Teilzeitarbeit wird in allen Departementen im Grundsatz, sichtbar<br />
beispielsweise in der Stellenbeschreibung, unterstützt. Es werden flexible, familiengerechte Arbeitszeitmodelle<br />
im Rahmen der lokalen Möglichkeiten umgesetzt. Aktueller Status: in Umsetzung innerhalb<br />
der Departemente mit Unterstützung des Personaldienstes.<br />
Strategische Massnahme 3: Der Wiedereinstieg von ehemaligen Mitarbeiterinnen nach Schwangerschaft<br />
hat eine hohe Priorität und wird ausdrücklich gefördert. Karriereplan und Wiedereinstieg<br />
werden vor dem Mutterschaftsurlaub konkret geplant. Aktueller Status: individuelle Umsetzung innerhalb<br />
der Departemente.<br />
Strategische Massnahme 4: Orts- und zeitunabhängige interne Fortbildungen stehen allen<br />
Mitarbeitenden elektronisch zur Verfügung. Aktueller Status: Der Aufbau einer elektronischen Fortbildungsbibliothek<br />
ist auf Projektstatus aktiv.<br />
Strategische Massnahme 5: Das Spital stellt ausserfamiliäre Betreuungsmöglichkeiten für alle<br />
interessierten Mitarbeitenden zur Verfügung. Die benötigten Kinderkrippenplätze werden nötigenfalls<br />
erweitert. Aktueller Status: Die Anzahl Betreuungsplätze wurde erhöht, die Wartezeiten für Mitarbeitende<br />
werden monitorisiert.<br />
Strategische Massnahme 6: Bevorzugte Parkplatzregelung für Mitarbeitende mit Kleinkindern,<br />
um die familienexterne Betreuung zu erleichtern. Aktueller Status: Es wurden zusätzliche Parkplätze<br />
geschaffen, aktuell besteht kein weiterer Handlungsbedarf.<br />
Strategische Massnahme 7: Das Kantonsspital Graubünden unterstützt die Eltern mit einem<br />
überobligatorischen Elternurlaub. Für die Mütter übernimmt das KSGR 90 Prozent der Lohnkosten<br />
(gesetzliches Minimum 80%) während des Mutterschaftsurlaubs, und mit diesem kann schon 14 Tage<br />
vor dem errechneten Geburtstermin gestartet werden. Für die Väter wurde der bezahlte Urlaub von<br />
3 Tagen auf 5 Arbeitstage (= 1 Woche) erhöht. Aktueller Status: umgesetzt und im neuen Personalreglement<br />
verankert.<br />
laufend umgesetzt. Die Arbeitsgruppe hat<br />
sich auch zum Ziel gesetzt, die Umsetzung<br />
der einzelnen Massnahmen zu begleiten.<br />
Konkret erkennbar sind:<br />
• die weitgehend flächendeckende Ausschreibung<br />
von Stellenangeboten mit<br />
Teilzeitoptionen,<br />
• die assistierte Karriereplanung für ärztliche<br />
Mitarbeiter jeder Kaderstufe,<br />
• die Sicherstellung von familienexterner<br />
Kinderbetreuung mit Unterstützung<br />
des KSGR,<br />
• die logistische Unterstützung mittels<br />
gesicherter Parkplätze für Eltern von<br />
Kleinkindern<br />
• sowie der verlängerte übergesetzliche<br />
Vaterschaftsurlaub.<br />
In Arbeit ist derzeit die Umsetzung zur<br />
Regelung von zeit- und ortsunabhängiger<br />
Weiterbildung mittels elektronischer Speicherung<br />
von internen Fortbildungsveranstaltungen.<br />
Die Arbeitsgruppe hat sich weiter zum Ziel<br />
gesetzt, die Kontrolle der Umsetzung sicherzustellen,<br />
um die Nachhaltigkeit der<br />
oben genannten Massnahmen zu gewährleisten.<br />
Alle gewinnen – auf dem Weg zu einer<br />
modernen, familienfreundlichen und<br />
zufriedenen Arbeitsumgebung im Kantonsspital<br />
Graubünden. ■<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
11
WEITERBILDUNG / ARBEITSBEDINGUNGEN<br />
Auch für Arbeitgeber attraktiv<br />
Familienfreundliche Massnahmen sind mehr als ein Lippenbekenntnis oder ein Credo, welches<br />
sich in den Leitlinien eines Betriebs gut macht. Heinrich Neuweiler, Leiter Departement Personal,<br />
Pflege und Fachsupport und Mitglied der Geschäftsleitung des Kantonsspitals Graubünden,<br />
äussert sich zu den Vorteilen einer familienfreundlichen Geschäftspolitik.<br />
Wie ist es im Kantonsspital<br />
Graubünden zur Gründung der<br />
Arbeitsgruppe «Attraktiver<br />
Arbeitgeber für Ärztinnen und<br />
Ärzte» gekommen?<br />
Heinrich Neuweiler: Das Kantonsspital<br />
Graubünden hat in seinem Leitbild als<br />
Ziel «kompetente und zufriedene Mitarbeitende»<br />
verankert. Damit das nicht nur<br />
schöne Worte auf Papier bleiben, beschloss<br />
das Spital immer wieder Massnahmen zur<br />
Attraktivitätssteigerung. Viele dieser Massnahmen<br />
waren dabei schwerpunktmässig<br />
auf das Pflegepersonal ausgerichtet. Hinsichtlich<br />
der Ärzteschaft beschränkten sich<br />
die Aktivitäten auf nachwuchsfördernde<br />
Projekte innerhalb der Departemente. Von<br />
verschiedenen Seiten wurde allerdings die<br />
Forderung laut, mehr für die ärztlichen<br />
Fachkräfte zu tun. Ansonsten befürchtete<br />
man, dass sich die Probleme bei der Nachwuchssicherung<br />
dramatisch verschärfen<br />
könnten.<br />
Die Personalabteilung hat daraufhin nach<br />
Ärztinnen und Ärzten Ausschau gehalten,<br />
die im Rahmen einer Arbeitsgruppe nach<br />
konkreten spitalweit wirksamen Verbesserungsmöglichkeiten<br />
suchen sollten. Erfreulicherweise<br />
stellten sich sofort Interessierte<br />
zur Verfügung, die bereit waren, sich<br />
neben dem herausfordernden beruflichen<br />
Alltag auch mit den Themen «Arbeitsplatzattraktivität<br />
und -optimierung» zu<br />
beschäftigen. Als Mitglied der Geschäftsleitung<br />
und Leiter des Departements Personal,<br />
Pflege und Fachsupport habe ich die<br />
Leitung der Arbeitsgruppe übernommen.<br />
Was galt es dabei besonders<br />
zu beachten?<br />
Eine zentrale Frage bei der Verbesserung<br />
der Arbeitsbedingungen für Ärzte war, wie<br />
weit solche Massnahmen gehen sollten.<br />
Die Vorschläge sollten schliesslich eine<br />
realistische Chance haben, von der Geschäftsleitung<br />
bewilligt zu werden. Die<br />
Arbeitsgruppe entschied sich für den pragmatischen<br />
Weg: Einerseits sollten ganz<br />
konkrete, umsetzbare Massnahmen vorgeschlagen<br />
werden. Anderseits sollten sensiblere,<br />
umfangreichere Themen vorerst<br />
als Grundsatz im Spital verankert werden.<br />
Dies verleiht den einzelnen Departementen<br />
einen grösseren Spielraum bei der Umsetzung.<br />
Wie gingen Sie konkret vor?<br />
Als Erstes wurde eine interne Umfrage bei<br />
den Assistenz- und Oberärztinnen und<br />
-ärzten zum Schwerpunktthema «Teilzeit»<br />
durchgeführt. Wenig überraschend<br />
zeigte sich, dass die überwiegende Mehrheit,<br />
rund 95 Prozent, ein Teilzeitpensum<br />
für alle Hierarchiestufen als sinnvoll betrachten<br />
und selber diese Möglichkeit erwägen.<br />
Des Weiteren wurde eine interne<br />
Sensibilisierungskampagne auf allen Ebenen<br />
lanciert, mittels Gesprächen innerhalb<br />
der Fachbereiche und Departemente.<br />
Höhepunkt war ein Themenreferat von<br />
zwei der ärztlichen Kadermitglieder aus<br />
der Arbeitsgruppe anlässlich der jährlichen<br />
Kadertagung des Hauses.<br />
Nach rund einjähriger Grundlagenarbeit<br />
präsentierte die Gruppe der Geschäftsleitung<br />
schliesslich sieben strategische Massnahmen,<br />
welche im September 2015<br />
genehmigt und in wenigen Punkten modifiziert<br />
verabschiedet wurden. Diese Massnahmen<br />
haben dadurch eine Verbindlichkeit<br />
für das gesamte Haus erhalten und<br />
können entsprechend auch eingefordert<br />
werden.<br />
Worin sehen Sie aus Sicht eines<br />
Geschäftsleitungsmitglieds die<br />
Chancen und Vorteile eines<br />
Betriebs, der die Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Familie/Privatleben<br />
aktiv fördert?<br />
12 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
WEITERBILDUNG / ARBEITSBEDINGUNGEN<br />
Mitglieder der Arbeitsgruppe:<br />
Heinrich Neuweiler, Leiter Departement Personal, Pflege<br />
und Fachsupport, Mitglied der Geschäftsleitung<br />
Dipl. med. Patrizia Kündig, Assistenzärztin Anästhesie<br />
Dr. med. Simone Hofer Strebel, Stv. Leitende Ärztin<br />
Chirurgie<br />
Dr. med. Patrik Vanek, Leitender Arzt Interdisziplinäre<br />
Intensivstation<br />
Dr. med. Philipp Grosse, Oberarzt Nephrologie/Dialyse<br />
(seit <strong>2016</strong>)<br />
Dr. med. Katharina Mischler, Ärztin Onkologie<br />
(bis Ende 2015)<br />
Durch die Förderung der Vereinbarkeit von<br />
Beruf und Familie/Privatleben gibt es nur<br />
Gewinner. Einerseits profitieren die Ärztinnen<br />
und Ärzte auf allen Hierarchiestufen,<br />
aber auch die Auswirkungen auf den Betrieb<br />
sind positiv und betriebswirtschaftlich<br />
relevant. Die vielfältigen Auswirkungen<br />
sind in der Literatur mannigfach beschrieben.<br />
Beispielhaft seien hier folgende<br />
Punkte erwähnt:<br />
––<br />
Wir erwarten eine höhere Berufszufriedenheit<br />
und weniger Kündigungen<br />
durch die bessere Vereinbarkeit der verschiedenen<br />
Rollen (Beruf/Privatleben).<br />
––<br />
Durch längeres Verbleiben und/oder<br />
dem Wiedereinstieg in den Beruf kann<br />
dem Ärztemangel entgegengewirkt werden.<br />
––<br />
Die Karrierechancen der Ärztinnen und<br />
Ärzte können verbessert werden.<br />
––<br />
Durch weniger Fluktuation kann auch<br />
die Qualität und Effizienz positiv beeinflusst<br />
werden.<br />
––<br />
Als attraktiver Arbeitgeber ist es zudem<br />
einfacher, frei werdende Stellen wieder<br />
zu besetzen.<br />
Wie wird die Umsetzung bzw.<br />
der Standard der umgesetzten<br />
Massnahmen auch in<br />
der Zukunft garantiert?<br />
Die Arbeitsgruppe erachtet es als ihre Aufgabe,<br />
das Thema «weiter im Auge» zu<br />
behalten. Gerade bei den strategischen<br />
Massnahmen, welche nicht konkret mit<br />
Zahlen messbar sind und eher grundsätzlich<br />
und offen definiert wurden, lohnt es<br />
sich, genau hinzusehen, ob die offene<br />
Formulierung ausreicht oder ob diese<br />
Massnahmen «griffiger» definiert werden<br />
müssen. Auch die gesellschaftliche Entwicklung<br />
und die Bedingungen unserer<br />
Mitbewerber auf dem Arbeitsmarkt müssen<br />
beobachtet werden. Falls nötig, können wir<br />
mit neuen Anträgen an die Geschäftsleitung<br />
darauf reagieren.<br />
Last but not least versucht das Kantonsspital<br />
Graubünden einem seiner Credos<br />
nachzukommen: «Bei uns sind Sie in besten<br />
Händen». Damit sind nicht nur unsere<br />
Patientinnen und Patienten gemeint, sondern<br />
explizit auch alle unsere Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter. ■
<strong>VSAO</strong><br />
SEKTION BERN<br />
Jeden Monat ein<br />
neuer Film-Clip<br />
von Sept. <strong>2016</strong><br />
bis Jan. 2017<br />
Wie bereits angekündigt, schalten wir zwischen September <strong>2016</strong> und Januar 2017 an<br />
jedem Monatsanfang einen neuen Film-Clip auf unserer Website auf. Es lohnt sich,<br />
regelmässig vorbeizuschauen (vsao-bern.ch)!<br />
September <strong>2016</strong>: Anspruch auf Weiterbildung<br />
<strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>: Stillende Mütter<br />
November <strong>2016</strong>: Ferien versus Überzeit<br />
Dezember <strong>2016</strong>: Ferienbezug<br />
Januar 2017: Elternschaft■<br />
Janine Junker und Gerhard Hauser, Co-Geschäftsführung Sektion Bern<br />
SEKTION SOLOTHURN<br />
Neues Vorstandsmitglied<br />
An der diesjährigen Mitgliederversammlung<br />
im Bürgerspital Solothurn konnte<br />
erfreulicherweise ein neues Mitglied für<br />
den Sektionsvorstand gewonnen werden:<br />
In den Vorstand gewählt wurde neu Ursula<br />
Wenger aus dem Bürgerspital Solothurn.<br />
Neues vom GAV<br />
Zurzeit beschäftigt sich die Sektion mit<br />
den geplanten GAV-Änderungen. Wegen<br />
der massiven Kürzung der Zuschüsse des<br />
Kantons werden Einsparungen bei den<br />
Personalkosten unumgänglich, die Personalverbände<br />
verhandeln gemeinsam, um<br />
die Auswirkungen erträglich und akzeptabel<br />
zu machen. Es geht aktuell um zwei<br />
Bereiche:<br />
1. Erfahrungsstufenanstiege<br />
werden gestreckt<br />
Der Regierungsrat hat auf Vorschlag einer<br />
Arbeitsgruppe der GAV-Kommission eine<br />
Regelung beschlossen, der die GAV-Partner<br />
noch zustimmen müssen:<br />
Es werden ab Erfahrungsstufe 12 mehr<br />
Erfahrungsstufen mit kleineren Lohnanstiegen<br />
kreiert, Ausgangs- und Endstufenvergütung<br />
bleiben unverändert, es dauert<br />
also länger, bis der Maximallohn erreicht<br />
wird.<br />
COACHING<br />
Arztberuf & Familie / Privatleben<br />
Telefonische Beratung:<br />
044 462 71 23 • info@und-online.ch<br />
Wie bringe ich Familie, Freizeit und Beruf unter einen Hut? Wie steige ich nach der Babypause wieder ein? Wie<br />
meistere ich die täglichen Herausforderungen? Antworten und Lösungsvorschläge auf diese und weitere Fragen<br />
bietet der <strong>VSAO</strong> seinen Mitgliedern im Rahmen eines kostenlosen Coachings an. Die Beratung erfolgt telefonisch<br />
durch die Fachstelle UND.<br />
Erfahren Sie mehr über dieses Beratungsangebot des <strong>VSAO</strong> auf unserer Website www2.vsao.ch unter der Rubrik<br />
Arztberuf & Familie / Privatleben.<br />
14 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
<strong>VSAO</strong><br />
Auf die Löhne der allermeisten unserer<br />
Mitglieder hat diese Sparmassnahme allerdings<br />
kaum eine Auswirkung, da die<br />
Erfahrungsstufe 13 von Assistenzärztinnen<br />
und -ärzten nur in wenigen Ausnahmefällen<br />
erreicht wird. Einzelheiten sind<br />
auf dem Intranet der SoH veröffentlicht.<br />
2. Verhandlungen um eine<br />
Änderungskündigung<br />
Im Rahmen von konkreten Reorganisationen<br />
wird in Zukunft von den Arbeitnehmenden<br />
verlangt werden können, gewisse<br />
Änderungen des Pensums, der Art der<br />
Tätigkeit und auch des Arbeitsortes zu<br />
akzeptieren. Hier tragbare Grenzen zu<br />
definieren, ist zurzeit unser Auftrag in der<br />
GAV-Kommission.<br />
Schwangerschaft<br />
und<br />
Kündigungsschutz<br />
Positive Bewegungen gibt es in Bezug auf<br />
den Kündigungsschutz für Schwangere<br />
mit befristetem Arbeitsvertrag. Es konnte<br />
erreicht werden, dass ein bestehender<br />
befristeter Arbeitsvertrag während der<br />
Schwangerschaft nicht gekündigt werden<br />
darf, weitere Verbesserungen werden verhandelt.<br />
Überstunden<br />
Mit der Geschäftsleitung wurde die Problematik<br />
der Überstundenakkumulation<br />
bei langjährigen ärztlichen Verträgen<br />
besprochen.<br />
Wir haben klargemacht, dass nach GAV<br />
eindeutig ein Anspruch auf Ausgleich aller<br />
Überstunden durch Freizeit besteht. Der<br />
Personalchef der SoH, Andreas Woodtli,<br />
hat uns zugesagt, zusammen mit den<br />
Klinikdirektoren diesen Anspruch zu thematisieren.<br />
Der <strong>VSAO</strong> wird die Umsetzung<br />
dieses Anspruchs überprüfen, wir werden<br />
eine Umfrage zu diesem Thema in der<br />
SoH durchführen.<br />
■<br />
Felix Kurth,<br />
Co-Präsident Sektion Solothurn<br />
SEKTION<br />
ST. GALLEN/APPENZELL<br />
Berufliche<br />
Unabhängigkeit<br />
Liebes <strong>VSAO</strong>-Mitglied<br />
Nach den guten Rückmeldungen im Anschluss<br />
an die letzten gemeinsamen Veranstaltungen<br />
des <strong>VSAO</strong> und des Stadtärztevereins<br />
St. Gallen im Jahr 2013 möchten<br />
wir Sie gerne zu einer erneuten gemeinsamen<br />
Veranstaltung einladen:<br />
«Der Arzt als freier Unternehmer<br />
– die Chancen der<br />
beruflichen Unabhängigkeit!»<br />
Restaurant Schützengarten netts<br />
St. Jakobstrasse 35, St. Gallen<br />
Mittwoch, 9. November <strong>2016</strong><br />
18.30–21.00 Uhr<br />
im Anschluss Apéro riche<br />
Als Highlight wird Dr. Raphael Stolz über<br />
seinen Weg vom KSSG in die eigene Praxis<br />
berichten. Weiterhin werden die finanziellen<br />
und versicherungstechnischen Voraussetzungen<br />
vorgestellt.<br />
Anmeldeinformationen unter<br />
www.vsao-sg.ch.<br />
■<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
15
<strong>VSAO</strong><br />
§<br />
Rechtsberatung<br />
Eric Bersier, Sektionsjurist Freiburg<br />
Ich bin zurzeit als Assistenzärztin<br />
am Freiburger<br />
Kantonsspital mit einem<br />
befristeten Arbeitsvertrag<br />
angestellt. Der Vertrag<br />
läuft bis 31. <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>.<br />
Mit dem CHUV habe ich vor<br />
einiger Zeit einen Anstellungsvertrag<br />
(nicht den<br />
definitiven Vertrag) für eine<br />
Dauer von sechs Monaten<br />
ab dem 1. November <strong>2016</strong><br />
unterzeichnet. Ich bin<br />
schwanger, der Geburtstermin<br />
ist Mitte August vorgesehen.<br />
Aufgrund dieser<br />
Situation habe ich mit dem<br />
Personaldienst in Freiburg<br />
und Lausanne Kontakt<br />
aufgenommen. Dabei habe<br />
ich widersprüchliche Auskünfte<br />
betreffend Mutterschaftsurlaub<br />
erhalten. Das<br />
CHUV stellt offenbar meine<br />
Anstellung und die Beendigung<br />
meines Vertrags<br />
in Freiburg in Frage.<br />
Können Sie mich über meine<br />
Rechte und Pflichten<br />
aufklären? Wer muss meinen<br />
Mutterschaftsurlaub<br />
bezahlen? Muss das CHUV<br />
die restliche Dauer meines<br />
Mutterschaftsurlaubes<br />
übernehmen? Ist die Dauer<br />
des Mutterschaftsurlaubes<br />
im Kanton Waadt und Kanton<br />
Freiburg identisch?<br />
Darf das CHUV mich nicht<br />
oder nur unter der Bedingung,<br />
dass ich den Einsatz<br />
verschiebe, anstellen?<br />
Ich kann Ihnen bestätigen, dass das Freiburger<br />
Gesetz über das Staatspersonal<br />
(StPG) und dessen Ausführungsreglement<br />
(Reglement über das Staatspersonal,<br />
StPR), auf welchen sich Ihr Arbeitsvertrag<br />
abstützt, bei befristeten Arbeitsverhältnissen<br />
vorsehen, dass der Mutterschaftsurlaub<br />
(gemäss Art. 83 StPR) spätestens bei<br />
Vertragsablauf endet, sprich am 31. <strong>Oktober</strong><br />
<strong>2016</strong>. Ein Unterbruch oder eine Verlängerung<br />
des Arbeitsverhältnisses aufgrund<br />
von Schwangerschaft oder Mutterschaft<br />
ist nicht möglich. Ihr Vertrag und<br />
die Mutterschaftsdeckung enden also am<br />
besagten Datum.<br />
Unter der Annahme, dass Ihr Kind wie<br />
vorgesehen zur Welt kommt, werden Sie<br />
also Anrecht auf ca. elf Wochen Mutterschaftsurlaub<br />
im Kanton Freiburg haben<br />
(und nicht auf 16 Wochen, wie von den<br />
kantonalen Bestimmungen vorgesehen).<br />
Im Kanton Waadt bezieht sich der GAV auf<br />
die Artikel 66 bis 72 des règlement général<br />
d’application de la loi sur le personnel de<br />
l’Etat de Vaud. Was die Voraussetzungen<br />
für die Mutterschaftsentschädigung angeht,<br />
bezieht sich dieses Reglement auf<br />
das Bundesgesetz über den Erwerbsersatz<br />
für Dienstleistende und bei Mutterschaft.<br />
Demgemäss haben Sie Anrecht auf die<br />
Mutterschaftsentschädigung, wenn Sie die<br />
gesetzlichen Bedingungen erfüllen, d.h.<br />
während neun Monaten unmittelbar vor<br />
der Niederkunft im Sinne des AHVG obligatorisch<br />
versichert waren und im Zeitpunkt<br />
der Niederkunft Arbeitnehmerin<br />
sind. Dieses Recht besteht zu 100 Prozent,<br />
auch während der Probezeit. Sie sollten<br />
also die Mutterschaftsentschädigung beziehen<br />
können, auch wenn Sie während<br />
des Mutterschaftsurlaubes den Arbeitgeber<br />
wechseln. Dies zu den Konditionen im<br />
Kanton Waadt, da Sie den Mutterschaftsurlaub<br />
im Kanton Waadt beenden werden.<br />
Die Deckung wird also ab 1. November<br />
<strong>2016</strong> durch das CHUV gewährleistet sein.<br />
Das règlement général d’application de la<br />
loi sur le personnel de l’Etat de Vaud sieht<br />
einen Mutterschaftsurlaub von vier Monaten<br />
vor. Dieser kann durch den Stillurlaub<br />
um einen Monat verlängert werden. ■<br />
16 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
<strong>VSAO</strong><br />
Kitaplatz gesucht – der <strong>VSAO</strong> hilft<br />
Wenn Sie einen Betreuungsplatz für Ihr Kind suchen, denken Sie daran: Seit 2011 unterstützt<br />
Ihr Verband Sie bei dieser zeitaufwendigen Aufgabe. Eine Anfrage mittels Online-Formular beim <strong>VSAO</strong> genügt und Sie<br />
erhalten Informationen zu verfügbaren Plätzen in Ihrer Wunschregion und die entsprechenden Kontaktdaten<br />
der Tagesstätten. Weitere wichtige Informationen und das Formular finden Sie unter der neuen Rubrik Arztberuf und Familie<br />
auf der <strong>VSAO</strong>-Homepage www.vsao.ch.<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
17
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Die Welt als Vorstellung<br />
Zeichen deuten zu können, ist für alle Wesen lebenswichtig. Menschen versuchen jedoch stets in<br />
den sichtbaren Zeichen einen verborgenen Sinn oder zumindest einen Mechanismus zu erkennen.<br />
Dieses Wissen-Wollen ist zeit- und kulturübergreifend und betrifft jeden Lebensbereich: Ob Sternenkonstellation,<br />
Börsenkurse oder die Funktionsweise des Gehirns – die Welt will enträtselt sein.<br />
Dr. Marc Aeschbacher, Dozent für Wirtschaftskommunikation Fachhochschule Nordwestschweiz Hochschule für Wirtschaft<br />
«Schläft ein Lied in allen Dingen,<br />
Die da träumen fort und fort,<br />
Und die Welt hebt an zu singen,<br />
Triffst du nur das Zauberwort.»<br />
Joseph Freiherr von Eichendorff<br />
Seit Anbeginn der Menschheit gehört es<br />
zu den Grundbedürfnissen, das, was uns<br />
umgibt, zu «lesen» und zu verstehen. Für<br />
unsere Urahnen war dieses Lesen ihrer<br />
Umwelt eine unabdingbare Voraussetzung<br />
für das Überleben. Einschätzen zu können,<br />
was eine Gefahr für das Leben bedeutet,<br />
half, die Risiken richtig abzuwägen:<br />
Ist das Mammut verwundet und geschwächt<br />
genug, um es wieder anzugreifen,<br />
oder ist Davonrennen die bessere Alternative?<br />
Diese Entscheidung erforderte<br />
bereits die Fähigkeit, die unterschiedlichsten<br />
Variablen situativ einzubeziehen, unter<br />
anderen etwa auch wie lange es dauern<br />
könnte, bis sich wieder eine solche Gelegenheit<br />
bieten wird.<br />
Zum Lesen und Interpretieren der existentiellen<br />
Herausforderungen im Überlebenskampf<br />
kam interessanterweise aber schon<br />
damals eine weitere, übernatürliche oder<br />
transzendentale Komponente dazu. Unsere<br />
Urahnen suchten den Zugang zu einer<br />
geistigen Sphäre, der sie beschwörende<br />
Zeichen widmeten, indem sie begannen,<br />
ihre Höhlen zu bemalen und Felsen zu<br />
ritzen. Das zeigt, wie unmittelbar verwandt<br />
seit Anbeginn das Bedürfnis des<br />
«Lesens» von Zeichen und das Schaffen<br />
von Zeichen (das Zeichnen) war und ist.<br />
Es gab und gibt kein Lesen ohne Zeichnen<br />
bzw. Schreiben.<br />
Das Leben im Griff<br />
Zeitgeschichtlich mag es ein grosser<br />
Sprung sein von den bannenden oder herbeiflehenden<br />
Beschwörungen in den Anfängen<br />
der Menschheitsgeschichte zu den<br />
frühen Versuchen der Erklärung von Naturphänomenen,<br />
z.B. dass die Ursache<br />
eines Blitzes der Zorn eines Gottes sei.<br />
Hinter Beschwörungen und Erklärungsversuchen<br />
steckt aber das gleiche Bedürfnis,<br />
nämlich dem, was uns widerfährt,<br />
etwas entgegenhalten zu können. Wenn<br />
wir es begreifen können, haben wir es im<br />
Griff und es verliert seine Macht über uns.<br />
Das zeigt exemplarisch auch das Märchen<br />
vom Rumpelstilzchen, dessen Macht über<br />
die Königstochter sogleich erlischt, als<br />
diese seinen Namen errät. Das Benennen<br />
bricht die fremde Macht, das richtige Zeichen,<br />
besser: Die richtige Bezeichnung<br />
kehrt also die Machtverhältnisse zu unseren<br />
Gunsten um.<br />
Suche nach dem Sinn<br />
Was liegt also näher, als alles verstehen zu<br />
wollen? Goethes «Faust» drückt das in<br />
dem ihn verzehrenden Wunsch aus zu<br />
erkennen, «was die Welt im Innersten<br />
zusammenhält». Dieses faustische Streben<br />
nach dem Allwissen ist immer noch<br />
gegenwärtig, der menschliche Forschergeist,<br />
der sich keine Grenze auferlegen<br />
mag, äussert sich in Albert Einsteins Versuch,<br />
eine Weltformel zu entdecken (im<br />
Englischen heisst das «A Theory of Everything»)<br />
genauso wie im Lausanner Human<br />
Brain Project, bei dem mittels computerbasierter<br />
Modelle und Simulationen<br />
eine Nachbildung des menschlichen Gehirns<br />
erschaffen werden soll.<br />
Ob es nun angenehm ist oder nicht, sich<br />
das einzugestehen, aber dieses hehre<br />
Verstehen-Wollen, diese conditio humana,<br />
bildet genauso den Antrieb zu wissen<br />
Höhlenmalerei aus Lascaux<br />
18 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
also etwa – wie es das Wort schon sagt –<br />
besonders hell zu sehen. Um die Sache zu<br />
komplizieren, wählten die Deuter und<br />
Erklärer eine zusätzliche Zeichensprache,<br />
die sich ganz bestimmt nur ihnen erschliessen<br />
konnte, denn eine für alle<br />
nachvollziehbare Semantik hätte das Geschäftsmodell<br />
untergraben und die Erwerbsquelle<br />
versiegen lassen. Die römischen<br />
Auguren lasen den Vogelflug, später<br />
legte man Karten oder las den Kaffeesatz<br />
und immer beliebt und von zeitlosem<br />
Charme ist die Sterndeuterei.<br />
Der Interpret übersetzt für den Wissensdurstigen<br />
die vorgefundenen oder selbst<br />
bewirkten Zeichen, erklärt den verborgenen<br />
Sinn dahinter und schafft damit eine<br />
Bedeutung in einer Welt, die sich uns teilweise<br />
verschliesst. Wir tun dem zugegebenermassen<br />
weiten Betätigungsfeld des<br />
Deuters unrecht, wenn wir der Tätigkeit an<br />
sich Unlauterkeit unterstellen. Der Börsenanalyst<br />
liest die konjunkturellen Zeichen<br />
und verknüpft sein Wissen über Trends und<br />
aktuelle Wirtschaftsvorgänge mit den Informationen,<br />
welche aus den Unternehmen<br />
an die Öffentlichkeit dringen, um daraus<br />
eine Prognose für die Weiterentwicklung<br />
des Aktienkurses zu machen. Diesem Vorgang<br />
liegt, neutral betrachtet, zuerst einmal<br />
dieselbe Vorstellung eines Ursache-<br />
Wirkung-Mechanismus zugrunde, wie ihn<br />
der Astrologe seiner Kundschaft auch als<br />
Basis seiner Prophezeiung darlegt.<br />
Die Interpretation der Zeichen ist stets<br />
nicht nur ein Übersetzungsvorgang, sondern<br />
gemäss dem Wortsinn auch ein Erklärungsvorgang.<br />
Denn mit dem Übersetzen<br />
allein könnte es ja vielleicht noch<br />
nicht gemacht sein, was nützt dem Unwissenden<br />
die reine Übersetzung, wenn der<br />
Sinn immer noch schleierhaft bleibt?<br />
Homo signorum aus den Très Riches Heures des Herzogs von Berry (1412–1416)<br />
schaftlicher Forschung wie es die Triebfeder<br />
für die morgendliche Lektüre eines<br />
Horoskops in der Pendlerzeitung ist.<br />
Hinter dem Verstehen-Wollen verbirgt sich<br />
mithin also auch die Vorstellung, dass die<br />
Welt voller Zeichen sei, die es zu entziffern<br />
gilt, und dass sich hinter allem auch ein<br />
Sinn verbirgt. Eine Vorstellung, die interessanterweise<br />
weltweit in allen Kulturen<br />
verbreitet ist. Diesen sinnerfüllten Zusammenhängen<br />
inne zu werden, war zu allen<br />
Zeiten ein Menschheitsbedürfnis und ist<br />
es immer noch. Unglücklicherweise offenbaren<br />
sich diese Zeichen aber eben nicht<br />
allen. Um den verborgenen Sinn enträtseln<br />
zu können, bedurfte es stets Menschen,<br />
die für sich in Anspruch nahmen,<br />
über eine besondere Gabe zu verfügen,<br />
Zeichen für Eingeweihte<br />
Der Umstand, dass unsere Welt der Interpretation<br />
bedarf, um sich einen wie auch<br />
immer gearteten Sinn zu erschliessen, und<br />
dass es nötig ist, die Bedeutung mancher<br />
Zeichen zu enträtseln, hat immer schon<br />
auch beflügelnd auf die Phantasie der<br />
Menschen gewirkt. Denn das Enträtseln<br />
verleitet zum Verbergen und zum Schaffen<br />
von neuen Geheimsprachen, die nur einem<br />
kleinen Kreis Eingeweihter zugänglich<br />
sind: Interessanterweise häuften sich<br />
diese Geheimzeichensprachen mit dem<br />
Aufkommen rational-aufklärerischer Bewegungen<br />
in Europa. So gab es seit dem<br />
18. Jahrhundert in Europa die Blumensprache,<br />
mit welcher sich Verliebte signalisierten,<br />
wie es um ihre Gefühle bestellt ist,<br />
indem sie sich bestimmte Blumen zusandten<br />
oder Bilder davon, wenn es, jahreszeitlich<br />
bedingt, nicht anders ging.<br />
Im 20. Jahrhundert gab es für Verliebte die<br />
Möglichkeit, ihre Gefühle für einander<br />
mithilfe der Art und Weise, wie sie die Marken<br />
auf den Briefen platzierten, verschlüsselt<br />
mitzuteilen, eine auf der Seite liegende<br />
Marke forderte den Briefempfänger<br />
oder die Briefempfängerin zum Beispiel<br />
auf, den Absender nie zu vergessen.<br />
Die Zeichensprachen sterben nicht aus, sie<br />
müssen nicht immer geheim sein, man<br />
kann einen Code mit Abermillionen Menschen<br />
teilen und gleichwohl die Gewiss<br />
20 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
heit haben, dass man etwas Aussergewöhnliches<br />
macht, so entwickeln sich<br />
auch in der Gegenwart neue Zeichen, z.B.<br />
die Emojis. Die Medien berichteten im<br />
April 2015, dass der bekennende Emoji-<br />
Fan Roger Federer, welcher praktisch jeden<br />
seiner Tweets mit drei Emojis einleitet,<br />
auf Twitter die Frage gestellt hat: «Wo ist<br />
mein Popcorn-Emoji?», während er sich<br />
das Tennisturnier in Monaco im TV ansah.<br />
Der Symbole-Anbieter Emojipedia<br />
erhörte Federers Forderung und entwickelte<br />
ein Popcorn-Emoji, welches im<br />
Juni-Update in die Sammlung aufgenommen<br />
wurde. Das ist einerseits ein zuversichtlich<br />
stimmender Beleg für die Zukunftsfähigkeit<br />
der Zeichen in unserer<br />
Welt, andererseits kann man darin auch<br />
erkennen, dass die Verwendung von Zeichen<br />
immer eine Beziehung voraussetzt:<br />
Sender, Empfänger und eben auch die<br />
Gestalter müssen die Zeichen am Leben<br />
erhalten. Wer sich dem Austausch verweigert,<br />
bricht die Kommunikation ab und<br />
tilgt damit den Sinn des Zeichens, etwas<br />
zu bedeuten.<br />
Neue Zeichen gesucht<br />
Interessanterweise nimmt die Präsenz von<br />
Zeichen und Symbolen in unserem modernen<br />
Alltag eher zu. Beispielsweise finden<br />
sich als Versinnbildlichung für Programme<br />
oder auszuführende Tasks auf unseren<br />
Handydisplays und den Benutzeroberflächen<br />
unserer Computer sogenannte Icons.<br />
Diese Symbole sind jung und von absehbarer<br />
Vergänglichkeit. Man kann ihre<br />
transitorische Existenz nämlich leicht<br />
daran erkennen, dass sie bei anderen Symbolen<br />
Zuflucht suchen: Das Icon des Programms<br />
«Outlook» zum Beispiel zeigt ein<br />
zum Betrachtenden hin aufgeklapptes<br />
blaues Quadrat mit dem Buchstaben «O»<br />
für Outlook und dahinter schaut ein Teil<br />
eines Briefumschlags hervor.<br />
Das Symbol für das Versenden von elektronischer<br />
Post bedarf mithin also der<br />
Hilfe des Symbols für das frühere Versenden<br />
von Postsendungen, des veralteten<br />
Briefumschlags, weil sich für das Virtuelle<br />
der elektronischen Datenübermittlung<br />
bis anhin kein adäquates Zeichen hat<br />
durchsetzen können. Genauso steht es um<br />
das Zeichen für den Speicherungsbefehl:<br />
Hierbei handelt es sich um die längst aus<br />
unserem Computeralltag verschwundene<br />
Diskette.<br />
Gerade eine immer virtueller werdende<br />
Welt wird der Zeichen und Symbole bedürfen,<br />
sie schaffen die nötige Übersetzung<br />
für das immer schwerer Fassbare und<br />
abstrakt Gewordene. <br />
■<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
21
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Symbole in der Grabmalkultur<br />
Wie wollen Sie nach Ihrem Tod in Erinnerung bleiben? Was hat Ihr Leben geprägt? Wie haben die<br />
anderen Menschen Sie gesehen? Wie sollen diese an Sie denken? Wie viel möchten Sie über<br />
sich verraten? In den Symbolen auf den Grabsteinen stecken Antworten auf diese Fragen. Vieles<br />
davon bleibt uns jedoch verborgen, wenn wir die Zeichen nicht entschlüsseln können.<br />
Dr. Raquel Delgado Moreira, Leitung Grabmalkultur, Bestattungs- und Friedhofamt Zürich<br />
Meret Tobler, Fachstelle Grabmalkultur, Bestattungs- und Friedhofamt Zürich<br />
Auf viele Menschen üben Friedhöfe eine<br />
spezielle Anziehungskraft aus. Einerseits<br />
sind es Orte der Ruhe und des Nachsinnens.<br />
Andererseits ziehen sie als öffentliche<br />
Parkanlagen Spaziergänger und Interessierte<br />
an. In letzter Zeit blüht ein regelrechter<br />
«Friedhoftourismus» auf. Via<br />
Facebook werden Termine für gemeinsame<br />
Besichtigungen auf verschiedenen<br />
europäischen Friedhöfen vereinbart.<br />
Ein Grund für die Faszination sind die<br />
Mysterien und Rätsel, die dort schlummern.<br />
Friedhöfe erzählen Geschichten,<br />
und ihre Symbole sprechen eine Sprache,<br />
die wenig mit nationalen Grenzen zu tun<br />
hat und häufig kulturübergreifend ist.<br />
Wie der Gründer der analytischen Psychologie<br />
Carl Gustav Jung 1961 in seinem<br />
Werk Der Mensch und seine Symbole im<br />
Kapitel Zugang zum Unbewussten es<br />
formuliert hat, ist «… ein Wort oder ein<br />
Bild […] symbolisch, wenn es mehr enthält,<br />
als man auf den ersten Blick erkennen<br />
kann». In Symbolen verborgen sind<br />
Geschichten, Bekenntnisse, abstrakte<br />
Konzepte und geheime Botschaften, die je<br />
nach Wissensstand des Betrachters zum<br />
Vorschein kommen.<br />
Bleibt, wo ihr seid<br />
Von jeher gelten Friedhöfe jedoch auch als<br />
abschreckend und furchterregend. Die<br />
Angst vor dem Tod und vor den Verstorbenen<br />
wird in sie hineinprojiziert. Der Ursprung<br />
des Wortes Friedhof liegt im mittelalterlichen<br />
Hochdeutsch Freithof ( friten<br />
bedeutet «umgehen» und ist Ausdruck<br />
der Hoffnung, dass die Verstorbenen innerhalb<br />
der Friedhofmauern bleiben). Die<br />
Worte «Ruhe in Frieden» werden heute<br />
meist als pietätsvoller christlicher Wunsch<br />
interpretiert, waren jedoch ursprünglich<br />
eine Beschwörung. Zusammen mit dem<br />
Grabmal soll sie die Toten daran hindern,<br />
die Grabstätte wieder zu verlassen. Das<br />
Grabmal hat im Verlauf der Geschichte<br />
verschiedene sinnbildliche Bedeutungen<br />
angenommen. Vom christlichen Grenzstein<br />
des irdischen Lebens wird es durch<br />
die Säkularisierung zum Erinnerungsträger.<br />
Nach der Renaissance fällt ihm jedoch<br />
grundsätzlich eine neue Rolle zu:<br />
Biographische und humanistische Aspekte<br />
kommen ins Spiel. Das Familiengrab<br />
repräsentiert nicht mehr nur das vergangene<br />
Leben des Verstorbenen, sondern<br />
auch das Leben und die Sehnsucht der<br />
Hinterbliebenen. Auf jedem Grabmal befinden<br />
sich Hinweise auf die dort bestattete<br />
Person. Die Informationen gleichen<br />
einem Blick durch ein offenes Fenster in<br />
ein fremdes Haus. Und tatsächlich findet<br />
sich die Vorstellung vom Grab als letzte<br />
Behausung in den verschiedensten Religionen<br />
und Kulturen.<br />
Klassische<br />
Grabmalsymbole<br />
Schreitet man heute zum Beispiel auf den<br />
Stadtzürcher Friedhöfen durch ein Feld<br />
mit Reihengräbern, begegnet man überwiegend<br />
christlichen Symbolen. Je nach<br />
Wissensstand des Betrachters entschlüsseln<br />
sie sich mehr oder weniger einfach.<br />
Beliebt sind Gegenstände des Abendmahls<br />
(Brot, Kelch mit Wein), selbstverständlich<br />
das Kreuz und das Kruzifix, aber auch die<br />
Dornenkrone, das Schweisstuch der Veronika,<br />
Tauben, der Pelikan, das Schaf und<br />
der Hirte, der Feigen- oder Apfelbaum.<br />
Zusammen mit sich häufig wiederholenden<br />
Darstellungen biblischer Szenen, wie<br />
der Fusswaschung oder der wundersamen<br />
Brot- und Fischvermehrung, rufen solche<br />
symbolischen Darstellungen ein Bild von<br />
Christus hervor, das ihn durch sein Opfer,<br />
seine Auferstehung und seine stete Anwesenheit<br />
als wohltuenden Beschützer zeigt.<br />
Ausdruck der eigenen Religiosität des Verstorbenen<br />
sind die zahlreichen christlichen<br />
Schriftzeichen. Die Buchstaben sind<br />
prinzipiell weniger plastisch, stehen aber<br />
trotzdem für ähnliche Werte wie die zuvor<br />
geschilderten christlichen Symbole. XP<br />
zum Beispiel wurde bereits im 3. Jahrhundert<br />
als frühestes christliches Emblem<br />
verwendet. Die ersten zwei Buchstaben des<br />
griechischen Wortes Christos (Chi = X,<br />
Rho = P) wie das ebenso verbreitete Monogramm<br />
IX, eine Verbindung der griechischen<br />
Anfangsbuchstaben Jesous (Jota<br />
= I) und Christos (Ch = X), werden mit<br />
zusätzlicher Bedeutung aufgeladen, wenn<br />
sie mit weiteren Symbolen, beispielsweise<br />
dem Kreis, kombiniert werden. Der Kreis<br />
impliziert Pforten, durch die der Auszug<br />
aus der Welt stattfindet, oder er macht das<br />
Monogramm IX zum Sonnenrad, das als<br />
Zeichen der lebens- und lichtbringenden<br />
22 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Herrschaft von Christus gedeutet wird. Der<br />
Kreis steht weltlich gesehen von jeher auch<br />
als Symbol für Unendlichkeit und Ewigkeit.<br />
Allgemein stehen geometrische Figuren,<br />
die mit einer Zahlensymbolik aufgeladen<br />
sind, welche sich aus der Natur ableitet,<br />
für kosmische Ordnung und Harmonie.<br />
Grabmalsymbole lassen sich denn auch<br />
nicht immer eindeutig der Kategorie<br />
christlich oder weltlich zuordnen. Eine<br />
Taube zum Beispiel, wenn sie von oben<br />
nach unten fliegt, kann als Symbol des<br />
Heiligen Geistes interpretiert werden. Der<br />
gleiche Vogel kann aber Richtung Himmel<br />
fliegend auch ganz «oberirdisch»<br />
wirken und Verbundenheit mit der Natur,<br />
Ruhe und Frieden bedeuten.<br />
Sogar ein Kreuz ist nicht gleich ein Kreuz.<br />
Es gehört zu den Ursymbolen, zu denen<br />
auch Kreis, Quadrat und Dreieck zählen,<br />
die die Grundlage der Grabmalgestaltung<br />
bilden. Je nach Kultur- und Religionskreis<br />
bestehen etliche Variationen dieser archetypischen<br />
Symbole. In den frühen Hochkulturen<br />
und bei den Urvölkergruppen<br />
der Steinzeit hatte das Kreuz eine kosmische<br />
Bedeutung. Die zwei in entgegensetzte<br />
Richtungen verlaufenden Linien machten<br />
es zum Sinnbild der Vereinigung von<br />
Extremen wie Himmel und Erde.<br />
Ohne Sinn kein Symbol<br />
Symbole werden in der Grabmalherstellung<br />
selten einzeln verwendet. Ihre Verwendung<br />
kommt in Zeiten des mehrheitlich<br />
industriell gefertigten Grabmals immer<br />
mehr dem Ornament gleich. Symbole<br />
werden auf diesem Weg ihres Sinnes<br />
entleert. Das gilt auch für viele Grabmäler,<br />
die in engem Bezug zu den Hobbys und<br />
dem Leben der Verstorbenen stehen und<br />
beispielweise mit einer Geige oder Pferdekopf<br />
verziert werden. So sind viele der<br />
heutzutage hergestellten Grabmäler zwar<br />
personenbezogen, aber nicht mehr symbolisch.<br />
Zum Massenprodukt wurde das Grabmal<br />
im ausgehenden 19. und beginnenden<br />
20. Jahrhundert. Dem Zeitgeist entsprechend<br />
war jedoch die Bildsprache eine<br />
andere: Repetitive antikisierende Darstellungen<br />
von trauenden weiblichen Figuren<br />
mit geflügelter Sanduhr oder Palmwedel,<br />
Sinnbilder wie das Tor, die Treppe, das<br />
Schiff, Blumen, die das Paradies ankündigten<br />
und in dieser Welt verwelkten,<br />
prägten damals das Bild der Friedhöfe.<br />
Christliche Symbole waren in dieser Zeit<br />
äusserst selten. Nur Kreuze und Engel<br />
erfreuten sich in der Grabmalkultur des<br />
20. Jahrhunderts ungebrochener Beliebtheit.<br />
Eine grosse Palette dieser antikisierenden<br />
Symbole ist uns bis heute auf mittlerweile<br />
geschützten, historischen Grabstätten erhalten<br />
geblieben.<br />
Welches Symbol steht<br />
für uns?<br />
Wir leben – zumindest bezüglich der<br />
Grabmalkunst – vermehrt in einer Zeit<br />
der «Symbolfremdheit». Dennoch entstehen<br />
auch neue Symbole, die den Weg auf<br />
die Friedhöfe finden. Antike oder mythologische<br />
Symbole werden neu interpretiert.<br />
Schmetterlinge werden in der heutigen<br />
Zeit zum Beispiel mit dem Tod von<br />
sehr kleinen oder ungeborenen Kindern<br />
verbunden. Ihre Existenz war von kurzer<br />
Dauer und ihr Tod manchmal leise.<br />
Generell lässt sich allerdings feststellen,<br />
dass unsere heutige Gesellschaft weniger<br />
Wissen von Symbolen hat und sie auch<br />
weniger nutzt als in der Vergangenheit.<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
23
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Zeichen sind dagegen allgegenwärtig,<br />
auch in unseren Smartphones. Vielleicht<br />
fehlt uns die Zeit, uns mit den Geschichten<br />
hinter den Symbolen zu befassen, oder es<br />
wird immer schwieriger, sich über ein<br />
einziges Symbol zu definieren. Individualität<br />
wird grossgeschrieben, aber wie soll<br />
sich der Einzelne nach seinem Tod manifestieren?<br />
Welches Symbol könnte für uns<br />
stehen? Diese Frage bleibt am Schluss<br />
meist unbeantwortet. Denn nur selten<br />
entscheiden wir über unsere eigenen<br />
Grabmäler. In der Vergangenheit war es<br />
nicht unüblich, dass eigene Grabmal mitzugestalten.<br />
Dass viele Grabmäler nicht<br />
viel über die Verstorbenen erzählen mag<br />
einer der Gründe sein, warum Grabstätte<br />
heute zum Teil mit anderen Objekten<br />
überladen werden. Laternen, Engelfiguren,<br />
Windräder etc. sind auf Grabstätten<br />
häufig zu finden. Wenn das Grabmal<br />
nicht reicht und nicht den Trost spenden<br />
kann, den man sich auf dem Friedhof<br />
erhofft, versucht man, ihn durch andere<br />
Objekte zu finden. ■<br />
24 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Der Code der Pharaonen<br />
Ein Schiff, ein Vogel, Wellen, eine sitzende Figur – die Zeichen sind meist klar. Doch was bedeuten<br />
sie? Die Entzifferung der ägyptischen Hieroglyphen hat den Forschern lange Zeit Kopfzerbrechen<br />
bereitet. Denn die «Bilderschrift» ist viel komplexer als auf den ersten Blick erkennbar. Erst ein Stein<br />
brachte des Rätsels Lösung und eröffnete Zugang zu Weltliteratur, die vor mehreren tausend Jahren<br />
verfasst worden war.<br />
Prof. Dr. Hanna Jenni, Departement Altertumswissenschaften /Ägyptologie Universität Basel<br />
Wer an altägyptische Schrift denkt, d.h.<br />
an die Schrift des pharaonischen Ägyptens,<br />
denkt an die hieroglyphischen Bildzeichen,<br />
deren Bildhaftigkeit auf den<br />
ersten Blick zu erkennen ist (Abb. 1). Die<br />
Hieroglyphenschrift ist diejenige Schriftform,<br />
die in Stein gemeisselt wurde. Sie<br />
entspricht unserer Lapidar- oder Druckschrift.<br />
Parallel zu den Hieroglyphen entwickelte<br />
sich seit frühester Zeit eine Kursivschrift,<br />
unserer Handschrift entsprechend,<br />
die mit Tinte auf Papyrus, auf<br />
Keramik oder auf Steinscherben (Ostraka),<br />
auf Holz, Leder oder Stoff verwendet<br />
wurde: das Hieratische (Abb. 2). Die einzelnen<br />
Bildzeichen sind dabei mehr oder<br />
weniger abstrahiert und nur noch bedingt<br />
als solche erkennbar.<br />
Drei Bausteine<br />
Für den modernen Laien ist die Hieroglyphenschrift<br />
die «Bilderschrift» par excellence,<br />
weil er in den meisten Zeichen einen<br />
realen Gegenstand, z.B. einen menschlichen<br />
Kopf, einen Vogel, ein Schiff erkennen<br />
kann. Und was der Laie vermutet, dass<br />
nämlich die Hieroglyphe eines menschlichen<br />
Kopfes «Kopf» bedeutet, dass also<br />
diese Schrift eine Begriffs- oder Symbolschrift<br />
ist in dem Sinne, dass das Gemeinte<br />
mit dem Dargestellten identisch ist,<br />
stimmt tatsächlich – wenn auch nur zu<br />
einem kleinen Teil: Das ägyptische Schriftsystem<br />
ist ein kombiniertes System, das<br />
Zeichen verschiedener Kategorien enthält.<br />
Eine Anzahl von Zeichen wird als Ideogramme<br />
oder Logogramme verwendet:<br />
Sie meinen das Dargestellte. Um die Lesung<br />
als Ideogramm sicherzustellen, wird<br />
dem betreffenden Zeichen meist ein kleiner<br />
senkrechter Strich beigefügt. Sieht<br />
man also das Zeichen des Kopfes im Profil<br />
mit einem Strich ( |) so bedeutet dies<br />
«Kopf», während der Kopf in Frontalansicht<br />
( |) «Gesicht» bedeutet. In diesen<br />
Fällen ist nicht der geringste Hinweis darauf<br />
gegeben, wie, d.h. mit welcher Lautfolge,<br />
das ägyptische Wort zu lesen ist. Ein<br />
Ägypter las unwillkürlich *tap bzw. *ḥ ar.<br />
Wer Ägyptisch lernt, muss dies erst lernen<br />
bzw. in der Zeichenliste nachsehen. Bei<br />
dem gegebenen Beispiel ist das Verfahren<br />
ikonisch: Das Ideogramm zeigt das gemeinte<br />
Objekt. Im Falle von daw,<br />
«schlecht, Schlechtes», wird das Rebus-<br />
Prinzip angewandt: Das Wort für «Berg»,<br />
welches das Zeichen abgibt ( ), ist<br />
phonetisch identisch mit dem Wort<br />
«schlecht». Das Rebus-Prinzip ist wohlbekannt,<br />
z.B. von der Notation «I ♥ U»,<br />
wo englisch U für you steht. Das dritte<br />
Verfahren ist das symbolische (im englischen<br />
Beispiel das Herz für «love»): Der an<br />
den Tempelpylonen (Tempeltoren) platzierte<br />
Flaggenmast ( ) wird mit dem<br />
Begriff «Gott» assoziiert und ist zu lesen<br />
als *natar, «Gott».<br />
Abb. 1: Polychrome Hieroglyphen des menschlichen Kopfes im Profil und in<br />
Frontalansicht. Relief im Grab Sethos’ I. im Tal der Könige bei Luxor<br />
Ausschliesslich mit solchen Ideogrammen<br />
kann man natürlich keine Sprache adäquat<br />
wiedergeben. Und so gibt es als<br />
zweite Kategorie daneben die Lautzeichen<br />
Abb. 2: Die Hieroglyphen des Kopfes im Profil und in Frontalansicht mit Entsprechungen in hieratischer (kursiver)<br />
Schrift. G. Möller, Hieratische Paläographie, Leipzig 1927, Bd. 2, 6<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
25
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
oder Phonogramme. Sie bezeichnen die<br />
Konsonanten – Vokale blieben in der<br />
ägyptischen Schrift unberücksichtigt, wie<br />
dies auch in Schriftsystemen semitischer<br />
Sprachen (z.B. Arabisch, Hebräisch) der<br />
Fall ist. Die Phonogramme unterteilen<br />
sich in drei Gruppen, nämlich Ein-, Zweiund<br />
Dreikonsonantenzeichen. Ein einziges<br />
Zeichen kann also unter Umständen<br />
mehrere Silben andeuten. Und: Man<br />
könnte mit Hieroglyphen auch alphabetisch<br />
schreiben, nämlich nur mit Einkonsonantenzeichen<br />
– was aber sozusagen<br />
nie getan wurde.<br />
Daneben gibt es noch eine dritte Kategorie<br />
von Zeichen, die zwar geschrieben, aber<br />
in der Aussprache nicht realisiert werden.<br />
Diese Determinative, Taxogramme oder<br />
semantische Klassifikatoren stellen eine<br />
Verständnis- und damit eine Lesehilfe dar.<br />
Denn sie ordnen ein bestimmtes Wort einer<br />
bestimmten Bedeutungsklasse zu.<br />
Abb. 3: Der Stein von Rosette. London, British<br />
Museum, EA 24<br />
Suche nach dem Code<br />
Es handelt sich bei der hieroglyphischen<br />
Schrift also um ein kombiniertes System,<br />
und diese Tatsache stellte für die Entzifferung<br />
der Hieroglyphenschrift in der Neuzeit<br />
eine beträchtliche Hürde dar. Nachdem<br />
die Kenntnis der hieroglyphischen<br />
Schrift und Sprache mit der Christianisierung<br />
Ägyptens verloren gegangen war,<br />
bemühten sich europäische Gelehrte immer<br />
wieder darum, besonders in der Renaissance.<br />
Mit ihrem symbolisch-mystischen<br />
Ansatz war ihnen der Zugang zur<br />
Entschlüsselung jedoch verwehrt. Das<br />
Interesse der Aufklärung an antiken<br />
Schriften und Sprachen führte zu Fortschritten,<br />
z.B. zur Entzifferung der alphabetischen<br />
Schrift der Phönizier. Letzteres<br />
gelang dem französischen Gelehrten Abbé<br />
Jean-Jacques Barthélemy in den 1760er<br />
Jahren. Sein grosses Interesse galt auch<br />
den ägyptischen Hieroglyphen, die er gerne<br />
entziffert hätte. Er war es immerhin,<br />
der erstmals auf die Idee kam, dass die<br />
ovalen Ringe, sog. Kartuschen, Namen<br />
von Königen enthalten könnten, von denen<br />
etliche durch die klassischen Autoren<br />
bekannt waren. In Anbetracht dieser frühen<br />
Versuche muss man sich heute vor<br />
Augen halten, dass kaum Studienmate rial<br />
vorhanden war. Es mangelte an verlässlichen<br />
Abschriften wie auch an originalem<br />
Anschauungsmaterial und nicht zuletzt<br />
an Bilinguen, d.h. zweisprachigen Inschriften.<br />
Der sprechende Stein<br />
Die französische Expedition nach Ägypten<br />
(1798–1801) unter Napoleon stellte einen<br />
Wendepunkt dar. Mit ihr begann einerseits<br />
die Kolonisierung Ägyptens, andererseits<br />
die intensive wissenschaftliche Beschäftigung<br />
mit dem modernen wie dem<br />
antiken Ägypten. Die Frucht dieser wissenschaftlichen<br />
Anstrengung war das monumentale<br />
Werk Description de l’Égypte<br />
(1809–1822).<br />
Das Dorf Abuqir in der Nähe von Alexandria<br />
am Mittelmeer war 1798 Schauplatz<br />
einer englisch-französischen Seeschlacht<br />
und 1799 einer französisch-osmanischen<br />
Landschlacht. Kurz vor dieser Landschlacht<br />
wurde in Raschid – von den<br />
Europäern Rosette genannt – ein Stein<br />
entdeckt, dessen Bedeutung für die Wissenschaft<br />
sofort erkannt wurde (Abb. 3).<br />
Das Bruchstück aus hartem Granodiorit,<br />
das heute 112,3 × 75,7 × 28,4 cm misst<br />
und im Britischen Museum ausgestellt<br />
ist, war vermutlich im sog. Fort St. Julien<br />
sekundär verbaut gewesen und bei dessen<br />
Abriss zum Vorschein gekommen. Der<br />
Text der ursprünglichen Stele gliedert<br />
sich in drei Abschnitte, wobei der letzte<br />
Abschnitt in Griechisch verfasst ist und<br />
sofort übersetzt wurde. Im ersten Abschnitt<br />
wurden die ägyptischen Hieroglyphen<br />
erkannt und im zweiten die späte<br />
Kursivschrift, die sog. demotische Schrift,<br />
eine Weiterentwicklung der oben erwähnten<br />
hieratischen Schrift. Die Vermutung,<br />
denselben Text sowohl auf Ägyptisch in<br />
zwei verschiedenen Schriften und<br />
Sprachstufen vor sich zu haben als auch<br />
auf Griechisch, lag nahe und sollte sich<br />
als richtig und wegweisend für den<br />
Durchbruch der Entzifferung erweisen.<br />
Kopien des Steines gelangten rasch nach<br />
Europa und wurden von Gelehrten studiert.<br />
Es wäre falsch, die Entzifferung<br />
ausschliesslich dem Franzosen Jean-<br />
François Champollion (1790–1832) zuzuschreiben;<br />
nicht unerhebliche Vorarbeiten<br />
wurden geleistet von dem Franzosen<br />
Silvestre de Sacy (1758–1838) und<br />
von dem Schweden Åkerblad (1763–1819).<br />
Der wichtigste Name unter den Vorbereitern<br />
der Entzifferung der Hieroglyphen<br />
von 1822 ist der des Engländers Thomas<br />
Young (1773–1829).<br />
Der Text der Stele ist in seiner Art kein<br />
Einzelfall. Es handelt sich um eines von<br />
mehreren bekannten Priesterdekreten<br />
zugunsten des Herrscherkultes, im Falle<br />
des Steins von Rosette von Ptolemaios V.<br />
aus dem Jahr 196 v. Chr. Die Bedeutung<br />
des Rosetta-Steins für unsere Zeit hat Richard<br />
Parkinson folgendermassen formuliert:<br />
«It has turned from the booty of<br />
conflict into a symbol of cross-cultural<br />
understanding, and has opened up 3,000<br />
years of written history, revealing a vast<br />
amount of hitherto unintelligible world<br />
literature and records of human experience<br />
and desires that had been thought<br />
lost for ever. It has entered the English<br />
language as a phrase for ‹a key to some<br />
previously unattainable understanding›<br />
(Oxford English Dictionary), and continues<br />
to give its name to translation programmes,<br />
and even space missions, such<br />
as that launched by the European Space<br />
Agency in March 2004 to decipher the<br />
early history of the solar system, 4,600<br />
million years ago, by investigating the<br />
origin and composition of a comet.»<br />
(Parkinson 2005, 46 f.) [1].<br />
26 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Wie entstand der Code?<br />
Im Anschluss an die ältere Vorstellung von<br />
einer Entwicklung der Schrift «vom Bild<br />
zum Buchstaben» wurde eine Zeit lang<br />
behauptet, dass es sich bei der Hieroglyphenschrift<br />
um eine Erfindung gehandelt<br />
habe, da keine Vorstufen der ägyptischen<br />
Schrift greifbar seien. Das Schriftsystem<br />
sei in der Zeit kurz vor 3000 v. Chr. quasi<br />
fertig vorhanden gewesen und habe sich<br />
anschliessend zwar noch bezüglich des<br />
Zeicheninventars und der Orthographie<br />
gewandelt, jedoch prinzipiell nicht mehr<br />
verändert. Allerdings deuten neuere Funde<br />
und Untersuchungen darauf hin, dass<br />
die Entstehung der Schrift älter ist (ca.<br />
3400–3250 v. Chr.), als bisher angenommen<br />
wurde, und dass sich das Schriftsystem<br />
sehr wohl in Stufen entwickelt hat.<br />
Allgemein lässt sich mit Ludwig Morenz<br />
sagen: «Die Kompetenz zum Interpretieren<br />
und zum Generieren von Zeichen<br />
gehört zu den Grundbedingungen von<br />
menschlicher Kultur. Darauf ruht das<br />
mehr oder weniger freie humane Spiel mit<br />
Zeichen. Während bestimmte Tiere wie<br />
Hunde, Affen oder Bienen zwar teilweise<br />
sehr elaborierte Zeichensysteme benutzen,<br />
scheint gerade die Idee zur grundlegenden<br />
Unterscheidung zwischen dem bezeichneten<br />
Objekt und dem Medium der Bezeichnung<br />
doch spezifisch menschlich zu sein.<br />
Diese Fähigkeit zu fiktionalisieren und<br />
damit die Gegenwart zu transzendieren<br />
sowie über die Unterscheidung zwischen<br />
Subjekt und Objekt zu reflektieren, ist human<br />
– also der Mensch als Tier, das<br />
Sprache hat (Aristoteles), und das eben<br />
damit auch bewusst lügen kann!» (Morenz<br />
2013, 224). Am Anfang der Herausbildung<br />
eines Codes steht das Lesen natürlicher<br />
Zeichen wie Fussspuren bis hin<br />
zu von Menschen bewusst geschaffenen<br />
Symbolzeichen. Ein System von Zeichen<br />
noch ohne Hinweise auf die lautliche Realisierung<br />
in der jeweiligen Sprache ist für<br />
Ägypten früh anzusetzen, mindestens seit<br />
dem 5. Jt. v. Chr.<br />
Ein entscheidender Schritt erfolgte um<br />
3250 v. Chr. mit ersten Phonetisierungen<br />
von Bildzeichen. Dabei war das häufigste<br />
Prinzip wohl das des konsonantischen<br />
Rebus. Ein Beispiel auf Deutsch wäre das<br />
Bildzeichen einer Tür für die Konsonantenfolge<br />
t–r, womit dann auch die Wörter<br />
Tor, Teer und Tier geschrieben werden<br />
könnten oder ein Grasbüschel für Gras,<br />
Griess, gross und Gruss. Eine interessante<br />
Erklärung, die schon Sir Alan Gardiner<br />
im Jahr 1915 geäussert hatte – und die<br />
nicht nur für die ägyptische Schriftentstehung<br />
zutreffen dürfte –, ist die, dass die<br />
Notation von Eigennamen ein wichtiger<br />
Antrieb für die Phonetisierung gewesen<br />
sein muss. Denn Eigennamen sind von<br />
ihrem Referenzobjekt losgelöst und somit<br />
generell nicht einfach bildlich darstellbar.<br />
Das Rebus-Prinzip ermöglichte die phonetische<br />
Schreibung von Eigennamen wie<br />
auch von Abstrakta. Zu Beginn des 3. Jts<br />
v. Chr. erfolgte dann die Entwicklung des<br />
Schriftsystems durch Systematisierung<br />
und Standardisierung der Zeichen und<br />
ihrer Funktionen, später die Schreibung<br />
auch grammatikalischer Elemente, womit<br />
der Schritt von einzelnen Wörtern<br />
zum Satz vollzogen wurde und Texte generiert<br />
werden konnten.<br />
Als Impetus für die Entwicklung einer<br />
Schrift kann für Ägypten nach derzeitigem<br />
Wissensstand Zweierlei vermutet werden:<br />
Repräsentation und Ökonomie/Verwaltung.<br />
Beide sind wesentlich mit der<br />
Herausbildung einer protoägyptischen<br />
Elite- und Herrscherkultur verbunden. In<br />
stadtähnlichen Zentren suchten Häuptlinge<br />
die Führung der Elite und die Kontrolle<br />
über die Ressourcen. Mit bild-textlichen<br />
Zeichen erfolgte ihre Selbstdarstellung<br />
und damit die Kommunikation ihres<br />
Herrschaftsanspruchs. So sind mehrere<br />
Abb. 4: Prunk-Schminkpalette aus<br />
Hierakonpolis. Oxford, Ashmolean<br />
Museum, E 3924, Höhe 42,5 cm,<br />
aus Schist<br />
Abb. 5: Umzeichnung eines Etiketts<br />
(Anhängetäfelchens) aus einem<br />
prädynastischen Königsgrab bei<br />
Abydos, Höhe 2,8 cm, aus Elfenbein.<br />
G. Dreyer, Umm el-Qaab I, Mainz<br />
1998, 119, <strong>Nr</strong>. 59<br />
Stärke und Dominanz verkörpernde Tiere<br />
(z.B. Elefant, Giraffe, Löwe) in bild-textlichen<br />
Darstellungen als Herrscher-Symbole<br />
zu interpretieren, die im Gegensatz zu<br />
unterlegenen anderen Tierarten (z.B.<br />
Gazelle, Antilope, Ziege) erscheinen<br />
(Abb. 4). Die Siegel-, Etiketten- und Gefässinschriften<br />
zur Kennzeichnung von<br />
Warenlieferungen, die in Abydos gefunden<br />
wurden (Abb. 5), zeugen für die Nutzung<br />
der frühen Schrift zur Organisation in<br />
administrativer und wirtschaftlicher Hinsicht<br />
– auch sie in unmittelbarer Umgebung<br />
des Herrschers. Und: «[…] für das<br />
Alte Ägypten ist die enge Verbindung von<br />
Schrift und Herrschaft (sowohl in Form<br />
von Verwaltung als auch zeremonieller<br />
Präsentation) jedenfalls offensichtlich.»<br />
(Morenz 2004, 238). [2.] ■<br />
Literatur:<br />
1. Robinson, A., Wie der Hieroglyphen-Code<br />
geknackt wurde. Das revolutionäre Leben<br />
des Jean-François Champollion, Darmstadt<br />
2014 (= Cracking the Egyptian Code. The<br />
Revolutionary Life of Jean-François Champollion,<br />
Oxford 2012); Parkinson, R., The<br />
Rosetta Stone, London 2005.<br />
2. Morenz, L. D., Bild-Buchstaben und symbolische<br />
Zeichen. Die Herausbildung der<br />
Schrift in der hohen Kultur Altägyptens (Orbis<br />
Biblicus et Orientalis, Bd. 205), Fribourg/<br />
Göttingen 2004; Ders., Kultur- und mediengeschichtliche<br />
Essays zu einer Archäologie<br />
der Schrift. Von den frühneolithischen Zeichensystemen<br />
bis zu den frühen Schriftsystemen<br />
in Ägypten und dem Vorderen<br />
Orient (Thot. Beiträge zur historischen<br />
Epistemologie und Medienarchäologie,<br />
Bd. 4), Berlin 2013.<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
27
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Unscheinbar, aber aussagekräftig<br />
Kleine Ställe oder Schober, sogenannte Schürli, prägten über eine lange Zeit die alpine Landschaft.<br />
Infolge der Umstellung der Landwirtschaft und der vermehrten Verschiebung der Milchwirtschaft<br />
von den Bergen ins Tal drohen die Schürli zu verschwinden. Dafür dehnen sich die Wälder aus. Der<br />
Erhalt der Schürli als Symbole alpiner Landwirtschaft dient auch dem Landschaftsschutz.<br />
Michael Gehret, Architekt und Designer, Feutersoey, Verein Schür.li<br />
Wenn wir durch unser schönes Berggebiet<br />
wandern, so fällt auf, dass viele der alten,<br />
kleinen Ställe und Heuschober zerfallen,<br />
abgebrochen werden und so aus der Landschaft<br />
verschwinden. Diese Gebäude haben<br />
ihren landwirtschaftlichen Nutzen<br />
verloren. Die Bauern bauen im Talboden<br />
wirtschaftlichere Hallen und tierschutzgerechte<br />
Ställe und können die alten Holzhäuser<br />
nicht erhalten. Da diese Schürli<br />
vorwiegend im Berggebiet und damit an<br />
exponierten Lagen stehen, erscheint der<br />
Aufwand zu gross.<br />
Der Verein Schür.li hat in der Berner Gemeinde<br />
Gsteig sämtliche Scheunen in<br />
einem Webkataster dokumentiert und ist<br />
auf über 185 Stück gekommen. Eine Zahl,<br />
die überrascht. Im gesamten Alpenraum<br />
sprechen wir von über 100 000 ehemals<br />
wichtigen Heulagern und Ställen, in denen<br />
das Vieh so lange nachts untergebracht<br />
war, bis die Umgebung rund um<br />
das Schürli abgegrast war. Dann zog die<br />
Herde zum nächsten Schürli. Diese Form<br />
der Landwirtschaft prägte das Landschaftsbild.<br />
Die Landschaft wurde durch<br />
Zäune gerastert, rund um die kleinen<br />
Ställe wurde das Land gemäht, gerodet<br />
und gepflegt.<br />
In den letzten Jahren führten verschärfte<br />
Bestimmungen hinsichtlich Tierschutz<br />
und der wirtschaftliche Druck auf die<br />
Landwirte zu einer grossen Veränderung<br />
der Betriebe im Berggebiet. Diese Umstellungen<br />
in der Landwirtschaft hinterlassen<br />
direkte Spuren in der Landschaft. Allein<br />
in den vergangenen zehn Jahren wuchs<br />
die Waldfläche in den Alpen um rund<br />
zehn Prozent, weil die Alpflächen nicht<br />
mehr genutzt werden. Der Prozess ist<br />
schleichend, wir merken daher nicht, wie<br />
gross die Veränderung ist. Die Schweiz<br />
besteht zu zwei Dritteln aus Berggebieten,<br />
hier wohnt immerhin ein Viertel der Bevölkerung.<br />
Viele Arbeitsplätze in den Bergen<br />
sind direkt oder indirekt vom Tourismus<br />
abhängig. Die Attraktivität der alpinen<br />
Landschaft ist folglich eine existenzielle<br />
Frage für viele Bergbewohner. Ist<br />
eine Wanderung mit freier Sicht auf Berge<br />
und Seen, über sanfte Hügel, meist mit<br />
einem Schürli drauf, nicht einfacher zu<br />
vermarkten, als wenn man nur alle fünf<br />
Kilometer durch die Bäume hindurch auf<br />
Berggipfel sehen kann?<br />
Wir denken, ein Schutz unserer vertrauten,<br />
einmaligen Landschaft bedingt den<br />
Erhalt dieser landwirtschaftlichen Kulturdenkmäler<br />
in einer grossen Anzahl. Dies<br />
geht jedoch nur, wenn diese Gebäude frei<br />
genutzt werden können. Selbstverständlich<br />
ohne sichtbare Veränderung, ohne<br />
neue Erschliessungen, ohne neue Emissionen<br />
und ohne unwirtschaftliche<br />
Schutzklauseln. <br />
■<br />
(Die Bilder stammen aus dem Buch<br />
«Schür.li», 2015.)<br />
Partnervermittlung mit Charme<br />
persönlich∙seriös∙kompetent<br />
Löwenstrasse 25, 8001 Zürich<br />
044 534 19 50 oder 079 774 00 84<br />
Ich freue mich auf Ihren Anruf.<br />
Kathrin Grüneis<br />
28 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Lebensversicherung für Daten<br />
Sie kontrollieren, sie reparieren, sie sichern. Damit der Datenaustausch und die Speicherung von<br />
Daten problemlos verlaufen, braucht es Codes. Diese sorgen im Hintergrund dafür, dass z.B. die<br />
Präsentation nicht verloren geht, obgleich die CD zerkratzt ist. Die Kodierungstheorie sichert Daten<br />
gegen technische Probleme, aber auch gegen menschliches Versagen.<br />
Dr. Anna-Lena Horlemann-Trautmann, Oberassistentin in Mathematik und Informatik an der EPF Lausanne<br />
Heutzutage ist unser (berufliches wie<br />
auch privates) Leben ohne digitale Datenspeicherung<br />
und Kommunikation kaum<br />
noch vorstellbar – denken wir nur an<br />
Patientenakten oder Ultraschallbilder, die<br />
auf dem Computer gespeichert und bearbeitet<br />
werden, oder aber an E-Mails und<br />
Skype-Telefonate mit Freunden am anderen<br />
Ende der Welt.<br />
Bei all diesen Technologien spielt die Kodierungstheorie<br />
eine Rolle. Diese hat die<br />
Aufgabe, die Datenspeicherung oder<br />
-übertragung sicher gegen technische<br />
Probleme bzw. physikalische Fehler zu<br />
machen. Solche Fehler können z.B. durch<br />
Stromausfälle in Rechenzentren, atmosphärische<br />
Störungen bei Funksignalen<br />
oder nicht mehr lesbare Speichermedien<br />
auftreten. In solchen Fällen möchten wir<br />
uns gegen den Datenverlust absichern – es<br />
wäre schliesslich tragisch, wenn komplette<br />
Patientenakten verloren gingen, nur<br />
weil eine Daten-CD verkratzt ist oder wenn<br />
eine E-Mail beim Empfänger nicht lesbar<br />
ist, weil ein Kabel zum Rechenzentrum<br />
des E-Mail-Providers beschädigt wurde.<br />
Dabei werden die Daten vor dem Speichern<br />
«kodiert», indem man eine gewisse<br />
Redundanz hinzufügt. Mit dieser Zusatzinformation<br />
kann der Empfänger fehlerhafte<br />
Teile der Datei erkennen und korrigieren.<br />
Die simpelste Art von Redundanz<br />
ist das zuvor genannte Duplizieren der<br />
Nachricht, man kann allerdings durch<br />
fortschrittlichere Kodierungstechniken<br />
mit weniger Redundanz den gleichen Effekt<br />
erzielen.<br />
Datenübertragung<br />
Ein anderer Teil der Kodierungstheorie<br />
beschäftigt sich mit der Sicherheit von<br />
Datenübertragungen, also der digitalen<br />
Kommunikation. Ein Beispiel hierfür ist<br />
das Senden und Empfangen von E-Mails<br />
über WLAN. Bei der Datenübertragung in<br />
drahtlosen Netzwerken können schon<br />
kleine Störungen in der Luft die gesendeten<br />
Daten beschädigen und der Empfänger<br />
erhält somit nur einen Teil der gesen<br />
Datenspeicherung<br />
Die simpelste und intuitivste Art der Datensicherung<br />
ist die Sicherungskopie, also<br />
das Duplizieren der Daten. Wenn eine<br />
Datei teilweise nicht mehr lesbar ist, kann<br />
die Sicherungskopie herangezogen werden<br />
und davon wiederum eine neue Sicherungskopie<br />
gemacht werden. Die Informationen<br />
sind damit also nicht verloren<br />
gegangen. Bei einer solchen Sicherungskopie<br />
wird allerdings die doppelte Menge<br />
an Speicherplatz benötigt, bei einer doppelten<br />
Sicherungskopie dann schon der<br />
dreifache Speicherplatz usw. Bei grossen<br />
Datenmengen kann dies ein Problem werden.<br />
Die Kodierungstheorie beschäftigt<br />
sich unter anderem damit, wie man eine<br />
solche Absicherung gegen Datenverlust<br />
effizienter, also mit möglichst wenig benötigtem<br />
Speicherplatz, erreichen kann.<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
29
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
deten Nachricht korrekt. Um dieses Problem<br />
zu umgehen, wird der Inhalt der<br />
E-Mails, ähnlich wie bei der Datenspeicherung,<br />
kodiert, bevor die Nachricht<br />
gesendet wird. Der Empfänger kann dann<br />
die fehlerhaften Teile der Nachricht erkennen<br />
und korrigieren. Wie bei der Datenspeicherung<br />
ist es die Aufgabe der Kodierungstheoretiker,<br />
möglichst effiziente<br />
Kodierungen zu finden, also den Rohdaten<br />
möglichst wenig Redundanz für die<br />
gleiche Fehlerkorrektur hinzuzufügen.<br />
Dies ist wichtig, da jedes zu sendende Zeichen<br />
Energie verbraucht und gegebenenfalls<br />
eine Datenleitung für längere Zeit<br />
belegt.<br />
Sehr viel schwieriger zu lösen als das Versenden<br />
von E-Mails ist ein kontinuierlicher<br />
Datenaustausch, z.B. bei einem Telefonat.<br />
Die Schwierigkeit ist hier, dass die<br />
Datenpakete live, also ohne Zeitverzögerung,<br />
beim Empfänger ankommen müssen.<br />
Im Gegensatz zum Dekodieren (also<br />
dem Korrigieren und Wiederherstellen)<br />
von E-Mails kommt hier erschwerend hinzu,<br />
dass die Fehlerkorrektur extrem<br />
schnell passieren muss. Falls dies z.B. bei<br />
Video-Telefonaten nicht funktioniert,<br />
kommt es zu den bekannten Aussetzern<br />
oder Verzögerungen in Bild oder Ton.<br />
Beispiel Check Digits<br />
Natürlich treten Fehler nicht nur durch<br />
technische Probleme und bei digitalen<br />
Daten auf, sie können ebenso durch<br />
menschliche Fehler und bei «analogen»<br />
Anwendungen entstehen.<br />
Dass auch hierbei die Kodierungstheorie<br />
hilfreich ist, kann man anhand des klassischen<br />
Beispiels der sogenannten Check<br />
Digits sehen, welche z.B. bei Blutbeutel-<br />
Eurocodes oder Pharmazentralnummern<br />
(PZN) benutzt werden. Eine PZN besteht<br />
aus 8 Ziffern, wobei die Zahlen von 0 bis<br />
9 und der Buchstabe X als Ziffer mit dem<br />
Wert 10 verwendet werden. Die ersten 7<br />
Ziffern identifizieren das Medikament.<br />
Die letzte Ziffer, der sogenannte Check<br />
Digit, wird wie folgt aus den ersten 7 Ziffern<br />
berechnet: Man summiert die erste<br />
Ziffer plus zweimal die zweite Ziffer plus<br />
dreimal die dritte Ziffer usw. bis siebenmal<br />
die siebte Ziffer; dann teilt man diese<br />
Summe durch 11 und der Rest bei der<br />
Division ist der Check Digit.<br />
Ist z.B. ein Medikament mit der Nummer<br />
0116144 identifiziert, dann berechnet<br />
man zunächst die Summe:<br />
1 × 0 + 2 × 1 + 3 × 1 + 4 × 6 + 5 × 1 + 6 × 4 +7<br />
× 4 = 86. Das Ergebnis durch 11 geteilt<br />
gibt einen Rest von 9, da 86 = 7 × 11 + 9.<br />
Damit ist der Check Digit die Ziffer 9 und<br />
die vollständige PZN des Medikaments ist<br />
01161449.<br />
Vertippt man sich beim Eingeben einer<br />
PZN, so dass eine der ersten 7 Ziffern<br />
falsch ist, dann ist die letzte Ziffer folglich<br />
nicht der Check Digit der ersten 7 Ziffern.<br />
Ein Computer kann auf diese Weise sofort<br />
feststellen, ob die eingetippte Nummer<br />
eine gültige PZN ist oder nicht. Falls im<br />
obigen Beispiel durch einen Fehler die<br />
zweite Ziffer von 1 auf 8 geändert wurde,<br />
erhalten wir den Check Digit 1, da 1 × 0 +<br />
2 × 8 + 3 × 1 + 4 × 6 + 5 × 1 + 6 × 4 + 7 × 4 =<br />
100 = 9 × 11 + 1, entsprechend können wir<br />
direkt erkennen, dass 08161449 keine gültige<br />
PZN ist und somit ein Fehler vorliegt.<br />
Das Erkennen von falsch eingegebenen<br />
PZN ist nicht nur praktisch, sondern kann<br />
lebensrettend sein, da ohne die Check Digits<br />
Medikamente leicht vertauscht und<br />
somit falsch verabreicht werden könnten.<br />
Das Gleiche gilt für das Vertauschen von<br />
Blutbeuteln.<br />
Check Digits gibt es aber nicht nur in der<br />
Medizin, sondern in vielen Bereichen unseres<br />
täglichen Lebens, z.B. bei Kontonummern,<br />
Banknoten, ISBN (Bücher),<br />
Fahrzeugnummern, Personalausweisen<br />
und vielen mehr.<br />
Forschung<br />
Neben der gerade dargestellten grundlegenden<br />
Technik von Check Digits gibt es<br />
in der Kodierungstheorie viele mathematisch<br />
fortgeschrittene Resultate zu Eigenschaften<br />
(wie Übertragungsrate und Fehlerkorrekturkapazität)<br />
von verschiedenen<br />
Codes und Algorithmen, wie diese möglichst<br />
effizient zu verwenden sind. Diese<br />
Resultate basieren zumeist auf Techniken<br />
und Resultaten aus der Algebra oder der<br />
Wahrscheinlichkeitstheorie.<br />
Wegen der vielfältigen Anwendungen und<br />
der zugrunde liegenden mathematischen<br />
Theorie ist dieses Gebiet fächerübergreifend<br />
und sowohl Mathematiker wie auch<br />
Informatiker und Elektrotechniker befassen<br />
sich damit.<br />
Kryptographie<br />
Mit der Kodierungstheorie eng verwandt,<br />
und in der Öffentlichkeit mit mehr Interesse<br />
bedacht, ist die Kryptographie. Sie<br />
befasst sich auch mit Datensicherheit,<br />
allerdings geht es nicht um technische<br />
Probleme, sondern um das unerwünschte<br />
Abhören oder Abfangen von Daten bei<br />
der digitalen Kommunikation. Z.B. ist ein<br />
WLAN-Netzwerk, wie wir es zuhause benützen,<br />
recht ungeschützt: Mit ein wenig<br />
Know-how und einem normalen Laptop<br />
könnte jemand vor unserer Haustür alle<br />
gesendeten E-Mails abfangen und mitlesen,<br />
wenn sie nicht zuvor durch unsere<br />
E-Mail-Software kryptographisch verschlüsselt<br />
werden. Ähnlich ist es bei der<br />
Datenspeicherung, bei der wir Kryptographie<br />
benötigen, um Dateien mit einem<br />
Passwort (oder auch einem Fingerabdruck)<br />
zu verschlüsseln, so dass nur der<br />
Inhaber des Passwortes (bzw. des Fingerabdrucks)<br />
diese öffnen bzw. lesen kann.<br />
Obwohl die Aufgaben der Kryptographie<br />
und der Kodierungstheorie sich ähnlich<br />
anhören, sind die angewandten mathematischen<br />
Techniken in beiden Gebieten<br />
zumeist ganz andere. Für viele Anwendungen<br />
in der digitalen Kommunikation<br />
und Datenspeicherung sind allerdings<br />
beide Arten von Sicherheit äusserst wichtig,<br />
daher werden Kodierungstheorie und<br />
Kryptographie beim digitalen Datenaustausch<br />
vielfach in Kombination verwendet.<br />
■<br />
30 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Ein System mit 47 000 Zeichen<br />
Ihre Ursprünge reichen ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurück, ihre Möglichkeiten sind<br />
schier unerschöpflich und ihre Kenntnis ist das Eintrittsbillett in eine höhere Laufbahn. Die<br />
chinesische Schriftsprache diente trotz ihrer Komplexität während Jahrhunderten als<br />
einziges Kommunikationsmittel aller chinesischen Volksgruppen. Heutige Schüler sollten<br />
zwischen 1000 und 4000 Zeichen beherrschen.<br />
Dr. Ulrike Unschuld, Sinologin<br />
Geben Sie einem Kind einen Stift, einen<br />
Pinsel in die Hand, und malen Sie mit<br />
ihm einfache chinesische Zeichen. Welche<br />
Konzentration und Faszination ist da zu<br />
spüren, wenn z. B. bildhafte Zeichen wie<br />
Sonne und Erde, Mond und Baum,<br />
Mensch und Mund auf dem Papier entstehen.<br />
Wie leicht doch Lesen und Verständigung<br />
da erscheinen! Doch die Begeisterung<br />
schwindet, sobald sich zeigt, wie viel<br />
Mühe es kostet, diese Schrift zu erlernen.<br />
Chinesische Kinder sind damit von früh<br />
auf konfrontiert. Die chinesische Schrift<br />
war in der Vergangenheit die Voraussetzung<br />
für einen lukrativen Beamtenposten<br />
im Staat. Sie bleibt auch heute unverzichtbar.<br />
Ganz allgemein dient die Schrift dazu,<br />
Dinge zu dokumentieren und Verbindungen<br />
herzustellen – zum Beispiel zwischen<br />
Menschen an verschiedenen Orten und<br />
über kürzere oder längere Zeiten. Die Anregung,<br />
sich der Zeichen zu bedienen,<br />
deutete ein chinesischer Gelehrter vor<br />
1000 Jahren so: «Obwohl die Schriftzeichen<br />
von Menschen entworfen wurden,<br />
haben sie ihren Ursprung doch in der<br />
Natur. Phoenix und Vogel haben Linienmuster<br />
… Die [Schriftzeichen] sind nicht<br />
von Menschen gemacht, sondern nur<br />
nachgeahmt worden.»<br />
kann ein und dasselbe Schriftzeichen in<br />
einem bestimmten Kontext eine bestimmte<br />
Aussage vermitteln und in einem anderen<br />
Umfeld eine ganz andere.<br />
Im Gegensatz dazu steht die alphabetische<br />
Schrift, in der ein einzelner Buchstabe<br />
keine Bedeutung hat. Im 20.Jahrhundert,<br />
besonders in den 1950er Jahren unter<br />
Mao Zidong, hat es mehrfach Bestrebungen<br />
gegeben, die Zeichenschrift durch<br />
eine alphabetische Schrift zu ersetzen.<br />
Das erwies sich als nicht sinnvoll. China<br />
ist ein riesiges Land mit vielen unterschiedlichen<br />
Völkern, Dialekten und Sprachen.<br />
So wie ein Mathematiker aus Norwegen<br />
mit einem Kollegen aus Portugal<br />
an der Tafel über die Formelsprache wortlos<br />
kommunizieren kann, so können<br />
Chinesen ihre unterschiedlichen Dialekte<br />
in einer einheitlichen Schrift ausdrücken.<br />
Sie mögen sich über das gesprochene Wort<br />
nicht verstehen, aber über die geschriebenen<br />
Zeichen ist das sehr wohl möglich. Die<br />
gedruckte Zeitung, das gedruckte Buch<br />
Schrift als Bindemittel<br />
Die chinesische Schrift benutzt Zeichen,<br />
so genannte Ideogramme. Dabei entspricht<br />
jedes Zeichen einer Silbe. Diese<br />
kann eine Bedeutung haben und einem<br />
Wort entsprechen. Es können aber auch<br />
Worte aus mehreren Zeichen und Silben<br />
gebildet und damit neue Bedeutungen<br />
erschlossen werden. Die Möglichkeiten<br />
sind unerschöpflich. Im Laufe der vergangenen<br />
zwei Jahrtausende sind zudem fast<br />
jedem einzelnen Schriftzeichen mehr als<br />
eine, manchmal unübersehbar viele Bedeutungen<br />
zugesprochen worden. So<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
31
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Etwa 5000 Zeichen umfasste das Schriftsystem<br />
bereits zu solch früher Zeit. Gut die<br />
Hälfte der Ideogramme konnte identifiziert<br />
werden; nicht wenige sind eindeutig<br />
als Frühformen noch heute verwendeter<br />
Schriftzeichen erkennbar.<br />
Abb. 1. Die Entwicklung der Schriftzeichen von den Orakelknochen im späten 2. Jahrtausend<br />
v. Chr. bis in die Gegenwart. Links: das Schriftzeichen ji für «Kranksein». Oben ein<br />
Piktogramm, das einen Menschen zeigt, der von einem Pfeil getroffen wurde. Mitte: ein<br />
Bett mit einem Pfeil. Unten die heutige Schreibweise. Rechts: die Wandlung des Schriftzeichens<br />
mu, «Auge», von den shang-zeitlichen Knochenorakeln (oben) bis in die Gegenwart<br />
(unten)<br />
Abb. 2. Buchdruck eines medizinischen Texts<br />
(Huang Di Nei Jing Ling Shu) aus der Kaiserzeit.<br />
Lesbar von rechts nach links und von oben nach<br />
unten<br />
sieht in allen Landesteilen gleich aus; die<br />
Aussprache kann höchst unterschiedlich<br />
sein. Der Zeichensprache kommt somit<br />
eine immense politische Bedeutung zu;<br />
sie ist die Klammer, die die Einheit des<br />
Vielvölkerstaates gewährleistet. Das gilt<br />
zum Teil auch noch für die gebildeten<br />
Schichten in Japan oder Korea, die über<br />
lange Jahrhunderte die chinesischen Zeichen<br />
zur schriftlichen Kommunikation<br />
und Dokumentation verwendeten.<br />
Uralte Wurzeln<br />
Als Ende des 19. Jahrhundert in der Provinz<br />
Henan Königsgräber aus der Shang-<br />
Dynastie geöffnet wurden, fand man darin<br />
unter anderem Rinderschulterknochen<br />
und Schildkrötenpanzer, die zwischen<br />
dem 14. und 11. Jahrhundert v. Chr.<br />
zur Kommunikation zwischen den Lebenden<br />
und den Ahnen beschriftet worden<br />
waren. Wahrsager hatten die Schriftzeichen<br />
eingeritzt und die Objekte dann dem<br />
Feuer ausgesetzt. Die Risse, die sich von<br />
eingestanzten Löchern aus bildeten, wurden<br />
als Antworten der Ahnen gedeutet.<br />
Über die Jahrhunderte entwickelten sich<br />
verschiedene Schreibstile. Zahlreiche kleine<br />
Königreiche wetteiferten im 1. Jahrtausend<br />
v. Chr. miteinander um die Vorherrschaft.<br />
Sie alle nahmen Teil an der Entwicklung.<br />
Im Jahre 221 v. Chr. schliesslich<br />
vermochte das Königreich Qin die letzten<br />
Konkurrenten zu besiegen und das chinesische<br />
Reich zu gründen, das bis 1911<br />
mehr als zwei Jahrtausende lang Bestand<br />
hatte. Dass dieser Reichsgründung ein<br />
solcher Erfolg beschert war, lag nicht zuletzt<br />
daran, dass der erste Kaiser die wenigen<br />
Jahre seiner Regierungszeit dazu<br />
nutzte, die zuvor unterschiedlichen Masse,<br />
Gewichte, Spurbreiten und vor allem<br />
auch die Schriften, die sich in einzelnen<br />
Staaten unterschiedlich entwickelt hatten,<br />
zu vereinheitlichen und zu einer leichter<br />
les- und schreibbaren «Kanzleischrift»<br />
auszubilden. Erst nach der Gründung der<br />
Volksrepublik China im Jahre 1949 wurde<br />
erneut eine weitreichende Reform der<br />
Schrift in Angriff genommen. Viele<br />
Schriftzeichen waren viel zu kompliziert,<br />
um der grossen Menge von Analphabeten<br />
in aller Eile Lesen und Schreiben zu vermitteln<br />
und sie so mit Schriftmaterial zu<br />
versorgen, dessen Lektüre für die notwendigen<br />
Revolutionen und Reformen unabdingbar<br />
war.<br />
Schon ab dem 3. Jahrhundert v. Chr. existierten<br />
Hilfsmittel zum Erlernen von<br />
Schriftzeichen und Sprache. Lehr- und<br />
Wörterbücher standen zur Verfügung. Die<br />
Notwendigkeit in immer grösseren Staatswesen<br />
eine funktionierende Bürokratie<br />
einzuführen, erforderte eine umfassende<br />
Schriftkenntnis und die Möglichkeit, alle<br />
Angelegenheiten der Verwaltung und des<br />
täglichen Lebens schriftlich zu erfassen.<br />
Das Kangxi-Wörterbuch aus dem Jahre<br />
1716 bildete einen Höhepunkt dieser Entwicklung<br />
mit ca. 47 000 Zeichen. Geduld<br />
und Ausdauer und ein guter finanzieller<br />
Hintergrund waren nötig, damit sich die<br />
meist männlichen Studenten, die sich auf<br />
die Staatsprüfungen für den Beamtendienst<br />
vorbereiteten, mit der Schrift vertraut<br />
machen konnten. Heute wird Schülern<br />
ein Pensum von 1000 bis zu 4000<br />
Schriftzeichen auferlegt. Ein Universitäts<br />
32 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
professor sollte über mindestens 8000<br />
Schriftzeichen aktiv und passiv verfügen<br />
können.<br />
Bedrohte Handschrift<br />
Jedes Schriftzeichen ist aus einem oder<br />
mehreren Strichen aufgebaut. Man unterscheidet<br />
acht Stricharten, die in einer<br />
festgelegten Reihenfolge geschrieben werden.<br />
Sie lassen sich zu zahlreichen Komponenten<br />
zusammenfügen. Die meisten<br />
Schriftzeichen bestehen aus mehreren<br />
solcher Komponenten.<br />
Man liest sie in älteren Buchtexten in Reihen<br />
von oben nach unten und dann reihenweise<br />
von rechts nach links. Deshalb<br />
beginnt ein altes chinesisches Buch nach<br />
unserer Sichtweise auch «von hinten».<br />
Heute schreibt man von links nach rechts<br />
und in waagrechten Zeilen. Doch auch die<br />
Schreibweise von oben nach unten ist<br />
nach wie vor weitverbreitet, im Strassenbild<br />
vor allem an den senkrechten Leuchtreklamen<br />
vor den einzelnen Geschäften<br />
sichtbar.<br />
Abb. 3–5. Schriftreklamen in der Queens Road in Hongkong im Laufe der Jahrzehnte<br />
Abb. 6. Magische Schriftzeichen in einer Handschrift aus dem 18. Jahrhundert<br />
Seit der Antike benutzten die Schreiber<br />
besondere Tuschearten und Pinsel unterschiedlicher<br />
Feinheit, um die Schriftzeichen<br />
auf Knochen, Holz, Seide, Tierhaut<br />
und Papier zu verewigen. Heute erleichtert<br />
der PC das Schreiben und gefährdet zugleich<br />
die antike Schriftkultur. Es gibt<br />
verschiedene Möglichkeiten, über die<br />
Buchstabentastatur ein chinesisches<br />
Schriftzeichen auf den Bildschirm zu<br />
«zaubern». Allen gemein ist, dass die<br />
jahrhundertelang bestehende Notwendigkeit,<br />
die einzelnen Schriftzeichen immer<br />
wieder mit der Hand zu zeichnen, um sie<br />
nicht zu vergessen, weggefallen ist. Das<br />
passive Gedächtnis kann die Schriftzeichen<br />
bei der Lektüre erkennen. Immer<br />
mehr junge Chinesen sind aber nicht<br />
mehr in der Lage, die etwas seltener im<br />
Alltag genutzten Schriftzeichen spontan<br />
niederzuschreiben.<br />
Schrift war und ist ein Kommunikationsmittel.<br />
Sie übermittelte politische und<br />
bürokratische Bekanntmachungen der<br />
kaiserlichen Regierung, wie man sie an<br />
Wegkreuzungen, wichtigen Orten auf<br />
steinernen Stelen eingekerbt findet. Sie<br />
übermittelt religiöse Inhalte wie die monumentalen<br />
Schriftzeichen, die in der<br />
Provinz Shandong in den Fels gehauen<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
33
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
sind und für alle Zeiten vom Buddhismus<br />
künden sollen. Sie ermöglicht in der<br />
Kunst als Kalligraphie die Vermittlung<br />
auch abstrakter Inhalte – lässt den Betrachter<br />
Kälte, Einsamkeit, Freude empfinden.<br />
Sehr einleuchtend hat das die<br />
französische Kalligraphin Fabienne Verdier<br />
in ihrem Buch beschrieben. In der<br />
Nachbarschaft des Longshan-Tempels in<br />
Taipei trifft man auch heute noch Kundige,<br />
die Schriftzeichen schreiben, um<br />
mit Ahnen oder Dämonen in Verbindung<br />
zu treten. Das sind kraftvoll gestaltete<br />
Schriftzeichen auf Holz oder Papier, häufig<br />
mit der Zeichenkomponente für «Donner»,<br />
die vor Unwettern schützen, Unglück<br />
bannen oder Krankheiten verhüten<br />
sollen.<br />
Chinesische Medizin<br />
Auch die chinesische Medizin ist ein Fachbereich mit einer Tausende von Schriftzeichen<br />
umfassenden Terminologie. Viele davon sind jedem Chinesen aus dem täglichen<br />
Gebrauch bekannt. Das sind die Bezeichnungen für die Organe, die natürlich bei<br />
Mensch und Tier dieselben Bezeichnungen tragen. Jeder Chinese mit Schulbildung<br />
kann die Schriftzeichen für Lunge, Leber, Herz und Magen lesen. Schwieriger wird<br />
es mit der Bezeichnung der Organe als Kategorie. Sie tragen die Bezeichnungen<br />
«Langzeit-Speicher», zang, und «Kurzzeit-Speicher», fu, um zu verdeutlichen, dass<br />
die Speisen an manchen Orten im Leib länger verweilen als an anderen. Nicht jedem<br />
gebildeten Chinesen sind diese Termini ohne Zusatzkenntnisse bekannt. Das sind<br />
häufig Metaphern, die die Namen von Alltagsdingen zur Veranschaulichung von<br />
Physiologie und Pathologie auf den Organismus übertragen. Da trifft man auf viele<br />
Ähnlichkeiten zu unserer eigenen Metaphorik, wenn wir etwa an Begriffe wie «Verstopfung»,<br />
«Ausfluss» und andere mehr denken. Aber zusätzlich sind auch viele<br />
Termini vor allem für die Bezeichnung von Krankheiten sehr speziell und dem<br />
Laien nicht bekannt.<br />
Im Zentrum herkömmlicher chinesischer Vorstellungen vom gesunden und kranken<br />
Körper steht der Begriff qi. Das entsprechende Schriftzeichen ist gar nicht so alt und<br />
wurde wohl erst im 3. Jahrhundert v. Chr. aus den Komponenten «Reis» und «Dämpfe»<br />
geschaffen.<br />
Der Begriff qi ist in mancher Hinsicht gleichbedeutend mit dem Begriff, den in der<br />
antiken europäischen Medizin die Termini pneuma und aer bezeichneten. Er verweist<br />
auf den neben dem Blut zweiten lebenswichtigen Anteil des Kreislaufs im Organismus.<br />
Im Laufe der Jahrhunderte ist dieser Begriff qi um immer neue Facetten<br />
erweitert worden. Kein einziges Wort einer europäischen Sprache ist geeignet, alle<br />
diese Facetten zu umfassen. Der Terminus qi bleibt daher<br />
in westlichen Schriften zur Chinesischen Medizin unübersetzt.<br />
Abb. 7. Das Schriftzeichen qi, zusammengesetzt<br />
aus den Komponenten «Reis» und «Dämpfe»<br />
Chinesische Schriftsprache hat jedoch<br />
auch ihre Grenzen. In der alphabetischen<br />
Schrift ist es für einen Unkundigen durchaus<br />
möglich, einen Text über ein Fachgebiet,<br />
von dem er nichts versteht und dessen<br />
Fachsprache ihm unbekannt ist, zu lesen<br />
und so vielleicht einem blinden Experten<br />
den Inhalt zu vermitteln. Das ist in der<br />
chinesischen Schrift kaum möglich. Von<br />
den mittlerweile knapp 50 000 Schriftzeichen<br />
haben die allermeisten eine sehr<br />
spezifische Bedeutung und wer ihnen<br />
noch nicht begegnet ist, der weiss nicht,<br />
wie ein solcher fachspezifischer Terminus<br />
ausgesprochen wird – er kann ihn daher<br />
nicht «lesen». Die geringe Anzahl von<br />
weniger als 500 Silben in der chinesischen<br />
Sprache hat zur Folge, dass auf jede Silbe,<br />
sei es mao oder song oder li im Durchschnitt<br />
100 Schriftzeichen mit eben dieser<br />
Aussprache kommen. Das bedeutet, dass<br />
die gesprochene Sprache nicht selten uneindeutig<br />
bleibt; zur Veranschaulichung<br />
fragt der eine Gesprächspartner dann:<br />
«Welches mao?» oder «Welches song?»<br />
und der Sprecher malt das Schriftzeichen<br />
mit dem Zeigefinger in die Luft oder auf<br />
die Handfläche, oder gegebenenfalls mit<br />
dem Stift auf ein Papier. ■<br />
Quellen und weiterführende Literatur:<br />
Höllmann, Thomas O., Die Chinesische Schrift,<br />
München 2015<br />
Keightley, David N., Sources of Shang History,<br />
Berkeley 1978<br />
Schmidt-Glintzer, Helwig, Geschichte der chinesischen<br />
Literatur, Bern/München/Wien<br />
1990<br />
Unschuld, Paul U., Traditionelle Chinesische<br />
Medizin, München 2013<br />
Unschuld Paul U. und Kovacs Jürgen, Essential<br />
Subtleties on the Silver Sea: The Yin-Hai<br />
Jing-Wei. A Chinese Classic on Ophthalmology.<br />
Berkeley 1999<br />
Verdier, Fabienne, Zeichen der Stille, Winterthur<br />
2006<br />
34 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
Von Bildzeichen und Zeichenschrift<br />
1977 startete die Stadt New York eine bahnbrechende Werbekampagne. «I love NY» lautete der<br />
Slogan, wobei das Verb «love» durch ein rotes Herz ersetzt worden war. Heute sind Emojis fester<br />
Bestandteil der digitalen Kommunikation. Verwendung finden die mehr als 1300 Bildchen teilweise<br />
als Ersatz für Wörter, vor allem aber, um Aussagen zu verstärken oder emotional zu färben.<br />
Dr. Christina Margrit Siever, Linguistin Universität Zürich<br />
Spätestens seit die britischen Oxford Dictionaries<br />
das Emoji «Face with Tears of<br />
Joy» ( ) zum Wort des Jahres 2015 erkoren<br />
haben, sind Emojis in aller Munde<br />
bzw. in aller Texte. Seit der Einführung<br />
der virtuellen Emoji-Tastaturen (iOs:<br />
2011, Android: 2013) nimmt der Emoji-<br />
Gebrauch in der digitalen informellen<br />
Schriftkommunikation stark zu. Was allerdings<br />
viele nicht wissen: Das Wort Emoji<br />
stammt aus dem Japanischen und bedeutet<br />
wörtlich Bild (e) und Zeichen<br />
(moji), also Bildzeichen. Wegen der ersten<br />
drei Buchstaben werden Emojis häufig<br />
mit Emoticons wie :-) oder :-( verwechselt,<br />
die seit den Anfängen der digitalen Kommunikation<br />
bekannt und weit verbreitet<br />
sind. Emoticon ist eine Wortkreuzung aus<br />
den englischen Wörtern emotion (Emotion,<br />
Gefühl) und icon (Bild, grafisches<br />
Sinnbild). Emoticons werden also häufig<br />
verwendet, um Gefühle auszudrücken, es<br />
gibt aber auch weitere Verwendungsweisen,<br />
so kann beispielsweise über einen<br />
zwinkernden Smiley ;-) Ironie signalisiert<br />
werden. Emojis dahingegen sind vielfältiger.<br />
Es gibt dort zwar auch Emoticons, die<br />
indes nicht mehr aus einzelnen Schriftzeichen<br />
gebildet werden, sondern als kleine<br />
Grafiken dargestellt sind, und die<br />
nicht um 90 Grad gedreht werden müssen.<br />
Darüber hinaus gibt es jedoch auch Abbildungen<br />
von verschiedenen Alltagsgegenständen<br />
und -situationen wie Lebensund<br />
Verkehrsmitteln, Tieren, Pflanzen,<br />
Gebäuden, Sportarten etc. sowie Symbolen<br />
(Herzen, Pfeile, Tierkreiszeichen, Flaggen<br />
etc.).<br />
Beten oder grüssen?<br />
Die Emojis entstanden in den 1990er Jahren<br />
in Japan. In der westlichen Welt verdanken<br />
die Emojis ihr Dasein der Unicode-Standardisierung,<br />
im <strong>Oktober</strong> 2010<br />
wurden sie erstmals in den Unicode aufgenommen.<br />
Unicode ist ein Standard für<br />
Schriftzeichen, der gewährleistet, dass<br />
Schriftzeichen unabhängig von der jeweils<br />
gewählten Schriftart korrekt dargestellt<br />
werden. Für die Emojis bedeutet dies<br />
dreierlei: Erstens können Emojis auf derselben<br />
Ebene wie andere Schriftzeichen,<br />
also Buchstaben und Zahlen, verwendet<br />
werden, Schrift und Bild rücken so näher<br />
zusammen. Zweitens müssen für die einzelnen<br />
Zeichen in einer bestimmten<br />
Schriftart graphische Darstellungen, sogenannte<br />
Glyphen, entworfen werden. Ist<br />
dies nicht der Fall, dann können die Emojis<br />
nicht dargestellt werden, was zu einem<br />
Problem werden kann, wenn Menschen<br />
unterschiedliche Betriebssysteme bzw.<br />
verschiedene Versionen davon verwenden.<br />
Drittens kann es zu Missverständnissen<br />
kommen, wenn betriebssystemübergreifend<br />
kommuniziert wird, da die Glyphen<br />
sich von Schriftart zu Schriftart relativ<br />
stark unterscheiden können. So beispielsweise<br />
beim Emoji «Person With Folded<br />
Hands»: Die graphische Umsetzung von<br />
Microsoft und Samsung legen die Interpretation<br />
«betende Hände» oder «Gruss»<br />
nahe, wohingegen die Varianten von Apple<br />
und Google als «High five» interpretiert<br />
werden können. Hier spielt natürlich auch<br />
Abbildung 2: Emoji Person with<br />
Folded Hands in verschiedenen<br />
Schriftarten<br />
Abbildung 1: Emojis in der Schriftart Apple Color Emoji<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
35
FOKUS ▶ SYMBOL<br />
der kulturelle Hintergrund eine Rolle:<br />
Während die Japaner das Emoji als<br />
Gruss interpretieren, wird es in anderen<br />
Kulturen als betende Hände interpretiert.<br />
Emojis sind – wie Bilder generell – also<br />
von Kulturalität geprägt und deshalb<br />
nicht unbedingt global verständlich. Gerade<br />
auch, wenn Emojis symbolisch verwendet<br />
werden, sind Kenntnisse bestimmter<br />
Konventionen und Bedeutungen notwendig.<br />
So wird beispielsweise das bei uns<br />
harmlos wirkende Auberginen-Emoji in<br />
Amerika als Phallussymbol verwendet.<br />
Symbole oder Ikonen?<br />
Aus zeichentheoretischer Sicht können<br />
Emojis sowohl als symbolische als auch<br />
ikonische Zeichen klassifiziert werden.<br />
Während Symbole auf Konvention beruhen,<br />
basieren Ikonen auf visueller Ähnlichkeit.<br />
Verwendet man das Emoji «Pig<br />
Face» ikonisch, verweist man also in<br />
der Kommunikation auf Schweine. Im<br />
deutschsprachigen Raum ist das Schwein<br />
zudem ein Glückssymbol. In einer Nachricht<br />
wie: «Da hast du aber gehabt!»,<br />
kann das gleiche Emoji auch symbolisch<br />
verwendet werden.<br />
Was aber, wenn ich von meinem Meerschweinchen<br />
berichten möchte? Heutzutage<br />
stehen zwar über 1300 Emojis zur<br />
Verfügung, doch ein Meerschweinchen-<br />
Emoji existiert nicht. Man muss sich folglich<br />
selbst zu helfen wissen: «Mein<br />
ist krank!». Während man konkrete Dinge<br />
wie ein Meerschweinchen noch gra<br />
Abbildung 3: Emojis für Städtenamen<br />
Abbildung 4: Nachricht, die fast hälftig aus Worten<br />
bzw. Emojis besteht<br />
phisch darstellen und somit in den Unicode-Standard<br />
aufnehmen könnte, wird<br />
es bei Abstrakta oder Kollektiva schwieriger:<br />
Wie soll man Wörter wie Freiheit oder<br />
Diagnose bzw. Herde oder Obst graphisch<br />
darstellen? Hier braucht es schon mehr<br />
Kreativität: Freiheit kann mit der Freiheitsstatue<br />
ausgedrückt werden, Obst<br />
kann man durch die Aneinanderreihung<br />
verschiedener Früchte ausdrücken:<br />
Auch Eigennamen oder Toponyme wie<br />
Städtenamen sind schwer in Emojis darstellbar.<br />
In der folgenden Abbildung stehen<br />
die vier Emojis für einen Ort; wer<br />
kann erraten, für welchen? (Abb. 3)<br />
Aus dem Kontext kann man schliessen,<br />
dass es ein Ort ausserhalb der Schweiz sein<br />
muss. Mit den vier Emojis sind Esel, Hund,<br />
Katze und Hahn gemeint, also die Bremer<br />
Stadtmusikanten für Bremen. Noch<br />
schwieriger wird es bei anderen Wortarten.<br />
Verben, Adjektive, Pronomen oder Partikel<br />
können nur schwer mit Emojis ausgedrückt<br />
werden. Einen kompletten Satz in<br />
Emojis zu «übersetzen», ist fast nicht<br />
möglich. (Abb. 4)<br />
Ergänzung, nicht Ersatz<br />
Es zeigt sich also, dass Emojis die Sprache<br />
nicht vollständig ersetzen und folglich<br />
auch nicht, wie teils befürchtet wird, verdrängen<br />
können. Betrachtet man die<br />
kommunikativen Funktionen und den<br />
tatsächlichen Gebrauch von Emojis, so<br />
zeigt sich, dass die sogenannte Referenzfunktion,<br />
bei der Emojis Wörter ersetzen,<br />
eher selten ist. Weitaus häufiger kommt<br />
die Abtönungsfunktion zum Tragen:<br />
Emojis modifizieren Texte, d.h., sie kommentieren<br />
oder bewerten sie oder geben<br />
zu verstehen, wie die Nachricht zu lesen<br />
ist.<br />
Abbildung 5: Emojis in Abtönungsfunktion<br />
Das erste hier zu sehende Emoji, das sogenannte<br />
«Flushed Face», stellt in diesem<br />
Fall kein verlegenes, errötetes Gesicht dar,<br />
sondern kann aufgrund des Kontexts als<br />
Besorgnis um den kranken Kommunikationspartner<br />
interpretiert werden. Dem<br />
«Smiling Face With Sunglasses» wird oft<br />
die Bedeutung «cool» zugeschrieben, das<br />
Emojis verstärkt oder ergänzt also das<br />
«guet», verweist aber gleichzeitig auch<br />
auf das Skifahren, bei dem man ja oft eine<br />
Sonnenbrille trägt. Die letzten beiden<br />
Emojis wiederholen die sprachliche Information,<br />
der Weihnachtsbaum teils (Weihnachtsabend),<br />
der Kuss durch den Kuss-<br />
Smiley ganz.<br />
Forschung läuft<br />
Wie sieht denn die Kommunikation mit<br />
Emojis in der Schweiz konkret aus? Wir<br />
haben hier Beispiele gesehen, doch Zahlen<br />
gibt es bislang noch keine dazu. Dies wird<br />
sich aber dank des Projekts «What’s up,<br />
Switzerland?» (http://www.whatsup-switzerland.ch)<br />
zur Kommunikationsform<br />
WhatsApp in Kürze ändern. Anhand von<br />
WhatsApp-Nachrichten, die für das Projekt<br />
gespendet wurden, sollen verschiedene<br />
Forschungsfragen zur Kommunikation<br />
mit Emojis gestellt werden: Wie häufig<br />
werden überhaupt Emojis verwendet und<br />
welche? Gibt es Unterschiede in der Emoji-<br />
Nutzung zwischen Frauen und Männern,<br />
älteren und jüngeren Menschen? Welche<br />
kommunikativen Funktionen erfüllen die<br />
Emojis, in welchem Ausmass sind sie ergänzend<br />
oder ersetzend? Gibt es Unterschiede<br />
zwischen den verschiedenen Landessprachen?<br />
Man kann gespannt auf die<br />
Ergebnisse sein.<br />
■<br />
36 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
PERSPEKTIVEN<br />
FACHSERIE: AKTUELLES AUS DER GASTROENTEROLOGIE – DIE FÄKALE MIKROBIOTA-TRANSPLANTATION<br />
Renaissance der<br />
Yellow Dragon Soup<br />
Die rezidivierende Clostridium-Difficile-Infektion (rCDI) stellt eine schwierige therapeutische<br />
Herausforderung dar. Erfolgt nach einer antibiotischen Therapie ein Rückfall, so steigt das Risiko<br />
eines weiteren Rezidivs linear an. In dieser Situation ist die Fäkale Mikrobiota-Transplantation<br />
mit Erfolgsraten um 90 Prozent die effektivste Therapieoption.<br />
Luc Biedermann, Gerhard Rogler, Klinik für Gastroenterologie und Hepatologie, Universitätsspital Zürich<br />
Eine rezidivierende Clostridium-Difficile-Infektion<br />
(rCDI) wird als Rekurrenz<br />
von typischen Symptomen innerhalb von<br />
acht Wochen nach Abschluss einer zuvor<br />
erfolgreichen antibiotischen Therapie definiert<br />
(1). Sowohl die Inzidenz als auch<br />
die Morbidität und Mortalität der Clostridium-Difficile-Infektion<br />
(CDI) zeigte<br />
innerhalb der letzten Jahre einen deutlichen<br />
Anstieg: ungefähr eine Verdreifachung<br />
in den USA zwischen 1996 und<br />
2005. Auch wenn die genauen Gründe<br />
dieser Zunahme nur unvollständig geklärt<br />
sind, dürfte die allgemeine Zunahme<br />
von älteren und polymorbiden Patienten<br />
im Rahmen der demographischen<br />
Entwicklung eine wichtige Rolle spielen.<br />
Weitere Häufungen werden allgemein bei<br />
Immunsupprimierten, schwangeren<br />
Frauen sowie vermehrt auch bei Patienten<br />
mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen<br />
und besonders auch bei<br />
Menschen ohne jedwede Risikofaktoren<br />
beobachtet. Allerdings treten zunehmend<br />
auch Fälle der rezidivierenden Infektion<br />
(rCDI) bei jüngeren und gesunden Menschen<br />
auf, selbst ohne vorangehende Antibiotikatherapie.<br />
Letztere ist neben einer<br />
spital-akquirierten Infektion oft von älteren<br />
und morbiden Patienten noch immer<br />
der wichtigste Risikofaktor, wobei das<br />
Risiko zwischen den einzelnen Antibiotika<br />
etwas variiert.<br />
In der Tat war der Auslöser des meist längeren<br />
Leidensweges der Patienten, bei<br />
welchen wir eine Fäkale Mikrobiota-<br />
Transplantation (FMT) für die rCDI<br />
durchführten, in den allermeisten Fällen<br />
eine antibiotische Therapie mit einer der<br />
häufigsten ambulant angewendeten Substanzen,<br />
wie etwa Amoxicillin/Clavulansäure.<br />
Letzteres wurde bezeichnenderweise<br />
oft für einen etwas protrahiert verlaufenden<br />
respiratorischen Infekt und somit<br />
meist bei äusserst zweifelhafter Indikation<br />
verordnet, was die Gefahren allzu leichtfertiger<br />
Verordnungen untermauert.<br />
Eigentlich ist die initiale antibiotische<br />
Therapie einfach, schnell und effektiv (in<br />
ca. 80% der Fälle dauerhaft erfolgreich).<br />
Die Minderheit der Patienten, die jedoch<br />
ein Rezidiv erleidet, hat aber bereits mit<br />
40 bis 60 Prozent ein deutlich erhöhtes<br />
Risiko, nach Abschluss des zweiten Therapiezyklus<br />
an einem erneuten Rezidiv zu<br />
erkranken (und so fort). Eine gute Übersicht<br />
über die Therapieempfehlungen<br />
findet sich in den Leitlinien der European<br />
Society of Clinical Microbiology and Infectious<br />
Diseases (2).<br />
Zunehmend wird man sich auch der sozioökonomischen<br />
Tragweite der rCDI bewusst.<br />
Die Kosten einer Hospitalisation<br />
können sich durch eine CDI vervierfachen.<br />
Zwar sind ca. zwei Drittel aller Infektionen<br />
mit dem überwiegend stationären Gesundheitswesen<br />
assoziiert, jedoch scheint<br />
sich die Infektion nur in etwa einem Viertel<br />
noch während der Hospitalisation zu<br />
manifestieren. Gemäss neuere Zahlen aus<br />
den USA gehen jährlich 29 000 Todesfälle<br />
auf das Konto dieses Bakteriums (3).<br />
FMT: Geschichte und<br />
Rationale<br />
Das Prinzip der FMT wird bereits seit Jahrhunderten<br />
unter dem Begriff Transfaunation<br />
angewendet. Die ersten Anwendungen<br />
überhaupt wurden im China der Dong-jin-<br />
Dynastie im 4. Jahrhundert nach Christus<br />
von Ge Hong in einem Notfallmedizin-<br />
Lehrbuch als eine innerliche Fäzes-Anwendung<br />
beschrieben. Da es zu dieser Zeit<br />
weder Endoskope noch Sonden gab, erübrigten<br />
sich Überlegungen nach der bestmöglichen<br />
Route der Administration. Ge<br />
Hong machte sein für diesen Zweck präpariertes<br />
mikrobielles Filtrat den Patienten<br />
denn auch kurzerhand unter dem Namen<br />
«Yellow Dragon Soup» schmackhaft.<br />
Der erste publizierte Therapieversuch an<br />
einer kleinen Serie von Patienten mit fulminanter<br />
Enterokolitis (wenngleich nicht<br />
durch Clostridien verursacht) fand bereits<br />
1958 durch den Chirurgen B. Eiseman<br />
statt. Die erste wirkliche Beschreibung<br />
eines Fallberichtes bei einer rezidivierenden<br />
Infektion durch C. difficile erfolgte<br />
erst 1983 (4). Die Rationale der FMT ist<br />
bestechend einfach: Eine der Hauptaufgaben<br />
der normalen intestinalen Mikrobiota<br />
ist es, pathogene Keime an einer Proliferation<br />
und schliesslich Infektion zu<br />
hindern. Eine antibiotische Therapie im<br />
Allgemeinen – und im Speziellen gilt dies<br />
leider auch ganz besonders immer für<br />
eine gegen C. difficile gerichtete – führt<br />
zu schweren Alterationen (als Dysbiose<br />
bezeichnet) in der mikrobiellen Zusammensetzung<br />
und schafft auf diese Weise<br />
eine wichtige Voraussetzung für eine unkontrollierte<br />
Proliferation von C. difficile.<br />
Eine FMT richtet sich somit nicht direkt<br />
gegen das Pathogen (Wie auch sollte ein<br />
Filtrat reich an verschiedensten Mikroorganismen<br />
gezielt C. difficile zu dezimieren<br />
vermögen?), sondern zielt auf die<br />
Wiederherstellung einer möglichst «normalen»,<br />
sprich «gesunden» (wenngleich<br />
von der ursprünglichen Zusammensetzung<br />
unterschiedlichen) mikrobiellen<br />
Zusammensetzung ab. D.h., die vorhandene<br />
Dysbiose wird beseitigt. FMT richtet<br />
sich also zwar nicht direkt gegen das ursächliche<br />
Pathogen, dennoch ist sie als<br />
kausal zu betrachten.<br />
Beachtliche Erfolgsraten<br />
In den letzten 15 Jahren sind zahlreiche<br />
Fallberichte und Fallserien zur Anwen-<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
39
PERSPEKTIVEN<br />
dung der FMT bei rCDI publiziert worden<br />
mit verblüffend hohen Erfolgsraten von<br />
etwa 90 Prozent. Dieser Erfolg provozierte<br />
nicht selten von Skepsis geprägte Vorwürfe<br />
von Kritikern dieses Verfahrens. Sie<br />
monierten, dass es sich nur um unkontrollierte<br />
Beobachtungen bzw. einen positiven<br />
Selektionsbias handelte. Seit Anfang<br />
2013 liegt nun endlich eine kontrollierte<br />
und randomisierte Studie vor, die berechtigterweise<br />
sehr hochrangig publiziert<br />
wurde. Die Überlegenheit der FMT (in<br />
diesem Fall via Duodenalsonde appliziert)<br />
gegenüber einer alleinigen antibiotischen<br />
Therapie mit Vancomycin oder Vancomycin<br />
+ eine Placebo-Sondenlösung war<br />
derartig klar gegeben, dass die Ethikkommission<br />
ein Weiterführen für die Patienten,<br />
welche in die Antibiotikagruppen<br />
randomisiert waren bzw. worden wären,<br />
als nicht vertretbar einstufte, worauf die<br />
Studie vorzeitig beendet wurde (5). Zu<br />
diesem Zeitpunkt war ca. ein Drittel der<br />
Patienten randomisiert worden, wobei ein<br />
Erfolg bei 15 von 16 Patienten mit FMT<br />
(93,8%, Patienten durften bis zu zweimal<br />
eine FMT erhalten; 3 der 16 Patienten benötigten<br />
eine zweite FMT mit Erfolg bei<br />
2/3) erzielt werden konnte, gegenüber 7<br />
von 26 in den Kontrollgruppen mit Vancocin<br />
mit/ohne Darmvorbereitung. Somit<br />
kann klar festgehalten werden, dass sich<br />
eine erstaunliche Kongruenz in den Erfolgsraten<br />
zwischen den zahlreichen Fallserien,<br />
dieser randomisierten Studie sowie<br />
auch unserer eigenen klinischen Erfahrung<br />
zeigt. Bei sorgfältiger Indikationsstellung<br />
lässt sich gemäss unseren Erfahrungen<br />
eine Heilung von der rCDI in<br />
deutlich über 90 Prozent der Fälle erreichen.<br />
Offene Fragen<br />
Weiterhin gibt es zur FMT mehr offene<br />
Fragen als Antworten. Welche Route der<br />
Administration ist zu bevorzugen (Duodenalsonde<br />
vs. Einlauf vs. Koloskopie)? Ist<br />
die Gabe von Antibiotika/Probiotika vor/<br />
während/nach einer FMT sinnvoll? Welchen<br />
Einfluss hat die Wahl des Spenders<br />
auf die Erfolgsraten (Verwandtschaftsgrad?<br />
Gleicher Haushalt?)? Wie steht es um<br />
die Sicherheit? D.h., wie hoch ist das Risiko<br />
der Übertragung eines – bisher womöglich<br />
noch unbekannten – infektiösen<br />
Agens bzw. einer Suszeptibilität einer mit<br />
mikrobiellen Zusammensetzung assoziierten<br />
Erkrankung? Wie sieht die genaue<br />
Aufbereitung «Transplantat» aus (Stuhlmenge,<br />
Mischverhältnis, frisch vs. tiefgefroren)?<br />
Die wohl häufigste offene Frage,<br />
mit der wir in der Praxis jedoch konfrontiert<br />
werden, ist die nach einer potentiellen<br />
Indikationserweiterung. Zahlreiche Patienten<br />
und mit ihnen ihre Angehörigen<br />
sowie auch einige ihrer behandelnden<br />
Ärzte möchten die FMT für ein breites<br />
Spektrum von Erkrankungen wie Diabetes<br />
mellitus, Adipositas, Reizdarmsyndrom,<br />
IBD, Multiple Sklerose, Parkinson,<br />
Chronic Fatigue Syndrome, Depression<br />
und vielem mehr anwenden. Insbesondere<br />
weil bisherige therapeutische Bemühungen<br />
oft mit unzureichendem Erfolg<br />
oder Nebenwirkungen behaftet waren.<br />
Gerade Letzteres wird mit diesem «sanften»<br />
und «natürlichen» Therapieansatz<br />
zu umgehen erhofft. Es muss klar festgehalten<br />
werden, dass die Datenlage zum<br />
Nutzen der FMT abseits der rCDI aber für<br />
praktisch sämtliche genannten Entitäten<br />
unzureichend (oft unkontrollierte Einzelbeschreibungen<br />
oder kleine Serien) bzw.<br />
sogar gänzlich inexistent ist. Die besten<br />
Studien gibt es noch zur Colitis ulcerosa,<br />
indessen sind die Resultate bzgl. Effektivität<br />
uneinheitlich. Wenn überhaupt,<br />
profitiert nur ein relativ kleiner Anteil der<br />
Patienten, wobei sich eine frappante Abhängigkeit<br />
vom gewählten Spender gezeigt<br />
hat. Warum bei dieser Indikation bei<br />
einem bestimmten Spender relativ viele<br />
Patienten erfolgreich behandelt werden<br />
konnten und bei anderen nicht, ist zum<br />
jetzigen Zeitpunkt noch völlig unklar,<br />
zumal sich keine spezifischen Auffälligkeiten<br />
in der mikrobiellen Spenderzusammensetzungen<br />
gezeigt hatten.<br />
Résumé und Ausblick<br />
Die FMT ist bei rCDI bestens etabliert, wobei<br />
die genaue Positionierung im therapeutischen<br />
Algorithmus der rCDI noch<br />
nicht abschliessend geklärt ist. Unserer<br />
Ansicht nach ist die FMT die Methode der<br />
Wahl bei einem zweiten oder höherzähligen<br />
Rezidiv; ggf. ist sie allerdings auch<br />
sinnvoll bei einem ersten Rezidiv (insbesondere<br />
bei schwerem Verlauf) oder selbst<br />
bei einer ersten fulminanten Infektion,<br />
die unzureichend oder nur protrahiert auf<br />
Vancomycin anspricht. Von einer Ausweitung<br />
auf andere Erkrankungen sollte<br />
ausserhalb von methodologisch guten<br />
Studien Abstand genommen werden. Dis<br />
bisherige Durchführung der FMT ist an<br />
verschiedenen Zentren uneinheitlich. Wegen<br />
der Vorabklärungen sowie der Aufbereitung<br />
des Transplantates ist sie aufwändig,<br />
durch den relativ hohen Arbeitsaufwand<br />
kostspielig und mit offenen Fragen<br />
behaftet. Zukünftig könnten hierfür<br />
standardisierte mikrobielle Lösungen mit<br />
definierter Zusammensetzung je nach<br />
Indikation bzw. idealerweise sogar adaptiert<br />
an die mikrobielle Zusammensetzung<br />
des Empfängers sowie ggf. Indikation<br />
zum Einsatz kommen. Bis dahin ist es<br />
aber (wenn überhaupt realistisch) ein<br />
weiter Weg.<br />
■<br />
Literaturverzeichnis<br />
1. Cohen, SH, Gerding, DN, Johnson, S, et al.<br />
Clinical practice guidelines for Clostridium<br />
difficile infection in adults: 2010 update by<br />
the society for healthcare epidemiology of<br />
America (SHEA) and the infectious diseases<br />
society of America (IDSA). Infect Control<br />
Hosp Epidemiol 2010;31:431–55.<br />
2. Debast, SB, Bauer, MP, Kuijper, EJ, et al.<br />
European Society of Clinical Microbiology<br />
and Infectious Diseases: update of the treatment<br />
guidance document for Clostridium<br />
difficile infection. Clin Microbiol Infect<br />
2014;20:1–26.<br />
3. Lessa, FC, Mu, Y, Bamberg, WM, et al. Burden<br />
of Clostridium difficile infection in the United<br />
States. The New England journal of medicine<br />
2015;372:825–34.<br />
4. Schwan, A, Sjölin, S, Trottestam, U, et al.<br />
Relapsing clostridium difficile enterocolitis<br />
cured by rectal infusion of homologous<br />
faeces. Lancet 1983;2:845.<br />
5. van Nood, E, Vrieze, A, Nieuwdorp, M, et al.<br />
Duodenal Infusion of Donor Feces for Recurrent<br />
Clostridium difficile. N Engl J Med 2013.<br />
40 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
PERSPEKTIVEN<br />
AUS DER «THERAPEUTISCHEN UMSCHAU»*<br />
Renale Hypertonie – die Rolle<br />
der Nieren bei der Entstehung<br />
der arteriellen Hypertonie<br />
und die Nieren als Endorgan<br />
Die Nieren spielen eine entscheidende Rolle bei der Blutdruckregulation, indem sie bei der Salz-Wasserregulation<br />
beteiligt sind und durch das Renin-Angiotensin-Aldosteronsystem selber über Instrumente<br />
zur Blutdruckregulation verfügen. Sie sind ebenfalls Effektororgan des sympathischen Nervensystems.<br />
Das Verständnis der Pathophysiologie führt zu einem gezielten Einsatz der Sub stanzklassen, welche zur<br />
Behandlung der arteriellen Hypertonie heute zur Verfügung stehen. Als renale Hypertonie bezeichnet<br />
man eine auf dem Boden einer Nierenerkrankung bestehende arterielle Hypertonie, wobei die Nieren<br />
auch Endorgan sind und der antihypertensiven Behandlung im Sinne einer optimalen «Nephroprotektion»<br />
eine besondere Bedeutung zukommt. Dies be inhaltet die Blutdruckbehandlung innerhalb der<br />
Zielwerte < 130/80 mmHg und ein Absenken der Proteinurie auf < 1 g/d.<br />
Nephrologie, Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Baselland, Liestal<br />
Ineke Grendelmeier<br />
Pathogenese der<br />
arteriellen Hypertonie<br />
Das Verständnis der Entstehung der arteriellen<br />
Hypertonie wurde wesentlich durch<br />
die Arbeiten von Arthur Guyton in den<br />
1970er Jahren beeinflusst. A. Guyton postulierte,<br />
dass der Blutdruck vor allem<br />
durch die Kapazität der Nieren, Natrium<br />
auszuscheiden gesteuert wird und diese<br />
eine zentrale Rolle bei der Blutdruckregulation<br />
spielen [1]. Neuere Erkenntnisse<br />
unterstützen dies, zeigen aber auch, dass<br />
der Blutdruck nicht durch die Salz-Wasserregulation<br />
allein sondern zusätzlich<br />
durch Änderungen des Gefässsystems und<br />
des vegetativen Nervensystems im Langzeitverlauf<br />
beeinflusst wird [2].<br />
Renale Salz-/Wasserregulation<br />
Die renale Wasser-und Salzretention führt<br />
zu einer Erhöhung des Extrazellulärvolumens,<br />
des Blutvolumens und damit zu ei-<br />
* Der Artikel erschien ursprünglich in der «Therapeutischen<br />
Umschau» (2015; 72 (6): 369-374). <strong>VSAO</strong>-Mitglieder<br />
können die «Therapeutische Umschau» zu äusserst<br />
günstigen Konditionen abonnieren. <br />
Details s. unter www.hogrefe.ch/downloads/vsao.<br />
nem gesteigerten kardialen Output und<br />
einem Blutdruckanstieg. Dabei gelingt es<br />
der Niere durch Natrium-/Wasserretention<br />
respektive- Exkretion so fein zu regulieren,<br />
dass das Extrazellulärvolumen unter normalen<br />
Bedingungen lediglich um 10 %<br />
variiert. Diese Effekte sind gestört bei Patienten<br />
mit eingeschränkter Nierenfunktion.<br />
Das Guyton-Modell der Blutdruckregulation<br />
postuliert, dass Langzeitänderungen<br />
des Blutdruckes entweder durch Änderungen<br />
der Kapazität der Niere bei der Natriumexkretion<br />
und/oder der Natriumzufuhr<br />
bedingt sind.<br />
Neben der Salzausscheidung in Abhängigkeit<br />
der Nierenfunktion scheint der Salzkonsum<br />
eine Rolle bei der Entstehung der<br />
arteriellen Hypertonie zu spielen. In Populationen<br />
mit einem Salzkonsum von<br />
über 2.3 g Natrium/d (entspricht etwa 6 g<br />
Kochsalz/d) ist die Prävalenz der sogenannten<br />
«essentiellen Hypertonie» wesentlich<br />
grösser als in Populationen, welche<br />
einen Salzkonsum von unter 1.2 g<br />
Natrium/d (etwa 3 g Kochsalz/d) aufweisen,<br />
in welchen diese Form der Hypertonie<br />
fast nicht existent ist [3]. Eine salzreduzierte<br />
Diät führt zu einem Absinken des<br />
systolischen sowie des diastolischen Blutdrucks<br />
vor allem bei Individuen mit Hypertonie<br />
und in Abhängigkeit des Alters<br />
[4]. Somit scheint es zumindest Kochsalz-<br />
Grenzwerte zu geben, welche langfristig<br />
das Entstehen einer Hypertonie begünstigen<br />
oder diese verhindern respektive rückgängig<br />
machen.<br />
Kurzfristige Steigerungen der Salz zufuhr<br />
führen bei unterschiedlichen Probanden<br />
zu einer variablen Blutdruck erhöhung mit<br />
interindividuellen und intraindividuellen<br />
Unterschieden zu unterschiedlichen Zeitpunkten<br />
[4]. Dies wird als «Salzsensitivität»<br />
bezeichnet. Dabei reagieren Menschen<br />
afroamerikanischer Herkunft, Patienten<br />
mit metabolischem Syndrom oder<br />
Nierenerkrankungen sensibler auf eine<br />
abrupte Salzerhöhung und haben dadurch<br />
möglicherweise ein erhöhtes Risiko<br />
für die Entwicklung einer arteriellen Hypertonie<br />
(s. Abb. 1).<br />
Die genauen Mechanismen der Salzsensitivität<br />
sind nicht gut verstanden. Bei Patienten<br />
mit eingeschränkter Natriumexkretion<br />
kann die Blutdruckerhöhung als<br />
physiologische Antwort verstanden werden,<br />
indem die Niere via eine Druck-Diurese<br />
versucht eine erhöhte renale Perfusion<br />
und Natriumexkretion zu erreichen.<br />
Patienten mit einer normalen Nierenfunktion<br />
ist es möglich ohne eine Blutdruckerhöhung<br />
über die Suppression des<br />
Renins und eine Erhöhung des Atrial<br />
Natriuretic Peptides (ANP) die Natrium<br />
Ausscheidung zu steigern (s. Abb. 2).<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
41
PERSPEKTIVEN<br />
Abb. 1: Diese Graphik zeigt im Tierexperiment<br />
den Effekt einer erhöhten<br />
Salzlast auf den mittleren arteriellen<br />
Druck bei Individuen mit<br />
normaler Renin-Angiotensin-<br />
Alosteronaktivität (RAA), Probanden<br />
mit niedriger RAA und erhöhter<br />
RAA. Im Normalfall führt eine Salzbelastung<br />
zu keiner Blutdruckerhöhung,<br />
da die RAA gehemmt wird.<br />
Bei fixierten RAA (niedrig oder<br />
hoch) kommt es zu einer konstanten<br />
Salzretention und Blutdrucksteigerung,<br />
bis der Druck hoch genug<br />
für die Salzausscheidung ist<br />
(«Druck-Diurese»). Bei Probanden<br />
mit hoher RAA führt dies zu einem<br />
überhöhten Blutdruck. (Quelle:<br />
Guyton AT, Blood Pressure Control-<br />
Special Role of the Kidneys and<br />
Body Fluids; Sience 1991)<br />
Abbildung 2<br />
Zwei renale Mechanismen der Druck-Diurese<br />
sind beschrieben. Zum einen entsteht<br />
durch eine gesteigerte renale Perfusion<br />
eine Erhöhung des Blutflusses durch<br />
die Medulla, welche nicht autoreguliert<br />
ist. Dies erhöht den hy draulischen Druck<br />
im Interstitium und führt zu einer verringerten<br />
Flüssigkeitsaufnahme im Blut. Der<br />
zweite Mechanismus läuft über das Renin-Angiotensin-Aldosteronsystem.<br />
Das Renin-Angiotensin-<br />
Aldosteronsystem (RAAS)<br />
Durch ein Absinken der Natriumkonzentration<br />
und einem Bludruckabfall mit<br />
Verminderung des renalen Blutflusses<br />
und einer verminderten Dehnung des<br />
glomerulären Vas afferens kommt es zu<br />
Aktivierung des Renin-Angiotensin-Aldosteronsytems<br />
(RAAS), welches ein starker<br />
Blutdruckregulator ist. Es kommt zur<br />
Reninsekretion aus den Zellen des juxtaglomerulären<br />
Apparates (s. Abb. 3) und<br />
über Angiotensin I via das Angiotensin-<br />
Converting-Enzym zur Bildung von Angiotensin<br />
II, welches den Durst stimuliert,<br />
die Natrium- und Flüssigkeitsreabsorption<br />
in der Henle'schen Schleife und den distalen<br />
Nephronsegmenten steigert sowie<br />
via die Stimulation der Sekretion von Aldosteron<br />
und Arginin-Vasopressin und<br />
Hemmung des ANP die Rückresorption<br />
noch weiter steigert. Als Resultat steigt der<br />
Blutdruck und über negative Feedbackmechanismen<br />
wird das RAAS in der gesunden<br />
Niere nun gehemmt.<br />
Das RAAS ist nicht adäquat unterdrückt<br />
bei Patienten mit Hypertonie und bei einigen<br />
Patienten sogar erhöht. Besonders<br />
bei Patienten mit Nierenarterienstenose<br />
kommt es zu einer erhöhten Aktivität des<br />
RAAS. Dieser Effekt verliert aber mit zunehmender<br />
Fibrosierung und Sklerosierung<br />
des renalen Parenchyms und der<br />
intrarenalen Gefässe an Bedeutung, die<br />
Blutdrucksensibilität im juxtagloermulären<br />
Apparat und Interstitium nimmt ab,<br />
es kommt zu einer vermehrten Salzsensitivität<br />
und fixierten Hypertonie.<br />
Das vegetative Nervensystem<br />
Das sympathische Nervensystem wird<br />
über einen Blutdruckabfall stimuliert,<br />
wohingegen das parasympathische Nervensystem<br />
bei einer Blutdrucksteigerung<br />
stimuliert wird. Bei Patienten mit Hypertonie<br />
scheint der «set-point» sich an die<br />
bestehenden Blutdruckwerte angepasst zu<br />
42 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
PERSPEKTIVEN<br />
haben. Paradoxerweise haben diese Patienten<br />
eine erhöhte Herzaktivität, erhöhte<br />
Plasma-Katecholaminspiegel und eine<br />
erhöhte Aktivität sympathischer Nervenfasern.<br />
Diese Adaptation mit dem Ziel die<br />
erhöhten Blutdruckwerte zu erhalten<br />
scheint vor allem in den Barorezeptoren<br />
selber stattzufinden. Mit zunehmendem<br />
Alter werden durch athero sklerotische<br />
Veränderungen die arteriellen Gefässe<br />
weniger dehnbar und die Sensibilität der<br />
Barorezeptoren nimmt ab. Dies könnte<br />
erklären, warum ältere Patienten mit Hypertonie<br />
eine erhöhte Aktivität der sympathischen<br />
Nerven aufweisen und erhöhte<br />
Katecholaminspiegel zeigen.<br />
Renale Ursachen einer<br />
sekundären Hypertonie<br />
Renovaskuläre Hypertonie<br />
Die renovaskuläre Hypertonie ist im Wesentlichen<br />
durch die atherosklerotische<br />
Nierenarterienstenose und bei einem kleinen<br />
Teil durch eine fibromuskuläre Dysplasie<br />
(meist junge Frauen, perlschnurartigen<br />
Stenosen der Nierenarterie) bedingt<br />
und wird bei ca. 1 % der Patienten mit arterieller<br />
Hy pertonie klinisch diagnostiziert.<br />
Der pathophysiologische Zusammenhang<br />
zwischen Nierenarterienstenose (NAS) und<br />
Hypertonie ist bei der fibromuskulären<br />
Dysplasie weitgehend gegeben, bei der<br />
atheroklerotischen Nierenarterienstenose<br />
ist diese bei einem Grossteil der Patienten<br />
nicht ursächlich, da oft nicht nur ein solitäre<br />
Läsion der Nierenarterie sondern auch<br />
eine ischämische Nierenschädigung auf<br />
dem Boden von atherosklerotischen Veränderungen<br />
der kleinen Nierengefässe vorliegt.<br />
Klinisch sollte der Verdacht auf eine<br />
hämodynamisch relevante NAS bei einer<br />
therapierefraktären Hypertonie, einer Verschlechterung<br />
einer Hypertonie innert<br />
kurzer Zeit, Auftreten einer Hypertonie in<br />
jungem Alter, einer unklaren Verschlechterung<br />
der Nierenfunktion unter Blockade<br />
des RAAS, einer einseitig verkleinerten<br />
Niere, sowie bei rezidivierendem Lungenödem<br />
bei schwerer arterieller Hypertonie<br />
gehegt werden. Diagnostisch kommen die<br />
farbcodierte Duplexsonographie, die MRund<br />
CT-Angiographie und als Goldstandard<br />
die intraarterielle digitale Substraktionsangiographie<br />
zum Einsatz, wobei<br />
hierbei gleichzeitig eine PTRA durchgeführt<br />
werden kann.<br />
Bei der fibromuskulären Dysplasie ist der<br />
Stellenwert der Angioplastie gesichert [5],<br />
bei der atherosklerotischen NAS konnten<br />
zwei grosse Studien keinen Vorteil einer<br />
interventionellen Therapie zeigen [6, 7].<br />
Die Indikation für eine PTRA sollte hier<br />
bestimmten Fällen vorbehalten werden<br />
(z. B. rezidivierendes Lungenödem, therapierefraktäre<br />
Hypertonie, progrediente<br />
Niereninsuffizienz, junger Patient mit<br />
normaler Nierengrösse) [8].<br />
Abbildung 3: Nierengewebe (HE-Färbung, 400x vergrössert) und schematische Darstellung<br />
eines Glomerulums. Man erkennt die verschiedenen Bestandteile des Nierenkörperchens =<br />
Glomerulum (Kapselraum, parietales Blatt der Bowmanschen Kapsel, Basalmembran,<br />
Gefässpol) sowie eine afferente Arteriole mit den juxtaglomerulären/granulierten Zellen,<br />
welche Renin produzieren. Man erkennt auch die extraglomerulären Mesangiumzellen.<br />
(Quelle: Dr. med. Denes Kiss/Prof. W. Wegmann)<br />
Renal-parenchymatöse<br />
Hypertonie<br />
Unter einer renoparenchymatösen Hypertonie<br />
wird eine Hypertonie auf dem Boden<br />
einer Nierenerkrankung verstanden. Diese<br />
wird bedingt durch die eingangs erwähnten<br />
pathophysiologischen Grundlagen,<br />
indem Nierenerkrankungen zu einer<br />
Salz-Wasserretention, zu einer Aktivierung<br />
respektive Fixierung des RAAS und<br />
zu einer Aktivierung des sympathischen<br />
Nervensystems sowie zu einer Störung der<br />
Funktion des Endothels führen. Aus diesem<br />
Grunde sollten Patienten mit Hypertonie<br />
abgeklärt werden mittels einer Bestimmung<br />
des Kreatinins, Harnstoffs,<br />
Natriums und Kaliums im Serum sowie<br />
einer Urinstixuntersuchung, einer mikroskopischen<br />
Urinsedimentuntersuchung,<br />
der quantitativen Messung der Proteinurie<br />
und einer Sonographie der Nieren<br />
(s. Abb. 4). Ein normales Kreatinin<br />
schliesst das Vorliegen eines Nierenschadens<br />
nicht aus da dieser auch bei einer<br />
noch normalen glomerulären Filtrationsrate<br />
vorliegen kann (s. Abb. 5).<br />
Arterielle Hypertonie<br />
und Niereninsuffizienz<br />
Die arterielle Hypertonie kann Folge und<br />
Ursache einer Nierenerkrankung sein und<br />
somit ist die Wechselwirkung komplex.<br />
Abbildung 4: Abklärung bei renaler<br />
Hypertonie<br />
Neben dem Diabetes mellitus ist die arterielle<br />
Hypertonie in unseren Breitengraden<br />
eine der häufigsten Ur sachen einer<br />
terminalen Niereninsuffi zienz. Bei 80 %<br />
der Patienten mit Niereninsuffizienz<br />
kommt es zu einer arteriellen Hypertonie<br />
und diese ist die häufigste Sekundärkomplikation,<br />
welche bereits schon in frühen<br />
Stadien der Nierenerkrankung auftritt [9].<br />
Da die arterielle Hypertonie ein wichtiger<br />
Faktor bei der Progression der Nierenerkrankung<br />
und gleichzeitig ein Risikofaktor<br />
für die Entstehung kardiovaskulärer<br />
Erkrankungen ist, kommt ihrer<br />
Behandlung bei Patienten mit Niereninsuffizienz<br />
eine wichtige Bedeutung zu.<br />
Gleichzeitig sollte berücksichtigt werden<br />
dass das Voranschreiten der Niereninsuffizienz<br />
neben der Hypertonie noch durch<br />
andere Faktoren, wie z. B. das Vorliegen<br />
einer Proteinurie, eines Diabetes mellitus,<br />
einer Adipositas, Rauchen und genetischer<br />
Faktoren beeinflusst wird. Es ist günstig,<br />
wenn niereninsuffiziente Patienten ab<br />
dem Stadium 3 der Nieren erkrankung<br />
(Clearance < 59 – 30 ml/min/1,73 m2)<br />
in Zusammenarbeit mit einem Nephrolo-<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
43
PERSPEKTIVEN<br />
• eGFR 3 Monate<br />
• Und/oder: <br />
- persistierende Proteinurie/Albuminurie<br />
- pathologisches Urinsediment<br />
- Abnormale Bildgebung<br />
- Abnormale Blutanalysen (z.B. Hyperkaliämie, renal<br />
tubuläre Azidose)<br />
- Die Definition einer CKD variiert nicht mit dem Alter, auch<br />
wenn die Prävalenz hoch ist (25% der 70-jährigen). Eine<br />
GFR 1 g/d vorliegen oder bei<br />
Patienten mit Zystennieren. Gleichzeitig<br />
sollte ein Absinken der Proteinurie erzielt<br />
werden, im Idealfall < 0.3 g/d.<br />
Analog zu Patienten mit erhaltener Nierenfunktion,<br />
sollte die sogenannte «lifestyle-modification»<br />
Basis der Hypertoniebehandlung<br />
sein.<br />
Diese beinhaltet die salzarme Diät, Gewichtsreduktion,<br />
körperliche Aktivität,<br />
Rauchstopp und den moderaten Alkoholkonsum.<br />
Bei Patienten mit Niereninsuffizienz<br />
ist hierbei besonderes Augenmerk<br />
auf eine Fehlernährung zu lenken und<br />
eine Diätberatung kann von Vorteil sein.<br />
Besondere Bedeutung bei der Blutdrucksenkung<br />
kommt den ACE-Hemmern und<br />
den Sartanen zu. Zahlreiche Studien<br />
konnten bei Patienten mit diabetischer<br />
Nephropathie belegen, dass diese mit Vorteil<br />
eingesetzt werden sollten. Einerseits<br />
wegen der arteriellen Blutdrucksenkung<br />
und der Reduktion der Proteinurie andererseits<br />
scheinen diese Substanzgruppen<br />
zusätzlich einen nephroprotektiven Effekt<br />
zu haben, welcher bis dato noch nicht<br />
eindeutig geklärt ist. Dies kann mittlerweile<br />
auch für primäre Nierenerkrankungen<br />
angenommen werden.<br />
ACE-Hemmer und Sartane senken den<br />
intraglomerulären Druck und somit ist zu<br />
erwarten, dass das Kreatinin zu Beginn<br />
der Therapie ansteigt. Als Faustregel ist ein<br />
Kreatinin-Anstieg bis zu 30 % akzeptabel.<br />
Bei einem überdimensionalen Anstieg<br />
sollte eine Nierenarterienstenose oder eine<br />
Hypovolämie und Hypotonie vermutet<br />
und ausgeschlossen werden. Auch sollte<br />
eine Kombination mit NSAR strikte vermieden<br />
werden. Ebenso sollen Patienten<br />
mit Niereninsuffizienz unter einer solchen<br />
Therapie darüber informiert werden, dass<br />
zu Zeiten von Flüssigkeitsverlusten<br />
(Durchfall, Fieber, akute Erkrankung),<br />
der ACE-Hemmer oder das Sartan pausiert<br />
werden muss, was ebenfalls für die Diuretika<br />
gilt.<br />
Die zweite Komplikation ist die Hyperkaliämie,<br />
welche aufgrund der verminderten<br />
Aldosteronaktivität unter ACE-<br />
Hemmern/Sartanen vorkommen kann.<br />
Besonders gefährdet hierfür sind Patienten<br />
mit einem hyporeninämischen Hypoaldosteronismus,<br />
wie er bei Diabetikern<br />
auftreten kann. Ebenso ist Vorsicht geboten<br />
bei der Kombination von Spironolacton<br />
und ACE-Hemmern/ Sartanen. Diese<br />
Kombination ist vor allem bei Patienten<br />
mit Herzinsuffizienz üblich und kann bei<br />
kardiorenalem Syndrom und bei Patienten<br />
mit Hypovolämie zu einer gefährlichen<br />
Hyperkaliämie führen. Ebenso empfiehlt<br />
sich hier der Verzicht auf NSAR. Eine<br />
Kombination von Sartanen und ACE-<br />
Hemmern im Sinne einer «doppelten<br />
RAAS-Blockade» scheint bei der aktuellen<br />
Studienlage nicht empfehlenswert oder<br />
nur in Einzelfällen indiziert aufgrund der<br />
erhöhten Morbidität und Mortalität von<br />
Patienten unter dieser Therapie. Weitere<br />
Massnahmen zur Risikoreduktion einer<br />
Hyperkaliämie sind der gleichzeitige Einsatz<br />
eines Schleifendiuretikums oder eines<br />
Thiaziddiuretikums, die Korrektur einer<br />
metabolischen Azidose und eine kaliumarme<br />
Diät sowie der Einsatz von Kalium-<br />
Chelatbildnern.<br />
Reninantagonisten sind wirksam in der<br />
Blutdrucksenkung, die Sicherheit bei und<br />
der positive Effekt auf das Voranschreiten<br />
einer Niereninsuffizienz muss in Studien<br />
aber noch belegt werden.<br />
Eine besondere Bedeutung kommt bei<br />
Patienten mit Niereninsuffizienz dem<br />
Einsatz von Diuretika zu. Wie eingangs<br />
erwähnt kommt es bei Niereninsuffizienz<br />
zur Natriumretention, welcher mittels<br />
Schleifen-und Thiaziddiuretika entgegengewirkt<br />
werden kann. Dabei wirken Diuretika<br />
synergistisch mit ACE-Hemmern<br />
und Sartanen und werden im Idealfall<br />
kombiniert. Aufgrund ihrer Albuminbindung<br />
können Thiazide und Schleifendiuretika<br />
nicht glomerulär filtriert werden<br />
sondern werden über einen Ko-Transporter<br />
tubulär ausgeschieden. Dies erklärt,<br />
warum Patienten mit Hypalbuminämie<br />
(z. B. nephrotisches Syndrom) und mit<br />
Niereninsuffizienz (verminderter Plasmadurchfluss<br />
und verringerte Sekretionsleistung<br />
im Tubulus) höhere Dosen einer<br />
diuretischen Therapie benötigen. Gleichzeitig<br />
erklärt die flache Dosis-Wirkungsbeziehung<br />
und lange Halbwertzeit von<br />
Thiaziden, warum eine Dosissteigerung<br />
bei einer Clearance < 45 ml/min wenig<br />
effizient ist und eine Steigerung der Dosis<br />
bei Schleifendiuretika in diesem Stadium<br />
der Niereninsuffizienz eine bessere Wirkung<br />
erzielt.<br />
Kalziumantagonisten sind wirksam in der<br />
Hypertoniebehandlung, sind aber nicht<br />
gleich nephroprotektiv wie die oben erwähnten<br />
Substanzklassen und senken die<br />
Proteinurie weniger effizient. Möglicherweise<br />
hängt dies mit der vasodilatativen<br />
Wirkung der Kalziumantagonisten auf<br />
das Vas afferens des Glomerulums zusammen,<br />
welches eine Drucksteigerung im<br />
Glomerulum zur Folge hat. Somit empfehlen<br />
sich Kalziumantagonisten vor allem<br />
in Kombination mit einem ACE-<br />
44 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
PERSPEKTIVEN<br />
Ob und wie Betablocker einen positiven<br />
oder negativen Einfluss auf das Voranschreiten<br />
einer Niereninsuffizienz haben,<br />
muss ebenfalls in Studien noch belegt<br />
werden. Viele Patienten mit Nierenerkrankung<br />
weisen aber gleichzeitig cardiovaskuläre<br />
Erkrankungen auf und haben eine<br />
Indikation für einen Betablocker. Es bleibt<br />
ebenfalls noch zu belegen, ob Betalocker<br />
durch die Hemmung der sympathischen<br />
Ueberaktivität bei Niereninsuffizienz und<br />
Hypertonie einen positiven Effekt auf das<br />
Outcome von Nierenpatienten haben (Zusammenfassung<br />
Abb. 6).<br />
Abbildung 6: Wahl der antihypertensiven Therapie<br />
Hemmer oder einem Sartan und einer<br />
diuretischen Therapie. Idealerweise kann<br />
hier auch auf ein Kombinationspräparat<br />
zurückgegriffen werden um die Einnahme<br />
zu erleichtern.<br />
Schlussfolgerung<br />
Wichtige Grundlage bei der Behandlung<br />
von Patienten mit Niereninsuffizienz und<br />
arterieller Hypertonie ist das Verständnis<br />
der Pathophysiologie.<br />
Eine Hypertonie kann Ursache oder Folge<br />
einer Nierenerkrankung sein und Patienten<br />
mit arterieller Hypertonie sollten<br />
auf eine renale Ursache hin untersucht<br />
werden.<br />
■<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
45
PERSPEKTIVEN<br />
D as erleseneObjekt<br />
Arabische Diätetik im klösterlichen<br />
Einband<br />
Prof. Iris Ritzmann, Medizinhistorikerin in Zürich<br />
tabellarische Darstellung der Inhalte verweist.<br />
Das 1533 gedruckte Werk geht auf<br />
eine hochmittelalterliche arabische Handschrift<br />
zurück, ein Schüsselwerk der medizinischen<br />
Diätetik. Der Verfasser Ibn<br />
Butlan (gest. 1066) studierte Medizin in<br />
seiner Geburtsstadt Bagdad, einer blühenden<br />
Metropole des ostarabischen Reichs.<br />
Später wanderte er über Kairo und Konstantinopel<br />
nach Aleppo und Antiochien,<br />
wo er als Spitalarzt wirkte.<br />
Das Ziel Ibn Butlans beschränkte sich<br />
nicht auf eine ausgewogene, gesunde<br />
Lebensführung; er strebte das friedliche<br />
Zusammenleben der Religionsgemeinschaften<br />
an. Da er dem nestorianischen<br />
Christentum angehörte, wurde er jedoch<br />
von der römischen Reichskirche als Häretiker<br />
verfolgt. In der Renaissance ging sein<br />
Wunsch zumindest symbolisch in Erfüllung:<br />
Seine Schrift erhielt mit dem klösterlichen<br />
Notenblatt ein ehrendes Kleid.<br />
Die mit künstlerisch aufwendigen Holzschnitten<br />
bebilderten «Schachtafeln» und<br />
andere rare Kostbarkeiten sind im neueröffneten<br />
«Museum für medizinhistorische<br />
Bücher» im Kloster Muri zu bestaunen<br />
und – dank wissenschaftlich fundierter<br />
und zugleich gewitzter digitaler Aufarbeitung<br />
– auch selbst zu erkunden. ■<br />
Im 16. Jahrhundert waren Bücher Luxusware.<br />
Der Druck kostete viel Geld, und<br />
dann musste das Werk in Einzelanfertigung<br />
erst noch gebunden werden. Für den<br />
Einband über den hölzernen Buchdeckeln<br />
standen verschiedene Leder zur Auswahl.<br />
In Einzelfällen griff der Buchbinder auch<br />
zu widerstandsfähigem Pergament mit<br />
handschriftlichen Einträgen.<br />
Der im Bild sichtbare Einband stammt aus<br />
einem Antiphonar, einem klösterlichen<br />
Chorbuch mit liturgischen Gesängen. Der<br />
Text berichtet vom Auftrag Gottes an Noah.<br />
Die quadratischen Noten finden auf vier<br />
Linien Platz, wobei die für den Gesang<br />
zentrale Notenlinie in Rot erscheint. Den<br />
Beginn eines neuen Verses erkennt man<br />
an der blauen Initiale. Das schöne Notenblatt<br />
wurde offensichtlich aus dem Gesangsbuch<br />
herausgetrennt, um es als<br />
Einband für ein besonders kostbares Werk<br />
zu verwenden.<br />
Was also steckt zwischen den klösterlich<br />
umhüllten Buchdeckeln?<br />
Das Buch trägt den Titel «Schachtafelen<br />
der Gesuntheyt», der auf die damals neue,<br />
Museum für<br />
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46 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
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<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
47
MEDISERVICE <strong>VSAO</strong>-ASMAC<br />
BRIEFKASTEN<br />
Mit meiner Arztpraxis bin ich in einem Geschäftshaus eingemietet. Der<br />
Röntgenraum bedurfte einer umfassenden Renovation. Zu diesem<br />
Zweck hatte ich einen (Werk-)Vertrag mit einem Unternehmer abgeschlossen.<br />
Nach der Renovation stellte sich heraus, dass der Strahlenschutz<br />
ungenügend ist. Aus diesem Grund bin ich nicht bereit, die<br />
Rechnung des Unternehmers vollständig zu bezahlen. Dieser beharrt<br />
allerdings auf vollständiger Bezahlung. Was muss ich nun tun? Welche<br />
möglichen Konsequenzen ergeben sich aus der Sachlage?<br />
Sollte der Strahlenschutz ungenügend sein, dann handelt es sich hierbei um einen<br />
Werkmangel. Dieser muss dem Unternehmer umgehend zur Kenntnis gebracht werden.<br />
Aus Beweisgründen sollte der Mangel schriftlich, am besten per Einschreiben, und so<br />
detailliert wie möglich gerügt werden. Eine E-Mail reicht nicht.<br />
Zudem ist es empfehlenswert, dem Unternehmer in diesem Schreiben eine Frist zur<br />
Reparatur zu setzen.<br />
Gerne dürfen Sie sich an dieser Stelle schon mit Ihrer Rechtsschutzversicherung in<br />
Verbindung setzen, damit die weiteren Schritte besprochen werden können.<br />
lic. iur. Sven Walser, Rechtsanwalt,<br />
LL.M., AXA-ARAG Rechtsschutz AG,<br />
Immobilienrecht<br />
Insbesondere gilt es nämlich zu verhindern, dass der Unternehmer ein Bauhandwerkerpfandrecht<br />
auf dem Grundstück des Eigentümers eintragen lässt. Dieses Recht steht<br />
allen Unternehmern für ihre Forderungen zu, die auf einem Grundstück zu Bauwerken,<br />
hier zum Röntgenraum, Material und Arbeit oder Arbeit allein geliefert haben. Dabei<br />
spielt es keine Rolle, ob der Eigentümer/Vermieter oder – wie in diesem Beispiel – der<br />
Mieter die Renovationsarbeiten vergeben hat.<br />
Sofern also der Mieter die Forderung des Unternehmers nicht begleicht, kann Letzterer<br />
auf dem Grundstück des Vermieters grundsätzlich ein Pfandrecht im Grundbuch eintragen<br />
lassen, womit im schlimmsten Falle die Zwangsversteigerung der Praxisräumlichkeiten<br />
oder des gesamten Geschäftshauses droht.<br />
Wenn die Eintragung des Bauhandwerkerpfandrechts nicht verhindert werden kann,<br />
dann blüht dem Mieter neben dem Streit bezüglich Rechnung des Unternehmers somit<br />
ein weiterer Streit mit dem Vermieter, da Letzterer das Pfandrecht auf seinem Grundstück<br />
wieder gelöscht haben will.<br />
Aus diesem Grund empfiehlt es sich, bereits vor Eröffnung einer Praxis eine Rechtsschutzversicherung<br />
abzuschliessen, welche mietrechtliche wie werkvertragliche Streitigkeiten<br />
deckt.<br />
Zusammen mit dem Versicherungsnehmer prüft die Versicherung die Situation und legt<br />
das Vorgehen fest. In einem ersten Schritt wird mit den verschiedenen Parteien eine<br />
einvernehmliche Lösung gesucht.<br />
In Ihrem Fall müsste also zuerst die Berechtigung der Forderung des Unternehmers<br />
resp. die Mangelhaftigkeit des Röntgenraumes (allenfalls mittels Gutachten) geprüft<br />
werden. Findet man eine Lösung mit dem Unternehmer, dann wird dieser auch bereit<br />
sein, das eingetragene Pfandrecht löschen zu lassen, womit auch der Streit mit dem<br />
Vermieter beigelegt wäre.<br />
Andernfalls bleibt nur eine gerichtliche Lösung. Ihre Rechtsschutzversicherung wird Sie<br />
in einem Gerichtsverfahren bei Versicherungsdeckung gerne unterstützen. ■<br />
AXA-ARAG bietet MEDISERVICE-Mitgliedern eine Rechtsschutzversicherung zu sehr<br />
vorteilhaften Konditionen an. Haben Sie noch weitere Fragen? Wenden Sie sich an<br />
Ihren Ansprechpartner bei der MEDISERVICE <strong>VSAO</strong>-ASMAC.<br />
48 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>
MEDISERVICE <strong>VSAO</strong>-ASMAC<br />
<strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
<strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC<br />
49
IMPRESSUM<br />
KONTAKTADRESSEN DER SEKTIONEN<br />
<strong>Nr</strong>. 5 • 35. Jahrgang • <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong><br />
Herausgeber/Verlag<br />
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Auf der Mauer 2, 8001 Zürich, vultier@schai-vultier.ch,<br />
Telefon 044 250 43 23, Fax 044 250 43 20<br />
MEDISERVICE <strong>VSAO</strong>-ASMAC<br />
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Im Auftrag des <strong>VSAO</strong><br />
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Anja Zyska Cherix (Vizepräsidentin), Angelo Barrile<br />
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Druckauflage: 22 851 Expl.<br />
WEMF/SW-Beglaubigung 2015: 21 136 Expl.<br />
Erscheinungshäufigkeit: 6 Hefte pro Jahr.<br />
Für <strong>VSAO</strong>-Mitglieder im Jahresbeitrag inbegriffen.<br />
ISSN 1422-2086<br />
Ausgabe <strong>Nr</strong>. 6/<strong>2016</strong> erscheint im Dezember <strong>2016</strong>.<br />
Thema: Top up (inkl. Verbandsjournal)<br />
© <strong>2016</strong> by <strong>VSAO</strong>, 3001 Bern<br />
Printed in Switzerland<br />
BL/BS<br />
BE<br />
<strong>VSAO</strong> Sektion beider Basel,<br />
Geschäftsleiterin und Sekretariat: lic. iur. Claudia von Wartburg, Advokatin,<br />
Hauptstrasse 104, 4102 Binningen, Telefon 061 421 05 95,<br />
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Schwarztorstrasse 7, 3007 Bern, Telefon 031 381 39 39, Fax 031 381 82 41,<br />
bern@vsao.ch, www.vsao-bern.ch<br />
FR ASMAC Sektion Freiburg, Gabriela Kaufmann-Hostettler, Wattenwylweg 21,<br />
3006 Bern, Tel. 031 332 41 10, Fax 031 332 41 12, info@gkaufmann.ch<br />
GE Associations des Médecins d’Institutions de Genève, case postale 23,<br />
Rue Gabrielle-Perret-Gentil 4, 1211 Genf 14, amig@amig.ch, www.amig.ch<br />
GR<br />
JU<br />
Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen und -ärzte Sektion<br />
Graubünden, 7000 Chur, Samuel B. Nadig, lic. iur. HSG, RA Geschäftsführer/<br />
Verbandsjurist, Tel. +41 78 880 81 64, info@vsao-gr.ch / www.vsao-gr.ch<br />
ASMAJ c/o Karim Bayoumy, Rue de l’Église 6, 2800 Delémont,<br />
ASMAC.jura@gmail.com<br />
NE ASMAC Sektion Neuenburg, Joël Vuilleumier, Jurist, Rue du Musée 6,<br />
Postfach 2247, 2001 Neuenburg, Tel. 032 725 10 11, vuilleumier@valegal.ch<br />
SG/AI/AR <strong>VSAO</strong> Sektion St.Gallen-Appenzell, Geschäftsstelle: lic. iur. Eric Vultier,<br />
Auf der Mauer 2, 8001 Zürich, vultier@schai-vultier.ch,<br />
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SO<br />
TI<br />
TG<br />
VD<br />
VS<br />
<strong>VSAO</strong> Sektion Solothurn, Geschäftsstelle: lic. iur. Eric Vultier,<br />
Auf der Mauer 2, 8001 Zürich, vultier@schai-vultier.ch,<br />
Telefon 044 250 43 23, Fax 044 250 43 20<br />
ASMACT, Associazione Medici Assistenti e Capiclinica Ticinesi,<br />
Avv. Lorenza Pedrazzini, c/o Ordine dei Medici del Cantone Ticino,<br />
Via Cantonale-Stabile Qi, 6805 Mezzovico-Vira,<br />
Tel. 091 930 63 00, Fax 091 930 63 01, lorenza.pedrazzini@gmail.com<br />
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Auf der Mauer 2, 8001 Zürich, vultier@schai-vultier.ch,<br />
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ASMAV, case postale 9, 1011 Lausanne-CHUV,<br />
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ASMAVal, p.a. Maître Valentine Gétaz Kunz,<br />
Ruelle du Temple 4, CP 20, 1096 Cully, contact@asmaval.ch<br />
Zentralschweiz (LU, ZG, SZ, GL, OW, NW, UR)<br />
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des Verbandes Schweizer Medien<br />
ZH<br />
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50 <strong>VSAO</strong> <strong>JOURNAL</strong> ASMAC <strong>Nr</strong>. 5 <strong>Oktober</strong> <strong>2016</strong>