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MENSCHEN.<br />
Mein<br />
Kriegstagebuch<br />
Otto Hublitz (86) aus Duderstadt war 16 Jahre alt, als er im Frühjahr 1945 den<br />
Einberufungsbefehl bekam. Nach seiner Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg schrieb er<br />
seine Erinnerungen in einem kleinen Tagebuch auf. 70 Jahre danach hat er es nun zum<br />
ersten Mal wieder aus der Schublade geholt. Dabei ist eine ausführliche Tagebuch-Version<br />
entstanden, die zusammen mit seinen Erzählungen die Sicht eines Soldaten<br />
wiedergeben, der kaum jünger hätte sein können.<br />
Text Krisn Kunze | Fotos Iris Blank<br />
16 PUNKT.<br />
Oo Hublitz aus Duderstadt war 16 Jahre alt. Die Sonne<br />
schien in diesen Tagen so herrlich, und der Frühling<br />
hielt Einzug. Duderstadt wurde trotz Munionswerk<br />
vom Krieg verschont, auch wenn, so erinnert sich der<br />
86-Jährige, die Kondensstreifen der Bomber am Himmel<br />
in Richtung Berlin schon zu denken gaben. Alle Männer der Familie<br />
und Verwandtscha waren seit Jahren an der Front und berichteten<br />
im Heimaturlaub darüber, wie es „draußen“ aussah. „Wir<br />
wussten, wie es an den Fronten zuging, auch wenn die Zeitung vieles<br />
verschwieg und nur die Berichte über Erfolge hochjubelte“, sagt der<br />
Eichsfelder.<br />
Als er zur Miagspause nach Hause ging – er machte gerade eine<br />
Lehre zum Industriekaufmann – war mit der Post der Einberufungsbefehl<br />
für den Jugendlichen gekommen. „Anzutreten am 15. März<br />
1945 im RAD-Standort Rodewald“, stand darin geschrieben. RAD<br />
war die Abkürzung für Reichsarbeitsdienst. Rodewald lag zwischen<br />
Hannover und Nienburg. Die freie Bahnkarte war auch dabei.<br />
Alle waren in Aufruhr. Oo und sein Großvater waren die einzigen<br />
Männer im Haus und schließlich mussten die Arbeiten auf dem Feld<br />
und im Garten verrichtet werden und auch um das Vieh, fast jede Familie<br />
habe wenigstens ein Schwein zur Selbstversorgung besessen,<br />
musste sich gekümmert werden. Seine Muer backte für den Sohn<br />
einen Topuchen, und das Nögste wurde in einen Pappkarton gepackt,<br />
da ja kein Koffer mehr vorhanden war. Der gute Anzug wurde<br />
angezogen. Man habe Männer und Jugendliche wie Oo Hublitz<br />
„Deutschlands letzte Hoffnung“ genannt. Alle Waffenfähigen im Alter<br />
von 16 bis 60 Jahren bildeten den „Volkssturm“, um den „Heimatboden“<br />
des Deutschen Reiches am Ende des Krieges zu verteidigen.<br />
Mit einer lobenden Rede am Bahnhof wurden alle Duderstädter<br />
und die Eingezogenen aus den umliegenden Dörfern verabschiedet.<br />
Für die Zugfahrt, die heute mit dem ICE eine halbe Stunde dauert,<br />
benögten sie damals einen ganzen Tag, da wegen des Fliegeralarms<br />
gleich mehrere Male gestoppt werden musste. Es war dunkel, als<br />
die Männer in Rodewald ankamen, und es regnete. Der Weg zu den<br />
Baracken des Lagers war weit. Durchnässt und erschöp wurden sie<br />
den Unterkünen zugeteilt.<br />
Am nächsten Morgen um 6 Uhr ertönte die Trillerpfeife und ein<br />
ungewohnt rauer Ton wurde angeschlagen: „Aufstehen und antreten<br />
in zehn Minuten.“ Oo Hublitz erzählt, dass er in der Hitlerjugend<br />
eine vormilitärische Ausbildung erhalten hae. Das Prozedere<br />
der Kommandos und das Fahnehissen waren für ihn deshalb auch<br />
nichts Neues. Er und die anderen tauschten ihre Kleidung nicht gegen<br />
die graue Uniform des Militärs, sondern gegen die erdbraune<br />
RAD-Uniform. Zu Hause hae man Zeit beim Essen, hier im großen,<br />
vollen Speisesaal musste man schnell sein. Denn wenn der Topf mit<br />
Pellkartoffeln und das gebratene Me leer waren, gab es keinen<br />
Nachschub. „Schnell sein, sonst bist du immer hinten dran. Diese<br />
Lehre half uns bis zum Schluss“, sagt Oo Hublitz.<br />
Die Tage seien mehr oder weniger angenehm vergangen. Zur Ausrüstung<br />
gehörten Stahlhelm und Gewehr, und was man zum Einsatz<br />
sonst noch so brauchte. Täglich ging es zur Ausbildung ins Gelände<br />
– immer an anderen Waffen. „Von wegen Reichsarbeitsdienst mit<br />
Spaten. Davon war gar nichts dabei“, erzählt der 86-Jährige.<br />
Seinen ersten Bombenangriff erlebte der junge Soldat in Hannover,<br />
als er mit anderen Verpflegung holte. Grauenha sei es gewesen,<br />
denn zu Hause sei das ja nicht vorgekommen. Nach acht Tagen<br />
gab es eine Ansprache auf dem Appellplatz und die Männer wurden<br />
vereidigt und waren dann dem Kriegsrecht unterstellt. Eine Ausbildung,<br />
die eigentlich zwei Jahre dauerte, war für Oo Hublitz nur einige<br />
Wochen lang.<br />
Am 4. April wurden die Versorgungsfahrzeuge beladen, und es<br />
hieß Abmarsch von Rodewald. Es ging unter anderem nach Bergen,<br />
» WIR HABEN UNS AM NÄCHSTEN MORGEN NUR<br />
GEWUNDERT, DASS WIR DURCH EIN BARACKEN-<br />
LAGER DER SS MARSCHIERT SIND. «<br />
wo sie unwissend im KZ übernachteten. „Wir haben uns am nächsten<br />
Morgen nur gewundert, dass wir durch ein Baracken-Lager der<br />
SS marschiert sind. Vom KZ haben wir gar nichts mitbekommen.“ Die<br />
Kilometer wurden ebenso wie die Blasen an den Füßen mehr. Der<br />
Weg führte durch das Gelände, denn die Straßen waren zu gefährlich.<br />
Die Gruppen waren zehn bis 15 Mann groß, um kein Ziel für die<br />
Jäger in der Lu zu bilden. Der Sand der Heide war unangenehm in<br />
den Schuhen. In Hitzacker bekam der Duderstädter das Angebot bei<br />
einer Familie zu bleiben, er sollte die Uniform gegen zivile Kleidung<br />
des Sohnes tauschen. Oo entschied sich gegen die Fahnenflucht,