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Fr. 7.50 9/September <strong>2016</strong><br />

Jesper Juul<br />

Warum Familien den<br />

Umgang mit Smartphones<br />

überdenken müssen<br />

Unschooling<br />

Lernen ohne Schule –<br />

wie geht das?<br />

Eine Reportage<br />

Mobbing<br />

Was Eltern und Lehrpersonen tun können


KUNDENVORTEIL<br />

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sich wie folgt zusammen: Cash-Prämie von CHF 2’000.– plus Mehrausst. von CHF 1’700.– plus Trend Plus-Paket von CHF 390.–. Yaris Trend Kundenvorteil von CHF 4’190.– setzt sich wie folgt zusammen: Cash-Prämie von CHF 2’000.– plus Mehrausst.<br />

von CHF 1’400.– plus Trend Plus-Paket von CHF 790.–. Verso Trend Kundenvorteil von CHF 3’890.– setzt sich wie folgt zusammen: Cash-Prämie von CHF 2’000.– plus Mehrausst. von CHF 1’000.– plus Trend Plus-Paket von CHF 890.–. Avensis Trend<br />

Kundenvorteil von CHF 5’000.– setzt sich wie folgt zusammen: Cash-Prämie von CHF 2’000.– plus Mehrausst. von CHF 2’400.– plus Trend Plus-Paket von CHF 600.–. Ø CO₂-Emission aller in der Schweiz immat . Fahrzeugmodelle: 139 g / km .<br />

Leasingkonditionen: Eff . Jahreszins 0 ,90 % , Vollkaskoversicherung obligatorisch , Kaution vom Finanzierungsbetrag 5 % ( mind . CHF 1’000 .– ) , Laufzeit 24 Monate und 10’000 km / Jahr . Eine Leasingvergabe wird nicht gewährt , falls sie zur Überschuldung<br />

führt . Die Verkaufsaktionen sind gültig für Vertragsabschlüsse mit Inverkehrsetzung vom 1. August <strong>2016</strong> bis 30. September <strong>2016</strong> oder bis auf Widerruf . Abbildung zeigt aufpreispflichtige Optionen . **Es gilt das zuerst Erreichte.


Editorial<br />

Bild: Geri Born<br />

Nik Niethammer<br />

Chefredaktor<br />

«Ein lustiger Streich? Oder<br />

bereits Mobbing? In diesem Fall<br />

war es Mobbing, weil Tobias<br />

uns nie etwas getan hatte und<br />

er sich nicht wehren konnte.»<br />

Psychologe Fabian Grolimund über seine eigenen<br />

Mobbingerfahrungen<br />

Liebe Leserin, lieber Leser<br />

Was ist eine schöne Kindheit? Das fragen sich Eltern aus ganz unterschiedlichen<br />

Gründen. Die Antworten sind immer dieselben: Kinder sollen wohlbehütet aufwachsen.<br />

Ohne Gewalt, ohne jede Art von Misshandlungen oder gar sexuellem<br />

Missbrauch.<br />

Laut einer 2015 im renommierten Fachblatt «Lancet» publizierten Studie muss<br />

die Umschreibung einer schönen Jugend um einen Punkt erweitert werden:<br />

Zu den Grundvoraussetzungen gehört demnach, dass Kinder und Jugendliche<br />

von Gleichaltrigen nicht gemobbt werden.<br />

Wie komplex und vielschichtig das Thema Mobbing ist, haben wir bei der Arbeit<br />

an diesem Dossier erfahren. Ich bin besonders stolz, mit den Psychologen Fabian<br />

Grolimund («Das Thema ist mir eine Herzensangelegenheit») und Stefanie<br />

Rietzler zwei ausgewiesene Fachleute als Autoren an Bord zu haben. Die beiden<br />

führten zahlreiche Gespräche mit Eltern von gemobbten Kindern; die zum Teil<br />

erschütternden Protokolle finden Sie im Laufe des Monats September auf unserer<br />

Webseite in der Kategorie Elternbildung: www.fritzundfraenzi.ch > Erziehung ><br />

Elternbildung.<br />

Mobbing – was Eltern und Lehrpersonen tun können – ab Seite 10.<br />

Er hat lange geschwiegen. Jetzt äussert sich der dänische Familientherapeut und<br />

Buchautor Jesper Juul zum ersten Mal ausführlich zum Umgang mit Smartphones<br />

in Familien. Juul tut dies gewohnt unaufgeregt: «Smartphones», sagt der<br />

Erziehungspädagoge, «sind heute elektronische Familienmitglieder.<br />

Sie ziehen zu viel Aufmerksamkeit auf sich, verändern<br />

die Kultur von Familien auf eine Art und Weise, die ungesund<br />

ist.» Juul warnt vor den Folgen von zu viel Handykonsum:<br />

Kinder fühlen sich durch das Verhalten ihrer Eltern frustriert,<br />

traurig, enttäuscht. Sie beginnen, ihre eigenen Gefühle anzuzweifeln,<br />

ein grosser Teil ihres Selbstwertgefühls geht verloren.<br />

Die Entfremdung von ihren Eltern führt zu einem Verlust<br />

von Vertrauen, im schlimmsten Fall zu Depressionen.<br />

Juuls Kolumne «Smartphones haben auf der Familieninsel nichts zu suchen»<br />

erschien zuerst auf unserer Webseite. Der Text hat ein riesengrosses Echo ausgelöst;<br />

er wurde bis heute über 100 000 Mal aufgerufen und auf Facebook mehr als<br />

500 Mal geteilt. Ich möchte Ihnen, die Sie vielleicht nur unser Magazin lesen, diesen<br />

exklusiven Text nicht vorenthalten. Und ich freue mich auf Ihre Meinung.<br />

Jesper Juul über den Umgang mit Smartphones – ab Seite 48.<br />

Mit dieser Ausgabe endet unsere 11-teilige ADHS-Serie. In enger Zusammenarbeit<br />

mit dem Institut für Familienforschung, Freiburg, und der Unterstützung<br />

der Stiftung Mercator Schweiz haben Ärzte, Psychologen und Fachleute<br />

das Thema sehr grundsätzlich beleuchtet, haben mit Betroffenen, Eltern und<br />

Lehrpersonen gesprochen, gesellschaftliche und rechtliche Aspekte aufgegriffen<br />

und sich um die Themen Diagnose und Therapien gekümmert.<br />

Ich freue mich, Ihnen die 11-teilige Serie als PDF gratis zum Download anbieten<br />

zu können. Unter www.fritzundfraenzi.ch > Gesundheit > Psychologie.<br />

Multimodale Therapie ohne Medikamente – ab Seite 62.<br />

Ich wünsche Ihnen viel Lesevergnügen mit unserem Magazin oder online unter<br />

www.fritzundfraenzi.ch.<br />

Herzlichst, Ihr Nik Niethammer<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>3


Inhalt<br />

Ausgabe 9 / September <strong>2016</strong><br />

Viele nützliche Informationen finden Sie auch auf<br />

fritzundfraenzi.ch und<br />

facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Augmented Reality<br />

Überall, wo Sie dieses Zeichen sehen, erhalten Sie digitalen<br />

Mehrwert im Heft. Hinter dem ar-Logo verbergen sich Videos<br />

und Zusatzinformationen zu den Artikeln.<br />

Psychologie & Gesellschaft<br />

42 Gotte sein? Nein danke!<br />

Silvia Aeschbach weiss, wie stark die<br />

Patenschaft an Erwartungen geknüpft<br />

ist und dass sie schiefgehen kann.<br />

44 Jetzt wird gerauft!<br />

Spielerisches Rangeln schadet<br />

Kindern nicht – im Gegenteil.<br />

46 Ängstliche Eltern, ängstliche<br />

Kinder<br />

Wie man sich weniger sorgt und<br />

so auch weniger Sorgen vererbt.<br />

Auch folgende Anzeige bietet Augmented Reality:<br />

Umweltarena, Seite 45<br />

10<br />

Dossier: Mobbing<br />

10 … und alle schauen weg<br />

Mobbing kann Kindern das Leben zur<br />

Hölle machen. Warum aber mobben<br />

Kinder? Und wie kann Mobbing<br />

aussehen. Die ausführliche Analyse<br />

mit Erlebnisberichten und<br />

Expertenmeinungen.<br />

Bild: 123RF<br />

28 «No Blame Approach»<br />

Warum es bei Mobbing besonders hilfreich<br />

sein kann, wenn niemand verurteilt wird.<br />

32 Mein Kind wird gemobbt – und nun?<br />

Was Eltern tun können, um ihrem Kind<br />

zu helfen.<br />

Cover<br />

Ein bisschen anders<br />

und plötzlich ganz<br />

allein – um kein<br />

Mobbingopfer<br />

blosszustellen,<br />

arbeiten wir in dieser<br />

Ausgabe mit<br />

Symbolbildern.<br />

Bilder: Imago, Tanja Demarmels / 13 Photo, Martin Mischkulnig / 13 Photo, Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

4


48<br />

36<br />

68<br />

Wie verhandelt man erfolgreich mit<br />

Teenagern? Philipp Ramming weiss Rat.<br />

Jesper Juul schreibt: Smartphones haben<br />

auf der Familieninsel nichts verloren.<br />

Wenn Kinder nicht zur Schule gehen, sondern<br />

zu Hause lernen – wie und wann sie wollen.<br />

Erziehung & Schule<br />

60 Mathematik spielend lernen<br />

Zahlen sind nur so lange abstrakt,<br />

als man sie nicht mit allen Sinnen<br />

begreift.<br />

62 Serie ADHS, Teil 11<br />

Mit ganzheitlichen<br />

Therapiemethoden befassen wir<br />

uns m letzten Teil der ADHS-<br />

Serie. Und wir bieten die ganze<br />

Serie zum Download an.<br />

66 Der Lehrlingslohn<br />

Wie viel Geld können Jugendliche<br />

erwarten, und müssen sie ihren Eltern<br />

Miete bezahlen? Alle Antworten.<br />

68 Unschooling<br />

Wie ist das, wenn die Kinder nur<br />

lernen, worauf sie Lust haben, und nie<br />

in die Schule gehen? Eine Reportage.<br />

Ernährung & Gesundheit<br />

78 Energy Drinks<br />

Red Bull und Co. schmecken süss und<br />

machen sofort wach. Doch Forscher<br />

warnen vor Langzeitfolgen.<br />

Digital & Medial<br />

80 Trolle und andere Fieslinge<br />

Im Internet herrscht ein rauer<br />

Umgangston. Warum eigentlich?<br />

Und wie soll man mit fiesen<br />

Kommentaren umgehen?<br />

82 Mixed Media<br />

84 Internetpornografie<br />

Sie glauben Ihre Kinder schauen<br />

keine Pornos? Höchstwahrscheinlich<br />

liegen Sie falsch.<br />

Rubriken<br />

03 Editorial<br />

06 Entdecken<br />

36 Monatsinterview<br />

Philipp Ramming weiss: Die Liebe<br />

kann der Erziehung auch im Weg<br />

stehen.<br />

48 Jesper Juul<br />

Abschalten! Der Familientherapeut<br />

Jesper Juul über Smartphones im<br />

Familienalltag.<br />

52 Stiftung Elternsein<br />

Ellen Ringier findet Gewaltspiele<br />

gefährlicher als die Burka.<br />

54 Leserbriefe<br />

56 Michèle Binswanger<br />

Eigentlich dachte unsere Kolumnistin<br />

immer, loslassen fiele ihr leicht.<br />

Und dann wurden ihre Kinder gross.<br />

58 Fabian Grolimund<br />

Voll im Gruppendruck: Was tun, wenn<br />

Kinder nicht Nein sagen können?<br />

Service<br />

53 Abo<br />

77 Verlosung<br />

86 Unser Wochenende …<br />

… in Braunwald.<br />

88 Impressum/Sponsoren<br />

89 Buchtipps<br />

90 Eine Frage – drei Meinungen<br />

Was tun, wenn die Tochter beim<br />

Psychologen über die Eltern lästert?<br />

Die nächste Ausgabe erscheint<br />

am 5. Oktober <strong>2016</strong>.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>5


Entdecken<br />

3 FRAGEN<br />

Bild: Bill Cheyrou / Alamy Stock Photo<br />

Kinder, rauf aufs Velo!<br />

Kinder und Jugendliche fahren gerne<br />

Velo? Jein. Laut Statistik verliert<br />

das Velofahren seit etwa 15 Jahren<br />

an Bedeutung. In gewissen Altersgruppen<br />

treten nur noch halb so<br />

viele Jugendliche in die Pedale wie<br />

früher. Das soll sich wieder ändern.<br />

Daher hat der Verein Pro Velo<br />

Schweiz die neue Plattform<br />

www.schule-velo.ch ins Leben gerufen.<br />

Diese verschafft einen Überblick<br />

über alle Programme und Kurse, die<br />

speziell für Schulklassen angeboten<br />

werden.<br />

an Stephan Sigg, Jugendbuchautor<br />

«Was habe ich für ein Körperideal?»<br />

Jonas verbringt fast jede Minute seiner Freizeit im Fitnessstudio. Sein Ziel:<br />

ein perfekter Body. Dafür riskiert er alles ... «Fitness-Junkie» ist das erste<br />

Buch, das sich dem Thema Fitnesssucht bei Jugendlichen widmet. Der<br />

St. Galler Autor Stephan Sigg darüber, was junge Leser bei der Lektüre<br />

erwartet.<br />

Interview: Evelin Hartmann<br />

Herr Sigg, wie sind Sie bei der Recherche zu «Fitness-Junkie»<br />

vorgegangen?<br />

Ich spreche viel mit Jugendlichen, um zu erspüren, welche Themen sie gerade<br />

bewegen, und habe schnell festgestellt, dass Fitnesssucht ein grosses Thema<br />

ist. Man sieht es ja auf der Strasse, wie ausdefiniert viele Teenagerkörper<br />

aussehen und wie stolz die Jugendlichen darauf sind. In Fitnessstudios<br />

habe ich anschliessend Interviews mit Jugendlichen und Trainern geführt.<br />

Die Romanfigur Jonas nimmt Anabolika, um seine Leistug zu steigern.<br />

Damit geht er wahrscheinlich weiter als die meisten Jugendlichen.<br />

Leider nicht. Die Nachfrage nach Anabolika wie auch allen anderen<br />

Substanzen auf dem Markt steigt, gerade unter Jugendlichen.<br />

Ihr Buch richtet sich an Teenager im Oberstufenalter. Was ist Ihr Ziel?<br />

Dass Jugendliche nach der Lektüre ihr Fitnessstudio-Abo kündigen?<br />

Nein, ich will das Thema Fitness nicht verteufeln, sondern Jugendliche vielmehr<br />

für die Frage sensibilisieren: Was habe ich für ein Körperideal und warum<br />

trainiere ich?<br />

www.stephansigg.com<br />

29 % der Schweizer Knaben und 19 % der Mädchen<br />

im Alter von 15 Jahren gaben in einer aktuellen WHO-Studie<br />

an, schon einmal gekifft zu haben.<br />

(Die WHO wertete für die Studie «Health Behaviour in<br />

School-aged Children» Daten von insgesamt rund 220 000<br />

Jugendlichen im Alter von 11, 13 und 15 Jahren aus.)<br />

Das Elternsein bereuen<br />

«Unfassbar», riefen viele, als Frauen in der israelischen<br />

Studie «Regretting Motherhood» sagten, sie bereuten ihre<br />

Entscheidung für ein Kind. Jetzt hat das deutsche Online-<br />

Marktforschungsinstitut YouGov in einer Umfrage ergründete,<br />

wie viele Mütter und Väter in Deutschland so empfinden.<br />

Mehr als 1200 Eltern wurden befragt. Das Ergebnis:<br />

61 Prozent sagten: «Mein Kind ist ein Wunschkind». 39 Pro -<br />

zent kreuzten dieses Kästchen nicht an. YouGov ging aber<br />

noch einen Schritt weiter: «Wenn ich mich heute noch<br />

einmal entscheiden könnte, würde ich keine Kinder mehr<br />

bekommen wollen» – 8 Prozent der Befragten stimmten<br />

dieser Aussage «voll und ganz» zu, und weitere 11 Prozent<br />

stimmten ihr «eher» zu. Wie wohl das Ergebnis hierzulande<br />

ausgefallen wäre?<br />

6 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Rubrik<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>7


Entdecken<br />

Pränatal bis postpubertär<br />

PodShare heisst das Projekt der jungen Amerikanerin Elvina Beck und ist eine Reaktion auf<br />

steigende Mieten und knapper werdenden Wohnraum: eine Unterkunft ohne Privatsphäre. Die Gäste<br />

oder «Podestrians», wie sie genannt werden, schlafen in vier Quadratmeter grossen Kojen und<br />

bezahlen je nach Art der Unterkunft zwischen 30 und 50 Dollar pro Nacht. Neben frei nutzbarem<br />

WLAN gibt es kostenloses Essen in Kühlschränken, in den Bädern stehen Duschgel, Zahnpasta und<br />

Deo bereit. Viel Gemeinschaft, keine Privatsphäre? Stimmt. In den geschlechtlich gemischten<br />

Schlafräumen gibt es keine Vorhänge, Sex ist verboten. Wer sich nicht daran hält, fliegt raus.<br />

Mittlerweile gibt es in Los Angeles vier PodShare-Unterkünfte, bis Ende 2017 sollen es zehn sein.<br />

Fünf Autorinnen und Autoren<br />

– zehnfacher Nachwuchs. Da<br />

gibt es einiges zu erzählen für<br />

«Die Eltern»: Über den Spagat<br />

zwischen Familienalltag und<br />

Beruf, über Ferien mit und<br />

von den Kindern, über<br />

Yogamütter, Drogenmüesli<br />

und Schul reisen. Ihr «Pränatal<br />

bis postpubertär» ist eine<br />

Langzeit studie in CD-Form,<br />

spannend, witzig und auch ein<br />

bisschen böse. Die Eltern:<br />

Pränatal bis postpubertär. Der<br />

gesunde Menschenverstand<br />

Verlag, <strong>2016</strong>, Audio-CD,<br />

78 Min., Fr. 28.–<br />

80<br />

Prozent deines Glücks<br />

hängen davon ab, welchen<br />

Partner oder welche<br />

Partnerin du wählst. Ich<br />

habe Glück gehabt.<br />

(Amazon-Gründer Jeff Bezos in einem Interview mit<br />

dem Tages-Anzeiger über seine Frau MacKenzie. Das<br />

Paar ist seit 23 Jahren verheiratet und hat vier Kinder.)<br />

Jeff Bezos,<br />

Gründer und<br />

Präsident von<br />

amazon.com<br />

Kinder senken das Unfallrisiko<br />

– Handys nicht<br />

Schnell noch mal anrufen oder eine SMS schreiben:<br />

Eine grosse US-Studie zeigt, dass der Umgang<br />

mit Handys am Steuer derjenige Einzelfaktor ist,<br />

der Autounfälle besonders stark zunehmen lässt.<br />

Demnach steigern die Suche nach dem Gerät, das<br />

Telefonieren und insbesondere das Lesen und<br />

Texten das Unfallrisiko um fast das Vierfache.<br />

«Wenn Fahrer sich für ablenkende Aktivitäten<br />

entscheiden, gehen sie mehr als die Hälfte der<br />

Fahrzeit ein verdoppeltes Unfallrisiko ein»,<br />

berechnen die Autoren. Allerdings steigerte in der<br />

Studie nicht jede Ablenkung das Unfallrisiko: Wenn<br />

fahrende Eltern sich mit ihren Kindern auf der<br />

Rückbank beschäftigen, sank die Gefahr etwa um<br />

die Hälfte. Das überrascht Experten nicht, Eltern<br />

fahren mit Kindern deutlich defensiver und<br />

vorsichtiger.<br />

Bilder: ZUMA Press, Inc. / Alamy Stock Photo<br />

8 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Das letzte Mal<br />

Balkon-Tomaten.<br />

Das erste Mal<br />

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Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>9


Dossier<br />

Bild: Bildbyran / Imago<br />

10 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

… und alle<br />

schauen weg<br />

Was gehört zu einer schönen Kindheit? Einsamkeit, Trauer und<br />

Verzweiflung sicher nicht. Warum mobben Kinder andere<br />

Kinder? Woran erkennen Eltern, dass ihr Kind gemobbt wird?<br />

Und was können sie dagegen tun? Text: Fabian Grolimund<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>11


Dossier<br />

Für dieses Dossier haben wir Fotos<br />

aus gewählt, die die seelischen Verletzungen<br />

von Mobbingopfern widerspiegeln – die<br />

Kinder und Jugendlichen aus unseren Texten<br />

zeigen sie nicht. Wir wollen sie schützen.<br />

Hallo Tobias, hast du<br />

ein paar Anrufe<br />

bekommen?» Alle<br />

lachen. «Ihr wart<br />

das. Etwa hundert<br />

Leute haben bei uns angerufen!»<br />

Tobias schluckt. Ihm wird klar, dass<br />

Silvan, Fabian und Thomas ihm wieder<br />

einen Streich gespielt haben. Auf<br />

der Messe, die die drei am Samstag<br />

besucht hatten, gab es die Möglichkeit,<br />

kostenlos ein Zeitungsinserat<br />

aufzugeben. Fabian meinte zu<br />

seinen Freunden: «Kommt, wir<br />

schauen die Telefonnummer von<br />

Tobias im Telefonbuch nach und<br />

schreiben rein, dass er eine kostenlose<br />

Nintendo-Konsole abzugeben<br />

hat.»<br />

Ein lustiger Streich? Oder bereits<br />

Mobbing?<br />

In diesem Fall war es Mobbing.<br />

Wir haben uns häufig auf dem Pausenplatz<br />

geprügelt, dabei ab und zu<br />

auch eine blutige Nase geholt – ohne<br />

dass ich deshalb von Mobbing sprechen<br />

würde. Warum bezeichne ich<br />

diesen scheinbar harmlosen Streich<br />

als Mobbing? Ich tue es deshalb, weil<br />

ich die Hintergründe kenne, weil –<br />

so sehr ich mich dafür schäme – ich<br />

in diesem Beispiel alle Namen verändert<br />

habe ausser meinen eigenen.<br />

Mobbing war es, weil wir Tobias<br />

ständig solche Streiche spielten. Weil<br />

wir die Augen verdrehten, wenn er<br />

so fleissig aufstreckte und mit den<br />

Fingern schnippte, weil die halbe<br />

Klasse stöhnte, wenn er eine von<br />

seinen «neunmalklugen» Antworten<br />

gab. Mobbing war es, weil wir viele<br />

waren und Tobias alleine. Mobbing<br />

war es, weil er stets das Opfer war,<br />

weil wir ihm unmissverständlich<br />

und immer wieder signalisierten:<br />

Wir mögen dich nicht! Und wir werden<br />

dich nicht in Ruhe lassen, egal<br />

was du tust!<br />

Mobbing war es, weil Tobias uns<br />

nie etwas getan hatte – und weil er<br />

keine Möglichkeit hatte, uns auszuweichen,<br />

sich zu wehren oder sich<br />

anzupassen. Aus allem, was er tat,<br />

leiteten wir Gründe ab, um ihn weiter<br />

fertigzumachen.<br />

Dabei gelang es uns – und das<br />

finde ich an Mobbing das Schlimmste<br />

–, die Erwachsenen auf unsere<br />

Seite zu ziehen. Ihnen zu suggerieren,<br />

dass unsere Aktionen gerechtfertigt<br />

waren und dieser Junge es<br />

nicht anders verdient hatte.<br />

Es war Mobbing, weil Tobias<br />

uns nie etwas getan hatte,<br />

er sich nicht wehren konnte. >>><br />

Bild: Rafael Ben-Ari / Fotolia<br />

12 September <strong>2016</strong>


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September <strong>2016</strong>13


Dossier<br />

14 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Bild: Cultura / Image Source / Gallery Stock<br />

>>> Während meiner gesamten Primarschulzeit<br />

hat kein einziges Mal<br />

ein Elternteil oder eine Lehrperson<br />

klar Stellung gegen unsere Taten<br />

bezogen. In der dritten Klasse kam<br />

Tobias’ Mutter dreimal vorbei, um<br />

mit unserem Lehrer zu sprechen.<br />

Dieser führte danach jeweils ein<br />

Gespräch mit uns. Ich kann mich<br />

erinnern, dass er uns viel Verständnis<br />

entgegenbrachte, uns zustimmte,<br />

dass dieser Junge schwierig sei und<br />

er es nachvollziehen könne, dass wir<br />

teilweise so reagierten. Und dass<br />

unsere Streiche natürlich nicht so<br />

schlimm gewesen seien, dieser Junge<br />

einfach sehr sensibel reagiere.<br />

Aber wir sollten doch bitte damit<br />

aufhören, diese Mutter käme ständig<br />

in die Schule. Die Botschaft war klar:<br />

Tobias hatte es eigentlich verdient,<br />

aber wir sollten es auf eine Art und<br />

Weise tun, die den Lehrer weniger<br />

stört.<br />

Irgendwann kam die Mutter<br />

nicht mehr. Sie hatte aufgegeben.<br />

Tobias war nun ganz allein.<br />

«Das haben wir doch früher auch so<br />

gemacht!»<br />

Wie konnten ich und meine Freunde<br />

so gemein sein? Wir waren keine<br />

«bösen» Kinder. Wir waren auch<br />

nicht schlecht erzogen. Es fehlte uns<br />

grundsätzlich weder an Empathie<br />

noch an Selbstwertgefühl oder<br />

Selbstvertrauen. Wir fühlten uns in<br />

der Klasse wohl und waren sozial<br />

kompetent genug, unsere Aktionen<br />

so darzustellen, dass Eltern mitgelacht<br />

haben, wenn wir von Streichen<br />

erzählten, und der Lehrer die Mutter<br />

von Tobias als lästig empfand und<br />

sie abwimmelte.<br />

Ich höre sehr oft von ähnlichen<br />

Geschichten, obwohl viele Schulen<br />

heute stark auf das Thema Mobbing<br />

sensibilisiert sind.<br />

Vielleicht denken Sie: «Das haben<br />

wir früher doch auch gemacht.» Ja,<br />

das haben wir. Ich auch. Und es war<br />

gemein und falsch! Es sorgt dafür,<br />

dass einzelne Kinder leiden, ihr<br />

Selbstvertrauen und ihr Selbstwert-<br />

Irgendwann kam die<br />

Mutter nicht mehr. Sie<br />

hatte aufgegeben. Tobias<br />

war nun ganz allein.<br />

gefühl einbüssen und in schlimmeren<br />

Fällen diese Erlebnisse ihr ganzes<br />

Leben lang mit sich herumtragen,<br />

eine psychische Störung entwickeln<br />

und sich manchmal sogar das Leben<br />

nehmen.<br />

Mobbing können wir nur verhindern,<br />

wenn wir alle, Lehrpersonen,<br />

Eltern und Kinder, anfangen, Verantwortung<br />

zu übernehmen. In diesem<br />

Dossier möchten wir Ihnen<br />

vermitteln, welche Mechanismen<br />

bei Mobbing am Werk sind, was uns<br />

daran hindert, Verantwortung zu<br />

übernehmen – und wie wir uns aus<br />

der Hilflosigkeit befreien können.<br />

Es gibt kaum ein Kind, das während<br />

seiner Schulzeit nicht mit Mobbing<br />

in Berührung kommt. Davon<br />

bekommen Sie als Mutter, Vater<br />

oder Lehrperson meist wenig mit.<br />

Sogar wenn Kinder von anderen<br />

massiv schikaniert, ausgegrenzt,<br />

verprügelt und fertiggemacht werden,<br />

verkennen viele Eltern und<br />

Lehrpersonen das Problem.<br />

Mobbing – und alle spielen mit<br />

In fast jeder Klasse wird ein Kind<br />

gemobbt. Dies bedeutet für Sie als<br />

Mutter oder Vater, dass wahrscheinlich<br />

auch Ihr Kind in irgendeiner<br />

Form involviert ist. Es wird dabei<br />

eine von sechs Rollen einnehmen,<br />

die Heike Blum und Detlef Beck in<br />

ihrem Buch «No Blame Approach»<br />

(Ansatz ohne Schuldzuweisung,<br />

siehe Seite 28) beschreiben.<br />

Die Mobbingaktionen gehen von<br />

den Akteuren aus. Diese holen sich<br />

durch ihre Taten Anerkennung und<br />

sichern sich eine starke Posi- >>><br />

15


Dossier<br />

>>> tion in der Klasse. Sie ernten<br />

Lacher für ihre Streiche und sorgen<br />

in der Klasse für Spannung und<br />

Action. Die Assistenten und Verstärker<br />

springen auf den Zug auf.<br />

Die Assistenten unterstützen tatkräftig,<br />

indem sie Ideen ausführen<br />

oder mitmachen. Die Verstärker<br />

machen nicht direkt mit, signalisieren<br />

den Akteuren jedoch klar, dass<br />

sie auf deren Seite stehen und das<br />

Mobbing gutheissen. Die Zuschauer<br />

halten sich raus, meist aus Angst,<br />

selbst Opfer zu werden. Schliesslich<br />

gibt es noch die Verteidiger, die zu<br />

Beginn versuchen, das von Mobbing<br />

betroffene Kind zu schützen. Sie<br />

werden – wenn sie keine Unterstützung<br />

durch andere Kinder oder<br />

Erwachsene erhalten – oft zu Erduldern,<br />

die das Mobbing als falsch<br />

empfinden, sich aber nicht mehr<br />

dagegen zur Wehr setzen. Der oder<br />

die von Mobbing Betroffene wird<br />

gedemütigt, erniedrigt und misshandelt.<br />

Mobbing ist kein Konflikt und kein<br />

Streit<br />

Mobbing entsteht aus einer Gruppendynamik,<br />

bei der Kinder mit der<br />

Zeit bestimmte Rollen einnehmen.<br />

Es lässt sich daher nur lösen, wenn<br />

diese Dynamik durchbrochen wird.<br />

Wer denkt, es ginge nur um eine<br />

Auseinandersetzung zwischen<br />

«Täter» und «Opfer», übersieht das<br />

wirkliche Problem und setzt >>><br />

Bild: Sollina Images / Blend Images LLC / Gallery Stock<br />

«Und alle<br />

schauten weg»<br />

Wie das Leben unserer Tochter durch<br />

Mobbing aus den Fugen geriet. Eine<br />

Mutter* klagt an.<br />

Aufgezeichnet von Fabian Grolimund<br />

Angefangen hat alles 2013 gegen Ende der<br />

dritten Klasse. Unsere Tochter kam immer<br />

öfter weinend nach Hause. Sie machte nicht<br />

mehr mit anderen Kindern ab und erzählte,<br />

dass die Klassenkameraden sie immer<br />

beschimpften. Mit der Zeit hat man ihr<br />

immer wieder Dinge versteckt oder weggeworfen.<br />

Schliesslich wurden die Angriffe auch<br />

körperlich, so wurde sie beispielsweise mit<br />

Steinen beworfen. Zuerst gingen die Angriffe<br />

nur von Einzelnen aus. Am Schluss von der<br />

gesamten Klasse.<br />

Auch während des Unterrichtes wurde sie<br />

immer öfter beschimpft. Es häuften sich auch<br />

die Einträge der Lehrerin im Kontaktheft: «Sie<br />

stört den Unterricht», «Sie schreit herum»,<br />

«Sie ist laut».<br />

Unsere Tochter wurde immer übellauniger,<br />

und wenn wir sie darauf ansprachen, gab sie<br />

allen anderen die Schuld, nur nicht sich selbst.<br />

Zuerst haben wir versucht, mit ihr über passives<br />

Verhalten zu sprechen, wir haben den<br />

Fehler auch bei ihr gesucht. Immer wieder<br />

sagten wir ihr, das gehe vorbei, und rieten<br />

ihr, sich etwas zurückzuhalten und aus der<br />

Schusslinie zu gehen, sich rarzumachen und<br />

diesen Kindern aus dem Weg zu gehen. Doch<br />

dies stelle sich als sehr schwierig heraus.<br />

Aber je intensiver das Mobbing wurde,<br />

desto aktiver wurden wir.<br />

Wir haben mehrmals versucht, mit der<br />

Lehrerin zu sprechen. Diese fand, wir würden<br />

die Situation aufbauschen. Sie sei schon so<br />

lange Lehrerin und würde solche Probleme<br />

schon erkennen. Die Lehrerin stand kurz vor<br />

der Pensionierung, und ich denke, sie wollte<br />

nur noch einen ruhigen Abgang. Daher werde<br />

ich jetzt nicht alle Lehrer in einen Topf werfen,<br />

denn eigentlich haben wir zu den Lehrern und<br />

der Schulleitung einen guten Kontakt.<br />

Im Frühling 2014 merkten wir ganz extrem,<br />

dass unsere Tochter sich immer mehr in ihr<br />

Schneckenhaus verkroch. In den Ferien wollte<br />

sie sich mit niemandem treffen, ging nur noch<br />

in den Keller, um zu basteln, oder verkroch<br />

sich in ihrem Zimmer. Nur wenige Male gelang<br />

es einem drei Jahre jüngeren Mädchen, sie<br />

zum Spielen nach draussen zu holen.<br />

Als die Ferien sich dem Ende zuneigten,<br />

kamen die Schlafstörungen. Sie konnte nicht<br />

mehr einschlafen, hatte Alpträume oder<br />

war nach zwei Stunden Schlaf wieder wach.<br />

Ihre Launen wurden immer schlimmer.<br />

Da setzten wir uns abermals mit unserer<br />

Tochter zusammen und redeten. Sie bat uns,<br />

die Schule wechseln zu dürfen – ein Internat,<br />

nur nicht mehr zurück in die Klasse.<br />

Wir versprachen ihr, nochmals mit der<br />

Lehrerin in Kontakt zu treten. Das Gespräch<br />

brachte aber nicht viel, sodass ich einen<br />

anderen Weg einschlug. Ich rief die Schulsozialarbeiterin<br />

an, und diese machte einen<br />

Termin mit mir ab.<br />

Die Schulsozialarbeiterin holte unsere<br />

Tochter regelmässig mit verschiedenen<br />

Schulkameraden ab und führte Gespräche,<br />

um die Kinder auf die Problematik anzusprechen<br />

und Lösungen zu suchen. Wir Eltern<br />

wurden auf dem Laufenden gehalten über die<br />

Gespräche. Leider fruchtete es nichts.<br />

Als dann auch noch ein Klassenlager<br />

angesagt wurde, erlebten wir unsere Tochter<br />

auf eine Weise, die wir nicht kannten. Sie<br />

wollte nicht ins Lager fahren, obwohl sie<br />

schon in sehr vielen Pfadilagern gewesen war.<br />

Also entschloss ich mich zu einem Besuch<br />

bei der Lehrerin. Begrüsst wurde ich mit<br />

den Worten «Ah, die schwierige Mutter<br />

kommt». Welch ein Aufsteller! Ich äusserte<br />

die Bedenken meiner Tochter und sagte,<br />

dass sie zunehmend isoliert werde und mittlerweile<br />

von der gesamten Klasse gemobbt<br />

werde. Die Lehrerin tat dies als Humbug ab<br />

und wollte mir beweisen, dass unsere Tochter<br />

16 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


in der Pause mit den anderen Mädchen spiele.<br />

Sie suchte meine Tochter und fand sie alleine<br />

beim Lesen vor. Wir kamen überein, dass<br />

unsere Tochter nach den Ferien entscheidet,<br />

ob sie mit der Parallelklasse zur Schule geht<br />

oder ins Klassenlager mitfährt.<br />

Wir Eltern redeten viel mit unserer Tochter<br />

und versuchten eine Sandkastenfreundin<br />

von ihr, die auch in die gleiche Klasse ging,<br />

um Hilfe zu bitten. Dann kam das Lager und<br />

unsere Tochter fuhr mit, es gab keine nennenswerten<br />

Vorfälle.<br />

Aber nach dem Klassenlager wurde auf<br />

einmal alles schlimmer, sodass in Freundschaftsbücher<br />

geschrieben wurde: Meine<br />

Hobbys: sie schlagen, sie verprügeln. Meine<br />

Ziele: sie zu ermorden, sie fertigzumachen<br />

usw. Als ich dies sah, brach für mich eine Welt<br />

zusammen und ich war nur noch wütend.<br />

Die Attacken mehrten sich, bis ein Schüler<br />

sogar ihre Brille auf den Boden warf und ihre<br />

Gläser ersetzt werden mussten. Irgendwann<br />

konnte ihr nicht einmal mehr die Sandkastenfreundin<br />

helfen, da diese mittlerweile selbst<br />

gemieden wurde.<br />

Einmal redete die Klasse über Mobbing<br />

und wie es meiner Tochter gehe. Die Lehrerin<br />

fragte, was meine Tochter alles falsch<br />

mache und was richtig. Dabei musste meine<br />

Tochter anwesend sein. Das «Ergebnis»? Sie<br />

stinke, trage falsche Klamotten, sei nicht «in»,<br />

schreie, sei doof usw. Am Abend weinte sie<br />

sich in den Schlaf.<br />

Dies und die immer schlechtere Schulleistung<br />

und der Gemütszustand unserer<br />

Tochter veranlassten uns, im Winter<br />

2014/2015 einen Antrag auf eine freiwillige<br />

Repetition der Klasse zu stellen. Die Schulsozialarbeiterin<br />

und die Schulpsychologin<br />

halfen uns weiter.<br />

Wir stellten das Repetitionsbegehren auf<br />

ausdrücklichen Wunsch unserer Tochter. Ihre<br />

Worte waren: «Ich würde so gerne dazugehören,<br />

akzeptiert werden und Freunde haben.<br />

Vielleicht komme ich dann beim Schulstoff<br />

wieder mit. Die Schule macht so keinen<br />

Spass.»<br />

Durch das lange Mobbing waren ihr Selbstwertgefühl<br />

und das Selbstbewusstsein fast<br />

nicht mehr vorhanden. Sie verabredete<br />

sich nicht mehr mit Klassenkameradinnen.<br />

Früher hatte sie es immer wieder versucht,<br />

irgendwann mochte sie dann nicht mehr.<br />

Wenn sie draussen spielte, dann nur mit<br />

kleinen Kindern.<br />

Ihr unbeschwertes, glückliches, lebensfrohes<br />

Wesen war nur noch in den Ferien<br />

sichtbar. Dann kamen auch noch gesundheitliche<br />

Probleme dazu. Sie konnte abends<br />

oft nicht einschlafen. Der mangelnde Schlaf<br />

ist weder für die Konzentration noch für ihre<br />

Gesundheit förderlich.<br />

Wir als Eltern verstehen unsere Tochter und<br />

unterstützen sie. Sie wollte einen Neustart in<br />

einer neuen Klasse, und wir waren der Meinung,<br />

es ist einen Versuch wert, um unser Kind wieder<br />

glücklich zu sehen. Für uns sind die schulischen<br />

Leistungen zweitrangig. Wir denken, dass diese<br />

sehr stark mit der Klassenentwicklung zusammenhingen.<br />

Wir wünschen unserem Kind die<br />

Chance, ein normales, soziales, glückliches und<br />

gesundes Leben zu führen.<br />

Nach dem Schulwechsel ging es für unsere<br />

Tochter steil bergauf, sie hat Freunde und geht<br />

wieder raus und macht ab. Auch die Schulnoten<br />

sind sichtlich besser geworden. Der<br />

Schulwechsel war für alle die beste Lösung.<br />

Zuerst hat uns das Mobbing als Familie auseinandergedrängt.<br />

Mein Mann und ich hatten<br />

immer häufiger Streit über das Verhalten<br />

unserer Tochter. Erst als sie deutlich sagte, sie<br />

würde nicht mehr zur Schule gehen, und wir<br />

das Repetitionsbegehren geschrieben hatten,<br />

normalisierte sich unser Familienleben. Wir<br />

sind stärker zusammengewachsen und reden<br />

heute offen über Gefühle und Stimmungen.<br />

* Name der Redaktion bekannt<br />

Weitere bewegende Elternberichte auf<br />

www.fritzundfraenzi.ch > Erziehung ><br />

Elternbildung<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>17


Dossier


Dossier<br />

Bild: André Schuster / plainpicture<br />

>>> am falschen Punkt an. Ein<br />

Konflikt oder Streit zwischen Kindern<br />

entsteht meist aus einer bestimmten<br />

Situation heraus. Meist<br />

leiden beide Parteien darunter und<br />

sind froh, wenn die Auseinandersetzung<br />

beigelegt werden kann.<br />

Eine Mobbingsituation entwickelt<br />

sich hingegen oft schleichend<br />

und nimmt langsam Fahrt auf.<br />

Meist merken alle Beteiligten lange<br />

Zeit nicht, was eigentlich geschieht.<br />

Sie finden langsam in ihre Rolle hinein<br />

und gewöhnen sich daran, dass<br />

die Gemeinheiten an Häufigkeit<br />

und Intensität zunehmen. Die Reaktionen<br />

des betroffenen Kindes werden<br />

dabei als Rechtfertigung für die<br />

weiteren Aktionen herangezogen.<br />

Das Ausmass des Leids des gemobbten<br />

Kindes wird dabei nicht wahrgenommen<br />

und der eigene Anteil<br />

daran verdrängt.<br />

Es ist, als würde aus der Gruppe<br />

heraus ein Ungeheuer beschworen<br />

Etwas, das im Zusammenhang mit<br />

Mobbing immer auftaucht, ist das<br />

Wort «nur». Wir haben doch nur …<br />

Mein Kind hat doch nur … – … es<br />

sind doch nur Kinder.<br />

Das gesamte Ausmass wird erst<br />

deutlich, wenn man «nur» durch<br />

«und» ersetzt: Wir haben ihm die<br />

Schuhe versteckt und wir haben ihn<br />

bei der falschen Antwort ausgelacht<br />

und ihn beim Fussball ausgeschlossen<br />

und ihm gesagt, dass er stinkt,<br />

und den Stuhl «desinfiziert», auf<br />

dem er gesessen hat, und – ihm<br />

durch all das zu verstehen gegeben,<br />

dass wir ihn verachten.<br />

Es ist, als würde aus der Gruppe<br />

heraus ein Ungeheuer beschworen,<br />

das niemand mehr alleine bändigen<br />

kann.<br />

Im Gegensatz zu einem Konflikt<br />

zielt Mobbing darauf ab, einen<br />

anderen fertigzumachen, sein Leben<br />

zu vergiften. Es ist ein Gruppenphänomen,<br />

das durch ein extremes<br />

Machtungleichgewicht gekennzeichnet<br />

ist. Der Betroffene wird<br />

dabei wiederholt und systematisch<br />

Das Kind braucht Hilfe von<br />

aussen. Es braucht Erwachsene,<br />

die sehen und erkennen wollen,<br />

was vorgeht.<br />

von einer Gruppe gequält, erniedrigt,<br />

ausgeschlossen und attackiert,<br />

ohne die Möglichkeit zu haben, sich<br />

aus seiner Lage zu befreien.<br />

Das gemobbte Kind beginnt sich<br />

in dieser Situation zu verändern.<br />

Manche ziehen sich zurück, wirken<br />

still, ängstlich und apathisch. Andere<br />

werden aggressiv, entwickeln eine<br />

«dünne Haut» und explodieren. Das<br />

Kind beginnt «komisch» zu wirken,<br />

es scheint das Mobbing durch sein<br />

Verhalten auf sich zu ziehen.<br />

In dieser Situation braucht das<br />

Kind unbedingt Hilfe von aussen. Es<br />

braucht Erwachsene, die sehen und<br />

erkennen wollen, was vorgeht, klar<br />

Stellung gegen das Mobbing beziehen,<br />

wissen, was sie tun, und ge ­<br />

meinsam mit den Kindern eine<br />

Lösung entwickeln. Ungünstige Einstellungen,<br />

Ängste, Unsicherheiten<br />

und Unwissenheit hindern die Er ­<br />

wachsenen daran.<br />

«Er oder sie ist ja auch nicht ganz<br />

unschuldig»<br />

Die Wahrscheinlichkeit ist gross,<br />

dass Sie sich in einzelnen Sätzen, die<br />

wir im Folgenden beschreiben werden,<br />

wiedererkennen. Dann braucht<br />

es Mut und Offenheit, um sich kritisch<br />

mit den eigenen Ansichten<br />

auseinanderzusetzen. Ich werde Sie<br />

nicht schonen und vertraue darauf,<br />

dass Sie ehrlich mit sich sind. Wir<br />

können Mobbing nur begegnen,<br />

wenn wir sehen, wie wir selbst dazu<br />

beitragen.<br />

Es geht dabei nicht um Schuld,<br />

sondern um Verantwortung, die wir<br />

Erwachsenen übernehmen müssen,<br />

um nicht unbewusst am >>><br />

19


Dossier<br />

Sucht das Kind Hilfe, gilt es<br />

als Petze, läuft es weg, ist<br />

es ein Feigling.<br />

>>> Mobing mitzuwirken. Es<br />

kann sein, dass das betroffene Kind<br />

durch sein Verhalten den Ärger<br />

anderer Kinder auf sich zieht. Vielleicht<br />

ist es besonders strebsam,<br />

kleidet sich anders an als andere, hat<br />

eine eigentümliche Art, sich auszudrücken,<br />

oder kann soziale Signale<br />

nicht richtig einordnen.<br />

Es wäre unproblematisch, wenn<br />

Eltern und Lehrpersonen zum<br />

Schluss kommen würden, dass nach<br />

einer Intervention in der Klasse<br />

auch das betroffene Kind dabei<br />

unterstützt werden sollte, sich ein<br />

Stück weit anders zu verhalten.<br />

Dabei sollte klar sein, dass das Kind<br />

erst dann ein neues Verhalten ausprobieren<br />

kann, wenn es dafür einen<br />

sicheren Raum hat und die Klasse<br />

das neue Verhalten positiv aufnimmt.<br />

In vielen Fällen ist das<br />

scheinbar problematische Verhalten<br />

des gemobbten Kindes lediglich eine<br />

Reaktion auf die Quälereien.<br />

«Du musst dich halt wehren»<br />

Sätze wie «Er ist ja auch nicht ganz<br />

unschuldig» oder «Sie provoziert ja<br />

auch» sind deshalb so daneben, weil<br />

sie oft als Begründung dienen, um<br />

nicht aktiv werden zu müssen.<br />

Die Botschaft dahinter ist: Das<br />

Opfer müsste nur «an sich arbeiten»<br />

und sich anders verhalten, dann<br />

würde das Mobbing aufhören. Meist<br />

unbewusst signalisiert man in diesem<br />

Fall als Lehrperson oder Elternteil<br />

die folgende Einstellung: «Das<br />

gemobbte Kind ist selbst schuld. Es<br />

hat deswegen das Mobbing als ge ­<br />

rechte Strafe verdient und von mir<br />

keine Hilfe zu erwarten.»<br />

Mit dieser Haltung wird das Kind<br />

in einer Situation alleine gelassen,<br />

die es nur mit entschlossener Hilfe<br />

von aussen bewältigen könnte.<br />

Teilweise übernehmen gemobbte<br />

Kinder diese Einstellung und beginnen<br />

selbst zu glauben, dass sie es<br />

nicht anders verdient haben und<br />

Mobbing als ihr Schicksal akzeptieren<br />

müssen.<br />

Eltern von Kindern, die gemobbt<br />

werden, reagieren nicht selten mit<br />

Vorschlägen, die sich wie Vorwürfe<br />

anhören:<br />

«Du musst dich halt wehren!»<br />

«Warum hast du das der Lehrerin<br />

nicht erzählt!?»<br />

«Hau dem doch einfach mal eine<br />

runter, dann hört der schon auf!»<br />

Hinter solchen Aussagen stehen völlig<br />

naive Überzeugungen – beispielsweise,<br />

dass jeder Mobber im<br />

Grunde genommen ein Feigling ist<br />

und gleich aufhören wird, wenn<br />

man sich zur Wehr setzt.<br />

Tatsächlich hat ein Kind, sofern<br />

sich eine Mobbingsituation eingespielt<br />

hat, kaum Möglichkeiten.<br />

Sucht es Hilfe, gilt es als Petze, läuft<br />

es weg, ist es ein Feigling, versucht<br />

es sich anzupassen und freundlich<br />

zu sein, ist es ein Schleimer, und<br />

wehrt es sich, gilt es als «voll aggro».<br />

Es ist nicht hilfreich, wenn dieses<br />

Kind auch noch erleben muss, dass<br />

die eigenen Eltern es als Schwächling<br />

empfinden und seine Situation<br />

nicht nachvollziehen können. Werden<br />

dem Kind auch noch zu Hause<br />

seine Gefühle abgesprochen, vereinsamt<br />

es im Kreis der eigenen Familie.<br />

Manche Kinder schämen sich,<br />

dass sie die Vorschläge der Eltern<br />

nicht umsetzen können, und verheimlichen<br />

in der Folge das Mobbing.<br />

«Das ist noch lange kein Grund,<br />

gleich zuzuschlagen!»<br />

Manche Kinder reagieren aggressiv<br />

auf das Mobbing. Es fällt geschickten<br />

Akteuren leicht, dies auszunutzen<br />

und so lange und subtil auf den wunden<br />

Punkten des betroffenen Kindes<br />

herumzuhacken, bis dieses explodiert<br />

und sich wehrt. Die >>><br />

Bild: John Larkin / Alamy Stock Photo<br />

20 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Wie erkenne ich Mobbing?<br />

Es gibt keine Anzeichen, die mit<br />

Sicherheit auf Mobbing schliessen<br />

lassen. Eltern und Fachpersonen<br />

sollten jedoch genauer hinschauen,<br />

wenn sie mehrere der folgenden<br />

Anzeichen bemerken.<br />

Als Elternteil<br />

Ihr Kind:<br />

erzählt kaum noch von der Schule –<br />

insbesondere nicht von Klassenkameraden<br />

wird kaum noch von Klassenkameraden<br />

eingeladen und verabredet sich<br />

auch selbst kaum mehr mit anderen<br />

Kindern<br />

reagiert ausweichend, wenn Sie es auf<br />

die anderen Kinder ansprechen<br />

wirkt weinerlich, bedrückt oder ängstlich,<br />

wenn es in die Schule gehen muss<br />

gibt häufig an, aufgrund von Kopfoder<br />

Bauchschmerzen nicht zur Schule<br />

gehen zu können<br />

hat immer häufiger Kratzer oder blaue<br />

Flecken<br />

verliert oft Gegenstände bzw. bringt<br />

kaputte Gegenstände nach Hause und<br />

nennt dafür fadenscheinige Gründe<br />

zeigt plötzlich schlechtere Schulleistungen<br />

leidet unter Schlafproblemen<br />

Als Kindergärtnerin oder Lehrperson<br />

Ein Kind:<br />

ist ängstlich und unsicher oder aggressiv<br />

im Umgang mit anderen Kindern<br />

wird mit gemeinen Spitznamen versehen<br />

ist ständig in Konflikte verwickelt<br />

sucht oft nach seinen Sachen oder<br />

muss seine Kleider vom Boden auflesen<br />

wird bei Mannschaftsaktivitäten je -<br />

weils als Letztes gewählt<br />

bleibt übrig, wenn die Kinder Gruppen<br />

selbst zusammenstellen können<br />

will in der Pause im Klassenzimmer<br />

bleiben, versteckt sich oder ist auf dem<br />

Pausenhof isoliert<br />

ist häufig krank<br />

kommt zu spät (weil es den anderen<br />

nicht begegnen will)<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>21


Dossier<br />

22 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Bild: pololia / Fotolia<br />

>>> Lehrperson sieht oft nur diese<br />

heftige Reaktion. Schlägt das Kind,<br />

das über Wochen hinweg drangsaliert<br />

wurde, schliesslich zu, hat es<br />

etwas getan, das aus Sicht der Lehrperson<br />

bestraft werden muss. Erklärungen<br />

des betroffenen Kindes werden<br />

in der Folge oft mit dem Satz<br />

«Du musst dich halt mit Worten<br />

wehren» oder «das ist noch lange<br />

kein Grund, gleich zuzuschlagen»<br />

abgetan. Ehrlich gesagt: Es ist ein<br />

ziemlich guter Grund, zuzuschlagen<br />

– insbesondere dann, wenn niemand<br />

zuhört, hinsieht und erkennt, was<br />

wirklich los ist.<br />

Manche Eltern und Lehrpersonen<br />

reagieren nicht, weil sie Angst<br />

haben, die Situation noch schlimmer<br />

zu machen. Eltern befürchten<br />

oft, als Nervensägen zu gelten. Lehrpersonen<br />

fühlen sich unsicher, wie<br />

sie das Thema aufgreifen sollen.<br />

Der Philosoph Paul Watzlawick<br />

hat einmal gesagt: «Man kann nicht<br />

nicht kommunizieren.» Das gilt im<br />

Falle von Mobbing ganz besonders.<br />

Nichtreagieren ist ein klares Signal<br />

an die Akteure und die gesamte<br />

Klasse, dass das Mobbing geduldet<br />

wird und die Schule keinen Schutz<br />

bietet.<br />

Eine Mutter hat mir tatsächlich<br />

berichtet, dass sich die Schulleitung<br />

bei ihrem Kind, das täglich schikaniert<br />

wurde, mit dem folgenden Satz<br />

aus der Verantwortung stahl: «Der<br />

Schulweg fällt nicht in unseren<br />

Zuständigkeitsbereich.»<br />

Das ist, als würde man den Schülern<br />

sagen: «Schaut, da, bei diesem<br />

Strich, endet das Schulareal. Wenn<br />

ihr jemanden quälen wollt, dann<br />

bitte ausserhalb dieser Linie. Dann<br />

müssen wir uns nicht darum kümmern.»<br />

«Ich habe schon alles versucht –<br />

und er muss trotzdem zur Schule»<br />

Eine andere Mutter, deren Kind<br />

regelmässig von zwei anderen Jungen<br />

zusammengeschlagen wurde,<br />

meinte, dass sie bereits zweimal mit<br />

der Lehrerin gesprochen habe und<br />

nichts passiert sei. Auf meine Frage,<br />

was sie als Nächstes tun werde, sagte<br />

die Mutter: «Ich habe doch schon<br />

alles versucht – und er muss ja trotzdem<br />

zur Schule.»<br />

Warum nehmen wir bei Kindern<br />

etwas hin, womit wir keinen Er ­<br />

wachsenen alleine lassen würden?<br />

Stellen Sie sich vor, Ihre Partnerin<br />

oder Ihr Partner wird bei der Arbeit<br />

regelmässig von zwei gros sen, starken<br />

Kollegen verprügelt und kommt<br />

mit blauen Flecken nach Hause und<br />

Sie sagen: «Ich kann da leider nicht<br />

viel machen – ich habe schon mit<br />

deinem Chef gesprochen und wir<br />

brauchen das Geld.»<br />

«Mein Kind würde so etwas nie<br />

tun!»<br />

Fachpersonen, die sich auf das Thema<br />

Mobbing spezialisiert haben,<br />

raten einhellig davon ab, die Eltern<br />

der Akteure zu kontaktieren. Meist<br />

verschlimmert dies die Situation des<br />

gemobbten Kindes.<br />

Viele Eltern können sich nicht<br />

vorstellen, dass ihr kleiner Sonnenschein<br />

zu perfiden Taten fähig ist,<br />

und weisen bereits den Gedanken<br />

daran entrüstet von sich oder suchen<br />

wiederum automatisch die Schuld<br />

beim «Opfer».<br />

Auch gut erzogene, sympathische<br />

Kinder aus behütetem Elternhaus<br />

können Teil dieser Gruppendynamik<br />

werden. Es macht Ihr Kind<br />

nicht zu einem schlechten Menschen,<br />

wenn Sie hinschauen, mit<br />

Ihrem Kind über Mobbing reden<br />

und mit ihm überlegen, wie es diese<br />

Rolle verlassen kann. Vielmehr<br />

macht es Sie zu einem verant­ >>><br />

Fachpersonen raten davon ab,<br />

die Eltern der Akteure zu<br />

kontaktieren. Meistens<br />

verschlimmert das die Situation.<br />

23


Dossier<br />

>>> wortungsvollen Elternteil.<br />

Manche Eltern hätten gerne, dass ihr<br />

Kind unerschütterlich und selbstbewusst<br />

zu seiner Individualität steht.<br />

Beinahe verzweifelt versuchen sie<br />

dem Kind Powersätze einzubläuen<br />

wie:<br />

«Ich bin nicht auf der Welt, um so<br />

zu sein, wie andere mich gerne hätten.»<br />

«Die sind doch nur neidisch.»<br />

«Ist mir doch egal, was die von mir<br />

denken.»<br />

«Sollen die doch reden.»<br />

Kinder verbringen ihre halbe Lebenszeit<br />

in der Schule. Wie es ihnen in<br />

der Klasse geht und ob sie sich dort<br />

akzeptiert fühlen, bestimmt zu einem<br />

grossen Teil, wie wohl sie sich fühlen<br />

und welchen Wert sie sich als<br />

Mensch zuschreiben. Floskeln und<br />

Rezepte, die für Erwachsene funktionieren,<br />

die sich ihre Bezugspersonen<br />

selbst aussuchen können,<br />

greifen bei Kindern nicht. Das Bedürfnis,<br />

dazuzugehören, ist Teil<br />

unserer Existenz. Ein Kind kann<br />

dieses nicht einfach mit oberflächlichen<br />

Sprüchen ersticken.<br />

Fazit<br />

Wenn wir wirksam gegen Mobbing<br />

vorgehen möchten, müssen wir aufhören,<br />

die Schuldfrage zu stellen.<br />

Diese verstellt den Blick auf das Problem<br />

und führt dazu, dass wir uns<br />

rechtfertigen und die Verantwortung<br />

abschieben. >>><br />

Bild: bramgino / Fotolia<br />

«Mobbing darf nicht<br />

toleriert werden»<br />

Mobbingexpertin Christelle<br />

Schläpfer über Mobbingprävention<br />

an Schulen und was Lehrpersonen<br />

auf keinen Fall tun sollten.<br />

Interview: Fabian Grolimund<br />

Frau Schläpfer, Sie setzen sich für Mobbingprävention<br />

an Schulen ein. Dabei nutzen<br />

Sie Geschichten und Filme. Können Sie<br />

uns schildern, wie Sie dabei vorgehen?<br />

Es reicht nicht aus, Schülerinnen und<br />

Schüler nur über das Thema Mobbing zu<br />

informieren. Man muss sie sensibilisieren.<br />

Dazu nutze ich Filme und Geschichten.<br />

Dabei verteile ich Rollenkärtchen mit<br />

den Namen der Protagonisten des Films<br />

oder der Geschichte und erteile den<br />

Schülern den Auftrag, sich auf die jeweilige<br />

Figur zu konzentrieren. Sie versuchen<br />

dabei, sich in die Figur einzufühlen und<br />

zu verstehen, wie es dieser geht und was<br />

sie braucht. Die Klasse erarbeitet dann<br />

gemeinsam Lösungswege aus der Mobbingsituation<br />

in der Geschichte. Falls<br />

man diese Übung durchführt, sollte allerdings<br />

darauf geachtet werden, dass ein<br />

Kind, welches in der Klasse Opfer ist, kein<br />

«Opferrollenkärtchen» erhält.<br />

Sie arbeiten zu Teil auch bei akuten Mobbingsituationen<br />

auf diese Weise. Warum<br />

sprechen Sie das Mobbing nicht direkt an?<br />

Geschichten erlauben es den Kindern,<br />

über eine Situation zu sprechen, die ihrer<br />

eigenen ähnelt, ohne sich exponieren zu<br />

müssen. Da die Schüler auf diese Art<br />

weder beschämt noch beschuldigt werden,<br />

kommen sie nicht ins Rechtfertigen<br />

oder Verharmlosen. Dies ermöglicht eine<br />

kreative und gemeinsame Lösungssuche<br />

und vor allem eine neue Sichtweise. Die<br />

dabei gewonnenen Erkenntnisse und<br />

Lösungen können dann sorgfältig auf die<br />

eigene Situation in der Klasse transferiert<br />

werden. Man nutzt die Ressourcen der<br />

Klasse und die entstandenen Lösungsideen<br />

aus der Arbeit mit der Metapher.<br />

Können Sie einige Geschichten und Filme<br />

empfehlen?<br />

Bei jüngeren Kindern empfehle ich gerne<br />

Bilderbücher und Geschichten. Eines<br />

meiner Lieblingsbücher ist «Irgendwie<br />

Anders» von Kathrin Cave. Es geht in<br />

dieser Geschichte um aktive Ausgrenzung.<br />

Die Kinder fühlen mit der Figur<br />

richtiggehend mit. Das Buch ist sehr liebevoll<br />

gestaltet, und man kann damit<br />

wunderbar Gefühle, Bedürfnisse, re ­<br />

spektvollen Umgang miteinander und<br />

Toleranz für Andersartigkeit thematisieren.<br />

Bei Kindern ab der Mittelstufe arbeite<br />

ich gerne mit einem Filmbeispiel von<br />

Childnet: «Let’s fight together». Zwar<br />

handelt es sich offiziell um einen Präventionsfilm<br />

gegen Cybermobbing, jedoch<br />

werden die klassischen Mobbingmechanismen<br />

dort so schön gezeigt, dass ich<br />

dieses Beispiel als besonders geeignet<br />

sehe. Es handelt sich um einen englischen<br />

Film mit Untertiteln – es wird jedoch<br />

kaum gesprochen, und die Gefühle brauchen<br />

hier definitiv keine Übersetzung.<br />

Was müssen die Schüler lernen, damit<br />

Mobbing aufgelöst werden kann?<br />

Die Schüler lernen durch diese Form der<br />

Arbeit, dass sie eine gemeinsame Verantwortung<br />

tragen. Es geht keinesfalls um<br />

eine Schuldfrage, sondern um eine Frage<br />

der Verantwortung. Wer meint, einzig<br />

und allein der «Täter» trage die Verantwortung<br />

für die Situation oder das<br />

«Opfer» sei selber schuld, irrt. Mobbing<br />

ist, ganz anders als ein gewöhnlicher<br />

Konflikt, ein Gruppenphänomen. Erst<br />

das Mittun oder Nichtstun der andern<br />

gibt dem «Täter» eine Rechtfertigung<br />

weiterzumachen. Mitläufer und Zuschau­<br />

24 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

stein sehe ich in der Annahme, dass der<br />

Täter bestraft werden muss. Diese Sichtweise<br />

ist sowohl unter den Eltern wie<br />

auch unter den Lehrpersonen sehr verbreitet.<br />

Nicht selten verschärft Bestrafung<br />

das Mobbing – das heisst, der Täter rächt<br />

sich dann am Opfer, weil er sanktioniert<br />

wurde. Das hat zur Folge, dass viele Opfer<br />

aus Angst keine Hilfe holen und die Situation<br />

erdulden, bis sie daran zerbrechen.<br />

Was halten Sie von Friedensverträgen, wie<br />

sie einige Schulen praktizieren?<br />

Das funktioniert nicht bei Mobbing, sondern<br />

nur bei einem bilateralen Konflikt.<br />

In dieser Variante wird nicht berücksichtigt,<br />

dass die anderen Schüler eine Mitverantwortung<br />

an der Situation tragen<br />

und ebenso an der Lösung beteiligt werden<br />

müssten. Zweitens werden sowohl<br />

Opfer wie Täter exponiert. Beide fühlen<br />

sich dabei unwohl: Das Opfer kann sich<br />

aus Angst nicht öffnen, der Täter fühlt<br />

sich beschämt und beschuldigt und geht<br />

in die Defensive – der Friedensvertrag ist<br />

dann eine erzwungene Sache.<br />

Viele Schulen besprechen die<br />

Mobbingsitua tion in der Klasse oder im<br />

Klassenrat.<br />

Auf keinen Fall sollte man Mobbing im<br />

Klassenrat besprechen! Das Opfer fühlt<br />

sich extrem ausgestellt und es entsteht<br />

schnell eine Rechtfertigungsdynamik<br />

der «stärkeren» Kinder,<br />

welche nicht als «Verlierer» dastehen<br />

wollen. Will man auf diese Weise<br />

intervenieren, dann sollte im Sinne<br />

des «No Blame Approache» eine<br />

Unterstützergruppe gebildet werden,<br />

bei der das Opfer nicht anwesend<br />

sein muss. Letztlich ist die Haltung<br />

der Lehrperson entscheidend: Will<br />

sie das Mobbing unterbinden, die<br />

«Bösen» sanktionieren und «Harmonie<br />

erzwingen» oder will sie die<br />

Kinder sensibilisieren, ihnen ihre<br />

Verantwortung aufzeigen und sie in<br />

die Lösung der Situation involvieren,<br />

so dass sie sozialkompetenter werden?<br />

Christelle Schläpfer<br />

er sind «Möglichmacher» und müssen in<br />

die Lösungsfindung involviert werden.<br />

Wer kann und sollte bei Mobbing intervenieren?<br />

Da es sich um ein Gruppenphänomen<br />

handelt, sollte auch die Person, welche<br />

mit der Gruppe arbeitet – sprich die Lehrperson<br />

–, bei Mobbing intervenieren. Die<br />

Lehrperson kennt ihre Schüler und die<br />

Gruppendynamik am besten. In manchen<br />

Fällen fehlt vielleicht eine gewisse<br />

Objektivität oder die Sicherheit, die Mobbingsituation<br />

selber lösen zu können –<br />

dann sollten die Schulsozialarbeiterinnen<br />

und -arbeiter mindestens beratend beigezogen<br />

werden. Bei Cybermobbing ist<br />

es wichtig, nicht im Alleingang zu intervenieren.<br />

Es ist in solchen Fällen – auch<br />

aus juristischen Gründen – wesentlich,<br />

eine Task force zu bilden.<br />

Was sind die grössten Stolpersteine und<br />

Gefahren, wenn man versucht, Mobbing in<br />

einer Klasse aufzulösen? Was sollten Lehrpersonen<br />

auf keinen Fall tun?<br />

Es passiert sehr schnell, dass man «wertet»<br />

und Erklärungen sucht, weshalb ein<br />

Kind gemobbt wird, und diesem sogar<br />

die Schuld gibt. Aus welchem Grund auch<br />

immer gemobbt wird: Mobbing darf nicht<br />

toleriert werden. Einen weiteren Stolperehemalige<br />

Gymnasiallehrerin, ist Gründerin<br />

von edufamily® und als Trainerin in den<br />

Bereichen Elternbildung und<br />

Lehrerfortbildungen unterwegs. Sie arbeitet<br />

zudem in eigener Praxis in Winterthur als<br />

Beraterin und Coach. www.edufamily.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>25


26 <br />

Dossier


Dossier<br />

Bild:Oksana Bratanova / 123RF<br />

>>> Wir müssen:<br />

Kinder ernst nehmen und Vorfälle<br />

nicht bagatellisieren;<br />

lernen, Mobbing zu erkennen und<br />

von Konflikten oder Streit zu<br />

unterscheiden;<br />

klar Stellung dafür beziehen, dass<br />

jedes Kind das Recht darauf hat,<br />

sich in der Schule sicher und wohl<br />

zu fühlen;<br />

ein Bewusstsein dafür entwickeln,<br />

dass Mobbing ein Gruppenphänomen<br />

ist und daher auch auf Gruppenebene<br />

gelöst werden muss;<br />

Lösungen gemeinsam mit den<br />

Kindern entwickeln, ohne jemanden<br />

zu verurteilen.<br />

Im weiteren Verlauf dieses Dossiers<br />

gehen wir auf diese Punkte ein:<br />

Sie lernen das «No Blame Ap ­<br />

proach»-Programm kennen, mit<br />

dessen Hilfe Sie als Lehrerperson<br />

eine Mobbingsituation auflösen<br />

können (Seite 28).<br />

Sie lesen über die Erfahrungen<br />

einer Primarlehrerin mit Mobbing<br />

im Schulalltag (Seite 30).<br />

Sie erfahren, was Sie als Mutter<br />

oder Vater tun und unterlassen<br />

sollten, wenn Ihr Kind in eine<br />

Mobbingsituation verwickelt ist<br />

(Seite 32).<br />

>>><br />

Wenn wir wirkungsvoll gegen<br />

Mobbing vorgehen möchten,<br />

müssen wir aufhören, die<br />

Schuldfrage zu stellen.<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit Kindern<br />

lernen»). Der 37-Jährige ist verheiratet<br />

und Vater eines vierjährigen Sohnes<br />

und einer einjährigen Tochter. Er lebt<br />

mit seiner Familie in Freiburg.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

An wen kann ich mich<br />

wenden?<br />

Da Mobbing ein Gruppenphänomen<br />

ist, sollte es auch in der Gruppe<br />

gelöst werden. Ansprechpartner ist<br />

daher die Schule.<br />

Die folgenden Personen können Sie<br />

unterstützen:<br />

Lehrperson<br />

Schulleitung<br />

Schulsozialarbeiter/in<br />

Schulpsychologe/in<br />

Schulpflege<br />

Schulsozialarbeiter wissen<br />

normalerweise am besten, wie<br />

man Mobbing begegnen kann. Die<br />

Lehrperson und der/die<br />

Schulsozialarbeiter/in sind daher<br />

meist die ersten Personen, die<br />

informiert werden sollten. Bereiten<br />

Sie das Gespräch gut vor. Schildern<br />

Sie, was Sie sich von der Schule<br />

wünschen, und fragen Sie nach,<br />

was die Schule unternehmen wird.<br />

Führen Sie das erste Gespräch<br />

ohne Ihr Kind. Beziehen Sie weitere<br />

Personen mit ein, wenn sich die<br />

Situa tion nicht verbessert.<br />

Ihr Kompetenzzentrum für familienund<br />

schulergänzende Kinderbetreuung<br />

Mobbing in Kindergruppen –<br />

eine Weiterbildung für Betreuungspersonen<br />

in Hort und schulergänzender Betreuung<br />

Mobbing ist eine versteckte Form von Gewalt, die in Gruppensituationen<br />

auftreten kann. Sie ist nicht ohne weiteres erkennbar.<br />

Ausgehend von Situationen aus dem Betreuungsalltag stellen wir<br />

uns die Frage, wie sich Mobbing erklären und verstehen lässt<br />

und welche Handlungsstrategien und pädagogischen Haltungen<br />

hilfreich sind, wenn es darum geht, Mobbing in Gruppen den<br />

Nährboden zu entziehen. Dem Erkennen von Signalen, die auf<br />

Mobbing hindeuten können, wird besondere Aufmerksamkeit<br />

geschenkt.<br />

Weitere Informationen finden Sie unter www.bke.ch<br />

bke bke Bildungszentrum Kinderbetreuung<br />

Siewerdtstr. 7, 7, 8050 Zürich, info@bke.ch<br />

FaBe FaBe allgemein: www.savoirsocial.ch<br />

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Dossier<br />

Mobbing wirksam begegnen:<br />

der «No Blame Approach»<br />

Der «No Blame Approach» (wörtlich «Ansatz ohne Schuldzuweisung») ist eine<br />

wirksame Methode, um Mobbing unter Schülerinnen und Schülern nachhaltig<br />

zu beenden. Bei dieser Vorgehensweise wird trotz der schwerwiegenden<br />

Mobbingproblematik komplett auf Schuldzuweisungen und Bestrafungen<br />

verzichtet. Text: Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler<br />

Es gibt eine Vielzahl von<br />

Ansätzen auf dem<br />

Markt, die dabei helfen<br />

sollen, Mobbing einzudämmen.<br />

Neben der<br />

Arbeit mit Geschichten und Metaphern,<br />

den Christelle Schläpfer auf<br />

Seite 24 vorstellt, spricht uns der<br />

«No Blame Approach», der «Ansatz<br />

ohne Schuldzuweisung», ganz<br />

besonders an.<br />

Dies deshalb, weil er:<br />

wissenschaftlich evaluiert wurde<br />

und sich als wirksam erwiesen hat;<br />

ohne Bedenken von Lehrpersonen<br />

durchgeführt werden kann;<br />

auf die Lösung fokussiert und von<br />

Schuldzuweisungen und Strafen<br />

absieht.<br />

Der «No Blame Approach»<br />

zielt darauf ab, die Empathie<br />

der Akteure und der<br />

Mitläufer zu fördern.<br />

Der letzte Punkt mag seltsam an muten<br />

– er ist aber das Herzstück des<br />

Ansatzes und schützt das gemobbte<br />

Kind, die Akteure und Sie als Lehrperson<br />

gleichermassen.<br />

Strafen können nur verhängt<br />

werden, wenn Sie über die Aktionen<br />

der Akteure genau Bescheid wissen.<br />

Damit kommen Sie in eine schwierige<br />

Rolle. Das gemobbte Kind muss<br />

detailliert Auskunft geben, was sehr<br />

belastend sein kann. Die Akteure<br />

werden versuchen, sich zu verteidigen,<br />

zu rechtfertigen, und werden<br />

dabei von anderen Kindern gedeckt<br />

und unterstützt. Rasch steht Aussage<br />

gegen Aussage.<br />

Wenn das Mobbing – wie so oft<br />

– verdeckt stattgefunden hat, haben<br />

Sie einen schweren Stand. Sie sind<br />

sich unsicher, wie es wirklich war.<br />

Wem sollen Sie Glauben schenken?<br />

Wenn Sie nun eine Strafe für >>><br />

Bild: Laurence Mouton / PhotoAlto / Colourbox<br />

28


Dossier<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>29


Dossier<br />

Bei Mobbing schweigen Kinder<br />

oft aus Angst oder Scham. Und<br />

weil sie fürchten, dass die Eltern<br />

alles noch schlimmer machen.<br />

>>> die Akteure aussprechen, ruft<br />

dies oft die Eltern auf den Plan, die<br />

natürlich ihrem Kind glauben und<br />

wissen wollen, ob Sie Beweise haben<br />

für die angeblichen Missetaten ihrer<br />

Kinder.<br />

Strafen zu verhängen ist nicht nur<br />

für Sie belastend – es bringt für das<br />

gemobbte Kind oft keine Verbesserung<br />

der Situation mit sich. Dieses<br />

fühlt sich als Petze, schämt sich und<br />

fürchtet sich vor der Rache der<br />

anderen. Die Akteure können pro ­<br />

blemlos ausweichen auf Mobbingaktionen,<br />

die nicht bestraft werden<br />

können. Niemand kann Kinder<br />

zwingen, ein anderes Kind zu<br />

mögen, es zum Geburtstag einzuladen,<br />

mit ihm zu sprechen oder es<br />

mitspielen zu lassen. Wird dies<br />

befohlen, wird sich das gemobbte<br />

Kind äusserst unwohl fühlen.<br />

Der «No Blame Approach» zielt<br />

daher darauf ab, die Empathie der<br />

Akteure und der Mitläufer (Assistenten<br />

und Verstärker) zu fördern.<br />

Wie ich Mobbing<br />

im Schulalltag<br />

erlebe<br />

Die Primarlehrerin F. S.* über ihre<br />

Erfahrungen mit einem Jungen, der<br />

anders ist als die andern. Und<br />

deswegen leiden muss.<br />

Aufgezeichnet von Barbara Stengl<br />

In meiner ersten Klasse ist ein Junge, der<br />

benimmt sich nicht altersgerecht. Er trägt<br />

andere Kleider als die anderen Kinder und hat<br />

so einen Bändel mit einem Anhängertierli um<br />

den Hals. Seine Klassenkameraden finden das<br />

doof und lassen ihn das auch spüren.<br />

Ich unterrichte 22 Schülerinnen und<br />

Schüler. Es gibt Kinder, die bereits Malrechnen<br />

können, die «Drei Fragezeichen» lesen, und<br />

solche, die nicht genau wissen, was mehr ist:<br />

fünf oder acht, und beim Lesenlernen erst einzelne<br />

Buchstaben erkennen. Mehrere Schüler<br />

verstehen sehr wenig Deutsch.<br />

Das Wort «ich» höre ich öfters als vor<br />

25 Jahren, als ich anfing, zu unterrichten.<br />

Heute, scheint mir, hängt das Glück der Eltern<br />

mehr vom Glück der Kinder ab. Geht es dem<br />

Kind gut, geht es auch den Eltern gut. Das<br />

Kind ist ein «Projekt», das geplant wird und<br />

erfolgreich sein muss. Aus meiner Sicht ist<br />

das Thema Mobbing komplex. Da spielt vieles<br />

zusammen: gesellschaftliche Tendenzen,<br />

Schulstrukturen, Elternhaus und die Persönlichkeit<br />

des Kindes.<br />

Ob ein Kind gemobbt wird oder nur geärgert,<br />

ist schwierig zu erkennen. Aufmerksam werde<br />

ich, wenn ein Kind öfters und über längere Zeit<br />

beim Spielen ausgeschlossen wird, wenn es<br />

im Sportunterricht regelmässig als Letztes<br />

gewählt wird, nie zu einem Geburtstagsfest<br />

eingeladen wird und bei den Gruppenarbeiten<br />

oft zuletzt einen Partner oder eine Partnerin<br />

findet! Dann merke ich, dass es diesem Kind<br />

nicht gut geht und dass es besondere Aufmerksamkeit<br />

braucht.<br />

Wie der Junge mit dem Anhängertierli um<br />

den Hals, der sich nicht gut spürt. Oft fasst<br />

er die anderen Kinder an, «schupft» sie beim<br />

Vorübergehen und stört die Gruppe. Er meint<br />

das nicht böse, er ist einfach eher ungeschickt<br />

und noch unreif im Umgang mit seinen Mitschülerinnen<br />

und Mitschülern.<br />

Seine Klassenkollegen verstehen das nicht.<br />

Da entwickelte sich eine Dynamik, die sehr<br />

anstrengend wurde. Dieser Junge wurde<br />

von fast allen Aktivitäten ausgeschlossen.<br />

Das belastete ihn sehr, er konnte nicht mehr<br />

lernen, weil er die ganze Zeit nachgrübeln<br />

30 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Da Mobbing ein Gruppenphänomen<br />

ist, werden auch Kinder in die<br />

Lösung einbezogen, die sich nicht<br />

direkt am Mobbing beteiligt haben.<br />

Sie werden ermutigt, das gemobbte<br />

Kind zu unterstützen, was dem<br />

Mobbing die Basis entzieht. Mobbing<br />

verliert seine Attraktivität, weil<br />

es für die Akteure bald keine Möglichkeit<br />

mehr darstellt, den Zuspruch<br />

und die Anerkennung der anderen<br />

Kinder zu gewinnen.<br />

Der «No Blame Approach» wird<br />

in drei Schritten durchgeführt:<br />

Zu Beginn spricht die Lehrperson<br />

oder der Schulsozialarbeiter alleine<br />

mit dem betroffenen Kind.<br />

Vorfälle aufzuarbeiten, sondern<br />

diesem Kind zuzusichern, dass<br />

man seine Lage erkannt hat und<br />

alle Hebel in Bewegung setzen<br />

wird, um seine Situation zu verbessern.<br />

Das Kind erfährt, wie die<br />

Schulseite dabei vorgehen wird. Es<br />

Dabei geht es nicht darum, die darf sich entscheiden, ob es >>><br />

Mobbing ist ein Gruppenphänomen.<br />

Es müssen bei der Lösung auch Kinder<br />

einbezogen werden, die sich nicht<br />

direkt an Mobbing beteiligt haben.<br />

musste, warum die anderen ihn nicht mögen.<br />

Sein auffallendes Verhalten verstärkte sich<br />

dadurch. Das brauchte unheimliche Geduld<br />

von meiner Seite, und manchmal fehlte die<br />

mir schlichtweg. Wenn ich zum x-ten Mal<br />

höre: «Sie, de … hät wider ...», wird es mir<br />

manchmal zu viel. Da wünschte ich mir mehr<br />

Engagement von den Eltern des betroffenen<br />

Kindes.<br />

Dennoch lasse ich mir was einfallen. Ich<br />

spreche mit der Klasse, ohne das betroffene<br />

Kind, erkläre die Situation des Kindes, fordere<br />

die anderen auf, in der Pause als Klasse<br />

gemeinsam etwas zu spielen. Es ist wichtig,<br />

dass die Kinder sich nicht allein überlassen<br />

sind, dass sie wissen, wie sie sich zu verhalten<br />

haben und was sie in der Freispielzeit machen<br />

können. Mit dem betroffenen Kind führe ich<br />

auch Gespräche, manchmal zusammen mit<br />

der Schulsozialarbeiterin und den Eltern.<br />

Wir wollen dann wissen: Wieso schliessen<br />

sie dich aus? Was könntest du anders<br />

machen? Was könnten die anderen ändern,<br />

damit sie dich weniger ärgern? Wir treffen<br />

Abmachungen, und ich überprüfe sie regelmässig.<br />

Wenn man Glück hat, verbessert sich<br />

so das Verhalten des Kindes und der Klasse.<br />

Wenn ich als Lehrerin merke, dass so eine<br />

Situation andauert und trotz meiner Interventionen<br />

sich nichts verändert, suche ich Hilfe<br />

bei Fachpersonen. Die Schulsozialarbeiterin<br />

kommt dann in die Klasse und übt mit den<br />

Schülern, sich abzugrenzen. Die Kinder lernen<br />

zum Beispiel mit verschiedenen Spielen, die<br />

«Stopp-Regel» einzuhalten und Grenzen zu<br />

respektieren.<br />

Mit dem Jungen aus meiner Klasse<br />

arbeite ich mit einem Belohnungssystem.<br />

Wir haben abgemacht, dass er für jede<br />

15 Minuten, in denen er kein anderes Kind<br />

stört, einen Smiley bekommt. Wenn er das<br />

eine halbe Stunde lang schafft, darf er sich<br />

ein Spiel im Turnen wünschen. Bei 22 Kindern<br />

den Überblick zu behalten, fordert.<br />

Tipps für die Eltern<br />

Wenn die Eltern den Verdacht haben, dass<br />

ihr Kind gemobbt wird, sollen sie schnell<br />

reagieren und nicht warten, bis die Klassenlehrperson<br />

es merkt. Ich empfehle, den<br />

Kontakt zu den Eltern der Kinder, die mobben,<br />

zu suchen. Miteinander zu sprechen und zu<br />

schildern, wie es ihrem Kind geht und was<br />

dem Kind passiert. Viele Eltern wagen diesen<br />

Schritt nicht, aus Angst, dass ihr Kind dann<br />

schlechter da steht als vorher. Doch das ist<br />

aus meiner Sicht nicht der Fall. Wichtig ist<br />

auch der Kontakt zur Klassenlehrperson. Nur<br />

kann man ihr nicht die ganze Verantwortung<br />

abgeben.<br />

Tipps für die Lehrpersonen<br />

Als Lehrperson ist es wichtig, hinzuschauen<br />

und zu handeln. Aber nicht alleine; man sollte<br />

sich Hilfe von aussen holen. Das Gefühl, alles<br />

alleine machen zu müssen, ist eine Falle. Es<br />

ist wichtig, sich zu vernetzen. Oftmals leiden<br />

Lehrpersonen unter dem Gefühl, etwas falsch<br />

gemacht zu haben. Nützlich finde ich eine<br />

schnelle Teamintervision, in der man das<br />

Problem schildern kann und verschiedene<br />

Perspektiven zu hören bekommt. Als Lehrperson<br />

sollte man immer mit beiden Gruppen<br />

arbeiten, mit den Tätern und den Opfern.<br />

* F. S. unterrichtet an einer Primarschule<br />

in Uster. Sie ist 50 Jahre alt.<br />

Barbara Stengl<br />

ist Lehrerin und Journalistin. An ihre ersten<br />

vier Schuljahre erinnert sie sich mit einem<br />

Schaudern: «Ich litt. Was war der Sinn von all<br />

dem? Warum sagte die Lehrerin so komische<br />

Sachen zu mir? In der fünften Klasse dann:<br />

ein Hippie. Mein neuer Lehrer hiess Herr<br />

Kunath und gab mir das Gefühl, dass meine<br />

Sicht wertvoll ist. Von da ab ging es bergauf<br />

mit mir und der Schule. Ich machte Abitur<br />

und studierte. Danke, Herr Kunath.»<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>31


Dossier<br />

Mein Kind wird<br />

gemobbt. Und jetzt?<br />

Wut, Ohnmacht, Mitleid: Das spüren<br />

Eltern, wenn sie merken, dass ihr<br />

Kind gemobbt wird. Was sie dann<br />

tun können, erfahren Sie hier. Der<br />

wichtigste Tipp: Handeln Sie nicht<br />

überstürzt.<br />

Text: Stefanie Rietzler und Fabian Grolimund<br />

Verschaffen Sie sich ein Bild<br />

Kinder sprechen eine Mobbingsituation<br />

oft nicht an. Aus Angst, als Petze zu gelten,<br />

aus Scham oder aufgrund der<br />

Befürchtung, dass die Eltern durch eine<br />

Schnellschussreaktion alles noch schlimmer<br />

machen. Meist schliessen Eltern aus<br />

Beobachtungen im Alltag, dass etwas<br />

nicht stimmt. Mobbing könnte ein Problem<br />

sein, wenn Ihr Kind beispielsweise<br />

nicht zur Schule gehen will, Ausflüchte<br />

sucht, um zu Hause zu bleiben, und<br />

ausweichend reagiert, wenn Sie es nach<br />

den Gründen fragen.<br />

Es ist hilfreich, wenn Sie Ihre Beobachtungen<br />

mit der Lehrperson teilen,<br />

um das Bild zu vervollständigen. Oft hat<br />

die Lehrkraft ebenfalls nur eine vage<br />

Vermutung, da Mobbing meist verdeckt<br />

stattfindet. Ein Mobbingverdacht erhärtet<br />

sich, wenn die Lehrperson Ihnen<br />

beispielsweise sagt, dass Ihr Kind in der<br />

Pause immer im Klassenzimmer bleiben<br />

möchte oder auf dem Pausenhof<br />

abseitssteht. (Weitere wichtige Indizien,<br />

an denen Eltern und Lehrpersonen<br />

Mobbing erkennen, finden Sie auf Seite<br />

21, «Wie erkenne ich Mobbing?».)<br />

Falls es solche Anzeichen gibt, können<br />

Sie weiter nachfragen: «Stöhnen<br />

Mitschüler auf, wenn mein Kind etwas<br />

sagt? Verdrehen sie die Augen?» Achten<br />

Sie darauf, dass Sie der Lehrperson keine<br />

Vorwürfe machen. Falls ein offener<br />

Austausch zustande kam, bedanken Sie<br />

sich und fragen, ob Sie wieder auf die<br />

Lehrperson zukommen dürfen.<br />

Es gibt keine Anzeichen, die mit<br />

Sicherheit für Mobbing sprechen. Feststellungen<br />

wie oben sollten aber Anlass<br />

für ein Gespräch mit dem Kind sein.<br />

Sprechen Sie das Mobbing an<br />

Drängen Sie Ihr Kind keinesfalls in die<br />

Defensive, wenn Sie mit ihm über Ihre<br />

Beobachtungen sprechen. Sätze wie<br />

«Jetzt sag schon, was los ist!» oder «Ich<br />

merke doch, dass etwas nicht stimmt!»<br />

setzen das Kind unter Druck und geben<br />

ihm das Gefühl, sich rechtfertigen zu<br />

müssen.<br />

Für einen offenen Austausch benötigen<br />

wir einen guten Rahmen. Kindern<br />

fällt es oft leichter, wenn die Aussprache<br />

beiläufig stattfindet – während eines<br />

Spaziergangs, eines Puzzles oder nach<br />

der Gute-Nacht-Geschichte. Auch bei<br />

Jugendlichen sollten Sie für dieses<br />

Gespräch genügend Zeit einräumen.<br />

Sprechen Sie das Thema an, während Sie<br />

zu zweit eine längere Autofahrt oder<br />

einen Ausflug machen. Ihr Kind hat seine<br />

Erlebnisse wahrscheinlich so lange<br />

zurückgehalten, dass es nicht zwischen<br />

Tür und Angel damit herausbrechen<br />

möchte.<br />

Sie können mit einer Feststellung in<br />

das Gespräch einsteigen, wie:<br />

«Im Moment hast du es nicht so gut<br />

mit den anderen.»<br />

«Mir ist aufgefallen, dass du in letzter<br />

Zeit bedrückt wirkst.»<br />

«Es macht dir momentan zu schaffen,<br />

in die Schule zu gehen.»<br />

32 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Dossier<br />

Bild: picture-alliance / dpa<br />

>>> dem Vorgehen zustimmen<br />

möchte.<br />

Im zweiten Schritt wird eine<br />

Unterstützergruppe gebildet. Sie<br />

besteht aus 6 bis 8 Kindern, wobei<br />

die Hälfte dieser Kinder nicht am<br />

Mobbing beteiligt ist. Im Gespräch<br />

werden unterschiedslos alle Kinder<br />

als Helfer bezeichnet. Die Lehrperson<br />

macht deutlich, dass es dem<br />

gemobbten Kind schlecht geht und<br />

es Hilfe braucht. Auf den Begriff<br />

Mobbing und auf die Nennung einzelner<br />

Vorfälle wird verzichtet.<br />

Die Lehrperson betont, dass sie die<br />

Unterstützung der Kinder benötigt,<br />

damit es dem betroffenen Kind<br />

wieder besser geht, und bittet jedes<br />

einzelne um Vorschläge. Dann gibt<br />

Der wichtigste Tipp,<br />

wenn Sie Mobbing<br />

feststellen: Handeln Sie<br />

nicht überstürzt.<br />

sie die Verantwortung an die Gruppe<br />

ab. Diese kann auf freiwilliger<br />

Basis die Vorschläge umsetzen. Die<br />

Lehrperson setzt jedoch einen Termin<br />

für eine Nachbesprechung fest<br />

und macht deutlich, dass sich etwas<br />

ändern muss.<br />

Nach ein bis zwei Wochen finden<br />

die Nachbesprechungen >>><br />

Sie können auch von einem eigenen<br />

Erlebnis erzählen, einer Zeit, in der es<br />

in der Schule oder mit anderen Kindern<br />

schwierig war.<br />

Wenn Ihr Kind sich öffnet, sollten Sie<br />

unbedingt Vorwürfe vermeiden wie:<br />

«Warum hast du das nicht früher<br />

erzählt? Wir hätten dir doch helfen können»<br />

oder «Warum hast du es nicht der<br />

Lehrerin gesagt?». Es ist wichtig, dass<br />

sich das Gespräch für Ihr Kind nicht wie<br />

ein Verhör anfühlt.<br />

Sie geben Ihrem Kind Rückhalt,<br />

indem Sie auf seine Gefühle eingehen<br />

(«das macht dich sicher traurig», «dem<br />

hättest du am liebsten eine reingehauen»,<br />

«da verliert man jede Lust, zur<br />

Schule zu gehen») und ihm zusichern,<br />

dass Sie es unterstützen werden und<br />

nichts ohne sein Einverständnis unternehmen.<br />

Werden Kinder über längere Zeit<br />

gequält, verlieren Sie manchmal das<br />

Bewusstsein für Recht und Unrecht. Sie<br />

beginnen selbst zu glauben, dass sie<br />

Schuld am Mobbing sind. Es ist in diesem<br />

Fall ganz wichtig, dass Sie Ihrem<br />

Kind immer wieder helfen, die Vorfälle<br />

richtig einzuordnen, und ihm ganz klar<br />

und deutlich sagen, dass diese Vorfälle<br />

unentschuldbar sind.<br />

Werden Sie aktiv<br />

Besprechen Sie mit Ihrem Kind mehrere<br />

Lösungsmöglichkeiten und wählen<br />

Sie gemeinsam aus, wie Sie vorgehen<br />

möchten. Handeln Sie nicht überstürzt.<br />

Oft ist man im ersten Moment so aufgewühlt,<br />

dass man etwas tut, das die<br />

Situation für das Kind verschlimmert.<br />

Von diesen Massnahmen ist abzuraten:<br />

Die Akteure direkt konfrontieren oder<br />

deren Eltern anrufen.<br />

Umgehend rechtliche Schritte einleiten<br />

(eine Ausnahme bildet hier Cybermobbing<br />

– dort sollten Sie genau dies<br />

als Erstes tun!).<br />

Das Kind zwingen, selbst das Gespräch<br />

mit der Lehrperson zu suchen.<br />

Dem Kind Ratschläge erteilen und<br />

darauf beharren, dass es diese annehmen<br />

soll («Nimm es dir nicht zu Herzen»).<br />

Mobbing unter Mitschülern muss in der<br />

Schule aufgelöst werden. Sie brauchen<br />

daher Unterstützung. Die am besten<br />

ausgebildeten Personen im Bereich<br />

Mobbing sind in den meisten Fällen die<br />

Schulsozialarbeiter. Gibt es an Ihrer<br />

Schule keinen, können Sie mit der Lehrperson<br />

darüber sprechen. Fragen Sie<br />

nach, ob es an der Schule ein Konzept<br />

gibt, um mit Mobbing umzugehen, und<br />

wie die Lehrperson genau vorgehen würde.<br />

Weitere Personen, die sie hinzuziehen<br />

können, sind die Schulleitung,<br />

Schulpsychologen oder das Schulpräsidium.<br />

Für Ihr Kind ist es wichtig, dass<br />

es erlebt: Meine Eltern werden so lange<br />

nach einer Lösung suchen, bis es mir<br />

besser geht.<br />

Achten Sie auch darauf, dass die<br />

schönen Lebensbereiche nicht zu kurz<br />

kommen. Gerade in dieser schwierigen<br />

Zeit ist es bedeutsam, dass Ihr Kind<br />

spürt: «Es gibt Menschen, die mich<br />

mögen und gerne mit mir zusammen<br />

sind – und denen ist es wichtig, dass es<br />

mich gibt. In meinem Leben gibt es trotz<br />

allem vieles, das mir Kraft gibt und das<br />

ich geniessen kann.» Sie helfen Ihrem<br />

Kind am meisten, wenn Sie auf der<br />

einen Seite beharrlich dafür einstehen,<br />

dass die Mobbingsituation aufgelöst<br />

wird, und gleichzeitig dafür sorgen, dass<br />

Ihr Kind sich immer wieder eine Auszeit<br />

nehmen kann.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>33


Dossier<br />

>>> statt. Dazu werden zuerst das<br />

gemobbte Kind und danach jedes<br />

Kind der Unterstützergruppe einzeln<br />

eingeladen und gebeten, zu<br />

beschreiben, wie sich die Situation<br />

entwickelt hat.<br />

Eine detailliertere Beschreibung des<br />

Ansatzes finden Sie auf der Webseite<br />

www.fritzundfraenzi.ch > Erziehung<br />

> Elternbildung.<br />

Das entsprechende deutschsprachige<br />

Buch «No Blame Approach –<br />

Mobbing-Intervention in der Schule»<br />

von Heike Blum und Detlef Beck<br />

(Verlag fairaend, 5. Auflage, Köln)<br />

möchten wir Ihnen sehr ans Herz<br />

legen. Es lässt sich gut an einem<br />

Nachmittag lesen und gibt Ihnen<br />

sehr viel Sicherheit im Umgang mit<br />

Mobbing.<br />

>>><br />

Fabian Grolimund und Stefanie Rietzler<br />

sind Psychologen und leiten die Akademie<br />

für Lerncoaching in Zürich. Sie sind Autoren der<br />

Bücher «Mit Kindern lernen» und «Erfolgreich<br />

lernen mit ADHS». Die beiden eint der Wunsch,<br />

dass Schule für möglichst viele Kinder,<br />

Lehrpersonen und Eltern ein Ort ist, an dem sich<br />

alle wohl fühlen und voneinander lernen können.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

Der Hase wird gemobbt<br />

VIDEOVORSCHAU<br />

Die Stimmung in der Klasse von Hase und Biber spitzt<br />

sich zu. Was anfangs noch wie ein harmloser Streich<br />

aussah, entpuppt sich als Mobbing. Die dritte Episode der<br />

Serie «Gemeinsam sind wir Klasse» soll Lehrpersonen<br />

unterstützen, Mobbing in der Klasse zu thematisieren.<br />

Mithilfe des Films sollen die Kinder für die Thematik<br />

sensibilisiert werden. Sie sollen erkennen, wann aus<br />

harmlosen Streichen Mobbing wird und wie man in solch<br />

einer Situation reagieren kann. Die Kinder können gebeten<br />

werden, ein bestimmtes Tier zu beobachten und sich<br />

Gedanken darüber zu machen, warum es sich so verhält.<br />

Anschliessend kann darüber diskutiert werden, welche<br />

Beweggründe die einzelnen Tiere haben und wie jedes<br />

dazu beitragen könnte, das Mobbing zu beenden<br />

Die ausführliche Anleitung, wie mit dem Film gearbeitet<br />

werden kann, finden Sie auf www.fritzundfraenzi.ch ><br />

Video > Schulfrust.<br />

Starten Sie<br />

die aktuelle<br />

Fritz+Fränzi-App,<br />

scannen Sie diese Seite<br />

und erleben Sie die<br />

Arbeit der jungen<br />

Video-Künstler.<br />

Im nächsten Heft:<br />

Jugend <strong>2016</strong><br />

Was ist Jugendlichen heute wichtig? Was<br />

macht ihnen Sorgen, was freut sie? Wie<br />

blicken sie in die Zukunft? Und was wollen sie<br />

erreichen? Wir sprechen mit Soziologen und<br />

Psychologen – und lassen Jugendliche zu<br />

Wort kommen. Im Oktober-Dossier.<br />

Bilder: iSockphoto, ZVG<br />

34 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Mimo verlost einen<br />

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für die ganze Familie.<br />

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Teilnahmeschluss:<br />

9. Oktober <strong>2016</strong><br />

Lesen Sie die neuen, spannenden<br />

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Monatsinterview<br />

«Erziehen ist kein<br />

Wohlfühl-Spa»<br />

Philipp Ramming ist ein führender Schweizer Kinder- und Jugendpsychologe, der<br />

auch mit Familien arbeitet, und ein Verfechter von klaren Ansagen. Er weiss,<br />

warum Eltern von pubertierenden Kindern so oft verzweifeln: Es ist die Liebe zu den<br />

Kindern, die das Erziehen schwer macht. Interview: Claudia Landolt Bilder: Tanja Demarmels / 13 Photo<br />

Wie alle guten Psychologen erweckt<br />

Philipp Ramming sofort Vertrauen.<br />

Und der Eindruck, dass ihm, dem<br />

Mann mit der honigweichen Stimme<br />

und dem melodiösen Bündner<br />

Dialekt, kein Detail entgeht. Er hat<br />

den Tag in einem Konferenzzimmer<br />

verbracht, keine Zeit für eine Pause.<br />

Nun trinkt er weissen Tee. Ist er so<br />

weise, wie er wirkt?<br />

Philipp Ramming, Sie sind Erziehungsexperte.<br />

Was sagen Ihre Kinder über<br />

Ihre Erziehung?<br />

Mein jüngerer Sohn sagte kürzlich:<br />

Papa, ihr habt Glück, dass ich trotz<br />

eurer Erziehung so gut herausgekommen<br />

bin. Nun ja, wir sind beide<br />

Psychologen. Das ist für ein Kind<br />

auch nicht einfach.<br />

Die Pubertät gilt als schwierigste Phase<br />

in der Erziehung. Wer tut sich<br />

schwerer, Jugendliche oder Eltern?<br />

Das kommt darauf an, wen Sie fragen.<br />

Die Jugendlichen wollen raus<br />

in die Welt, um etwas zu lernen. Die<br />

Eltern wollen, dass sie etwas lernen,<br />

um raus in die Welt zu können. Die<br />

Jugendlichen denken, sie schaffen<br />

alles, und überschätzen sich völlig.<br />

Und Verzweiflung auf beiden Seiten.<br />

Genau. Die Eltern sehen nur Chaos.<br />

Die Jugendlichen die tiefe Verzweiflung,<br />

nicht verstanden zu werden.<br />

Bei den Eltern gibt es die tiefe Verzweiflung,<br />

in der Erziehung versagt<br />

zu haben. Der Umgang mit Pubertierenden<br />

ist jedoch wie Segeln in<br />

stürmischer See. Sich querstellen<br />

bringt nur das Boot zum Kentern.<br />

Hart am Wind und im Zickzack<br />

aufkreuzen dauert zwar, lässt einen<br />

aber die allgemeine Richtung einhalten.<br />

«Erziehung ist das<br />

Schwierigste, was<br />

es gibt. Denn der<br />

Arbeitgeber ist<br />

unberechenbar.»<br />

in Raten. Aber scheitern Sie mit<br />

Würde, Kompetenz und Eleganz.<br />

Wir treffen Sie in St. Moritz, wo Sie<br />

einen Workshop für Familien leiten.<br />

Diskutieren Eltern zu viel?<br />

Da muss ich etwas ausholen. Das<br />

grösste Problem für Eltern ist heute<br />

die Vereinzelung. Jede Familie ist<br />

eine eigene Insel, es gibt keine Grossfamilie<br />

mehr und auch keine Normen,<br />

die uns sagen, was wir tun<br />

sollen und was nicht. Die Welt ist so<br />

vielfältig geworden, dass uns in der<br />

Erziehung manchmal die Orientierung<br />

abhandenkommt. Trotzdem ist<br />

das Bedürfnis nach Schutz, Orientierung<br />

und Anlehnung immer da.<br />

Aber weil uns genau diese fehlen,<br />

neigen viele Eltern dazu, die Beziehung<br />

zu ihren Kindern nicht aufs<br />

Spiel zu setzen. Das führt dazu, dass<br />

man eher verhandelt als fordert.<br />

Und: Die meisten Eltern reagieren<br />

zu empathisch.<br />

Empathie ist doch positiv!<br />

Empathie hilft, ein Problem zu verstehen.<br />

Dieses Gefühl muss aber<br />

während des Konfliktes mit dem<br />

Nachwuchs zurückgestellt werden.<br />

Warum müssen Verhandlungen<br />

schmu sig sein? Was zählt, ist das<br />

Ergebnis, nicht der Applaus, den Sie<br />

Knallhart bleiben bringt nichts? Dabei<br />

gelten Sie als Mann der klaren Worte.<br />

Klar heisst nicht stur. Es gibt keine<br />

Stärke oder Konstanz ohne Flexibilität<br />

und umgekehrt. Die Eltern müssen<br />

die Familienregeln wieder ins<br />

richtige Licht rücken, wenn die Jungen<br />

machen, was sie wollen. Also<br />

zeigen, wo die rote Linie ist! Aber es<br />

lohnt sich nicht, auf Perfektion oder<br />

pingeliges Einhalten von Regeln,<br />

Abmachungen und Ordnung zu<br />

bestehen. Man muss verhandeln. ernten. Erziehen ist kein Wohlfühl-<br />

Und wissen: Erziehung ist Scheitern Spa, sondern harte Arbeit. Als >>><br />

36 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September <strong>2016</strong>37


Eltern muss man aus der Komfortzone<br />

hinausgehen können. Dazu<br />

gehört auch, sich der autonomen<br />

Meinung des Kindes zu stellen.<br />

Konsequenz kostet viel Energie. Die<br />

hat man nicht immer.<br />

Sie kostet Energie und macht auch<br />

einsam. Aus der Einsamkeit heraus,<br />

also wenn man sich nicht an allgemeingültige<br />

Normen anlehnen kann,<br />

muss man mehr eigene Energie<br />

investieren. Alles muss man selber<br />

erfinden und durchsetzen. Das ist<br />

sehr, sehr anstrengend.<br />

War es das nicht schon immer?<br />

Als ich aufwuchs, war klar: Wenn die<br />

Kirchenglocken läuten, muss man zu<br />

Hause sein. Es gab kein Wenn und<br />

Aber und erst recht kein Verhandeln.<br />

Die Konsequenzen bei einer Missachtung<br />

waren klar: Wer zur be ­<br />

stimmten Stunde nicht zu Hause war,<br />

musste beim Schulrat antraben. Das<br />

Vorhandensein einer solchen normativen<br />

Kultur machte es für die<br />

Eltern und auch die Kinder sehr viel<br />

einfacher. Ob es besser war oder<br />

nicht, ist eine andere Frage.<br />

Wäre Vertrauen, zu glauben, dass es<br />

schon gut kommt, eine Alternative?<br />

Ich bin da sehr geneigt zu sagen, dass<br />

Eltern mit dieser Einstellung ihren<br />

Job nicht machen. Weigern sie sich,<br />

zu verhandeln, Grenzen zu ziehen,<br />

stehen sie ihren Mann oder ihre Frau<br />

nicht. Denn es bedeutet, dass sie den<br />

Frust, kurzfristig nicht geliebt zu<br />

werden, nicht aushalten. Wenn man<br />

erzieht und Regeln durchziehen<br />

muss, wird man temporär so ziemlich<br />

gar nicht geliebt. Unter Umständen<br />

wird man der Beziehung zum<br />

Kind kurzfristig verlustig. Das ist<br />

sehr unlustig, aber damit muss man<br />

umgehen und das aushalten können.<br />

Erziehen ist nun mal unser Job. Und<br />

die Kinder verzeihen eher eine klare<br />

Haltung als keine Haltung.<br />

Manche kritisieren, dass die Erziehung<br />

heute zu partnerschaftlich ist.<br />

Ich komme wieder auf diese Vereinzelung<br />

zurück. Sie ist die Pest. Durch<br />

sie sind Eltern sehr stark in der<br />

Beziehung zum Kind verwoben, was<br />

temporäre Auseinandersetzungen<br />

erschwert.<br />

Warum?<br />

Eltern wollen oft, dass die Kinder<br />

genau das machen, was sie wollen.<br />

Und die Kinder wollen das aber ganz<br />

und gar nicht. Damit daraus kein<br />

Konflikt entsteht, fordern die Eltern<br />

von den Kindern dann Erziehungsharmonie:<br />

«Gell, du siehst ein, dass<br />

dies das Beste für dich ist.» Das hat<br />

etwas Perverses, denn das Kleingedruckte<br />

lautet: «Kind, erziehe dich<br />

selber, aber in meinem Sinne, denn<br />

ich bin zu schwach, es auszuhalten,<br />

wenn wir uns zu diesem Thema auseinandersetzen.»<br />

Im Workshop erwähnten Sie die Rolle<br />

von Werten in Konflikten.<br />

Wir sind alle in bestimmte Wertesysteme<br />

eingebunden, die wir erzie­<br />

Philipp Ramming<br />

empfiehlt, klare<br />

Familienregeln<br />

festzusetzen. Und<br />

zwar gemeinsam mit<br />

den Jugendlichen.<br />

38 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Monatsinterview<br />

herisch vermitteln sollten. Wenn wir<br />

uns diese bewusst machen, können<br />

wir mit dem Kind in Verhandlungen<br />

treten. In jedem Konflikt gibt es eine<br />

Verhandlungs- und Beziehungsebene.<br />

Jede hat ihr eigenes Ziel. In der<br />

Familie setzt man bisweilen die<br />

Beziehung aufs Spiel, um ein Ziel zu<br />

erreichen. Und manchmal muss<br />

man auch das Ziel revidieren, um<br />

die Beziehung zu stabilisieren oder<br />

aufzuwerten.<br />

Streit ist immer so emotional.<br />

Wie viel Streit verträgt man? Wo gibt<br />

man nach? Wo versöhnt man sich?<br />

Das sind sehr zentrale Fragen, mit<br />

denen man sich als Eltern konfrontiert<br />

sieht. Der Erwachsene muss in<br />

Konfliktsituationen das Modell vorleben<br />

können. Er muss zurückkommen<br />

nach einem Streit und das<br />

Gespräch wieder in Gang bringen.<br />

Eltern, die nach einem Streit tagelang<br />

nicht mehr mit den Kindern<br />

reden, sind nicht viel erwachsener<br />

als ihre Kinder.<br />

Darf man seine Enttäuschung zeigen?<br />

Auf jeden Fall. Man kann wortkarg<br />

sein, oder sichtbar enttäuscht. Daran<br />

ist nichts Schlechtes, denn Kinder<br />

sollen ruhig auch merken, welche<br />

Folgen ihr Tun hat. Aber zu ihrem<br />

Tun nichts sagen und damit die<br />

Erziehung umgehen, das geht gar<br />

«Kinder sind eine<br />

Schule der<br />

Veränderung. Sie<br />

helfen uns, uns dem<br />

Tod in Würde zu<br />

nähern.»<br />

nicht. Sie sind der Erwachsene, Sie<br />

sind das Vorbild. Das Leben ist ein<br />

Wagnis. Wagen ohne die Möglichkeit,<br />

zu scheitern, gibt es nicht.<br />

Erziehung hat viel mit der eigenen<br />

Biografie zu tun.<br />

Ja, sie widerspiegelt vieles. Man muss<br />

mit sich im Reinen sein oder zumindest<br />

erkennen, dass man es nicht ist,<br />

bevor man in gewisse Konflikte geht.<br />

Die Erziehung wird in dem Moment<br />

kompliziert, in dem man sich mit<br />

dem Kind identifiziert, weil es sehr<br />

viel schwieriger wird, sachlich zu<br />

bleiben und eine Distanz herzustellen.<br />

Hinzu kommt, dass die eigenen<br />

Werte, die eigenen Muster eine ganz<br />

grosse Rolle spielen. In solchen<br />

Momenten kann es nützlich sein,<br />

Personen, die eine Aussensicht einnehmen<br />

und gewisse Muster erkennen,<br />

beizuziehen. Denn in Konflikten<br />

bleibt man ja sehr oft einfach<br />

stecken.<br />

Welches sind die häufigsten Konflikte?<br />

Das kommt aufs Alter und Thema<br />

an. Lernunlust und Schulmüdigkeit<br />

sind zentrale Themen. Das Kind bei<br />

der Stange zu halten, ist mitunter<br />

sehr schwierig. Motivieren, drohen,<br />

erpressen, loben, wertschätzen, be -<br />

wundern – die ganze Palette spielt<br />

da mit. Das beherrschende Thema<br />

auf der Oberstufe ist, die Mischung<br />

zwischen der eigenen Welt zu finden<br />

und sich gesellschaftlich anzupassen.<br />

Lernen, Aufgaben machen, einen<br />

Beruf finden, das ist anspruchsvoll.<br />

Es gibt Kinder, die bewerkstelligen<br />

das gut, die lernen leicht, und wenn<br />

das leichtfällt, ist alles andere auch<br />

einfacher. Herausfordernd ist es,<br />

wenn das Lernen schwierig ist. Es<br />

gibt Kinder, die lernen sehr leicht<br />

und sind dafür nie zu Hause. Und es<br />

gibt andere, die lernen schwer und<br />

sind auch nicht daheim. Beides verursacht<br />

bei den Eltern Stress.<br />

Und der Umgang mit den Medien?<br />

Ein Riesenthema! Man spricht ja<br />

immer von den sozialen Medien. Ich<br />

spreche lieber von einer Parallelwelt.<br />

In dieser Parallelwelt lernen Kinder<br />

sehr viel, entwickeln Kompetenzen.<br />

Die zentrale Frage ist: Wie viel müssen<br />

die Kinder in der hiesigen Welt<br />

sein, um Erfolg zu haben, und wie<br />

viel in der anderen Welt? Und wie<br />

oft dürfen sie in der anderen Welt<br />

sein? Die Eltern sind der Ansicht,<br />

dass die Kinder in der hiesigen Welt<br />

sein müssen, weil es in der hiesigen<br />

Welt Noten gibt. Die Kinder sind der<br />

Ansicht, dass sie wahnsinnig viel<br />

lernen in der anderen Welt. Da haben<br />

wir einen klassischen Konflikt.<br />

Medienkonsum ist das grosse Thema?<br />

Das Faszinierende ist, dass ich seit<br />

fast 30 Jahren nie mehr Eltern gehabt<br />

habe, die sich bei mir darüber be -<br />

schwert haben, dass ihre Kinder zu<br />

«Verhandeln mit<br />

pubertierenden<br />

Kindern klappt nur,<br />

wenn sich die<br />

Eltern einig sind.»<br />

viel lesen. Dass die Kids heimkommen,<br />

sich auf ihr Bett werfen und<br />

nicht aufräumen, nicht Zähne putzen,<br />

nicht Aufgaben machen – nur<br />

lesen. Früher war das gang und gäbe.<br />

Lesen unter der Bettdecke? Gibt es<br />

nicht mehr. Nur das Gstürm mit dem<br />

blöden Handy.<br />

Wie soll man am besten reagieren?<br />

Einfach das Handy wegnehmen,<br />

Punkt. Wie früher, als man die Batterie<br />

bei der Taschenlampe rausgenommen<br />

hat. Klarmachen, wo man<br />

steht. Denn ein Kind braucht Schlaf.<br />

Eltern, die «stürmen», dass ihr Kind<br />

zu oft und zu viel im Netz ist, sage<br />

ich: wegnehmen! Dann sagen sie:<br />

Dann wird das Kind wütend. Die<br />

Eltern wollen mit der Reaktion des<br />

Kindes nicht umgehen. Aber in der<br />

Wut des Kindes wäre nämlich auch<br />

die Möglichkeit enthalten, dass es<br />

lernt, seinen Frust zu managen, seine<br />

Fähigkeit zur Selbststeuerung<br />

auszubauen.<br />

Das WLAN ausschalten ist also keine<br />

gute Lösung?<br />

Kommt darauf an. Wenn man da -<br />

durch etwas indirekt durchsetzen<br />

will und der Auseinandersetzung<br />

ausweicht, produziert man Frust<br />

beim Kind und kann sich raushalten.<br />

Das finde ich Betrug. Ich nenne es<br />

«die Feigheit vor dem Feind». >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>39


Monatsinterview<br />

>>> Man muss also den Konflikt bis<br />

zum bitteren Ende durchstehen?<br />

Warum muss es ein bitteres Ende<br />

nehmen? Ich sehe das ganz und gar<br />

nicht so. Ich sehe die Anstrengung,<br />

den Konflikt, aber nicht das Problem.<br />

Denn es ist einfach nur der Job der<br />

Eltern, Grenzen zu ziehen.<br />

Sanktionieren ist in der Pubertät<br />

Hauptbeschäftigung?<br />

Die Pubertät ist ein besonderer<br />

Zu stand. Sie ist der Trotzphase der<br />

Dreijährigen nicht unähnlich, weil<br />

Unabhängigkeit und Abnabelung das<br />

Thema ist. Die Familie wächst in<br />

etwas Neues hinein, ebenso das Kind.<br />

Die Eltern regen sich auf, dass das<br />

Kind permanent am Handy hängt,<br />

und fokussieren sich auf die Noten.<br />

Dabei ist das Problem, dass die Eltern<br />

es nicht aushalten, dass das Kind sich<br />

von ihnen entfernt, ins Leben tritt,<br />

ohne sie neue Erfahrungen macht.<br />

Das Handy wird zum Symbol der<br />

Aussenwelt, die in das Konstrukt der<br />

Familie einbricht. Das wahre Thema<br />

ist Loslassen und Abschied.<br />

Stichwort: Drogen?<br />

Schwierig. Aber Kinder kommen<br />

eher durch Verkehrsunfälle um, als<br />

sie an Drogenmissbrauch sterben.<br />

Tritt der Fall ein, dass ein Kind Drogen<br />

nimmt, braucht es auch ein<br />

Gespräch. Wie das verläuft, hängt<br />

sehr stark davon ab, wie man bisher<br />

mit der Erziehung kutschiert hat.<br />

Sind die Eltern viel abwesend, sind<br />

die Kinder auf sich selbst gestellt?<br />

Können die Kinder die Grenzen ausloten?<br />

Sind sie dabei alleine, oder<br />

werden sie begleitet? Wie merken die<br />

Kids denn, wie sie über die Grenze<br />

hinausgehen? Denn das können Kinder<br />

nur, wenn sie von zu Hause Grenzen<br />

mitbekommen und einen inneren<br />

Massstab entwickelt haben.<br />

Wenn sie genau wissen, jetzt mache<br />

ich etwas, was die Alten nicht goutieren,<br />

und wenn die das herausfinden,<br />

uiuiui!<br />

Ein Beispiel: Das 15-jährige Kind hat zum<br />

ersten Mal gekifft. Was tun?<br />

Die Frage ist vielmehr: Was ist das<br />

Ziel? Will man sich abreagieren als<br />

Eltern, oder will man, dass der<br />

Sprössling sich künftig im Griff hat?<br />

Man will, dass der Junge um Drogen<br />

einen Bogen macht.<br />

Das ist ein Wunsch, und wie bei allen<br />

Wünschen gilt: Sie sind frei. Es gibt<br />

Eltern, die machen jede Woche einen<br />

«Es gibt in der<br />

Erziehung einfach<br />

Zeiten, die einem<br />

besser liegen<br />

als andere.»<br />

Urintest mit ihren Kindern. Was für<br />

ein massiver Eingriff in deren Privatsphäre!<br />

Konkret: Wie reagiert man am besten?<br />

Wenn beispielsweise ein Junge heimkommt,<br />

zu viel gekifft hat und ihm<br />

speiübel ist, schaut man, dass er sich<br />

auskotzt und dann schlafen kann.<br />

Wenn es ihm wieder gut geht, versucht<br />

man, darüber zu reden. Das<br />

wird nicht einfach, denn es geht ihm<br />

ja mies, er weiss, dass er etwas Dummes<br />

getan hat und wird daher das<br />

Gespräch vermeiden, denn er schämt<br />

sich sehr. Er wird alle Strategien nutzen,<br />

um nicht mit den Eltern reden<br />

zu müssen.<br />

Und dann?<br />

Dann wirds spannend. Wann packt<br />

man sich das Kind? Schafft man das?<br />

Wie geht man mit dieser Grenzüberschreitung<br />

um? Ist es wirklich so<br />

schlimm, wenn sie jetzt mal was<br />

ausprobieren? Warum hat man so<br />

wahnsinnig Angst vor einem Ab ­<br />

sturz? Warum hat man zwar die<br />

Empörung, die Moral, aber nicht das<br />

Vertrauen, dass das Kind damit um ­<br />

gehen kann? Da kommt häufig die<br />

eigene Biografie ins Spiel. Dass man<br />

etwas, beispielsweise Drogen, selber<br />

nur knapp überlebt hat und alle<br />

Ängste nun auf das Kind überträgt.<br />

Diese Urangst schwächt die Verhandlungsposition.<br />

Gerade in der<br />

Pubertät ist es oft schwierig, weil die<br />

Teenagerjahre des Kindes eine permanente<br />

Erinnerung an die eigene<br />

Entwicklung sind. Der Anspruch,<br />

immer hundertprozentig supertolle<br />

Erzieher zu sein, ist übertrieben.<br />

Sie sagen, Pubertät bedeute in erster<br />

Linie Kontrollverlust.<br />

Ja. Man erlebt echte Ohnmachtssituationen.<br />

Die Pubertät ist ein<br />

Sturm. Im Jugendlichen herrscht<br />

pures Chaos. Er will eigentlich genau<br />

das, was wir auch wollen, aber er<br />

weiss nicht wie, und er will auch<br />

nicht, dass wir ihm sagen, wie es geht.<br />

Als Eltern kann man also nur noch<br />

Leitplanken setzen. Dem Teenager<br />

sagen, was geht und wo die Grenze<br />

überschritten ist. Was ist machbar,<br />

was nicht? Und was ist verhandelbar?<br />

Eine Bedingung gibt es: Man muss<br />

da sein, präsent sein, um die Klingen<br />

wetzen zu können. Pubertierende<br />

brauchen sehr viel Aufmerksamkeit.<br />

Eltern schämen sich oft.<br />

Die Scham ist immer da. Gerade bei<br />

Müttern. Bei Vätern weniger, sie<br />

haben sie vor allem bei Söhnen,<br />

wenn diese die männliche Eigenschaft<br />

der Entscheidung nicht haben<br />

und irgendwo herumwabern.<br />

Verhängen ist nicht okay?<br />

Pubertät ist die Zeit des Suchens. Die<br />

Suchbewegungen der Kinder aushalten<br />

ist schwierig. Wie gut dies die<br />

Eltern aushalten, ist auch ein Massstab<br />

für das Gelingen.<br />

Soll man das Aushalten ansprechen?<br />

Es kommt darauf an, wie man es vermittelt.<br />

Man sollte nicht dreinlaufen<br />

als Eltern und zu hören bekommen:<br />

Lös deine Probleme selber!<br />

Wie umgeht man das?<br />

Indem man klar ist. Sagt: Schau, du<br />

musst einen Beruf lernen. Wie willst<br />

du das angehen? Wie willst du das<br />

machen? Herumhängen? Und dann?<br />

Wenn das Kind antwortet: Ich weiss<br />

aber nicht was?<br />

Wichtig ist, dass man ihm Mut<br />

macht, in die Handlung zu gehen,<br />

etwas zu tun. Es geht darum, dranzubleiben<br />

und mit dem Kind zu sprechen.<br />

Erfahren, was es braucht,<br />

damit es sich entscheiden kann. Ob<br />

40 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


es Angst hat, sich zu entscheiden. Ob<br />

es etwas anderes machen will, die<br />

Welt anschauen zum Beispiel.<br />

Stichwort: Lehrstelle abbrechen?<br />

Abbrechen ist immer ein schwieriger<br />

Entscheid. Rennt man vor etwas<br />

davon oder wendet man sich etwas<br />

Neuem zu? Die Hauptsache ist, das<br />

Kind tut etwas und fällt nicht ins<br />

Nichtstun. Zeitungen vertragen, spazieren<br />

gehen, den Hund der Nachbarin<br />

hüten – egal was. Einfach tun.<br />

Sich wagen.<br />

Ein Beispiel aus der Praxis?<br />

Die Jugendlichen müssen in der<br />

8. Klasse eine Lehrstelle suchen und<br />

eine Schnupperstelle organisieren.<br />

Eines der Muster, das ich kenne, ist,<br />

dass Eltern sich sehr aufregen, weil<br />

das Kind noch nicht seine Briefe<br />

geschrieben oder die Telefone erledigt<br />

hat. Total idiotisch!<br />

Warum?<br />

Woher sollen die Teenies denn wissen,<br />

wie so ein Telefon geht? Wenn<br />

jemand eh schon schüchtern ist, wie<br />

soll der oder die den Mut haben und<br />

den Telefonhörer in die Hand nehmen<br />

und ein dermassen wichtiges<br />

Gespräch führen? Um sich zu bewerben,<br />

muss man zuerst wissen, wie<br />

man das macht. Also üben, wie man<br />

telefoniert, einen Brief schreibt. Die<br />

Jugendlichen müssen wissen, dass es<br />

da eine Schwelle zu überwinden gibt.<br />

Und dabei müssen die Eltern helfen,<br />

anleiten statt Druck machen.<br />

Wie denn?<br />

In der Pubertät es ganz wichtig, an ­<br />

zuleiten, Beispiele zu geben, vorzugeben.<br />

Man muss den Jungen einen<br />

Ausgangspunkt bieten, selbst wenn<br />

sie dann sagen: So mache ich es<br />

nicht. Und Verständnis haben für<br />

den Frust. Aber nicht nachlassen im<br />

Erreichen des Ziels.<br />

Sie sprachen in einem Vortrag von<br />

«nichtfunktionierenden Kindern». Was<br />

meinen Sie damit?<br />

Es ist gefährlich, wenn Eltern der<br />

Überzeugung sind, die Kinder müssten<br />

doch nur deren Anweisungen<br />

umsetzen und dann würde alles bestens<br />

funktionieren. Wenn beispielsweise<br />

beide Eltern in ihren Berufen<br />

stark engagiert sind, ist der häusliche<br />

Alltag meistens sehr gut durchstrukturiert.<br />

Da muss alles ineinandergreifen.<br />

Jeder muss seinen Teil übernehmen,<br />

damit es funktioniert.<br />

Dazu braucht es funktionierende<br />

Kinder. Anpassung ergibt aber<br />

ausser Schadensminimierung keinen<br />

Mehrwert. Selbstwert entsteht<br />

nur durch selbständig bewältigte<br />

Schwierigkeiten. Dies spüren starke<br />

Kinder und legen eigene Lernschlaufen<br />

ein, machen Umwege, besuchen<br />

Freunde, zünden auch mal was<br />

Spannendes an. Dann funktionieren<br />

sie eben nicht, sondern lernen fürs<br />

Leben.<br />

Kann man es denn in der Erziehung<br />

überhaupt richtig machen?<br />

Nein. Als Eltern werden Sie es zu ­<br />

mindest in der Pubertät nie richtig<br />

treffen. Sie verstehen nicht, sind ge ­<br />

mein und unfair und vor allem so<br />

etwas von gestern. Haben Sie Vertrauen<br />

in die letzten zehn, fünfzehn<br />

Jahre Erziehung! Und bleiben Sie<br />

weiter dran. Auch wenn es nicht so<br />

aussieht, ihre Söhne und Töchter<br />

werden darauf zurückgreifen, wenn<br />

es darauf ankommt.<br />

>>><br />

Zur Person<br />

Philipp Ramming ist Fachpsychologe für Kinder- und<br />

Jugendpsychologie und Experte in Erziehungsfragen. Er hat<br />

über 70 Radiosendungen zu Erziehungsthemen gemacht<br />

und ist bekannt für provozierende Aussagen. Er stammt aus<br />

dem Engadin, ist verheiratet und Vater von zwei Söhnen. Er<br />

ist Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Kinderund<br />

Jugendpsychologie SKJP.<br />

Claudia Landolt<br />

Wir haben Philipp Ramming am Negotiation Summer Camp <strong>2016</strong><br />

in St. Moritz getroffen. Dieses hatte das Thema: Führen von<br />

schwierigen Verhandlungen in Business und Familie. Es wurde vom<br />

Schranner Negotiation Institute in Zürich organisiert.<br />

hat in diesem Interview viel gelernt. Dass in<br />

jeder elterlichen Sorge die eigene<br />

Herkunftsgeschichte mitschwingt. Dass jedem<br />

Konflikt eine innere Auseinandersetzung<br />

vorausgeht. Dass es okay ist, eine Zeitlang bei<br />

den Kindern ganz und gar nicht beliebt zu sein.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>41


Essay<br />

Gotte sein –<br />

nein danke!<br />

Ein Patenamt zu übernehmen, ist eine zwiespältige Erfahrung.<br />

Unsere Kolumnistin möchte sie nicht noch einmal machen.<br />

Text: Silvia Aeschbach<br />

Es war der 2. Juli 1979. Ein<br />

heisser Sommertag. Ich<br />

war das glücklichste<br />

Mädchen der Welt. Meine<br />

Schwester hatte vor<br />

ein paar Stunden ihr erstes Kind<br />

geboren. Catherine war just an meinem<br />

Geburtstag auf die Welt gekommen.<br />

Meine Mutter holte mich an<br />

diesem Abend vom Bahnhof ab. «Es<br />

isch es Meiteli», flüsterte sie mir ins<br />

Ohr und drückte mich so fest, dass<br />

ich fast keine Luft mehr bekam.<br />

«Und du wirsch Gotti!»<br />

Ja, ich wurde Gotti. Und ich hätte<br />

platzen können vor Stolz. Ich hatte<br />

Kinder schon immer sehr gern<br />

gehabt, aber das erste Baby in unserer<br />

Familie war natürlich etwas<br />

Besonderes. Dass sich meine Eltern<br />

so sehr freuten, erstaunte mich allerdings.<br />

Catherine war nicht geplant<br />

gewesen, meine Schwester hatte<br />

hochschwanger geheiratet. Ein<br />

Die Jahre vergingen, und<br />

Catherine wurde mir immer<br />

ähnlicher. Uns verband vieles,<br />

auch von unserem Wesen her.<br />

Umstand, der für meine sehr katholischen<br />

Eltern schwer zu verdauen<br />

war.<br />

Aber dann war die Kleine da und<br />

entzückte uns alle. Stundenlang<br />

konnte ich sie beobachten, ihre kleinen<br />

Händchen, das zuckersüsse<br />

Näschen, den Kussmund. Und meine<br />

Schwester war froh, dass ich ihr<br />

unter die Arme griff und sie in vielem<br />

unterstützte. Manchmal, wenn<br />

ich sie in den Armen hielt, hatte ich<br />

das Gefühl, Catherine wäre mein<br />

Kind. Und wenn ich mit ihr spazieren<br />

ging und die Leute sagten:<br />

«Ganz die Mutter!», nickte ich<br />

zustimmend.<br />

Catherine vertraute mir alles an<br />

Die Jahre vergingen, und Catherine<br />

wurde mir immer ähnlicher. Blond,<br />

sommersprossig und blauäugig, war<br />

sie mein Ebenbild. Aus dem Baby<br />

wurde ein Kleinkind, ein Mädchen,<br />

ein Teenager. Und was schon von<br />

Anfang an klar war, zeigte sich mit<br />

der Zeit immer stärker: Uns verband<br />

vieles, nicht nur äusserlich, sondern<br />

auch vom Wesen her. Wenn Catherine<br />

mich besuchte, schlief sie stets<br />

in meinem Bett, vertraute mir ihre<br />

Geheimnisse und ihren ersten Liebeskummer<br />

an. «Du bisch s beschti<br />

Gotti uf dä Wält», sagte sie jeweils<br />

zu mir, und ich schmolz dahin. Wir<br />

waren zwei vom gleichen Stern.<br />

Catherine war kein verwöhntes<br />

Kind. Wenn sich andere Kinder und<br />

Jugendliche teure Geschenke<br />

wünschten, genügte ihr eine Kleinigkeit.<br />

Wenn man ihr etwas Teures<br />

geben wollte, sagte sie leicht strafend<br />

und sehr vernünftig: «Gotti, das hat<br />

zu viel gekostet. Du musst dein Geld<br />

zusammenhalten.» Oft verblüffte sie<br />

uns mit einer inneren Weisheit und<br />

Abgeklärtheit. Wir scherzten dann:<br />

Catherine ist eine alte Seele. Und<br />

manchmal tauschten wir auch unsere<br />

Rollen. Als mein damaliger<br />

Freund auf Weltreise ging und ich<br />

traurig war, tröstete sie mich: «Gotti,<br />

man muss die Männer ziehen<br />

lassen, dann kommen sie zu einem<br />

zurück.» Da war Catherine 17 Jahre<br />

alt.<br />

Ein paar Jahre später dann fragte<br />

mich eine sehr gute Arbeitskollegin,<br />

ob ich nicht Gotte ihres Sohnes werden<br />

wollte. Ich war begeistert und<br />

sagte sofort zu. Einerseits fühlte ich<br />

mich geehrt, andererseits hatte ich<br />

ja sehr gute Erfahrungen gemacht.<br />

Was sollte da schiefgehen?<br />

Kurz gesagt: alles. Heute ist Max<br />

18-jährig, und ich muss rückblickend<br />

sagen: Ich war eine schlechte<br />

Gotte, denn ich fand einfach keinen<br />

42 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Draht zu ihm. Vielleicht erwartete<br />

ich wegen meiner engen Bindung zu<br />

Catherine, dass es automatisch auch<br />

wieder so werden würde. Aber da<br />

war nichts Verbindendes. Natürlich<br />

fand ich ihn als kleinen Buben herzig,<br />

aber als Teenager wurde er mir<br />

fremd, und manchmal nervte er<br />

mich auch. Ich erinnere mich an ein<br />

Weihnachts-Shopping, während<br />

dem wir keine drei Worte miteinander<br />

wechselten. Ich hielt Max für ein<br />

verbocktes Kind, und für ihn war<br />

ich sicher eine doofe Alte, die sich<br />

einmal im Jahr Zeit für ihn nahm<br />

und die nicht einmal seinen<br />

Geburtstag auswendig kannte. Max<br />

war für mich ein fremder Planet,<br />

den ich in den ersten Jahren erobern<br />

wollte, aber als ich merkte, dass<br />

nichts von ihm zurückkam, erlahmte<br />

mein Interesse an ihm.<br />

«Ich bin schwanger. Würdest<br />

du …?»<br />

Zum Glück hatte er einen engagierten<br />

Götti, der viel mit ihm unternahm.<br />

Auch Max’ Mutter, mit der<br />

ich trotz gescheiterter Patenschaft<br />

noch immer eng befreundet bin, war<br />

tolerant. Sie hatte schnell gemerkt,<br />

dass es zwischen mir und Max nicht<br />

funkte.<br />

Natürlich frage ich auch heute<br />

noch regelmässig bei ihr nach, wie<br />

es Max geht, aber interessiert es<br />

mich auch wirklich? Neulich sagte<br />

seine Mutter zu mir: «Er redet jetzt<br />

richtig viel», und ich verstand den<br />

Fingerzeig. «Oh, das ist doch schön,<br />

dann gehe ich bald einmal mit ihm<br />

mittagessen.» Irgendwie habe ich<br />

die Hoffnung, dass sich unser Kontakt<br />

doch noch verbessern wird.<br />

Aber ich habe auch ein bisschen<br />

Angst davor, dass der erwachsene<br />

Max einmal fragen wird: «Warum<br />

hast du dich eigentlich nie um mich<br />

gekümmert?» Und dann kann ich ja<br />

nicht sagen: «Du warst mir immer<br />

fremd.» Oder doch?<br />

Vor wenigen Wochen ging ich<br />

mit einer jüngeren Freundin essen.<br />

Beim zweiten Glas Wein schaute sie<br />

mich vielsagend an mit einem Blick,<br />

den ich kannte. «Ich bin schwanger.<br />

Würdest du … ?» Ich liess sie nicht<br />

ausreden. «Das ist lieb, und ich fühle<br />

mich geehrt, aber ich bin mit zwei<br />

Patenkindern voll bedient.»<br />

Ein Kind ist eine Wundertüte<br />

Ich mag es nicht, wenn ich nicht<br />

weiss, was mich erwartet. Und ein<br />

Kind ist eine Wundertüte, man weiss<br />

nie, was man bekommt. Als Eltern<br />

spielt das keine Rolle, man kann<br />

nicht wählen, und sein eigen Fleisch<br />

und Blut liebt man ja meistens.<br />

Kürzlich klagte eine Freundin,<br />

dass sich ihr Patenkind zum<br />

14. Geburtstag eine Golfausrüstung<br />

gewünscht habe. Und eine andere,<br />

die ein Sparkonto für ihren Gottenbub<br />

angelegt hatte, bekam an seinem<br />

18. Geburtstag einen Telefonanruf<br />

von ihm, während dem er sie aufforderte,<br />

«mal die Kohle rüberwachsen»<br />

zu lassen. Vor ein paar Jahren<br />

klagte ein Freund, dass er sein<br />

Patenkind zu dessen 20. Geburtstag<br />

mit einer Reise nach Paris überraschen<br />

wollte, dieses aber nur schnöde<br />

bemerkte: «Die Gotte von Marc<br />

fliegt mit ihm nach New York.»<br />

Natürlich sind es nicht in erster<br />

Linie die materiellen Ansprüche, die<br />

mich dazu bringen, dass ich nie<br />

mehr Gotte werden will. Ich habe<br />

Angst, dass aus schnuckeligen Babys<br />

muffige Teenager werden, dass ich<br />

dem Kind nicht gerecht werde oder,<br />

noch schlimmer, dass es mir nicht<br />

sympathisch ist und dass sich coole<br />

Eltern zu biederen Zeitgenossen<br />

entwickeln, die an Geburtstagen<br />

eine hemmungslose und offensive<br />

Erwartungshaltung an den Tag<br />

legen.<br />

Und ich habe keine Lust auf<br />

zusätzliche Verantwortung. Damit<br />

bin ich nicht allein. Natürlich gibt es<br />

die Freunde, die fünf Patenkinder<br />

haben und mit jedem regelmässig<br />

Zeit verbringen und natürlich von<br />

allen den Geburtstag und die Blutgruppe<br />

kennen. Aber diese sind in<br />

der Minderzahl.<br />

Ich habe Angst, dass aus<br />

schnuckeligen Babys muffige<br />

Teenager werden, dass ich<br />

dem Kind nicht gerecht werde.<br />

Kürzlich feierte Catherine Hochzeit.<br />

Beim Nachtessen wurde jeder Gast<br />

vorgestellt. Als ich an der Reihe war,<br />

sagte sie: «Das ist mein Gotti, das<br />

mich so vieles gelehrt hat.» Ich war<br />

gerührt. Und was Max betrifft, so<br />

habe ich ihm sicher un recht getan.<br />

Auch wenn er das vielleicht gar nicht<br />

so empfindet. Er hat ja genug Menschen<br />

um sich herum, die ihn lieben<br />

und ihn verwöhnen.<br />

Trotzdem werde ich jetzt dann<br />

mal mit ihm essen gehen. Vielleicht<br />

können wir ja Freunde werden.<br />

Silvia Aeschbach<br />

55, Journalistin und Buchautorin. Sie<br />

ist bei der SonntagsZeitung für die<br />

deutschsprachige Ausgabe des Lifestyle-<br />

Magazins «Encore» verantwortlich und<br />

schreibt im Tages-Anzeiger den Blog «Von<br />

Kopf bis Fuss». Ihr neustes Buch trägt den<br />

Titel «Älterwerden für Anfängerinnen –<br />

Willkommen im Club» (Verlag Wörterseh).<br />

Silvia Aeschbach ist kinderlos und lebt mit<br />

ihrem Mann in Zürich.<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Hat unsere Autorin recht? Oder übertreibt sie?<br />

Welche Erfahrungen machen Sie als Gotte oder Götti?<br />

Schreiben Sie uns. Sie erreichen uns über:<br />

leserbriefe@fritzundfraenzi.ch oder<br />

Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>43


Psychologie & Gesellschaft<br />

Die Angst ums Kind<br />

Ängstliche Eltern schaffen ängstliche Kinder. Wie aber lernen Eltern,<br />

sich weniger zu sorgen? Text: Susan Edthofer<br />

Wenn Kinder aufwachsen, müssen sie<br />

eine Menge lernen. Das birgt<br />

Überraschungen, aber auch Gefahren.<br />

Kinder können sich verletzen<br />

oder krank werden. Verständlich,<br />

wenn sich Eltern Sorgen machen, dass ihrem Kind etwas<br />

zustossen könnte. Trotz Aufsicht verbrennt sich ein<br />

Kleinkind vielleicht die Hand an der Herdplatte, verunfallt<br />

ein Schulkind mit dem Velo. Eine risikolose Kindheit<br />

gibt es nicht, auch wenn Eltern noch so sehr achtgeben.<br />

Umso wichtiger also, dass Kinder altersangepasst<br />

lernen, mit Gefahren umzugehen und Risiken einzuschätzen.<br />

Ein gesundes Selbstvertrauen aufbauen<br />

Es ist zwar gut gemeint, doch nicht förderlich, wenn<br />

Eltern versuchen, ihr Kind vor allen Unannehmlichkeiten<br />

zu bewahren. Zu grosse Ängstlichkeit überträgt sich<br />

und verunsichert. Es bewirkt viel, wenn Eltern, statt<br />

Ängste zu schüren, die Tochter, den Sohn ermuntern,<br />

unbekannte Dinge auszuprobieren und Neues zu wagen.<br />

Zum Aufwachsen und für das spätere Leben sind<br />

Selbst sicherheit und Selbstvertrauen wichtige Stützpfeiler.<br />

Werden diese Grundlagen früh gelegt, fällt vieles<br />

leichter. Kinder, die über ein gesundes Selbstvertrauen<br />

verfügen, verkraften Veränderungen wie Schulanfang,<br />

Übergang in die Oberstufe oder Enttäuschungen im<br />

Umgang mit Freunden besser. Zudem kommen selbstbewusstere<br />

Kinder leichter mit neuen Situationen wie<br />

einem Wechsel der Lehrperson oder dem Eintritt in eine<br />

andere Klasse zurecht. Hilfreich ist, wenn Kinder Erfahrungen<br />

machen dürfen und durch Erfolgserlebnisse<br />

gestärkt und ermutigt werden. Eltern können diesen<br />

Prozess begleiten, sollten aber zurückstehen, sobald ihre<br />

Unterstützung nicht mehr erforderlich ist.<br />

Mütter und Väter lasten auf den Kindern<br />

und machen sie unfrei. Um die Welt zu<br />

erkunden, sollten Kinder unbeschwert auf<br />

Entdeckungsreisen gehen dürfen.<br />

Loslassen beginnt nicht erst in der<br />

Pubertät, sondern spielt von Anfang an bei<br />

der Kindererziehung mit. Eine Erklärung, weshalb<br />

viele Eltern heute so ängstlich sind, liegt nicht auf der<br />

Hand. Womöglich fühlen sich Familien durch den<br />

gesellschaftlichen Druck verunsichert. Zudem fällt auf,<br />

dass dem Phänomen Angst in der Kindererziehung vermehrt<br />

in Studien, Artikeln und öffentlichen Diskussionen<br />

nachgespürt wird. Für eine entspanntere Erziehung<br />

plädiert auch die Erziehungswissenschafterin Margrit<br />

Stamm in ihrem neusten Buch, «Lasst die Kinder los».<br />

Obwohl es wichtig ist, dass Eltern ihre Kinder nicht<br />

leichtfertig irgendwelchen Gefahren aussetzen, wäre<br />

etwas mehr Gelassenheit hilfreich.<br />

«Kinder sollten<br />

unbeschwert auf<br />

Entdeckungsreisen<br />

gehen dürfen.»<br />

Susan Edthofer ist Redaktorin<br />

im Bereich Kommunikation<br />

von Pro Juventute.<br />

Was Eltern tun können – vier Tipps<br />

Sich um das Kind sorgen darf nicht lähmend oder einschränkend<br />

wirken. Eltern, die sich unablässig ängstigen, übertragen dieses<br />

stete Unbehagen auf ihr Kind.<br />

Das Verhalten der Eltern trägt massgeblich dazu bei, dass sich das<br />

Kind ein gesundes Mass an Selbstsicherheit und Selbstvertrauen<br />

aneignen kann.<br />

Kindern etwas zuzutrauen, ist ein wichtiger Teil der Persönlichkeitsbildung.<br />

Werden Kinder stets zurückgehalten, wenn sie etwas<br />

ausprobieren möchten, verlieren sie ihre Unbekümmertheit.<br />

Wenn Kinder von Natur aus ängstlich sind, braucht es viel<br />

Fingerspitzengefühl. Damit das Kind lernt, sein Selbstvertrauen<br />

und seine Selbstsicherheit aufzubauen, müssen Eltern die Balance<br />

finden zwischen begleiten und loslassen.<br />

Ängstlichkeit überträgt sich<br />

Auch subtilere Ängste können Eltern plagen: Fühlt sich<br />

meine Tochter in der Schule wohl? Lernt mein Sohn<br />

leicht oder hat er Mühe mitzuhalten? Findet mein Kind<br />

Anschluss? Ist es geschickt? So nachvollziehbar solche<br />

Ängste sind, so belastend können sie sein. Es fragt sich,<br />

ob überbesorgte Eltern ihre Kinder ängstlich oder<br />

zumindest ängstlicher machen. Denn die Sorgen der<br />

Pro Juventute Elternberatung<br />

Bei der Elternberatung von Pro Juventute können Eltern und<br />

Bezugspersonen von Kindern und Jugendlichen telefonisch (058 261 61 61)<br />

oder online (www.projuventute-elternberatung.ch) jederzeit Fragen zum<br />

Familienalltag und zur Erziehung stellen. Ausser den normalen<br />

Telefongebühren fallen keine Kosten an. In den Elternbriefen und<br />

Extrabriefen finden Eltern Informationen für den Erziehungsalltag.<br />

Mehr Infos: www.projuventute.ch<br />

44 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Väter, rauft mit<br />

euren Kindern!<br />

Mit dem Vater spielerisch rangeln und raufen macht den meisten Kindern Spass.<br />

Und nicht nur das. Forscher fanden nun heraus, dass Kinder dabei lernen, ihre<br />

Emotionen zu regulieren. Text: Matt Stevenson<br />

«Das anregende Spiel der<br />

Väter bietet Kindern ein Umfeld,<br />

in dem sie emotional und<br />

körperlich stimuliert werden.»<br />

Dr. Matt Stevenson ist Postdoktorand in<br />

Entwicklungspsychologie am Center for Human<br />

Growth and Development der University of<br />

Michigan. 2014 promovierte er an der Arizona State<br />

University in klinischer Psychologie. Er interessiert<br />

sich für die Rolle der Väter in der kindlichen<br />

Entwicklung und für Entwicklungs psychopathologie.<br />

In seiner Forschung geht es um Bindungstheorie<br />

im Zusammenhang mit Vater-Kind-Beziehungen;<br />

den einzigartigen Einfluss von Vätern auf die<br />

Entwicklung kindlicher Selbstregulation und<br />

Sozialkompetenzen; und um die Verletzlichkeit von<br />

Vaterschaft und Vater-Kind-Beziehungen bei<br />

Ehekonflikten.<br />

Väter ermutigen ihre<br />

Kinder eher, ihre<br />

Umgebung zu erkunden.<br />

Eine der einflussreichsten<br />

Theorien in der Entwicklungspsychologie<br />

des letzten Jahrhunderts<br />

ist die Bindungstheorie.<br />

Danach bildet die Eltern-Kind-<br />

Interaktion im Säuglingsalter die<br />

Grundlage für die Entwicklung der<br />

kindlichen Bindung zur Mutter<br />

beziehungsweise zum Vater. Wenn<br />

Eltern feinfühlig sind, auf die<br />

Bedürfnisse ihres Kindes reagieren<br />

und ihm Wärme und Liebe geben,<br />

bieten sie ihm eine sichere Grundlage.<br />

Kinder, die über diese sichere<br />

Grundlage verfügen, wagen es, ihre<br />

Umgebung zu erkunden, wenn sie<br />

von ihren Eltern dazu ermutigt werden.<br />

Eine neue Sichtweise legt nahe,<br />

dass Mütter Kindern mehr von dieser<br />

sicheren Grundlage vermitteln,<br />

während Väter sie eher dazu ermutigen,<br />

die Umgebung zu erkunden.<br />

Die sogenannte Aktivierungstheorie<br />

geht davon aus, dass das anregende,<br />

destabilisierende Spiel der Väter<br />

den Kindern ein Umfeld bietet, in<br />

dem sie beim Spielen emotional und<br />

körperlich stimuliert werden, zum<br />

Beispiel, wenn sie mit dem Vater<br />

raufen. Diese Art des Vaterseins<br />

nenne ich «aktivierende Vaterschaft».<br />

Allerdings haben alle Eltern<br />

schon erlebt, dass es bei aufgedrehten<br />

Kindern ein «zu wenig», «gerade<br />

richtig» und «zu viel» gibt. Väter, die<br />

mit ihren Kindern zu grob umgehen<br />

oder nicht aufhören zu raufen, wenn<br />

das Kind genug hat, können es überstimulieren.<br />

Sozial angemessene Aggression<br />

Viele Aspekte des spielerischen Raufens<br />

können als sozial angemessene<br />

«Aggression» angesehen werden.<br />

Den Kindern wird dadurch ein anregendes<br />

Umfeld geboten, in dem sie<br />

üben können, ihre Emotionen zu<br />

regulieren, um am dynamischen<br />

Spiel teilzunehmen, ohne auf sozial<br />

unangemessene Aggression wie etwa<br />

Gewalt zurückgreifen zu müssen.<br />

Wenn Ihr Kind zum Beispiel auf dem<br />

Spielplatz gehänselt wird, ist es in der<br />

Lage, zu entscheiden, ob es das andere<br />

Kind auch piesackt (sozial angemessene<br />

Aggression) oder es schlägt<br />

(sozial unangemessene Aggression;<br />

Gewalt).<br />

In einer ersten Studie haben wir<br />

Mütter, Väter und Kinder zu Hause<br />

beobachtet und die aktivierende<br />

Erziehungsweise beider Elternteile<br />

erfasst. So konnten wir untersuchen,<br />

ob aktivierende Vaterschaft einen<br />

besonderen Einfluss auf Kinder hat,<br />

der über aktivierende Mutterschaft<br />

hinausgeht. Unsere Ergebnisse zeigen:<br />

Aktivierende Vaterschaft führt<br />

zu verbesserter Sozialkompetenz<br />

und zu einer verbesserten Fähigkeit<br />

46 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Psychologie & Gesellschaft<br />

der Kinder, auch bei einer frustrierenden<br />

Aufgabe nicht gleich aufzugeben.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi September <strong>2016</strong><br />

Auch Mütter aktivieren ihre Kinder<br />

Väter spielen also eine einzigartige<br />

Rolle? Wie alle Eltern wissen, ist der<br />

Kontext ausschlaggebend. Erziehungsweisen,<br />

die für Kinder auf dem<br />

Spielplatz funktionieren, sind nicht<br />

unbedingt richtig oder angebracht,<br />

wenn es um die Hausaufgaben geht.<br />

In einer nächsten Studie haben<br />

wir uns mit der aktivierenden Erziehungsweise<br />

beider Eltern im Um ­<br />

gang mit einjährigen Kindern be ­<br />

fasst. Dafür baten wir Väter und<br />

Mütter, ihren Kindern im Forschungszentrum<br />

ein paar Dinge beizubringen<br />

(etwa auf dem Xylofon<br />

Klangstäbe treffen, auf Bauklötze<br />

verschiedener Formen einhämmern),<br />

und untersuchten, ob Väter<br />

und Mütter auf unterschiedliche<br />

Weise mit den Kindern interagieren.<br />

Wir fanden Väter, die aktivierende<br />

Verhaltensweisen zeigten, allerdings<br />

auch aktivierende Mütter.<br />

Im Rahmen unserer ersten Studie<br />

haben wir die Familien zu Hause<br />

beobachtet. Für die zweite Studie<br />

holten wir die Familien zu uns ins<br />

Forschungszentrum und gaben<br />

ihnen die Anweisung, dem Kind<br />

etwas beizubringen, das es alleine<br />

noch nicht kann. Es kommt eben auf<br />

den Kontext an. Vielleicht zeigen<br />

sich aktivierende Erziehungsweisen<br />

bei Vätern insbesondere dann, wenn<br />

sie spielerisch mit ihren Kindern<br />

raufen, was zu Hause eher der Fall<br />

sein könnte. Vielleicht praktizieren<br />

Mütter und Väter auf andere Art<br />

aktivierende Erziehungsweisen,<br />

wenn sie ihren Kindern etwas beibringen.<br />

Nun haben wir ein neues System<br />

entwickelt, um die aktivierenden<br />

Erziehungsweisen beider Eltern für<br />

die Lehraufgabe in der zweiten Studie<br />

zu messen. Derzeit werten wir<br />

Videos mit 191 Interaktionen zwischen<br />

einjährigen Kindern und<br />

ihren Vätern beziehungsweise Müttern<br />

aus. Wenn das zweite Kind<br />

dann 7 bis 10 Jahre alt ist, sprechen<br />

wir erneut mit den Familien – in<br />

einer Nacherhebung, die durch die<br />

Jacobs Foundation finanziert wird.<br />

Wir befragen Eltern und Kinder zu<br />

ihrer Beziehung zueinander, zu<br />

Konflikten mit Geschwistern, zu<br />

Sozialkompetenzen und zu emotionalen<br />

und verhaltensbezogenen<br />

Problemen der Kinder. Ausserdem<br />

untersuchen wir, ob die aktivierende<br />

Erziehungsweise in verschiedenen<br />

Kontexten nur von Vätern praktiziert<br />

wird und ob aktivierende<br />

Vaterschaft die gesunde kindliche<br />

Entwicklung langfristig beeinflusst.<br />

Also los, Väter, rauft mit euren<br />

Kindern! Das wird ihnen helfen,<br />

ihre Emotionen zu regulieren. Aber<br />

vergesst nicht, auf die Signale eurer<br />

Kinder zu achten.<br />

Anzeige<br />

Aktivierende Vaterschaft<br />

kann zu verbesserter<br />

Sozialkompetenz führen.<br />

Take-Home-Messages<br />

Aktivierende Vaterschaft hilft Kindern, zu lernen,<br />

ihre Emotionen zu regulieren.<br />

Spielerisches Raufen schadet Kindern nicht,<br />

solange die Eltern nicht zu grob werden.<br />

In bestimmten Kontexten, beispielsweise in<br />

Lehrsituationen, zeigen Mütter und Väter<br />

aktivierende Erziehungsweisen.<br />

Jacobs Foundation<br />

Als eine der weltweit führenden gemeinnützigen<br />

Stiftungen verpflichtet sich die Jacobs Foundation<br />

seit 25 Jahren der Forschungsförderung im Bereich<br />

der Kinder- und Jugendentwicklung. Die Stiftung<br />

möchte künftige Generationen durch die<br />

Verbesserung ihrer Entwicklungsmöglichkeiten<br />

nachhaltig unterstützen.<br />

Jetzt 20’000 Tickets<br />

für ein Museum Ihrer Wahl<br />

gewinnen!*<br />

Jetzt anmelden und mitmachen<br />

unter: www.famigros.ch/museum<br />

*Der Schweizer Museumspass feiert sein 20-Jahre-Jubiläum.<br />

Deshalb verlost Famigros 20’000 Museumseintritte.<br />

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29.8. bis 19.9.<strong>2016</strong>. Eintritte sind gültig vom 1.10.<strong>2016</strong> bis<br />

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Kolumne<br />

Smartphones haben auf der<br />

Familieninsel nichts zu suchen!<br />

Erziehungspädagoge Jesper Juul hat zum Umgang mit Smartphones und Tablets in Familien lange<br />

geschwiegen. Jetzt äussert er sich erstmals ausführlich und eindringlich zu diesem Thema. Und gibt<br />

konkrete Tipps, wie wir Mediennutzung so gestalten können, dass «die Herzen nicht verhungern».<br />

Jesper Juul<br />

ist Familientherapeut und Autor<br />

zahlreicher internationaler Bestseller<br />

zum Thema Erziehung und Familien.<br />

1948 in Dänemark geboren, fuhr er<br />

nach dem Schulabschluss zur See, war<br />

später Betonarbeiter, Tellerwäscher<br />

und Barkeeper. Nach der<br />

Lehrerausbildung arbeitete er als<br />

Heimerzieher und Sozialarbeiter<br />

und bildete sich in den Niederlanden<br />

und den USA bei Walter Kempler zum<br />

Familientherapeuten weiter. Seit 2012<br />

leidet Juul an einer Entzündung der<br />

Rückenmarksflüssigkeit und sitzt im<br />

Rollstuhl.<br />

Jesper Juul hat einen erwachsenen<br />

Sohn aus erster Ehe und ist in zweiter<br />

Ehe geschieden.<br />

Meine Inspiration<br />

für diesen Artikel<br />

war eine Umfrage<br />

des dänischen<br />

Fernsehens aus<br />

diesem Frühjahr, welche mit 1600<br />

13-Jährigen und einer vergleichbaren<br />

Gruppe von Eltern durchgeführt<br />

wurde. Wie viele andere Experten<br />

wurde auch ich von Hunderten von<br />

Eltern gefragt, wie sich die Benützung<br />

von Smartphones und Tablets<br />

auf die Sozialkompetenzen und die<br />

Hirnentwicklung von Kindern auswirkt.<br />

Weil Hirnforscher aus verschiedenen<br />

Ländern immer noch extrem<br />

verschiedene Resultate, Meinungen<br />

und Empfehlungen veröffentlichen,<br />

habe ich mich bis jetzt zurückgehalten.<br />

Die überwältigende Konstanz in<br />

den Gedanken und Erfahrungen<br />

dieser dänischen Jugendlichen und<br />

Eltern haben mich aber dazu veranlasst,<br />

diesen Artikel zu schreiben.<br />

Smartphones sind elektronische<br />

Familienmitglieder. Sie ziehen<br />

zu viel Aufmerksamkeit auf<br />

sich. Das ist ungesund.<br />

Die Umfrage kommt zum Schluss,<br />

dass eine Mehrheit der Schulkinder<br />

ihre Eltern vermisst und mehr ungestörte<br />

Zeit mit ihnen verbringen will.<br />

Die Umfrage wurde zur richtigen<br />

Zeit durchgeführt. Da wir bald an<br />

einem Punkt angekommen sind, an<br />

welchem es einer Mehrheit der jungen<br />

Erwachsenen nicht mehr möglich<br />

sein wird, die Familienerfahrung<br />

in der Zeit vor und nach der Einführung<br />

von Smartphones zu vergleichen.<br />

Aus verschiedenen Gründen hat<br />

sich eine Mehrheit der Erwachsenen<br />

selbst davon überzeugt, dass ihr<br />

Leben dem Takt von E-Mails, Nachrichten,<br />

Posts und Textmeldungen<br />

folgen muss, und Arbeitgeber,<br />

Freunde, Geschäftspartner scheinen<br />

glücklich in der Annahme, dass wir<br />

sieben Tage pro Woche während 24<br />

Stunden erreichbar sind. Dasselbe<br />

gilt sogar für sehr junge Kinder und<br />

deren soziales Netzwerk. Diese Faktoren<br />

stellen ein so schwerwiegendes<br />

Problem dar, dass wir unsere<br />

Denkweise ändern müssen.<br />

Beziehungen zwischen<br />

Erwachsenen: Wenn Zweisamkeit<br />

aufgegeben wird<br />

Vor zehn Jahren empfand die Mehrheit<br />

der Erwachsenen die Benützung<br />

von Mobiltelefonen während priva-<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

48 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


ten Besuchen, Treffen und Essen als<br />

störend. Heutzutage ist dies kaum<br />

mehr so. Und wenn, betrifft es vor<br />

allem junge Leute (unter 50), und<br />

diesen ist es peinlich, einen Kommentar<br />

dazu abzugeben, es sei einfach<br />

uncool und altmodisch.<br />

Heute verändern die «elektronischen<br />

Familienmitglieder» die Kultur<br />

von Familien auf eine Art und<br />

Weise, die ungesund ist für die auf<br />

Liebe basierende Beziehung zwischen<br />

Erwachsenen, Geschwistern,<br />

Eltern und Kindern.<br />

Jede tiefe Freundschaft braucht<br />

Kontinuität und ungestörte Zweisamkeit,<br />

um belastbar zu werden<br />

und all ihre potenziellen Nuancen<br />

und Stärken zu entwickeln – so wie<br />

Pflanzen Dünger brauchen. Dies ist<br />

nichts Neues. Wir wissen von Paaren,<br />

welche sieben oder mehr Jahre<br />

zusammengelebt haben, dass sie<br />

sich entfremdet, einsam, unglücklich<br />

und frustriert fühlen, wenn<br />

Zweisamkeit nur passiert, sobald es<br />

zu Problemen oder Krisen in der<br />

Familie kommt. Noch schlimmer ist<br />

es, wenn diese Notfallsitzungen gar<br />

nicht möglich oder viel zu kurz und<br />

nicht lösungsfokussiert sind. In diesem<br />

Stadium erleben beide Partner<br />

das Gefühl von Leere und fehlender<br />

Bedeutung. Wir funktionieren sehr<br />

gut, aber wir leben nicht, sagen sie.<br />

Es ist nicht so wichtig, was die<br />

fehlende Kontinuität und ungestörte<br />

Zweisamkeit verursacht. Bevor es<br />

Smartphones gab, konnten es der<br />

Fernseher, Arbeitsstress, Perfektionismus,<br />

Verpflichtungen ausserhalb<br />

der Kernfamilie, Hobbys usw. sein.<br />

All diese Faktoren – einschliesslich<br />

der Smartphones und Tablets<br />

– sind nicht die echten Gründe für<br />

den Verlust von Intimität und<br />

Bedeutung unserer tiefen Beziehungen.<br />

Der wirkliche Grund ist in<br />

unseren Köpfen, und das ist eine<br />

gute Neuigkeit, weil wir diese Situation,<br />

unabhängig von der Entscheidung<br />

anderer, selber ändern können.<br />

Das ist es auch, was viele Paare<br />

jeden Tag tun, wenn einer von beiden<br />

eine Krebsdiagnose erhält oder<br />

die Lebensweise auf irgendeine<br />

andere Art und Weise gefährdet ist.<br />

Wenn unser Leben vom Tod umgeben<br />

ist, lässt uns dies oft klügere<br />

Entscheidungen treffen.<br />

Eltern-Kind-Beziehungen:<br />

«Entschuldige, Schatz, ich muss<br />

da kurz rangehen!»<br />

Täglich und in den wenigen Stunden,<br />

welche Kinder mit ihren Eltern<br />

verbringen, passiert immer öfter<br />

Folgendes: Kinder möchten ihren<br />

Eltern eine Frage stellen, sie möchten<br />

ihnen etwas erzählen oder auf etwas<br />

antworten, was die Eltern gerade<br />

sagten, und die darauffolgende Antwort<br />

lautet: «Entschuldige, Schatz,<br />

da muss ich rangehen»; «Entschuldige,<br />

aber ich habe soeben eine<br />

Nachricht von der Arbeit erhalten,<br />

die ich beantworten muss. Es dauert<br />

nicht mal eine Minute, versprochen»;<br />

«Kannst du kurz eine Minute<br />

warten … ich muss …»; «Oh nein,<br />

ich habe vergessen, das Telefon auszuschalten,<br />

jetzt muss ich rangehen.»<br />

Auf kurzfristiger Basis frustriert<br />

dieses Verhalten die Kinder. Im<br />

Gegensatz dazu, was viele Erwachsene<br />

glauben, fühlen sich die Kinder<br />

aber nicht zurückgewiesen. Ein solches<br />

Gefühl gibt es nicht. Wenn<br />

Erwachsene sagen, dass sie sich<br />

zurückgewiesen fühlen, passiert<br />

dies, weil sie etwas fühlen, was sie in<br />

den Glauben versetzt, zurückgewiesen<br />

worden zu sein.<br />

Kinder verarbeiten ihre Emotionen<br />

nicht auf diese intellektuelle<br />

Weise. Wenn ihre Eltern sie zurückweisen,<br />

fühlen sie sich einfach traurig,<br />

enttäuscht, wütend. Was Kinder<br />

aber immer tun: Sie fangen an, sich<br />

der Verhaltensweise des Erwachsenen<br />

anzupassen. Zuerst treten sie<br />

zurück und hoffen, letztlich geben<br />

sie auf, hören auf, es zu probieren.<br />

Mit etwa drei Jahren fangen Kinder<br />

an, die Verhaltensweise der Erwachsenen<br />

zu kopieren, und fokussieren<br />

sich auf ihre eigenen Bildschirme –<br />

Tablets, TV, später Smartphones.<br />

Um der Natur menschlicher<br />

Beziehungen gerecht zu werden,<br />

braucht es gemeinsame Zeit.<br />

Ohne Smartphone.<br />

Die Eltern zu vermissen, obwohl sie<br />

da sind, hat weitreichende Folgen.<br />

Wenn Kinder sagen, dass sie ihre<br />

Eltern vermissen, ist dieses Gefühl<br />

ein Cocktail aus mehreren verschiedenen<br />

emotionalen Reaktionen und<br />

prägenden Erfahrungen.<br />

Ich fühle mich hilflos! Viele<br />

Geschichten und Emotionen, die sie<br />

mit ihren Eltern teilen möchten,<br />

können sie unter diesem Zeitdruck<br />

nicht ausdrücken. Und sie brauchen<br />

ein Gefühl von Sicherheit, Intimität,<br />

Diskretion und aktive, unterstützende<br />

Empathie. Auch wenn sie sich in<br />

diesem frühen Stadium hilflos fühlen,<br />

vertrauen sie immer noch darauf,<br />

dass es ihre Eltern am besten<br />

wissen, und folgen deren Führung.<br />

Ich bin verwirrt! Jedes Mal,<br />

wenn ein Elternteil den Kontakt<br />

zum Kind abbricht, sei es auch nur<br />

für eine oder zwei Minuten, schweifen<br />

die Köpfe der Kinder ab, und der<br />

Fluss des Bewusstseins wird gestört.<br />

Das Resultat: Das offenbar schlechte<br />

Kurzzeitgedächtnis der Kinder frustriert<br />

die Eltern, und sie schliessen<br />

daraus, dass es von Anfang an nicht<br />

wichtig war, was diese sagen wollten.<br />

«Sich verwirrt fühlen» entwickelt<br />

sich so zu «sich dumm fühlen».<br />

Ich kann dir nicht vertrauen!<br />

Das Kind macht die sehr präzise<br />

Beobachtung: «Etwas anderes ist<br />

meinen Eltern wichtiger als ich.»<br />

Das nimmt dem Kind sein wachsendes<br />

und verletzliches Selbstwertgefühl<br />

– und, ganz entscheidend und<br />

gefährlich, das Gefühl, wertvoll für<br />

das Leben der Eltern zu sein. Ganz<br />

gleich, wie oft ein Elternteil «Ich liebe<br />

dich» wiederholt, sich entschuldigt<br />

und romantische Ver­ >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>49


Kolumne<br />

>>> sprechungen für die Zukunft<br />

macht: Der Schaden ist schon entstanden.<br />

In den frühen Jahren entscheiden<br />

sich Kinder dafür, den<br />

Worten ihrer Eltern zu glauben. Dies<br />

führt sie irgendwann zu einem<br />

Punkt, an welchem sie beginnen,<br />

ihre eigenen Gefühle anzuzweifeln.<br />

Ein weiterer grosser Teil ihres Selbstwertgefühls<br />

geht damit verloren.<br />

Ich bin einsam! In ihrem Lernprozess<br />

fühlen sich Kinder jedesmal<br />

einsam, wenn Eltern sich dafür entscheiden,<br />

ihre Smartphones zu priorisieren.<br />

Die meistverbreitete Auswirkung<br />

für Kinder vor der Pubertät<br />

ist ein genereller Verlust von Vertrauen<br />

und die Hoffnung, dass<br />

irgendein Erwachsener sich Zeit<br />

nehmen wird, um ihnen zuzuhören.<br />

Sobald die Pubertät einsetzt, werden<br />

sich diese Kinder generell vom<br />

Familienleben zurückziehen und<br />

sich Nähe, Wertschätzung und Verständnis<br />

anderswo suchen, zum Beispiel<br />

auf Internet-Plattformen.<br />

Junge Erwachsene: Fehldiagnose<br />

Depression<br />

Psychologen und Berater, welche mit<br />

Oberstufenschülern, Studierenden<br />

und anderen Gruppen von jungen<br />

Leuten zwischen 16 und 25 Jahren<br />

arbeiten, berichten von einer rasch<br />

wachsenden Zahl von Klienten, die<br />

einsam, depressiv sind, unter Angst<br />

leiden, eine soziale Phobie haben<br />

Im Alter von drei Jahren<br />

beginnen Kinder das Verhalten<br />

von Erwachsenen zu kopieren.<br />

und selbstzerstörerisch handeln.<br />

Generell sprechen diese von einem<br />

Gefühl von Entfremdung von ihren<br />

Eltern, seit sie sehr jung waren. Diese<br />

Isolation hat sie der Möglichkeit<br />

beraubt, zu fühlen und auszudrücken,<br />

was in ihrer Seele vor sich geht.<br />

Wir sind bereits an einem Punkt<br />

angelangt, an dem viele dieser jungen<br />

Leute selber Eltern werden und<br />

höchstwahrscheinlich diese Schwierigkeiten<br />

ihren Kindern weitergeben<br />

werden, was zu einem erschreckenden<br />

Anstieg von Kindern und Er ­<br />

wachsenen mit schwerwiegenden<br />

psychischen Erkrankungen führen<br />

wird.<br />

Die Natur menschlicher<br />

Beziehungen braucht viel Zeit<br />

Die etymologische Herkunft des<br />

englischen Verbs relate (auf Deutsch:<br />

erzählen, berichten) ist: sich selber<br />

dem anderen erzählen. Eine persönliche<br />

Beziehung (engl. relation ship)<br />

ist ein Weg des Zusammenseins, auf<br />

welchem wir unsere Geanken, unsere<br />

Geschichte, Gefühle, Erfahrungen<br />

und Träume teilen; hier und jetzt.<br />

Es liegt in der Natur von Beziehungen,<br />

dass sie wie ein Pendel zwischen<br />

Nähe, Verschmelzung und<br />

Trennung hin- und herschwanken.<br />

Wenn unser Bedürfnis nach Nähe<br />

befriedigt ist, tritt das Gefühl auf,<br />

Distanz zu brauchen, und wenn dieses<br />

Gefühl wiederum befriedigt<br />

wurde, braucht man wieder Nähe<br />

usw. Unser Leben als Partner und<br />

Familienmitglied wäre ohne Zweifel<br />

einfacher, wenn unsere Bedürfnisse<br />

zeitlich abgestimmt wären. Aber sie<br />

sind es nicht.<br />

Einer der besten Wege, um die<br />

eigene innere Uhr zu erleben, ist ein<br />

dreiwöchiger Familienurlaub mit<br />

keinerlei Planung im Vorfeld. Die<br />

Planung für den jeweiligen Tag wird<br />

erst am Morgen gemacht, und es<br />

sollte Tage geben, an denen gar<br />

nichts geplant wird. Das Geheimnis<br />

und die heilende Zutat hierbei sind,<br />

zusammen und frei zu sein, um der<br />

inneren Uhr zu folgen.<br />

Ein solches Erlebnis macht es<br />

Erwachsenen und Schulkindern<br />

leichter, sich an die unnatürlicheren<br />

Rhythmen des Alltags anzupassen.<br />

Zusätzlich wissen wir inzwischen,<br />

dass unser Gefühl von Einsamkeit<br />

nicht von anderen, sondern von<br />

unserer eigenen Le bens weise verursacht<br />

wird.<br />

Um der Natur menschlicher Beziehungen<br />

gerecht zu werden, braucht<br />

es gemeinsame Zeit. Familieninseln<br />

sozusagen. Ohne Smartphones.<br />

Emotionale und intellektuelle<br />

Intimität braucht häufig zwei bis<br />

drei Stunden des Zusammenseins,<br />

um zu wachsen und zu erblühen.<br />

Dieser Aspekt einer Beziehung<br />

braucht die Art von Stille und Leere,<br />

in welcher auf das Einander-aufden-neusten-Stand-Bringen<br />

ein<br />

angenehmes Schweigen folgt. An<br />

diesem Punkt hören wir uns selber<br />

Dinge sagen, die wir nie zuvor gesagt<br />

haben oder von denen wir nicht mal<br />

gewusst haben, dass wir sie denken.<br />

Dies geschieht in der Beziehung zu<br />

unseren Kindern (einzeln) und kreiert<br />

oft neue Einblicke und wunderbare<br />

neue Entwicklungen.<br />

Die heutige Lebensweise macht<br />

es der Natur von Beziehungen ex ­<br />

trem schwierig, sich zu entfalten<br />

und zu gedeihen. Jedoch können wir<br />

uns Inseln des Zusammenseins<br />

er schaffen, auf welchen es uns möglich<br />

ist, unsere Beziehungen neu zu<br />

starten, vorausgesetzt, dass wir<br />

unsere Smartphones nicht auf die<br />

Insel mitbringen. Wenn wir das tun,<br />

wird unsere Familie zu einem Archipel<br />

von separaten Inseln mit nicht<br />

mehr als elektronischer Kommunikation.<br />

Damit Beziehungen sich von Verblendung<br />

zu bedeutender Nähe entwickeln,<br />

müssen wir so viel Zeit wie<br />

möglich von Angesicht zu Angesicht<br />

miteinander verbringen. Wir müssen<br />

nicht sitzen und reden, damit<br />

dies geschieht, aber zusammen spielen<br />

und arbeiten, tanzen und uns<br />

zusammen bewegen, kuscheln und<br />

Liebe machen, weinen und trösten,<br />

kochen und zusammen essen, uns<br />

mit dem Musikgeschmack des an ­<br />

dern vertraut machen, brauchen<br />

Kunst, Märchen und die Möglichkeit,<br />

allein zu sein. Das ist der<br />

Hauptgrund, warum so wenige<br />

Fernbeziehungen überleben und<br />

warum jede Woche das zu Hause zu<br />

wechseln so schwierig ist für Kinder.<br />

50 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Für kurze Momente haben wir<br />

gehofft, dass E-Mail, Chat und<br />

Skype die physische Distanz zu kompensieren<br />

vermögen, aber das können<br />

sie nicht. Sie sind wertvolle<br />

Arbeitsinstrumente, aber für Beziehungen<br />

zu Menschen, die wir lieben<br />

und auf die wir uns verlassen, sind<br />

sie ein schlechter Ersatz. Es gibt<br />

einen Grund, warum wir unseren<br />

Kopf auf der Brust des anderen ausruhen<br />

– das Geräusch und Gefühl<br />

des Herzens der anderen Person ist<br />

die ultimative Erfahrung, dass man<br />

nicht alleine ist. Wir können unsere<br />

Smartphones benützen, um den<br />

Herzschlag eines anderen aufzuzeichnen<br />

und ihn abzuhören; das ist<br />

tröstlich – vor allem für Babys –, aber<br />

in keinster Weise so gut wie der echte<br />

Herzschlag.<br />

Wir müssen unsere Lebensweise<br />

ändern<br />

Während der letzten Jahre hat es in<br />

mehreren Ländern Experimente<br />

gegeben, in denen Kindern verboten<br />

wurde, ihre Smartphones in der<br />

Schule zu benützen. Familien haben<br />

probiert, für eine Woche oder einen<br />

Monat komplett ohne Smartphone<br />

zu leben. Die positiven Rückmeldungen<br />

aller Altersgruppen waren<br />

überwältigend.<br />

Die Lernkurven in der Schule<br />

zeigten nach oben, und beide, Eltern<br />

und Kinder, waren begeistert und<br />

kamen schnell auf den Geschmack<br />

bezüglich all der Dinge, die sie<br />

zusammen machen konnten. Diese<br />

Erfahrungen und das wachsende<br />

Bewusstsein, dass unser Tempo und<br />

unsere Prioritäten uns nicht guttun,<br />

geben mir die Hoffnung, dass eine<br />

massive Änderung der Lebensweise<br />

möglich ist.<br />

Natürlich muss jede Familie ihre<br />

eigene Kultur und ihre Regeln kreieren,<br />

aber bitte beachten Sie, dass<br />

es bei diesem Projekt nicht darum<br />

geht, die Kinder vor möglichen<br />

Hirnschäden zu schützen, es geht<br />

darum, eine bessere Qualität des<br />

Familienlebens zu erreichen, Nähe<br />

und Intimität. Es geht darum, uns<br />

selber für unsere Nächsten zugänglich<br />

und verfügbar zu machen, während<br />

wir für den Rest der Welt nicht<br />

erreichbar sind.<br />

Warten Sie nicht auf einen neuen<br />

Trend, der aus unserem Elend heraus<br />

entsteht – verschwören Sie sich<br />

mit Ihren Kindern und anderen<br />

Familien in Ihrer Umgebung und<br />

entscheiden Sie sich für ein zweiwöchiges<br />

Experiment. Nehmen Sie<br />

nach zwei Wochen eine Beurteilung<br />

vor, machen Sie gewisse Anpassungen,<br />

falls dies nötig sein sollte, und<br />

informieren Sie alle darüber, dass<br />

drei Monate die minimale Testphase<br />

sind. Teilen Sie Ihre Erfahrungen auf<br />

Facebook oder anderen sozialen<br />

Netzwerken und helfen Sie, eine<br />

anhaltende Bewegung zu schaffen.<br />

Dies sind meine Empfehlungen<br />

Das gesamte Morgenritual ist telefonfreie<br />

Zone, und die gleichen<br />

Regeln gelten für die Zeit von<br />

einer halben Stunde vor dem<br />

Abendessen bis zur Schlafenszeit<br />

der Kinder. Basteln Sie eine originelle<br />

Schachtel im Eingangsbereich,<br />

wo jeder sein Telefon während<br />

der telefonfreien Zeit deponieren<br />

und aufladen muss.<br />

Alle Telefone werden von der<br />

Schlafenszeit bis zum Weg zur<br />

Arbeit oder zur Schule am nächsten<br />

Tag ausgeschaltet.<br />

Alle Mahlzeiten sind telefonfreie<br />

Zone, dies gilt auch für Mahlzeiten<br />

in Restaurants und für die Wartezeit,<br />

bevor das Essen serviert wird.<br />

Diese Minuten sind perfekt für die<br />

Bildung von Kontakt und Nähe<br />

nach einer Zeit des Getrenntseins.<br />

Wenn Sie es erlauben, dass Telefone<br />

und Tablets während der Wartezeiten<br />

genutzt werden, lautet die<br />

Mitteilung: Wir haben uns nur<br />

versammelt, um zu essen und<br />

unsere Körper mit Nährstoffen zu<br />

füllen, nicht aber unsere Herzen<br />

und Seelen.<br />

Eltern und Paare können spezifische<br />

Fenster vereinbaren, in welchen<br />

Smartphones und Tablets<br />

benützt werden können. Diese<br />

müssen aber mindestens ausgeschaltet<br />

sein, wenn Mahlzeiten<br />

und Bett geteilt werden, im Kino,<br />

Ausgang usw.<br />

Vereinbaren Sie telefonfreie<br />

Zonen. Am Morgen. Auf dem<br />

Weg zur Schule. Beim Essen.<br />

Stellen Sie sicher, Ihre Freunde,<br />

Familie, Kollegen und Arbeitgeber<br />

darüber zu informieren, dass Sie<br />

nicht länger jederzeit erreichbar<br />

sind, und helfen Sie den Kindern<br />

falls nötig, das Gleiche zu tun.<br />

Dank der Berichte von Familien, die<br />

Ähnliches schon getan haben, wissen<br />

wir, wie wichtig es ist, dass Eltern die<br />

Planung und Führung für das Experiment<br />

übernehmen, speziell in den<br />

ersten drei Monaten. Nach zwei bis<br />

drei Monaten werden die Kinder die<br />

überzeugtesten Agenten und inspirieren<br />

ihre Freunde oft dazu, die<br />

elektronischen Karten in deren<br />

Familien neu zu mischen.<br />

In manchen Schulen, in welchen<br />

ein striktes Smartphone-Verbot<br />

herrschte, sahen die Kinder die vielen<br />

Vorteile, schlugen jedoch vor,<br />

dass sie während der grossen Mittagspause<br />

den Zugang zu ihren<br />

Smartphones erhielten, um innerhalb<br />

der sozialen Netzwerke Schritt<br />

zu halten. Als die Schulen sich damit<br />

einverstanden erklärten, wurde der<br />

Unterschied zwischen Telefonzeit<br />

und Lernzeit für die Kinder sogar<br />

noch plausibler.<br />

>>><br />

Die Kolumnen von Jesper Juul entstehen<br />

in Zusammenarbeit mit<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>51


Stiftung Elternsein<br />

Bilder, die das Unvorstellbare<br />

Wirklichkeit werden lassen<br />

Ellen Ringier über terroristische Gewalt- und Propagandavideos.<br />

Dr. Ellen Ringier präsidiert<br />

die Stiftung Elternsein.<br />

Sie ist Mutter zweier Töchter.<br />

«Oh nein, nicht schon wieder», hörte<br />

ich jemanden am unteren Teil des<br />

Tisches sagen. Zu spät, die Burka-Diskussion<br />

war in vollem Gange.<br />

Das ist nicht das Frauenbild, das wir<br />

wollen! Vollverschleierung verstösst<br />

gegen das Vermummungsgesetz! Aber<br />

wo bleibt dabei die Religionsfreiheit?<br />

Unglaublich, wie viele Meinungen<br />

acht Menschen haben können. «Burka<br />

(Ganzkörperschleier, verhülltes Gesicht) und Niqab<br />

(die Augen sind nicht verhüllt) sind nicht das Gleiche»,<br />

warf ich ein. «Was genau meint ihr eigentlich?»<br />

«Beides» war die einhellige Meinung!<br />

Um was geht es hier überhaupt? Haben verschleierte<br />

Frauen etwa einen der unzähligen mörderischen<br />

Terroranschläge verübt?<br />

Mir geht es um etwas ganz anderes! Mir geht es um<br />

das Bild, das sich unsere Jungen machen: Ich möchte<br />

nicht, dass meine beiden kleinen Enkel und alle anderen<br />

Kinder und Jugendlichen mit der Vorstellung aufwachsen,<br />

dass Frauen in der Öffentlichkeit anonyme<br />

Wesen ohne Identität sein sollen!<br />

Aber meine grösste Sorge gilt den Terrorakten und<br />

denjenigen, die den Terror als religiöse «Lehrer»<br />

systematisch in unsere Welt hineintragen. Hier wäre<br />

der Staat wohl dringender gefragt als in der Burka-<br />

Frage …<br />

Ich bin noch nie ein Fan von kriegerischen Kinderspielzeugen<br />

gewesen und lasse (ehrlich gesagt) gerade<br />

die Wasserpistole gelten. Ich bin überzeugt, dass der<br />

Konsum von Horrorvideos und kriegerischen Spielkonsolen<br />

Kinder zu verrohen vermag.<br />

Klar, Kinder und Jugendliche wollen und müssen<br />

sich messen können. Sollen sie doch einen Kampfsport<br />

wie Fechten, Schwingen, Karate oder Jiu-Jitsu<br />

lernen. Dann lernen sie Selbstvertrauen und Selbstverteidigung<br />

innerhalb von Regeln und Fairness. Das<br />

Manipulieren eines Joysticks mit dem Ziel, so viele<br />

Menschen wie möglich zu töten, unterliegt diesen<br />

Spielregeln nicht! Kein Wunder, dass immer wieder<br />

Gewaltverbrechen von Jugendlichen geschehen, die<br />

die Wirklichkeit mit dem vermeintlich harmlosen<br />

Spiel verwechseln.<br />

Was mir aber die allergrössten Sorgen macht, sind<br />

die Terrorbilder und -videos! Sie verletzten uns alle<br />

seelisch, die Kleinen mehr als die Grossen. Als ich das<br />

erste Mal eine Enthauptung in Echtzeit sah, hat sich<br />

etwas in mir verändert.<br />

Eine weitere Möglichkeit menschlichen Handelns,<br />

die mir bislang lediglich aus Märchen oder historischen<br />

Filmen (musste da schon immer wegschauen)<br />

bekannt war, hat durch das Sehen in Echtzeit eine<br />

konkrete Dimension erfahren. Mir wurde bewusst,<br />

dass auch so unglaublich unmenschliche Handlungen<br />

von nun an für uns alle zum Vorstellbaren, zum<br />

Denkbaren und in der Folge zum Handlungsspielraum<br />

von Menschen gehören! Es erstaunt mich daher<br />

nicht, dass Terroristen genauso wie psychisch kranke<br />

oder zumindest hochgradig labile Menschen nun auch<br />

von dieser Handlung im Sinne von Nachahmung<br />

Gebrauch machen.<br />

Jugendliche sollen keine Terrorfilme, seien es jihadistische<br />

Propaganda- oder andere terroristische Filme,<br />

sehen können! Hinrichtungen oder Steinigungen<br />

dürfen nicht im Internet, TV, auf Videos oder Play-<br />

Games verfügbar sein! Daher begrüsse ich die Initiative<br />

der Bundespolizei, Gewaltvideos auf allen Internetforen<br />

löschen zu wollen.<br />

Ob ich für ein Burka-Verbot bin oder nicht, habe<br />

ich jedoch noch nicht entschieden …<br />

STIFTUNG ELTERNSEIN<br />

«Eltern werden ist nicht schwer,<br />

Eltern sein dagegen sehr.» Frei nach Wilhelm Busch<br />

Oft fühlen sich Eltern alleingelassen in ihren Unsicherheiten,<br />

Fragen, Sorgen. Hier setzt die Stiftung Elternsein an. Sie<br />

richtet sich an Eltern von schulpflichtigen Kindern und<br />

Jugendlichen. Sie fördert den Dialog zwischen Eltern,<br />

Kindern, Lehrern und die Vernetzung der eltern- und<br />

erziehungsrelevanten Organisationen in der deutschsprachigen<br />

Schweiz. Die Stiftung Elternsein gibt das Schweizer<br />

ElternMagazin Fritz+Fränzi heraus. www.elternsein.ch<br />

Bild: Vera Hartmann / 13 Photo<br />

52 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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32<br />

He r Weiler, ihre Tochter ist 17 Jahre<br />

alt. Ist es vorbei mit der Pubertät?<br />

Oh Go t. Dauert diese Zeit so lange?<br />

Aber es wird be ser?<br />

N e! Carla wird 18 im September,<br />

Ja. Also bei den Jungs, bi sie 2 sind.<br />

Monatsinterview<br />

Gespräch ein bi schen leiser und<br />

bereit. Aber es gibt schon auch noch<br />

echt pubertäre Themen. Das geht los<br />

bei der Hygiene und wie man in so<br />

einem Zimmer eigentlich haust. Ich<br />

finde ja nicht so to l, we n da vergammelte<br />

La te-Ma chiato-Gläser<br />

und halbl ere Saftflaschen rumste-<br />

Ihr Sohn ist 13. Sie haben zwei<br />

Pubertiere. Wie überlebt man das?<br />

Naja, das ist keine Heldentat. Es gibt<br />

ja Leute, die haben fünf Kinder!<br />

Computerzeit gestrichen, ohne<br />

insbesondere da es ein Junge ist. Die<br />

nicht. Er macht mehr mit sich selber<br />

aus, treibt viel Sport. Bei meiner<br />

Pubertier wirklich tre fen kann:<br />

durch den Garten: «Was für eine<br />

Bei meiner Tochter werden die<br />

sie ist zu mehr Zugeständni sen<br />

in der es darum geht, da s Carla<br />

Haben Sie je ein Ratgeberbuch<br />

gekauft?<br />

ganz grossen Disku sionen gibts da<br />

aber wir sind immer noch dabei. Tochter war es ganz anders. was wirklich hilft und wie man ein<br />

Habe ich gehört. So schne l geht das Nein, nie. Wir sind keine Ratgeberke<br />

Bier aus der Flache und rufe quer<br />

also nicht.<br />

«Jedes Kind ka n schlafen lernen».<br />

eltern. Wir haben nur das eine Buch<br />

«Hygiene ist<br />

Sie sagen von sich, ein fürchterlich<br />

inkonsequenter Vater zu sein.<br />

anderntags für die Schul einen Vor-<br />

Zeile geschrieben hat. Das tut da n<br />

hen. Aber im Gro sen und Ganzen<br />

wird es a lmählich angenehmer.<br />

im S al.<br />

Ja, total. Ich bin a lerdings ein Meisgen<br />

und für mehrere Tausend Jahre<br />

Beim zweiten Kind ist es einfacher,<br />

damit eine Wirkung zu erzielen. mit einem Zertifikat als ><br />

ter im Androhen. Ich habe bestimmt<br />

schon Taschengeld bis 2<strong>09</strong>8 entzo-<br />

Drohen und Strafen funktionieren<br />

bei Pubertierenden nicht.<br />

Nein. Aber ich hab herausgefunden,<br />

Besuche die Party der Freunde, trin-<br />

fetzige Sause hier!» – und das Pubertier<br />

wird sich vor Scham jaulend in<br />

sich selbst zurückziehen.<br />

Abends an der Lesung imitiert Weiler<br />

eine Konversation mit seiner Tochter,<br />

trag machen mü ste, aber noch keine<br />

der Vater (also Weiler). Das Publikum<br />

brü lt. Auch die vielen T enager<br />

Manche Eltern halten Sie für einen<br />

zweiten Jesper J ul.<br />

Ich wei s auch nicht, warum. Es gibt<br />

ja keinen Ausbildungsweg für Eltern<br />

Der Sohn muffig,<br />

die Tochter<br />

zickig: Autor Jan<br />

Weiler schreibt<br />

über den A ltag<br />

mit T enies.<br />

3<br />

Leserbriefe<br />

«Wünsche mir vorbildlichere Erwachsene»<br />

«Das hat mich<br />

schockiert»<br />

(Monatsinterview, Heft 6/7 / 16)<br />

« Loslassen macht mich<br />

furchtbar sentimental»<br />

Der Bestse lerautor Jan Weiler («Das Pubertier») ist Vater zweier Teenager und<br />

somit bestens erprobt in Sachen Chaos, Pickeln und Hormonen. Jetzt hat er<br />

ein zweites Buch über Dressurversuche mit stö rischen Halbwüchsigen<br />

geschrieben. Wir trafen ihn in Hamburg. Interview: Claudia Landolt Bilder: Thomas Schweigert / 13 Photo<br />

bei Pubertieren ein<br />

grosses Thema.»<br />

Eine Passage im Interview mit Jan Weiler hat mich schockiert:<br />

«Tatsächlich kam sie [Carla, Tochter des Interviewten] mal von<br />

einer Party zurück und erzählte am nächsten Tag, es sei ein<br />

Mädchen dort gewesen, das so besoffen war, dass die Jungs<br />

begonnen hätten, sie auszuziehen, mit wasserfesten Stiften<br />

anzumalen und Fotos davon zu machen. Dann sagte sie zu<br />

mir: ‹Das werdet ihr bei mir nie erleben, Papa. Ich guck immer,<br />

dass ich die Kontrolle behalte.›»<br />

Kontrolle mag gut sein, Solidarität wäre besser: Die Tochter<br />

scheint nicht auf den Gedanken zu kommen, dem betrunkenen<br />

Mädchen gegen das übergriffige Verhalten beizustehen,<br />

der Vater thematisiert es zumindest im Interview nicht und<br />

weist auch nicht darauf hin, dass Hilfe oder Solidarität<br />

angebracht gewesen wäre.<br />

Für meine Tochter, 11, und meinen Sohn, 8, wünsche ich mir<br />

einen anderen Umgang Jugendlicher untereinander – und ein<br />

vorbildlicheres Verhalten der Erwachsenen. Nur dafür zu<br />

sorgen, dass die Zuhörer/Leser «brüllen vor Lachen» und dass<br />

die eigenen Kinder die Kontrolle behalten, reicht für eine<br />

funktionierende Gesellschaft nicht aus.<br />

Jan Weiler hat in mir eine potenzielle Leserin verloren.<br />

Anne Rüsing (per Mail)<br />

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54 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

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ottos.ch


Do sier<br />

Do sier<br />

«Grossartig!»<br />

(Dossier «Lasst uns<br />

spielen», Heft 08/16)<br />

Ab in den Wald!<br />

Musikstunden, Sportkurse, Spielnachmi tage: Dieses Programm<br />

ist in vielen Familien A ltag. Neuste Forschungen zeigen, dass<br />

organisierte Aktivitäten das kindliche Gehirn eher negativ belasten.<br />

Experten fordern deshalb die Rückkehr zum freien kindlichen<br />

Spiel – am besten in der Natur. Text: Claudia Landolt Bilder: Gabi Vogt / 13 Photo<br />

12 August <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi August <strong>2016</strong> 13<br />

Grossartig, dieser erfrischende und ermutigende Text!<br />

Das Verplanen der Freizeit mit Aktivitäten aller Art ist<br />

für ganze Familien ein Stress. Allerdings gibt es heute<br />

eine Gefahr, die das geplante Lenken der Freizeit noch<br />

übertrifft: der ungehemmte Dauerkonsum von<br />

elektronischen Botschaften bei Jugendlichen,<br />

manchmal auch schon bei jüngeren Kindern. Bei<br />

Kindern bis zur Unterstufe sollte dies aber noch nicht<br />

das grosse Thema sein.<br />

Die Schule selber ist leider nicht frei von der<br />

Vorstellung, man könnte das Lernen bestimmter<br />

Kompetenzen verpassen, wenn nicht möglichst früh<br />

mit gezieltem Lernen begonnen würde. Da müssten die<br />

Lehrerinnen und Lehrer mit pädagogischer Vernunft<br />

entgegenwirken. Die Gesellschaft ist dazu nur bedingt<br />

imstande, da ein immenser Druck aufgebaut wurde.<br />

Hanspeter (via Facebook fritzundfraenzi.ch)<br />

Ein wichtiger Beitrag an unsere Gesellschaft<br />

Sehr geehrte Frau Ringier<br />

Mit Ihrer Stiftung Elternsein leisten Sie einen grossen und wichtigen<br />

Beitrag an unsere Gesellschaft. Dieses Engagement schätze ich<br />

persönlich jeweils sehr, wenn ich meine Tochter beim Tanzen abhole,<br />

dort beim Warten spannende Artikel im Fritz+Fränzi lese und mich mit<br />

anderen Eltern über die Inhalte austausche.<br />

Auch Ihnen und der Stiftung Elternsein wünsche ich alles Gute und<br />

weiterhin viel Erfolg!<br />

Aline Feichtinger (per Mail)<br />

Schreiben Sie uns!<br />

Ihre Meinung ist uns wichtig! Was machen wir gut?<br />

Was könnten wir besser machen? Lassen Sie es uns<br />

wissen! Sie erreichen uns über: leserbriefe@fritzundfraenzi.ch<br />

oder Redaktion Fritz+Fränzi, Dufourstrasse 97, 8008 Zürich.<br />

Und natürlich auch über Twitter: @fritzundfraenzi oder<br />

Facebook: www.facebook.com/fritzundfraenzi.<br />

Kürzungen behält sich die Redaktion vor.<br />

brandinghouse<br />

Für Volg -Produkte lässt man gerne<br />

mal eine Masche fallen.<br />

«Wir<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

stricken aus Tradition. Der Schwatz im<br />

Volg gehört in unserem Dorf dazu.»<br />

Strickerin Margrit Obrist, Kundin im Volg Sulz (AG)<br />

Vor sechs Jahren hat Margrit Obrist angefangen,<br />

in Sulz eine alte Tradition wiederzubeleben:<br />

Sie strickt, zusammen mit weiteren<br />

Frauen aus dem Dorf, regelmässig auf<br />

alten Strickmaschinen – von klassischen<br />

Socken bis hin zu Weihnachtskugeln.<br />

Verkauft werden die Artikel auf Märkten<br />

oder an Präsentationen. «Schon früher<br />

haben die Frauen in Sulz vor allem gestrickt,<br />

um sich etwas dazuzuverdienen. Die<br />

Männer haben Nägel für Militär- und Bergschuhe<br />

hergestellt», erklärt Margrit Obrist.<br />

Die Strickerinnen haben damals zum Glück<br />

jemanden gefunden, der die alten Maschinen<br />

wieder auf Vordermann brachte, nachdem<br />

sie jahrelang herumgestanden sind.<br />

Auch wie man sie bedient, wurde ihnen<br />

gezeigt. «Das wäre sonst wohl nichts geworden»,<br />

meint sie lachend.<br />

Volg. Im Dorf daheim.<br />

In Sulz zuhause.<br />

Auf dem «Cheisacher» steht<br />

seit 2010 der gleichnamige<br />

Turm. Er bietet eine gross artige<br />

Aussicht über die malerische<br />

Juralandschaft.<br />

In jedem<br />

Volg sind<br />

andere «Feins<br />

vom Dorf»-<br />

Spezialitäten<br />

erhältlich.<br />

Im Volg Sulz z.B. gibt’s den<br />

spritzigen «Blanc de Noir».<br />

September <strong>2016</strong>55


Kolumne<br />

Begegnung mit der<br />

Michèle Binswanger<br />

Die studierte Philosophin ist Journalistin<br />

und Buchautorin. Sie schreibt zu<br />

Gesellschaftsthemen, ist Mutter zweier<br />

Kinder und lebt in Basel.<br />

Und plötzlich war der Bub einen Kopf grösser<br />

und fünf Kilo schwerer, von einem Moment<br />

auf den anderen, so schien es. Als die Kinder<br />

noch klein waren, passierte das dauernd. Da<br />

ging ich manchmal morgens zur Arbeit und<br />

wenn ich abends heimkam, sah der Sohn ganz anders aus<br />

und ich dachte, als arbeitende Mutter verpasse ich so viel.<br />

Aber dann kamen die Kinder ins Schulalter, alles wurde<br />

strukturierter und regelmässiger. Kontinuierliche Entwicklung<br />

statt Sprünge, begleitet von umsichtigen Primarlehrerinnen,<br />

die mich lückenlos über seine Fortschritte und<br />

Defizite informierten. Ich focht derweil die klassischen<br />

Kämpfe zu Hause aus: Kämm dich, bevor du aus dem Haus<br />

gehst, räum dein Zimmer auf, leg dein Smartphone weg,<br />

wer hat die Kekse fertig gegessen und die Schachtel nicht<br />

fortgeworfen? Ich weiss nicht, wie viele Synapsen mir<br />

durchgebrannt sind, während ich das in verschiedenen<br />

Dezibelstärken einforderte. Aber ich weiss, dass ich den<br />

Tag herbeisehnte, dass er es endlich begreift.<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren


inneren Glucke<br />

Vielleicht sind mir auch zu viele Synapsen durchgebrannt, digkeit meiner Kinder. Ich freute mich auf den Tag, da sie<br />

denn irgendwo muss ich etwas verpasst haben. Nun ist auf eigenen Beinen stehen und ihren eigenen Weg suchen<br />

nämlich alles anders. In diesen Sommerferien brachte ich würden. Auf die Freiheit, die ich dadurch zurück gewinnen<br />

meinem Zwölfjährigen bei, sich selbst ein Spiegelei zu würde. Aber jetzt entdecke ich eine neue Mutter in mir.<br />

braten, was bislang an seinem Desinteresse gescheitert war. Eine, die ich nicht kannte und die verdächtig einer<br />

Ich liess ihn alleine längere Zugstrecken fahren – mit Glucke ähnelt. Sie möchte ihre Fittiche über ihr jüngstes<br />

Umsteigen. Nach anfänglichem Zögern erfüllte ihn das mit Kind breiten und es am liebsten bei sich behalten. Sie denkt<br />

Stolz. Er sagte mir: «Ich habe nun die Vorteile der<br />

nicht mehr an ihre eigenen Freiheiten, sondern an das leere<br />

Unabhängigkeit entdeckt.» Und seither ist alles anders. Nest, das irgendwann zurückbleiben wird.<br />

Er macht seine Hausaufgaben, wenn ich ihn darum bitte. Ich kenne solche Glucken und was sie anrichten können.<br />

Er übt Gitarre, ohne dass ich ihn dazu auffordere, er kämmt Mein Vater, auch ein jüngster Sohn, erzählte mir von<br />

sich nicht nur, er frisiert sich sogar. Er zieht nicht nur seine seinen Befreiungskämpfen und wie schwierig das war. Das<br />

Hosen richtig an, er zieht überhaupt nur noch jene<br />

will ich meinem Sohn nicht aufbürden. Aber bis dahin werde<br />

Hosen an, die seinem neu entdeckten Stilempfinden<br />

ich die Glucke in mir noch etwas pflegen. Ich werde sie<br />

genügen. Ist das noch mein Sohn? Oh ja! Aber mir macht Spiegeleier braten lassen und auf gemeinsame Zugreisen<br />

das fast ein bisschen Angst, darum frage ich mich: Bin ich schicken mit dem Sohn. Bis er so weit ist, dann werde ich<br />

noch die Mutter, die ich war?<br />

ihn freilassen und die Glucke zu einem schönen Brathähnchen<br />

Eigentlich dachte ich auch immer, loslassen falle mir<br />

verarbeiten. Vielleicht kommt der Sohn ja zum<br />

Fritz & leicht. Fränzi Ich | deutsch begrüsste | TCS-Club jedes neu erworbene > Familie | Stück Format Selbstän­<br />

210 x 141 mm Essen. | DU Verlag: 18.04.<strong>2016</strong> | Erscheinung: 04.05.<strong>2016</strong><br />

Auch für Familien<br />

lohnt sich der TCS.<br />

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günstigen Familienausflügen profitieren.<br />

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Ab CHF 32.– *<br />

* Jährlicher Beitrag für Mitgliedschaft ohne Pannendienst.


Elterncoaching<br />

Gruppendruck – mein Kind<br />

kann nicht Nein sagen<br />

Eltern dürfen ihre Kinder nicht unter Druck setzen, sondern Ihnen helfen,<br />

auf ihre innere Stimme zu hören.<br />

Fabian Grolimund<br />

ist Psychologe und Autor («Mit<br />

Kindern lernen»). In der Rubrik<br />

«Elterncoaching» beantwortet<br />

er Fragen aus dem Familienalltag.<br />

Der 36-Jährige ist verheiratet<br />

und Vater eines Sohnes, 4,<br />

und einer Tochter, 1. Er lebt<br />

mit seiner Familie in Freiburg.<br />

www.mit-kindern-lernen.ch<br />

www.biber-blog.com<br />

Mahatma Gandhi<br />

sagte einst, dass<br />

sich Glück dann<br />

einstellt, wenn<br />

das, was man<br />

denkt, sagt und tut, miteinander in<br />

Einklang steht.<br />

Genau deshalb ist es uns Eltern<br />

so wichtig, dass unsere Kinder trotz<br />

Gruppendruck und Gegenwind für<br />

sich selbst einstehen und authentisch<br />

bleiben können. Wir möchten,<br />

dass sie eigene Werte und Meinungen<br />

entwickeln, zu ihren Gefühlen<br />

stehen, Ja sagen, wenn sie Ja meinen,<br />

und Nein, wenn sie sich abgrenzen<br />

möchten.<br />

Manchen Kindern gelingt dies<br />

sehr gut. Anderen fällt es schwer. Sie<br />

lassen sich zu Dingen überreden, die<br />

sie hinterher bereuen. Sie fühlen<br />

sich genötigt, Ja zu sagen, wenn sie<br />

Nein meinen. Sie passen ihre Meinung<br />

der Gruppe an und spüren<br />

immer weniger, was ihnen selbst<br />

wichtig wäre.<br />

Doch wieso ist es so schwierig, zu<br />

sich zu stehen? Und wie können wir<br />

Kinder und Jugendliche diesbezüglich<br />

stärken?<br />

Es ist wichtig, dass man als Eltern<br />

bewusst wahrnimmt, wie schwierig<br />

es sein kann, zu sich zu stehen.<br />

Als soziale Lebewesen sind Menschen<br />

so sehr auf die Gruppe angewiesen,<br />

dass sich im Laufe der Evolution<br />

ein angeborener Wunsch nach<br />

Zugehörigkeit und eine angeborene<br />

Angst vor Ausschluss aus der Gruppe<br />

entwickelt haben.<br />

Kein Smartphone zu besitzen, kann<br />

einen zum Aussenseiter machen<br />

Zu sagen, was man denkt, kann<br />

negative Folgen nach sich ziehen.<br />

Auch heute noch kann eine abweichende<br />

Meinung in vielen Ländern<br />

die Freiheit und das Leben kosten.<br />

Aber auch bei uns sollte nicht unterschätzt<br />

werden, wie schwierig es sein<br />

kann, sich abzugrenzen, anders zu<br />

denken und sich anders zu verhalten.<br />

Kein Smartphone zu besitzen,<br />

kann in manchen Schulen und Klassen<br />

dafür sorgen, dass man zum<br />

Aussenseiter wird. Mit «falschen»<br />

Kleidern kann man zur Zielscheibe<br />

für Spott werden. Sagen, was man<br />

denkt, kann Freundschaften, den<br />

Job oder die soziale Stellung kosten.<br />

Es ist wichtig, dass man als Eltern<br />

bewusst wahrnimmt, wie schwierig<br />

es sein kann, zu sich zu stehen. Für<br />

Kinder und Jugendliche ist dies<br />

noch schwieriger, weil sie sich ihre<br />

soziale Gruppe noch nicht aussuchen<br />

können, sondern sich mit der<br />

Klasse oder dem Quartier arrangieren<br />

müssen.<br />

Wenn wir in eine Situation geraten,<br />

in der wir Stellung beziehen<br />

müssen, beginnt ein Prozess des<br />

inneren Abwägens. Wir rechnen die<br />

Vorteile gegen die Nachteile auf und<br />

Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren<br />

58 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


entschliessen uns, entweder mutig<br />

für uns einzustehen oder dem<br />

Druck von aussen nachzugeben.<br />

Wir fragen also: Ist es mir das wert?<br />

Wovon es abhängt, ob wir für uns<br />

einstehen<br />

Ob es uns «das» wert ist, hängt von<br />

vielen verschiedenen Faktoren ab.<br />

Es fällt Kindern deutlich leichter,<br />

sich für ihre Anliegen einzusetzen,<br />

wenn sie:<br />

eigene Wünsche und Gefühle<br />

differenziert wahrnehmen und<br />

gut ausdrücken können;<br />

in der Gruppe eine starke Position<br />

haben und wissen, dass<br />

eine abweichende Meinung an<br />

ihrer Beliebtheit nichts ändern<br />

wird;<br />

viele Freunde haben und daher<br />

unabhängiger sind;<br />

wissen, dass Beziehungen einiges<br />

aushalten und man sich<br />

nach Streit und Unstimmigkeiten<br />

auch wieder vertragen<br />

kann;<br />

Vorbilder haben, die ihnen vermitteln,<br />

dass man sich nicht<br />

verbiegen muss, um dazuzugehören,<br />

und die sie so annehmen,<br />

wie sie sind.<br />

Es hängt auch von der Persönlichkeit<br />

ab, wie gut Kinder mit sozialem<br />

Druck umgehen können. Manche<br />

Kinder weisen eine hohe Zurückweisungs-Sensitivität<br />

auf. Man versteht<br />

darunter die Tendenz, Zurückweisung<br />

zu erwarten («Die werden<br />

mich eh nicht mögen!»), Ereignisse<br />

rasch als solche zu interpretieren<br />

(«Die lachen sicher über mich!»)<br />

und emotional übermässig stark<br />

darauf zu reagieren («Die hassen<br />

mich alle! Ich bin nichts wert!»).<br />

Manchmal sind es auch neue<br />

Situationen und Veränderungen, die<br />

Kinder verunsichern, die sonst keine<br />

Mühe haben, für sich einzustehen<br />

(eine neue Gruppe, eine neue<br />

Schule, die Pubertät usw.)<br />

Wenn ein Kind Mühe hat, mit<br />

Gruppendruck umzugehen, fordern<br />

Eltern nicht selten, dass das Kind zu<br />

sich und seiner Meinung stehen soll.<br />

Sie sagen Sätze zum Kind wie: «Du<br />

musst einfach sagen, wie du dich<br />

fühlst!», «Es spielt doch keine Rolle,<br />

was die anderen von dir denken!».<br />

Solche Äusserungen setzen das<br />

Kind unter Druck. Gleichzeitig<br />

nimmt man ihm damit die Möglichkeit<br />

zu echter Unabhängigkeit. Das<br />

Kind kann nur noch «entscheiden»,<br />

wessen Druck es nachgibt – dem der<br />

Eltern oder einer anderen Gruppe.<br />

Es wird ihm aber nicht mehr gelingen,<br />

in sich hineinzuhorchen und<br />

die eigene Stimme zu hören.<br />

Sie können Ihrem Kind dabei helfen,<br />

eine eigene Lösung zu finden<br />

Echte Unabhängigkeit entsteht,<br />

wenn Sie Ihrem Kind dabei helfen,<br />

auf sich selbst zu hören. Anstatt ihm<br />

zu sagen, wie es sich verhalten soll,<br />

können Sie zuhören. Sie können ihm<br />

Fragen stellen: «Hm … deinen<br />

Freunden scheint das sehr wichtig<br />

zu sein. Wie ist das denn für dich?»<br />

Sie können ihm helfen, sich das<br />

Dilemma, in dem es steckt, bewusst<br />

zu machen und abzuwägen: «Du<br />

möchtest nicht an die Party – aber<br />

du hast Angst, dass Tina und Rebecca<br />

dann enttäuscht von dir sind?» Sie<br />

können dem Kind dabei helfen, seine<br />

eigene Lösung zu finden.<br />

Manchmal wird es zu sich stehen<br />

und ist froh, wenn Sie ihm dabei<br />

helfen, nach der richtigen Formulierung<br />

zu suchen. Manchmal wird es<br />

sich auf etwas einlassen, um andere<br />

nicht zu enttäuschen.<br />

Die Schwierigkeit bei solchen<br />

Gesprächen besteht darin, nicht nur<br />

die Beweggründe des Kindes, sondern<br />

auch die eigenen zu reflektieren.<br />

Ein Vater meinte zu mir: «Was<br />

kann ich tun, damit mein Sohn<br />

mehr Selbstvertrauen entwickelt? Er<br />

wünscht sich Nike-Turnschuhe –<br />

nur weil die alle in der Klasse tragen.<br />

Ich möchte, dass er sich dem Gruppenzwang<br />

widersetzen kann.» Im<br />

Gespräch wurde ihm bewusst, dass<br />

es ihm gar nicht um Unabhängigkeit<br />

Echte Unabhängigkeit entsteht,<br />

wenn Sie Ihrem Kind dabei<br />

helfen, auf sich selbst zu hören.<br />

ging: «Wissen Sie, wenn ich ehrlich<br />

bin, finde ich Markenkleider einfach<br />

blöd und ich möchte, dass er das so<br />

sieht wie ich. Er scheint diese Turnschuhe<br />

aber wirklich toll zu finden.»<br />

Der Vater sprang schliesslich über<br />

seinen Schatten und erfüllte seinem<br />

Sohn den Wunsch.<br />

Wir alle verbiegen uns ab und zu.<br />

Wir jammern zu Hause, anstatt dem<br />

Chef diplomatisch, aber direkt zu<br />

sagen, dass wir seine Idee unausgereift<br />

finden. Wir treffen uns mit<br />

Bekannten oder Verwandten, wenn<br />

wir gar keine Lust darauf haben. Wir<br />

verschweigen dem Partner Dinge,<br />

die uns missfallen, um keinen Streit<br />

zu riskieren oder ihn nicht zu verletzen.<br />

Wir reden über andere<br />

anstatt mit ihnen. Manchmal ist das<br />

sinnvoll – oft ist es einfach im<br />

Moment bequemer und führt langfristig<br />

dazu, dass wir uns fremdbestimmt<br />

fühlen.<br />

Darum wäre der letzte Tipp, um<br />

Ihr Kind zu stärken: Sagen Sie ein<br />

wenig öfter, was Sie denken – und<br />

handeln Sie danach. In vielen Fällen<br />

werden die Folgen viel positiver<br />

sein, als Sie sich dies vorstellen können.<br />

Ihr Kind wird Sie dabei beobachten<br />

und selbst etwas mutiger<br />

werden.<br />

In der nächsten Ausgabe:<br />

Mein Kind ist ein Minimalist<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>59


Erziehung & Schule<br />

Spielend die<br />

Mathematik erfahren<br />

Wenn Kinder spielen, lernen sie gleichzeitig. Beim Umgiessen, «Götsche», erfahren sie<br />

etwas über Mengen und Grössen von Gefässen, beim Falten über geometrische Formen,<br />

beim Sortieren und Ordnen etwas über Mengen und Reihenfolgen. Für Eltern eine gute<br />

Möglichkeit, den Spass an der Mathematik zu wecken. Text: Franziska Peterhans<br />

«Staunend und spielend<br />

sollen die Kinder der<br />

wunderbaren Wissenschaft<br />

Mathematik begegnen.»<br />

Franziska Peterhans ist Zentralsekretärin<br />

des Dachverbandes Lehrerinnen und<br />

Lehrer Schweiz LCH. Sie lebt in Baden<br />

und ist Mutter dreier erwachsener Kinder.<br />

Buchtipp<br />

Sonja Sarbach:<br />

Mathekinder –<br />

Kompetenzorientiert<br />

und spielerisch lernen»<br />

Lehrmittel 4bis8, LCH,<br />

<strong>2016</strong>, Fr. 59.–<br />

Luc hat Geburtstag; seine<br />

Grosseltern kommen zu<br />

Besuch. Zudem freut sich<br />

Luc auf seine Gotte mit<br />

ihren beiden Kindern.<br />

Das wird ein Fest – so viele Leute am<br />

Tisch! Luc hilft mit beim Tischdecken.<br />

Nun geht es ans Rechnen: Mutter,<br />

Vater und die grosse Schwester sind<br />

drei, aber da fehlt ja noch Luc. Dann<br />

die beiden Grosseltern und die restlichen<br />

Gäste. Nachdem er nochmals<br />

kontrolliert und alle Namen aufgezählt<br />

hat, weiss Luc das Resultat.<br />

Jetzt geht es ans Tischdecken! Neun<br />

Teller stellt er auf den Tisch und zu<br />

jedem auch ein Glas. Dann nimmt<br />

Luc die Messer und die Gabeln aus<br />

der Besteckschublade und zählt<br />

jedes Mal bis neun. Zuletzt hat er<br />

eine Gabel zu viel in der Hand und<br />

legt sie in die Schublade zurück.<br />

Minus eins macht neun. Luc freut<br />

sich, bei den Vorbereitungen für den<br />

grossen Besuch mithelfen zu können.<br />

Und so ganz nebenbei hat er<br />

einiges gelernt!<br />

Mathematik lernen Kinder in<br />

frühen Jahren spielend. In Kindergarten<br />

und Schule achten die Kindergärtnerinnen<br />

und Lehrpersonen<br />

in den unteren Klassen darauf, dass<br />

sie beim Spielen auch die Grundlagen<br />

der Mathematik begreifen. Für<br />

die Kinder ist dies interessant, und<br />

sie lernen ohne Druck ganz Wichtiges.<br />

Im Kindergarten Mathematik<br />

erleben<br />

«Mathekinder» – so heisst ein Buch,<br />

das der Dachverband Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schweiz für die Lehrpersonen<br />

von Kindergarten sowie<br />

1. und 2. Klasse herausgibt. Darin<br />

finden sie für den Unterricht zahlreiche<br />

Vorschläge zur Umsetzung<br />

des spielerischen Lernens mit Kindern.<br />

Staunend und spielend sollen<br />

die Kinder der wunderbaren Wissenschaft<br />

Mathematik begegnen.<br />

In einem anregenden Betätigungsfeld<br />

werden die kindliche<br />

Neugier, Freude und Lust des Kindes<br />

am mathematischen Tun auf der<br />

anschaulichen und erlebbaren Ebene<br />

aufgenommen, unterstützt und<br />

speziell gefördert. «Ziel ist es, ein<br />

solides Fundament für den Aufbau<br />

der mathematischen Kompetenzen<br />

zu bilden», schreibt Sonja Sarbach,<br />

die Autorin des Buches dazu. Wenn<br />

Sie als Eltern Ihrem Kind Gelegenheiten<br />

geben wollen, sich früh in<br />

mathematischem Begreifen zu stärken,<br />

dann lassen Sie es spielen.<br />

Eltern können ihr Kind unterstützen<br />

Ein ganz grosses Übungsfeld für<br />

mathematisches Begreifen können<br />

Eltern ihrem Kind im Alltag eröff­<br />

60 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


nen. Gerade beim frühen Mithelfen<br />

bei allerlei Hausarbeiten, was für<br />

Kinder ein beliebtes Spiel ist, kann<br />

Ihr Kind viel lernen! Und wer zählt,<br />

wie oft die Kirchenglocke schlägt,<br />

fördert die akustische Aufmerksamkeit<br />

und das Zählen. Bei Autonummern<br />

Folgen oder Regeln heraustüfteln<br />

ist ein Vorgang, der viele Kinder<br />

mathematische Bezüge von Zahlen<br />

erkennen lässt. Auf der Wippe testen,<br />

wer oben bleibt und wer unten, und<br />

dann die genaue Balance suchen,<br />

lässt einen vieles über das Gleichgewicht<br />

und die Wirkung von Hebeln<br />

erfahren.<br />

Mit allen Sinnen lernen<br />

Wenn ein anderes Kind den Rechner<br />

auf dem Smartphone schon bedienen<br />

kann, ist es deswegen noch lange<br />

nicht im Vorteil oder später<br />

erfolgreicher in Mathematik. So<br />

etwas lernt sich schnell, wenn die<br />

Zeit dafür da ist. Diese Einsicht ins<br />

menschliche Lernen hat übrigens der<br />

Philosoph und Theologe Thomas<br />

von Aquin schon treffend formuliert:<br />

«Nihil est in intellectu, quod non<br />

fuerit prius in sensu», oder auf<br />

Deutsch: «Nichts ist im Verstand,<br />

was nicht vorher in den Sinnen war».<br />

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen<br />

als Eltern zusammen mit Ihrem Kind<br />

viele sinnliche Spielstunden – und<br />

Luc mit seinen Gästen ein wunderbares<br />

Geburtstagsfest!<br />

Kinder können im Familienalltag<br />

Mathematik spielerisch erleben –<br />

Tipps für Eltern<br />

Lassen Sie Ihr Kind Gemüse schneiden: Ein<br />

Rüebli in drei gleiche Teile zerkleinern, und<br />

schon hat Ihr Kind das Bruchrechnen erlebt.<br />

Ermutigen Sie das Kind, mit dem Krug die<br />

Gläser zu füllen – und es begreift etwas über<br />

kleine und grosse Gefässe und deren Inhalte.<br />

Dabei darf auch einmal ein Gefäss überlaufen,<br />

auch das sind lehrreiche Erfahrungen.<br />

Lassen Sie Ihr Kind mit der Waage zwei<br />

Gefässe füllen, bis diese gleich schwer sind.<br />

Sammeln Sie PET-Deckel und lassen Sie ihr<br />

Kind gleichfarbige gruppieren und zählen.<br />

Bereiten Sie die Abfallentsorgung so vor, dass<br />

Ihr Kind Gläser mit derselben Farbe je in<br />

einen Sack stellen darf und dann noch die<br />

PET-Flaschen in einen separaten. Schon hat es<br />

etwas über Ähnlichkeiten und Unterschiede<br />

begriffen. Wenn es dann die Säcke trägt, spürt<br />

es das Gewicht der verschiedenen Materialien.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>61


Die Erziehung und Förderung von Kindern ist eine grosse<br />

Leistung von Eltern und Lehrpersonen. Bei schwierigen<br />

Kindern, wie etwa bei Kindern mit ADHS, muss besonders<br />

behutsam vorgegangen werden. Eine multimodale Therapie<br />

ohne Medikamente soll das Problem ganzheitlich angehen<br />

und neben den Symptomen auch die Ursachen für das<br />

unerwünschte Verhalten lösen. Text: Amrei Wittwer<br />

62 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Serie<br />

Eine multimodale, an<br />

möglichst vielen Punkten<br />

ansetzende Therapie<br />

von ADHS ist heute<br />

die Norm. Allerdings<br />

wird die medikamentöse Behandlung<br />

mit Methylphenidat als therapeutischer<br />

Baustein immer noch<br />

häufig von Beginn an eingesetzt.<br />

Wegen des erhöhten gesundheitlichen<br />

Risikos und geringer therapeutischer<br />

Wirkung sollte dieser<br />

Therapiebaustein jedoch erst zum<br />

Einsatz kommen, wenn sich die<br />

anderen Therapien langfristig als<br />

wirkungslos erweisen und das<br />

Kind leidet.<br />

Daher sollte die multimodale<br />

Therapie ohne Medikamente<br />

immer das erste Mittel der Wahl<br />

für Kinder mit ADHS-Diagnose<br />

sein. Je ausgeprägter die ADHS-<br />

Symptome ausfallen, desto mehr<br />

Strategien sollten verfolgt werden.<br />

Dieser Artikel fokussiert auf die<br />

wichtigsten Bausteine, die wegen<br />

ihrer wissenschaftlich erwiesenen<br />

Wirksamkeit für alle betroffenen<br />

Kinder und involvierten Erwachsenen<br />

als Grundtherapie empfohlen<br />

werden.<br />

Ernährungsumstellung<br />

Industrielle Lebensmittel führen zu<br />

einem Mangel an Mikronährstoffen,<br />

ohne die Nerven schlecht<br />

funktionieren. Bei Kindern führt<br />

Mangel- oder Fehlernährung der<br />

Nerven zu ADHS-Symptomen.<br />

Leider entwickelt der Körper der<br />

Kinder Lust auf genau jene Stoffe,<br />

die Schaden können: raffinierte<br />

Kohlehydrate, zucker haltige<br />

Lebensmittel, Säfte und Fertigprodukte.<br />

Auf diese Stoffe sollte die<br />

Familie verzichten und den Ernährungsplan<br />

umstellen. Ausnahmen<br />

sind erlaubt.<br />

Bei sensitiven Kindern sollten<br />

ausserdem künstliche Farbstoffe<br />

vermieden werden. Die Faustregel<br />

lautet: Iss das Essen, das schon<br />

Grossmutter gekannt hat. Gut für<br />

gestresste Nerven sind Nüsse, Linsen,<br />

Eier, Fisch, Gemüse und Obst.<br />

Ergänzungspräparate<br />

Zusätzlich zur Nahrungsumstellung<br />

sind ausserdem Präparate aus<br />

der Apotheke zu empfehlen. Gut<br />

wirksam gegen ADHS-Sym ptome<br />

sind Omega-3- und -6-Fettsäuren.<br />

Kinder, die einen Mangel an Vitaminen<br />

und Spurenelementen aufweisen,<br />

seien Vitamin-B-Komplex,<br />

Vitamin D, Biotin, Niacin, Zink,<br />

Jod, Kalium, Kupfer, Magnesium<br />

und Pantothensäure empfohlen. Es<br />

gibt diese Stoffe in Form von Kombinationspräparaten<br />

unterschiedlicher<br />

Zusammensetzung und richtiger<br />

Dosierung, die abgewechselt<br />

werden können.<br />

Was genau für das eigene Kind<br />

in Frage kommt, sollte man im<br />

Gespräch mit dem Apotheker, der<br />

Apothekerin klären. Die Kosten<br />

werden nicht von der Krankenkasse<br />

übernommen. Omega-3- und<br />

-6-Fettsäuren sind für alle Kinder<br />

indiziert. Wichtig zu wissen: Eine<br />

Verbesserung der Symptome tritt<br />

bei der Einnahme von Nervennahrung,<br />

angewandt als drei- bis viermonatige<br />

Kur, erst nach ein bis vier<br />

Wochen ein.<br />

Sport und Bewegung<br />

Kinder haben einen grossen Bewegungsdrang.<br />

Der Anteil an Sport in<br />

der Schule ist jedoch nur gering<br />

und sollte erhöht werden. Ein<br />

Mangel an Bewegung kann<br />

ADHS-Symptome verursachen.<br />

Bei mehr Bewegung verschwinden<br />

oder reduzieren sich die Symptome<br />

in kurzer Zeit.<br />

Kinder mit ADHS sind manchmal<br />

wegen Unaufmerksamkeit,<br />

impulsiven Verhaltens, gerin-<br />

Psychologie – oder<br />

direkt mit ihrem Mobilgerät<br />

über unsere App.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>63


Serie<br />

gen Körperbewusstseins,<br />

Verspannung und Schwächen in<br />

Feinmotorik schlechter in<br />

leistungs orientierten Sportarten.<br />

Spezielles Training kann dies ausgleichen.<br />

Gemäss Studien führt<br />

etwa fünf Mal pro Woche Bewegung<br />

in Form von Intervalltraining,<br />

Kinder-Yoga, Tai-Chi oder<br />

Aerobic zur Reduk tion von ADHS-<br />

Symptomen bei Kindern. Generell<br />

sind alle Arten von Bewegung, die<br />

den Puls auf etwa 100 bis 140 erhöhen,<br />

mindestens 20 Minuten dauern<br />

und dem Kind zusagen, empfehlenswert.<br />


haben, einen aufmerksamen<br />

Bewusstseinszustand zu erreichen.<br />

Dies kann in etwa<br />

20 Sitzungen in drei bis vier<br />

Monaten erreicht werden. Wichtig<br />

ist die Tatsache, dass Kinder<br />

mit ADHS keine abnormalen<br />

Hirnströme aufweisen.<br />

Bewegungstherapie, Ergotherapie<br />

und Psychomotorik<br />

können Selbst- und Körperbewusstsein<br />

und die Aufmerksamkeit<br />

des Kindes stärken, ihre<br />

Wirksamkeit sollte systematischer<br />

untersucht werden.<br />

Alternative Ansätze wie Homöopathie<br />

und Akupunktur können<br />

die körpereigenen Selbstheilungskräfte<br />

aktivieren.<br />

Ansätze wie Kinesiologie, Therapie<br />

mit Tieren, Kunsttherapie,<br />

Dramatherapie wurden noch<br />

nicht systematisch untersucht.<br />

Fazit<br />

Wie kann man einen Therapiebaustein<br />

beurteilen? Wichtig ist, dass<br />

bei jeder Therapie zwischen Nutzen<br />

und gesundheitlichem Risiko ab ­<br />

gewogen wird. Die multimodale<br />

Therapie ohne Medikation ist hinsichtlich<br />

dieser Perspektive eine<br />

sichere und nachhaltige Wahl. Es<br />

sollte hauptsächlich auf wissenschaftlich<br />

wirksame Strategien<br />

gesetzt werden. Welche Kombination<br />

im individuellen Fall Wirkung<br />

zeigt, wird erst im Laufe der Zeit<br />

deutlich werden. Daher bedarf<br />

jede Therapieform einer sorgfältigen<br />

Beobachtung durch Eltern<br />

und Fachpersonen.


In Zusammenarbeit mit PostFinance<br />

Erziehung & Schule<br />

Der Lehrlingslohn<br />

Wenn Jugendliche zum ersten Mal eigenes Geld verdienen, fragen sich viele Eltern, ob sie ihr Kind finanziell<br />

weiterhin unterstützen sollen. Was ist erlaubt, realistisch, pädagogisch sinnvoll? Text: Pamela Aeschlimann<br />

Bild: iStockphoto<br />

MoneyFit-Tipp<br />

Hier finden Eltern und Berufslernende<br />

weitere Informationen zum Lehrlingslohn<br />

Budgetberatung Schweiz<br />

www.budgetberatung.ch ><br />

Richtlinien/Merkblätter > Lernende<br />

Budgetberatung Aargau-Solothurn<br />

heschnocash.ch/lehrlingslohn<br />

Schweizerische Berufsberatung<br />

www.berufsberatung.ch ><br />

Aus- und Weiterbildung > Lohn in der Lehre<br />

Anfang August hat die 16-jährige<br />

Nina ihre Berufslehre als<br />

Kauffrau begonnen – und Ende<br />

August ihren ersten eigenen Lohn<br />

erhalten: 800 Franken. Ninas Eltern<br />

wissen: Das Geld reicht, um einige<br />

Kosten zu decken, aber auf eigenen<br />

Füssen kann Nina damit noch nicht<br />

stehen. Wie weit sollen sich die Eltern<br />

weiterhin an den Lebenshaltungskosten<br />

der Tochter beteiligen?<br />

Wie viel Lohn ist zu erwarten?<br />

Die Löhne der insgesamt rund<br />

230 000 Berufslernenden in der<br />

Schweiz unterscheiden sich je nach<br />

Branche und Lehrjahr zum Teil<br />

beträchtlich, wie die Lohnempfehlungen<br />

der Berufsverbände zeigen.<br />

Eine auszubildende Fachfrau<br />

Gesundheit verdient im ersten Lehrjahr<br />

zirka 750 Franken, eine Coiffeuse<br />

etwa 400 Franken. Im dritten<br />

Lehrjahr kommt die Fachfrau<br />

Gesundheit auf rund 1250 Franken,<br />

die Coiffeuse auf zirka 600 Franken.<br />

Wem gehört der Lehrlingslohn?<br />

Das Gesetz (ZGB, Art. 323) hält<br />

fest, dass der eigene Verdienst den<br />

Jugendlichen gehört und sie diesen<br />

selber verwalten und nutzen dürfen.<br />

Der nachfolgende Abschnitt im<br />

selben Gesetzesartikel berechtigt<br />

die Eltern jedoch, einen «angemessenen<br />

Beitrag» an den Unterhalt zu<br />

verlangen, solange der verdienende<br />

Sohn oder die verdienende Tochter<br />

noch bei ihnen wohnt.<br />

Wie viel ist «angemessen»?<br />

Welcher Beitrag an den Unterhalt<br />

geleistet werden kann und soll, muss<br />

die Familie entsprechend den individuellen<br />

Rahmenbedingungen, den<br />

finanziellen Möglichkeiten und den<br />

persönlichen Familienwerten festlegen.<br />

Eine Orientierungshilfe dafür<br />

bieten die Richtlinien und Beispiele<br />

der Budgetberatung Schweiz. Auf<br />

dieser Grundlage bestimmen Eltern<br />

und Jugendliche gemeinsam, wer<br />

welche Kosten übernimmt und wie<br />

hoch der Beitrag an Kost und Logis<br />

zu Hause sein soll.<br />

Bei einem Lohn von 400 Franken<br />

können die Jugendlichen persönliche<br />

Auslagen etwa für Kleider, Handy,<br />

Körperpflege, Taschengeld und<br />

Fahrkosten selber berappen, nicht<br />

aber Krankenkassenprämien, Exkursions-<br />

und Schulmaterial, Kost und<br />

Logis. Ab 1400 Franken Lohn können<br />

Jugendliche, die noch zu Hause<br />

leben, gemäss Budgetberatung für<br />

alle Kosten, einschliesslich eines<br />

Beitrags an den Unterhalt, selber<br />

aufkommen.<br />

Finanzielle Verantwortung<br />

übernehmen<br />

Wichtiger als all die Berechnungen<br />

ist jedoch der Grundsatz, dass<br />

Jugendliche ab Erhalt des eigenen<br />

Lohns auch einen Teil der Verantwortung<br />

für ihre Lebenshaltungskosten<br />

übernehmen – und dass<br />

dieser Teil mit steigendem Verdienst<br />

wächst. Auf diese Weise lernen<br />

Jugendliche in der Lehre neben den<br />

beruflichen Kenntnissen und Fähigkeiten,<br />

auch mit dem eigenen Lohn<br />

auszukommen, und bereiten sich so<br />

auf den Schritt in die Unabhängigkeit<br />

nach der Lehre vor.<br />

Denn für ausgelernte Angestellte<br />

mit vollem Lohn gilt es, die auf<br />

einmal sehr hoch scheinenden Einnahmen<br />

realistisch einzuschätzen<br />

und verantwortungsvoll zu verwalten.<br />

Pamela Aeschlimann<br />

ist ausgebildete Lehrperson Sek I und Leiterin<br />

des Projektteams MoneyFit bei LerNetz.<br />

Seit über zehn Jahren setzt sich<br />

PostFinance mit kostenlosen<br />

Angeboten für die Steigerung der<br />

Finanzkompetenz der Jugend ein.<br />

Die professionell aufbereiteten<br />

Lernmedien unterstützen<br />

Lehrpersonen und Eltern bei der<br />

Erziehungsarbeit ums Thema Geld.<br />

moneyfit.postfinance.ch<br />

postfinance.ch<br />

66 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Wir sind die Chefs –<br />

von morgen.<br />

Lernende bei Coop<br />

Für meine Lehre. Für meine Zukunft.<br />

Mit einer Ausbildung bei Coop machen wir uns stark für eine erfolgreiche<br />

Berufs laufbahn in einem spannenden Arbeitsumfeld. Entdecke auch du die<br />

grosse Vielfalt an Zukunftsperspektiven auf www.coop.ch/grundbildung


Jeden Tag<br />

schulfrei<br />

Stress mit Hausaufgaben, Notendruck und Pausenplatz-Kabbeleien:<br />

All dies kennen die drei Kinder der Familie Gantenbein nicht. Sara, Olivia<br />

und Nalin aus Herisau AR haben noch keinen einzigen Tag in einer Schule<br />

verbracht. Ihre Eltern sind die Pioniere des sogenannten Unschooling:<br />

des freiwilligen Lernens nach Lust und Laune.<br />

Text: Claudia Landolt Bilder: Martin Mischkulnig / 13 Photo<br />

68


Erziehung & Schule<br />

Leben ist Wagen, und<br />

Klettern ist ein Stück<br />

Freiheit: Das weiss der<br />

11-jährige Nalin, der<br />

sein Leben am liebsten<br />

draussen verbringt.<br />

69


Erziehung & Schule<br />

«Kinder brauchen keine Erziehung<br />

und auch keine perfekten Eltern.<br />

Sie brauchen Beziehung.»<br />

Halb zehn Uhr morgens.<br />

In den Schweizer<br />

Schulen rückt<br />

die grosse Pause<br />

näher – und damit<br />

auch das Gewusel, Geschrei und<br />

Geschnatter auf den Pausenplätzen.<br />

In der grossen Küche der Familie<br />

Gantenbein dagegen ist es mucksmäuschenstill.<br />

Die drei Kinder sitzen<br />

an ihren Schreibpulten und lernen.<br />

Der 11-jährige Nalin bastelt aus<br />

Karton einen Bandrechen für seinen<br />

Traktor. Auf einer Skizze hat er aufgezeichnet,<br />

wie er aussehen soll. Olivia,<br />

13, bearbeitet Karteikärtchen;<br />

sie lernt mit Hilfe eines Lehr- und<br />

Arbeitsbuches Chinesisch. Ihre drei<br />

Jahre ältere Schwester Sara schreibt<br />

an ihrem Roman. Auf Seite 98 sei sie<br />

bereits. Auch sie liebt und lernt fleissig<br />

Sprachen: Französisch, Englisch<br />

und Spanisch.<br />

Nalin, Olivia und Sara sind Un -<br />

schooler. Sie werden weder in die<br />

Schule geschickt noch zu Hause<br />

unterrichtet. Jedenfalls nicht im herkömmlichen<br />

Sinn. Lernen im besonderen<br />

Kontext beziehungsweise<br />

Unschooling bedeutet, dass die Kinder<br />

lernen, wofür sie sich selbst<br />

inter essieren, in diesem Moment, an<br />

diesem Tag; ohne fixe Unterrichtszeiten,<br />

ohne definierte Lernstoffe<br />

oder Hausaufgaben. «Kinder sind<br />

kleine Lernmaschinen, sie tragen<br />

von Geburt an den Wunsch in sich,<br />

zu lernen», sagt die Mutter, Doris<br />

Gantenbein, 43. Doch früh werde<br />

dies kaputtgemacht, weil man als<br />

Eltern, Erzieher oder Lehrer die<br />

inneren Lebensprozesse des Kindes<br />

nicht respektiere und meine, man<br />

müsse von aussen her auf das Kind<br />

einwirken und es in eine bestimmte<br />

Richtung lenken. So werde die angeborene<br />

Begeisterung des Kindes, mit<br />

Freude zu lernen, zerstört und das<br />

Kind lerne immer weniger gern, bis<br />

es schliesslich Lernen als Zwang<br />

empfinde.<br />

Ihr Mann Bruno, 57, arbeitet in<br />

einer Unternehmensberatung und<br />

hat sich auf Organisationsentwicklung<br />

spezialisiert. «Schule setzt auf<br />

Gleichförmigkeit und Standardisierung,<br />

was so ziemlich das Gegenteil<br />

von unserer Lebensphilosophie ist»,<br />

sagt er. «Freiheit und Selbstbestimmung<br />

sind Werte, die zentral für uns<br />

sind.» In einem normalen Schulalltag<br />

hätten diese keinen Platz. Insofern<br />

sei ihr Entscheid, die Kinder<br />

nicht in die Schule zu schicken, nur<br />

die logische Konsequenz ihrer<br />

Lebenshaltung. Der Kernpunkt ihrer<br />

Lebensphilosophie ist «das Wahren<br />

der Einzigartigkeit, welche in jedem<br />

Menschen innewohnt und sich ausdrücken<br />

möchte».<br />

«Wir wollten unsere eigenen<br />

Kernkompetenzen aber nicht einfach<br />

an eine externe Schule delegieren,<br />

sondern die Verantwortung<br />

für die Bildung unserer Kinder<br />

eigenverantwortlich übernehmen»,<br />

schrei ben die Gantenbeins in ihrem<br />

Buch (vgl. Seite 72*). «Zudem wollten<br />

wir unsere Kinder nicht einfach<br />

Der Gärtner im<br />

Haus: Nalin mäht<br />

den Rasen mit<br />

Sorgfalt und<br />

Begeisterung.<br />

70 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

wegschicken, sie von uns trennen<br />

und sie gar jeden Morgen aus dem<br />

Schlaf wecken (...). Das kam uns<br />

naturwidrig vor.» Ihnen war auch<br />

nicht bewusst, dass es diese Art von<br />

Bildung schon gab – etwa in den<br />

USA, wo der Pädagoge John Holt in<br />

den 70er-Jahren das Unschooling<br />

be gründete. Auch nicht, dass sie<br />

soeben ein Haus in einem bildungsfreundlichen<br />

Kanton gekauft hatten.<br />

Tatsächlich ist in manchen<br />

Schweizer Kantonen wie etwa dem<br />

Aargau oder Appenzell Ausserrhoden<br />

die private Schulung möglich,<br />

aber bewilligungspflichtig. Vollends<br />

prüfungsbefreit sind sie nicht: Jedes<br />

Jahr müssten die Kinder Tests absolvieren,<br />

eine Art Lernerfolgsmessung.<br />

Diese hätten sie jeweils mit<br />

«sehr guten Noten» abgeschlossen,<br />

sagt Doris.<br />

Hierzulande gelten die Gantenbeins<br />

als Pioniere des Freilernens<br />

und coachen auch Familien, die sich<br />

für selbstbestimmtes Lernen «sowie<br />

den respektvollen Umgang mit Kindern»,<br />

wie Doris sagt, interessieren.<br />

In der Tat findet dieser Lebensstil<br />

eine winzig kleine, aber wachsende<br />

Anhängerschaft. Bruno schätzt die<br />

Zahl in der Schweiz auf mittlerweile<br />

fünfzig Familien, im Raum Herisau<br />

sind es knapp zehn.<br />

Meist sind es Akademiker, Künstler,<br />

Bildungsbürger, die ihre Kinder<br />

nicht mehr traditionell unterrichten<br />

lassen wollen. Sogar ehemalige Lehrer<br />

wie Doris Gantenbein selbst<br />

gehören dazu. Sie arbeitete als Primarlehrerin<br />

– und zwar mit viel<br />

Freude im Zusammensein mit Kindern,<br />

wie sie selber sagt. «Ich merkte<br />

jedoch rasch, dass der Lehrplan<br />

kaum Raum für die unter- >>><br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>71


Im Keller gibt es ein<br />

Malatelier.<br />

Hier können sich die<br />

Kinder austoben.<br />

Nalin spielt<br />

E-Schlagzeug,<br />

seine Schwester<br />

Olivia Piano.<br />

Und sie lernt<br />

Chinesisch.<br />

«Mögen alle Wesen<br />

glücklich sein»:<br />

der Segensspruch<br />

der Gantenbeins<br />

bei den Mahlzeiten.<br />

* Die Gantenbeins haben ein Buch<br />

geschrieben: «Das Wahren der Einzigartigkeit»<br />

(Ataraxis, 2015, 343<br />

Seiten, Fr. 27.90, E-Book Fr. 10.90).<br />

Aus diesem Buch stammen die<br />

orangen Zitate in dieser Reportage.


Erziehung & Schule<br />

>>> schiedlichen Individuen<br />

zuliess und dass es letztlich nie um<br />

das Kind selber, sondern immer nur<br />

ums Einhalten der Lehrpläne ging»,<br />

erzählt sie am Küchentisch, während<br />

Sara weiter an ihrem Roman<br />

schreibt, selbstvergessen und konzentriert.<br />

«Kinder sind so verschieden,<br />

haben verschiedene Talente<br />

und Interessen und entwickeln sich<br />

einfach nicht alle gleich.»<br />

Einer von vielen frustrierenden<br />

Momenten in ihrem Lehrerinnendasein<br />

war, als einer ihrer Schüler<br />

eine Klasse repetieren musste, weil<br />

er grosse Mühe mit Rechnen hatte,<br />

aber musisch hochbegabt gewesen<br />

war. «Das hat mir fast das Herz<br />

gebrochen», erinnert sie sich. In in ­<br />

tensiver Auseinandersetzung mit<br />

alternativen Schulen, die nach dem<br />

Prinzip der nichtdirektiven Erziehung<br />

funktionieren, sind sie und ihr<br />

Mann zum Schluss gekommen,<br />

ihren künftigen Kindern ein anderes<br />

Lernen zu ermöglichen, als es in den<br />

öffentlichen Schulen stattfindet.<br />

Das staatliche Schulsystem<br />

schränke das Kind ein und fokussiere<br />

viel zu sehr auf Defizite statt auf<br />

Stärken, sagt Bruno Gantenbein.<br />

«Die Kinder verlieren die Freude am<br />

Lernen, denn wer mag schon im<br />

Dreiviertelstundentakt einen vom<br />

Lehrer vorgegebenen Stoff büffeln?»<br />

Die normierten Erwartungen, das<br />

System Belohnung und Bestrafung<br />

sowie der sinnlose Leistungsdruck<br />

seien etwas, dem sie ihre Kinder<br />

nicht aussetzen wollten. «Wir wollten<br />

unsere Kinder in einem integralen<br />

Bewusstsein aufwachsen lassen,<br />

nicht in einem rein mentalen Be ­<br />

wusstsein, wie es unsere Gesellschaft<br />

diktiert.»<br />

Mentales Bewusstsein, damit<br />

bezieht sich Bruno Gantenbein auf<br />

die Studien des Kulturanthropologen<br />

Jean Gebser. Dieser sieht im<br />

integralen Bewusstsein ein neues<br />

Zeitalter aufsteigen. Im Gegensatz<br />

zum heute vorherrschenden mentalen<br />

Bewusstsein, das sich in Individualismus,<br />

Trennung und gegenseitigem<br />

Wettbewerb verliert. «Unsere<br />

Werte sind andere», sagt Bruno<br />

Gantenbein. «Selbstbestimmung,<br />

Kreativität, Gelassenheit.» Kurz: Die<br />

Gantenbeins waren der Auffassung,<br />

dass die Schule nicht der richtige<br />

Weg und Ort für eine «optimale<br />

Lernbiografie» ihrer Kinder ist.<br />

Seine eigene Schulzeit habe er als<br />

leidige Pflichtübung erlebt, erinnert<br />

sich Bruno Gantenbein. «Ich war<br />

lieber draussen». Mit 20 sei er selbst<br />

zum Unschooler geworden: «Zu<br />

jemandem, der auf seine Intuition<br />

hört und ihr nachgeht.» Am wohlsten<br />

fühle er sich in der Gesellschaft<br />

von Künstlern und Freigeistern:<br />

«Die gehen ihre eigenen Wege und<br />

realisieren ihre Träume. Das sind<br />

ganze Menschen.»<br />

Auch wenn sie es nicht explizit<br />

erwähnen: Schiefe Blicke hat die<br />

Familie sehr wohl ertragen müssen.<br />

Vor 14 Jahren zu entscheiden, sich<br />

dem gängigen System zu entziehen,<br />

dazu gehört viel Mut. «Man hat uns<br />

so ziemlich alles unterstellt, von religiösen<br />

bis hin zu sektiererischen<br />

Motiven», weiss Bruno. Er sagt es<br />

mit dem Lächeln all jener, die wissen,<br />

wie es ist, gegen den Strom zu<br />

schwimmen. Heute schätzen es beispielsweise<br />

die Grosseltern sehr,<br />

dass sie ihre Enkel jederzeit besuchen<br />

kommen können, weil sie keinen<br />

durchgetakteten Tagesablauf<br />

haben. «Sie sind dann jeweils ganz<br />

erleichtert, wenn sie sehen, wie viel<br />

unsere Kinder bereits können»,<br />

lächelt Doris.<br />

Nalin ist frustriert. Über eine<br />

Stunde hat er konzentriert an seinem<br />

Bandrechen gebastelt. Doch es<br />

will einfach nicht zu dem werden,<br />

was er sich vorgestellt hat. Der Elfjährige<br />

lässt seine Arbeit fallen,<br />

Missmut im Gesicht. Seine Mutter<br />

fragt, ob sie helfen soll. Nalin hat die<br />

Nase voll und geht nach draussen,<br />

fährt mit dem Traktor herum und<br />

mäht wenig später in bester Laune<br />

den Rasen. Ganz akkurat, sogar die<br />

Ränder um die Pflanzen werden<br />

peinlich genau geschnitten, und<br />

«Kinder sind die wahren<br />

Lehrmeister, weil sie noch so<br />

nahe an der natürlichen<br />

Entfaltung sind.»<br />

zwar mit einem Handmäher, den er<br />

sich aus seinem mit kleinen Arbeiten<br />

in der Nachbarschaft der Freundesfamilien<br />

selbst verdienten Geld<br />

gekauft hat.<br />

In der Zwischenzeit versucht sich<br />

Doris Gantenbein am Projekt ihres<br />

Sohnes. «Aber Mama, wieso machst<br />

du das für Nalin?», fragt Sara. «Kann<br />

er das nicht selber?» Das sei jetzt<br />

aber eine wirklich schwierige feinmotorische<br />

Arbeit, findet die Mutter,<br />

sie helfe ihm gerne dabei.<br />

Doris Gantenbein ist immer für<br />

ihre Kinder da, 24 Stunden am Tag.<br />

Hat sie überhaupt Zeit für ein Hobby,<br />

Zeit für sich? «Das brauche ich<br />

nicht», sagt sie mit einem engelsgleichen<br />

Lächeln. «Die Kinder, meine<br />

Familie und unsere gelebte Philosophie<br />

sind die Quelle meiner Kraft.»<br />

Wenn sie Zeit für sich brauche, dann<br />

stehe sie frühmorgens auf, vorzugsweise,<br />

wenn die anderen noch schlafen.<br />

In diesen Stunden widmet sie<br />

sich ihren eigenen Interessen, >>><br />

Doris Gantenbein über Unschooling<br />

Unschooling ist ein vom Kind geleitetes<br />

Lernen im normalen Wohn- und<br />

Lebensumfeld der Kinder, zusammen mit<br />

ihren Eltern oder den nächsten<br />

Bezugspersonen, ohne jeden Versuch, die<br />

traditionelle Schule und ihre Lehrpläne<br />

nachzuahmen. Es gibt weder einen<br />

geplanten Unterricht noch bestimmte<br />

Zeiten für schulähnliche Aktivitäten.<br />

Themen werden behandelt, wenn das<br />

Interesse des Kindes es verlangt. Die Eltern<br />

sind weniger Lehrer, vielmehr Unterstützer<br />

und Begleiter. www.pro-lernen.ch<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>73


Erziehung & Schule<br />

>>> liest, schreibt, treibt Sport oder<br />

erledigt Hausarbeiten, «um danach<br />

wieder voll und ganz für die Kinder<br />

da sein zu können».<br />

Früh aufstehen ist bei Gantenbeins<br />

Kinder kein Thema. Wecken?<br />

Gibt es nicht. Gefrühstückt wird in<br />

der Regel um halb acht Uhr. Auch<br />

Bettzeiten kennen die Kinder nicht.<br />

«Sie gehen ins Bett, wenn sie müde<br />

sind», erzählt die Mutter. Und das<br />

sind sie, denn ihr Tag ist reich<br />

bepackt: von Chinesisch- und Spanischlernen<br />

über Sudoku, Rechnen,<br />

Basteln, Zeichnen, Trampolinspringen,<br />

Instrumentespielen, Klettern,<br />

Rasenmähen, Bücherschreiben und<br />

zwei bis drei Stunden Sport am späten<br />

Nachmittag. Die Bettzeiten richteten<br />

sich auch ein wenig nach den<br />

Jahreszeiten: «Im Sommer sind<br />

sicher zwischen 21 und 22 Uhr alle<br />

im Zimmer, im Winter früher», sagt<br />

Doris. Nie hätten sie Mühe gehabt,<br />

dass die Kinder nicht ins Bett gehen<br />

wollten.<br />

Sara wird im November 16 Jahre<br />

alt. Ihre obligatorische Schulzeit hat<br />

sie bereits hinter sich. Was jetzt?<br />

Eine sehr weltliche Frage, wie man<br />

an der Reaktion der Eltern ansieht.<br />

«Sara muss jetzt herausfinden, was<br />

sie tun möchte», sagt der Vater. «Wir<br />

lassen ihr die Zeit und haben keine<br />

Erwartungen.» Er sei sicher, dass die<br />

Kinder ihren Weg machen. «Es<br />

braucht immer wieder viel Vertrauen<br />

und Geduld», sagt Doris Gantenbein.<br />

«Wir denken jedoch nicht in<br />

Schuljahren, sonden schauen den<br />

Menschen an.»<br />

Am allerliebsten möchte Sara<br />

etwas mit Eiskunstlaufen machen.<br />

Sara kann sich aber auch vorstellen,<br />

die Matura zu machen. Dass sie<br />

wertvolle Zeit verstreichen lasse,<br />

dieses Argument zieht bei Gantenbeins<br />

nicht. «Sara bildet sich von<br />

morgens früh bis abends spät»,<br />

erklärt die Mutter. «Noten und<br />

Zeugnisse verlieren mehr und mehr<br />

an Bedeutung, sie sind kein Indiz für<br />

eine Begabung.» Zumindest sei das<br />

bereits in vielen grossen Unter- >>><br />

«Wir wollten unsere Kinder<br />

nicht einfach von uns trennen,<br />

das kam uns naturwidrig vor.»<br />

4 Fragen an …<br />

Walter Klauser<br />

Amtsleiter Volksschule<br />

Kanton Appenzell Ausserrhoden<br />

«Wir sprechen von Lernen<br />

im besonderen Kontext»<br />

Herr Klauser, welche Bedingungen<br />

müssen Unschooler erfüllen?<br />

Die Bewilligung zum Häuslichen Unterricht<br />

wird erteilt, wenn gewisse Richtlinien<br />

weitgehend erfüllt sind oder erfüllt<br />

werden. Dabei ist uns bewusst, dass für<br />

den Häuslichen Unterricht betreffend<br />

Organisation, Inhalten und Gestaltung ein<br />

gewisser Handlungsspielraum gegeben<br />

sein muss. Von «Unschoolern» sprechen<br />

wir übrigens nicht, das Lernen findet in<br />

einem besonderen Kontext statt.<br />

Wie testen Sie die schulischen Fähigkeiten<br />

der Unschooler-Kinder, und gibt<br />

es Noten?<br />

Die Leistungen werden durch angeordnete<br />

Tests primär in Mathematik und Deutsch<br />

(Sek. I auch in den Fremdsprachen) überprüft.<br />

Es werden keine Noten erteilt.<br />

Die Testergebnisse sind nur ein Element<br />

des Controllings und sollen den Eltern<br />

eine Unterstützung bei der Standortbestimmung<br />

sein. Zudem nimmt das Amt<br />

für Volksschule periodisch Einblick in<br />

Lerntagebücher, Schülerarbeiten usw. und<br />

die Lernenden werden nach Möglichkeit<br />

einmal im Jahr vor Ort besucht.<br />

Grosse Passion:<br />

Sara und ihre<br />

Schwester trainieren<br />

jeden Tag im nahe<br />

gelegenen<br />

Eislaufstadion.<br />

Wie beurteilen Sie Lernforschritt und<br />

Bildungsniveau der Kinder?<br />

Die Kinder mit Häuslichem Unterricht<br />

stellen betreffend Lernfortschritten und<br />

-leistungen eine sehr heterogene Gruppe<br />

dar. Einzelne Kinder erreichen ein sehr<br />

hohes Niveau, andere können die Grunderwartungen<br />

nur knapp erfüllen.<br />

Ohne durch empirische Ergebnisse<br />

gestützt, ergeben sich diesbezüglich keine<br />

systematischen Unterschiede.<br />

Warum ist Appenzell in Bildungsfragen<br />

liberaler als andere Kantone?<br />

Das Amt für Volksschule setzt sich dafür<br />

ein, dass möglichst alle Kinder im integrativen<br />

Sinne die Volksschule besuchen. Die<br />

Optionen des Häuslichen Unterrichts sind<br />

jedoch gesetzlich festgelegte Alternativen.<br />

Erst in den letzten zehn Jahren hat die<br />

Zahl der Kinder mit Häuslichem Unterricht<br />

zugenommen, in der Mehrheit der Fälle<br />

durch den Zuzug von Eltern. Im Rahmen<br />

der anstehenden Gesetzesrevision werden<br />

die Bewilligungskriterien politisch diskutiert<br />

werden. Die heutige «liberale»<br />

Lösung respektiert das besonders hohe<br />

Mass an Verantwortung von Eltern, welche<br />

im Häuslichen Unterricht einerseits ihre<br />

Kinder im Lernen begleiten, andererseits<br />

auch die soziale und emotionale Entwicklung<br />

ihrer Kinder fördern.<br />

Information zu den Bewilligungen:<br />

www.ar.ch, Stichwort: Richtlinien<br />

Häuslicher Unterricht<br />

74 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Erziehung & Schule<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>75


Erziehung & Schule<br />

>>> nehmen so. Der Vater ist überzeugt,<br />

dass ganzheitliche Kinder<br />

«mit Handkuss» eingestellt würden,<br />

gerade weil sie nicht einfach einen<br />

vorgegebenen Weg einschlügen.<br />

«Der Apple-Begründer Steve Jobs<br />

und all die berühmten Leute, die<br />

etwas bewirkt haben auf dieser Welt,<br />

das waren auch keine, die dem<br />

Mainstream blindlings folgten.»<br />

Kritiker des Unschooling sagen,<br />

in der Volksschule gehe es nicht nur<br />

darum, sich Bildung anzueignen.<br />

Die Kinder lernten durch den Kontakt<br />

mit Gleichaltrigen auch, sich<br />

mit anderen Lebensstilen auseinanderzusetzen.<br />

Ob sie es nicht deshalb<br />

einmal ausprobieren wollen? «Von<br />

meinen Freundinnen, Nachbarskindern<br />

und Brieffreunden höre ich<br />

genug, wie es in der Schule so läuft»,<br />

sagt Sara. «Und das klingt jeweils<br />

nicht sehr verlockend.» Ihr Bruder<br />

Nalin drückt es so aus: «Schule ist<br />

blöd. Zumindest sagen das meine<br />

Kollegen. Sie müssen immer das<br />

machen, was die Lehrperson sagt.»<br />

Olivia, die Schüchternste, geniesst<br />

an ihrem Leben ohne Schule, dass<br />

sie «einfach Zeit hat für all das, was<br />

mich wirklich interessiert».<br />

Die Kinder haben viele Freundinnen<br />

und Freunde. «Viele finden<br />

es cool, dass ich gar nie zur Schule<br />

gehen musste. Die meisten Freunde<br />

habe ich durch meine Hobbys kennengelernt.<br />

Wir gehen auch manchmal<br />

zusammen in die Stadt oder ins<br />

Kino», sagt Sara.<br />

Mittlerweile ist Essenszeit. Der<br />

Freiheitsbegriff der Gantenbeins<br />

schliesst auch ein, dass für ihr Wohlbefinden<br />

keine Tiere leiden sollen.<br />

Deshalb ernähren sie sich zu Hause<br />

ausschliesslich vegan. Doch heute<br />

schmeckt den Kindern Mamas<br />

Essen nicht so wie sonst, weil der<br />

Backofen kaputt gegangen ist und<br />

der Kartoffelgratin – Saras Lieblingsessen<br />

– nicht so cremig ausfällt.<br />

Es ist das erste (und letzte) Mal, dass<br />

die Kinder die Nase rümpfen an diesem<br />

Tag. «Eine Ausnahmesituation»,<br />

wird Doris Gantenbein später<br />

sagen. «Unsere Mahlzeiten laufen<br />

immer ausgesprochen friedlich und<br />

harmonisch ab».<br />

>>><br />

Klare Haltung:<br />

Sara treibt wie<br />

ihre Geschwister<br />

jeden Tag Sport.<br />

Claudia Landolt<br />

Tiefenentspannt, so hat die leitende Autorin<br />

die Familie erlebt. Mit so viel Gleichmut<br />

durchs Leben zu gehen, hat das nicht was?<br />

76 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Das macht eine Dose Red Bull<br />

mit dem Körper Ihres Kindes<br />

Energydrinks stehen bei Jugendlichen hoch im Kurs. Die koffein-, säure- und kalorienhaltigen Getränke<br />

sollen die Leistungsfähigkeit steigern und auf Partys die Müdigkeit vertreiben. Forscher halten mehr als<br />

zwei Dosen pro Tag für problematisch. Und warnen vor Langzeitschäden. Text: Petra Seeburger<br />

Ein Urteil ist schnell ge -<br />

fällt: «Das schmeckt wie<br />

flüssige Gummibärchen»,<br />

sagt Felix. Der<br />

13-Jährige liebt den Kick<br />

aus der Dose. Pro Tag trinkt Felix<br />

drei Dosen Red Bull. Mit seinem<br />

Körpergewicht von 55 Kilo konsumiert<br />

er so täglich 240 mg Koffein,<br />

was etwa drei Tassen Kaffee entspricht.<br />

Dies überschreitet selbst die<br />

von der europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde<br />

empfohlene<br />

Obergrenze für Erwachsene, die bei<br />

3 mg pro Kilo Körpergewicht liegt.<br />

Hoher Konsum bei Jugendlichen<br />

Laut Sucht Schweiz sollten Jugendliche<br />

über 12 Jahren aber nicht mehr<br />

als 100 mg Koffein pro Tag konsumieren.<br />

Felix nimmt mit den Energydrinks<br />

auch an die 400 zusätzliche<br />

Kalorien zu sich. Sein Durst ist damit<br />

aber noch nicht gelöscht, denn die<br />

Getränke sind sehr süss. Seine Kollegen,<br />

die knapp zwei Jahre älter<br />

sind, mixen die Energydrinks bereits<br />

mit Alkohol. Felix’ Eltern verbieten<br />

ihm das strikt. Sonst sind sie tolerant<br />

– obwohl auch sie sich immer wieder<br />

fragen, wie gefährlich Energydrinks<br />

denn nun wirklich sind.<br />

Bereits jeder fünfte Elfjährige<br />

trinkt einmal pro Woche<br />

einen Energydrink.<br />

Energydrinks werden heute vor<br />

allem von Jugendlichen getrunken.<br />

Damit stehen sie im Fokus der Hersteller,<br />

die mit coolem Design und<br />

ausgefallenem Sportsponsoring für<br />

die Getränke werben. Mit Erfolg:<br />

Eine Studie der europäischen<br />

Lebensmittelsicherheitsbehörde aus<br />

dem Jahr 2015 ergab, dass 68 Prozent<br />

der 10- bis 18-Jährigen regelmässig<br />

Energydrinks konsumieren. Eine<br />

Schweizer Studie, die 2015 in der<br />

Public Library of Science PLOS<br />

(Öffentliche Bibliothek der Wissenschaften)<br />

publiziert wurde, zeigt<br />

ähnliche Dimensionen.<br />

Einer kürzlich durchgeführten<br />

Schweizer Schülerbefragung zufolge<br />

trinkt hierzulande bereits jeder fünfte<br />

Elfjährige mindestens einmal pro<br />

Woche einen Energydrink, bei den<br />

15-Jährigen bereits jeder zweite.<br />

Wachmacher und Zucker<br />

Energydrinks bestehen hauptsächlich<br />

aus Koffein, Zucker und Zusatzstoffen:<br />

So enthält eine Dose Red<br />

Bull 80 mg Koffein, etwa neun Würfelzucker,<br />

die Aminosäure Taurin,<br />

B-Komplex-Vitamine und Wasser.<br />

Da Energydrinks sehr süss sind, wird<br />

ihnen oft Zitronensäure beigemengt,<br />

um das auszugleichen.<br />

Die Risiken betreffen genau diese<br />

vier Bestandteile Koffein, Zucker,<br />

Zusatzstoffe und Säuregehalt. «Mögliche<br />

Folgen können heute noch<br />

nicht abgeschätzt werden, da vor<br />

allem Langzeitstudien fehlen», sagt<br />

Steffi Schlüchter, Ernährungsberaterin<br />

der Schweizerischen Gesellschaft<br />

für Ernährung. Die Gesellschaft,<br />

welche Lehrpersonen, Ernährungsberaterinnen,<br />

Ernährungs- und<br />

Naturwissenschaftler sowie Mediziner<br />

zu ihren Mitgliedern zählt,<br />

bewertet Energydrinks als nicht<br />

empfehlenswert für Kinder und<br />

Jugendliche.<br />

Aufputscher Koffein<br />

Hauptmerkmal der Energydrinks ist<br />

das Koffein. Dieses wirkt auf das<br />

Nerven- und Herzkreislaufsystem.<br />

Kurz nach der Aufnahme von Koffein<br />

steigen Puls, Blutdruck und der<br />

Zuckerspiegel. Man fühlt sich energiegeladen,<br />

was mehrere Stunden<br />

anhält. «Kinder reagieren intensiver<br />

auf Koffein als Erwachsene», sagt<br />

Steffi Schlüchter.<br />

Empfindlichkeit oder Überdosierung<br />

können zu Herzrasen, Nervosität<br />

und Reizbarkeit führen. Herzprobleme<br />

oder Angstzustände sind<br />

mögliche Folgen. «Die anregende<br />

Wirkung von Koffein kann bei Kindern<br />

zu gestörter Aufmerksamkeit<br />

und Hyperaktivität oder Schlafstörungen<br />

führen», warnt die Ernährungsberaterin.<br />

Aber auch Jugendliche zeigen<br />

Symptome und Nebenwirkungen im<br />

Zusammenhang mit dem Konsum<br />

von Energydrinks. Dies belegt eine<br />

aktuelle US-Studie von Bashir et al.:<br />

«Fast alle Studienteilnehmenden<br />

berichteten über Kopfschmerzen,<br />

78 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Ernährung & Gesundheit<br />

jeder Zweite über Aggressivität und<br />

jeder Fünfte über Atemprobleme.»<br />

Die Websites der Energydrink-Hersteller<br />

versuchen zu beruhigen: Koffein<br />

sei ein natürliches Produkt, dass<br />

«in mehr als 60 Pflanzen vorkommt»<br />

und in «vielen Nahrungsmitteln wie<br />

auch Schokolade enthalten ist».<br />

Risiko Kalorien und Karies<br />

Der hohe Zucker- und Säuregehalt<br />

birgt weitere Risiken. Ein Zusammenhang<br />

zwischen dem Konsum<br />

von Süssgetränken und Übergewicht<br />

bei Kindern und Jugendlichen ist<br />

belegt und bekannt.<br />

Energydrinks haben dazu einen<br />

höheren Säuregehalt als gesüsste<br />

Getränke. «Solche Säuren, wie die<br />

oft verwendete Zitronensäure, verursachen<br />

Erosionen auf den Zähnen»,<br />

warnt Dr. Giorgio Menghini<br />

von der Klinik für Präventivzahnmedizin,<br />

Parodontologie und Kariologie<br />

des Zentrums für Zahnmedizin<br />

der Universität Zürich. Zucker<br />

wirke schon kariogen, dazu komme<br />

die Säure, die den Zahnschmelz<br />

angreift. «Das wirkt sich langfristig<br />

schlecht auf die Zahngesundheit<br />

aus», so Menghini.<br />

Problematisch sei zudem, dass<br />

Energydrinks schluckweise über<br />

eine lange Zeit getrunken werden.<br />

Die Zähne baden so dauernd in<br />

Zucker und Säure: «Zahnschäden<br />

hängen weniger von der Gesamtmenge,<br />

sondern vor allem von der<br />

Dauer der Exposition ab.» Sucht<br />

Schweiz warnt auch vor der Mi -<br />

schung von Energydrinks und Alkohol,<br />

da «Zucker und Koffein die<br />

Wirkung des Alkohols kaschieren».<br />

Zusatzstoffe mit unklarer Wirkung<br />

Die meisten Energydrinks enthalten<br />

Zusatzstoffe wie Glucoronlacton<br />

Taurin oder L-Carnitin. «Taurin<br />

kommt in verschidenen Lebensmitteln<br />

vor, etwa in Fleisch und Fisch»,<br />

sagt Steffi Schlüchter. Es sei an vielen<br />

Prozessen am menschlichen Körper<br />

beteiligt, aber seine genaue Wirkung<br />

sei nicht vollständig ge klärt.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

Ähnlich ist es beim L-Carnitin oder<br />

dem Glucoronlacton. «Es ist auch<br />

nicht klar, ob und wie diese Zusatzstoffe<br />

die Leistungsfähigkeit wirklich<br />

beeinflussen», betont Schlüchter.<br />

Die fehlende Datenlage rate<br />

somit zur Vorsicht. Sara M. Seifert<br />

von der Kinderklinik in Miami<br />

kommt in ihrer vor wenigen Jahren<br />

publizierten Studie zum gleichen<br />

Schluss. «Die pharmakologische<br />

Wirkung der Zusatzstoffe kann<br />

schwerwiegende unerwünschte<br />

Effekte auslösen, die wir heute noch<br />

nicht kennen», so ihr Fazit. Sie und<br />

ihr Team fordern daher eine Reglementierung<br />

und mehr Forschung<br />

über die Langzeitwirkung.<br />

Bei Energydrinks gilt also Achtsamkeit.<br />

Koffeinempfindliche Menschen<br />

sind besonders gefährdet.<br />

Dazu gehören werdende Mütter und<br />

besonders Kinder und Jugendliche.<br />

Auf die Frage, ab welchem Alter<br />

Energydrinks bedenkenlos konsumiert<br />

werden können, winkt Ernährungsberaterin<br />

Steffi Schlüchter ab:<br />

«Eigentlich in keinem Alter. Das<br />

beste Getränk ist Wasser!»<br />

September <strong>2016</strong><br />

Nach jedem Schluck<br />

aus der Dose baden die Zähne<br />

in Zucker und Säure.<br />

Petra Seeburger<br />

ist Intensivpflegefachfrau, Journalistin und<br />

Kommunikationsspezialistin. Sie arbeitet<br />

seit 30 Jahren im Gesundheitswesen.<br />

Gut zu wissen<br />

In der Schweiz regelt die Verordnung über<br />

Speziallebensmittel die Konsumation von<br />

Energydrinks. Die «koffeinhaltigen<br />

Spezialgetränke» haben hohe Energiewerte von<br />

über 45 kcal pro 100 ml und beinhalten mehr<br />

als 25 mg Koffein pro 100 ml. Teilweise werden<br />

weitere stimulierende Substanzen zugegeben,<br />

wie Vitamine, Kohlendioxid oder Taurin. Am<br />

bekanntesten ist Red Bull, das 1987 in Österreich<br />

lanciert wurde und seit 1994 in der Schweiz<br />

zugelassen ist. Inzwischen bieten zahlreiche<br />

Getränkehändler oder Lebensmittelkonzerne<br />

wie Migros oder Coop eigene Produkte an.<br />

Seit 2014 sind in der Schweiz auch<br />

Mischgetränke von Alkohol und Energydrinks<br />

erlaubt, was laut Sucht Schweiz für die<br />

Präventionsmassnahmen ein Rückschritt ist.<br />

Siewerdtstrasse 7<br />

8050 Zürich<br />

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schul ergänzenden<br />

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einrichtungen


Digital & Medial<br />

Trolle, Hate-Speech und Cybermobbing –<br />

warum ist das Netz so gemein?<br />

Wer durch das Internet surft und sich die Kommentare unter Nachrichtenseiten oder bei<br />

Facebook und Co. durchliest, trifft häufig auf Frust, Sarkasmus und sogar Hass.<br />

Warum herrscht solch ein rauer Ton in den sozialen Netzwerken? Was gibt es zu beachten?<br />

Text: Stephan Petersen<br />

Zu gross schien die Verzweiflung der Kanadierin<br />

Amanda Todd ge worden zu sein. Mit<br />

nur fünfzehn Jahren nahm sie sich das<br />

Leben. Drei Jahre zuvor hatte sie begonnen,<br />

im Internet Kontakte zu knüpfen und zu<br />

chatten. Ein Chatpartner bat sie, ihm vor der Kamera<br />

ihren Busen zu zeigen. In jugendlicher Unbedarftheit<br />

tat sie es, der Chatpartner machte Screen shots und be ­<br />

gann sie zu erpressen. Als Amanda nicht darauf einging,<br />

schickte er die Bilder ihrem Freundes- und Bekanntenkreis.<br />

Das Umfeld distanzierte sich von ihr. Es folgte ein<br />

Cybermobbing, bis Amanda keinen Ausweg mehr sah.<br />

Schau mir nicht in die Augen, Kleines!<br />

Im Internet herrscht in Foren und Chats oft eine andere<br />

Tonart als im realen Leben. Was eine Plattform für<br />

demokratische Meinungsäusserung sein könnte, entpuppt<br />

sich oft als Brutstätte für hetzende und verleumderische<br />

Kommentare. Nachrichtenseiten reagieren<br />

darauf, indem sie anonyme Posts unterbinden, die Kommentarfunktion<br />

nur zu be stimmten Uhrzeiten zulassen<br />

oder für gewisse Artikel komplett sperren.<br />

Warum herrscht in Foren und Chats solch ein aggressiver<br />

Ton? «Im Internet jemanden anzufeinden, ist einfacher,<br />

weil man der Person nicht direkt gegenübersteht,<br />

das Internet relativ anonym ist und alles sehr schnell<br />

geht», sagt Annina Grob, Be reichsleiterin Politik bei der<br />

Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände<br />

(SAJV). Wichtige Faktoren der Kommunikation<br />

fehlen im Internet oder im Chat über WhatsApp: Gestik,<br />

Mimik, Tonfall und vor allem der Augenkontakt.<br />

Die israelischen Wissenschaftler Noam Lapi dot­<br />

Lefler und Azy Barak haben 2012 in einer Studie nachgewiesen,<br />

dass fehlender Augenkontakt einen erheblichen<br />

Anteil an der Pöbelkultur in der digitalen Kommunikation<br />

hat. Dies deckt sich mit den Auswertungen<br />

des amerikanischen Psychologen Chris Kleinke, der<br />

bereits 1986, also vor der gros sen Internetkommunikation,<br />

die enorme Bedeutung des Augenkontaktes in der<br />

zwischenmenschlichen Kommunikation beschrieb.<br />

Was sind das für Menschen, die sich so benehmen? Wie<br />

äussern sie sich? Was sind ihre Absichten, wer die Opfer?<br />

Bei Trollen, angelehnt an das nordische Fabelwesen,<br />

handelt es sich um Personen, die gezielt provozieren,<br />

um sich an den Reaktionen zu erfreuen. Trolle gehen<br />

meist subtil vor und greifen nicht immer zu bewussten<br />

Beleidigungen. So genügt bei einem emotional aufgeheizten<br />

Thema lediglich ein kleiner Spruch durch einen<br />

Troll, und endlose Diskussionen werden entfacht.<br />

Kanadische Psychologen fanden in einer Studie heraus,<br />

dass Trolle oft antisozial sind und mehr negative<br />

Eigenschaften aufweisen als andere. Besonders der Hang<br />

zum Sadismus ist verbreitet. Der Troll muss also keineswegs<br />

die Meinung vertreten, die er kundtut.<br />

In einer Studie mit Wikipedia-Trollen wurden diese<br />

nach ihren Gründen gefragt, und sie nannten: Langeweile,<br />

die Suche nach Aufmerksamkeit, Rache oder auch<br />

einfach Spass an den Reaktionen.<br />

Auf ausgeglichene, überlegte Kommentare reagiere<br />

die Netzwelt nicht so stark wie auf zugespitzte, sagte<br />

Torsten Beeck, Leiter der Social-Media-Redaktion von<br />

Spiegel Online in einem Interview mit dem «Zeit»-<br />

Magazin: «Das ist ein Mechanismus, den man lernt:<br />

Wenn ich draufhaue, bekomme ich Beachtung. Und<br />

darum geht es.» Also kann man sich entsprechend verhalten:<br />

«Trolle niemals füttern» – ohne Aufmerksamkeit<br />

verliert er sein Interesse und zieht weiter. Er trollt sich.<br />

Die Ablehnung der anderen<br />

Wenn Personen andere ge zielt wegen Herkunft, Geschlecht<br />

und religiöser oder sexueller Orientierung<br />

an greifen, spricht man von Hassreden (englisch «hate<br />

speech»). «Hassreden können von Beleidigungen über<br />

Ausgrenzungen und Benachteiligungen bis zu Hetze<br />

und Gewaltaufrufen gehen», erklärt Annina Grob. Sie<br />

sind nicht immer leicht zu erkennen, können auf den<br />

ersten Blick argumentativ nachvollziehbar und logisch<br />

erscheinen.<br />

Aber es gibt auch solche, in denen der Hass gegen<br />

«andere» deutlich zum Vorschein kommt. Solche Dis­<br />

80 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


kriminierungen rufen zu Intoleranz auf und gefährden<br />

das friedliche Zusammenleben. Problematisch ist, dass<br />

sich diese Hass reden in den neuen Medien schnell verbreiten<br />

und eine hohe Reichweite haben.<br />

Eine neue Form des Mobbings<br />

Wenn dieses gezielte Angreifen über einen längeren<br />

Zeitraum erfolgt, kann man von Mobbing sprechen. An<br />

Schulen seit je ein trauriges Thema. Kinder, die irgendwie<br />

als besonders erscheinen, sei es nun aufgrund charakterlicher<br />

oder äusserer Merkmale, werden von einer<br />

Gruppe ausgegrenzt.<br />

Mit den neuen Kommunika tionsformen ist auch eine<br />

neue Schikane entstanden. «Die verschiedenen digitalen<br />

Angebote wie soziale Netzwerke ermöglichen ein teilweises<br />

anonymes Mobben», sagt Isabel Willemse, Wissenschaftliche<br />

Mitarbeiterin an der Zürcher Hochschule<br />

für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Zudem<br />

geht die Reichweite weit über das Schulhaus hinaus.<br />

Beim Cybermobbing werden Opfer gezielt mit den<br />

neuen Medien beleidigt, blossgestellt oder bedroht. Etwa<br />

über Fake-Profile, indem Täter bei Facebook ein<br />

gefälschtes Profil des Opfers anlegen und peinliche Bilder<br />

verbreiten. Oder sie verbreiten in einer WhatsApp-<br />

Gruppe Gerüchte. Laut JAMES-Studie 2014 der ZHAW<br />

haben 22 Prozent der Schweizer Jugendlichen schon<br />

erlebt, dass «sie jemand online fertigmachen wollte».<br />

Für die Opfer kann diese Art der Ausgrenzung lang<br />

anhaltende seelische Folgen haben. Amanda ist ein trauriges<br />

Ex trembeispiel. Notwendig ist ein verantwortungsvoller<br />

Umgang mit den sozialen Netzwerken.<br />

Das müssen Sie wissen<br />

Trolle nicht füttern! Besonnen auf Kommentare reagieren<br />

und Provokationen ignorieren.<br />

Auf vielen Internetseiten, etwa Facebook oder Twitter, gibt<br />

es Meldestellen für inhaltlich bedenkliche Kommentare.<br />

Verdächtige Inhalte wie Hassreden können bei der KOBIK,<br />

der Schweizer Koordinationsstelle zur Bekämpfung der<br />

Internet kriminalität, gemeldet werden.<br />

Im Fall von Cybermobbing Screenshots machen,<br />

personenbezogene Informationen wie (Nick-)Namen<br />

notieren. Sind die Beteiligten bekannt, diese auffordern,<br />

die Inhalte zu löschen. Sind es Schüler, das Gespräch mit<br />

den Eltern und eventuell Lehrpersonen suchen.<br />

Wenn das eigene Kind beteiligt ist: Gespräch suchen<br />

und die Situation des Opfers aufzeigen. Eventuell mit<br />

den Eltern anderer Täter sprechen und beraten, wie das<br />

Mobbing beendet werden kann. Sanktionen wie Surfund<br />

Chatpausen können sinnvoll sein.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>81


Digital & Medial<br />

«Die beste Mutter von allen bin sowieso ich.<br />

Da können Sie meine Kinder fragen. – Obwohl, wenn ich’s<br />

mir recht überlege, glauben Sie mir lieber so.»<br />

Tweet von @Heike_land<br />

Schreibmotivation online<br />

Wenn man nur für die Lehrperson schreibt, sie die Einzige<br />

ist, die Feedback gibt, ist das für Schülerinnen und<br />

Schüler oft wenig motivierend. Deshalb hat imedias die<br />

Schreibplattform YouType initiiert. Dort publizieren<br />

Jugendliche ab der fünften Klasse eigene Texte. Dabei<br />

stehen ihnen verschiedene Möglichkeiten offen, um<br />

ihre Beiträge zugänglich zu machen. Texte, Bilder,<br />

Videos oder Audioaufnahmen können miteinander<br />

kombiniert werden. So entstehen multimediale Projekte,<br />

welche die Lernenden untereinander kommentieren.<br />

Das motiviert, wie ein User schreibt: «Wenn gute Kommentare<br />

gekommen sind, dann sind Fantasien einfach<br />

von alleine gekommen – wegen der Motivation.»<br />

www.youtype.ch<br />

Ein Jugendroman<br />

mit Sogwirkung<br />

Ben ist voller dunkler Geheimnisse. Selbst seiner besten Freundin<br />

Hanna gegenüber. Aber vielleicht kommen sie sich ja bei ihrer<br />

heimlichen Tour ans Meer näher. Es knistert jedenfalls gewaltig,<br />

und das Buch könnte eine tolle Liebesgeschichte mit Roadtrip<br />

werden. Wäre da nicht der verwunschene Strand, den sich die<br />

Abitu rienten als Ziel ausgesucht haben. Dort soll jedes Jahr<br />

ein junger Mann ertrinken. Alle Vorzeichen stehen schlecht für Ben.<br />

Wort gewaltiges und unheimlich spannendes Jugendbuchdebüt.<br />

Es besteht die Gefahr, dass Ihre Teenager heimlich nachts mit der<br />

Taschenlampe unter der Bettdecke weiterlesen.<br />

Ulla Scheler: Es ist gefährlich, bei Sturm zu schwimmen. Heyne, <strong>2016</strong>.<br />

368 Seiten, Fr. 22.90 als Taschenbuch, 11.90 als E-Book. Empfohlen ab<br />

14 Jahren.<br />

Immer da, wo Zahlen sind.<br />

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Ab sofort können Sie bei Raiffeisen Ihre Hypothek online<br />

abschliessen. Dabei erhalten Sie auch online eine umfassende<br />

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82 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

raiffeisen.ch/online-hypothek


Wenn Gamen kognitiv fit macht<br />

Bilder: ZVG, iStockphoto<br />

Wer viel vor dem Computer sitzt, hat schlechte Noten, weil er<br />

die Zeit nicht zum Lernen nutzt. So die landläufige Meinung<br />

vieler Eltern und Lehrpersonen. In Australien wurde jetzt<br />

wissenschaftlich untersucht, wie sich der Internetkonsum von<br />

15-Jährigen auf deren Schulnoten auswirkt. Das Ergebnis fällt<br />

differenziert aus – je nachdem, was die Jugendlichen online<br />

machen. Doch gerade die bei Erwachsenen umstrittenen<br />

Onlinespiele haben einen positiven Einfluss auf die Noten –<br />

in Mathematik und den Naturwissenschaften und sogar bei der<br />

Lesekompetenz. Ganz anders sieht es allerdings bei Schülern<br />

aus, die häufig soziale Medien wie Facebook oder Chatprogramme<br />

nutzen. Sie haben schlechtere Noten. Hier sei allerdings<br />

nicht ganz klar, was Ursache und was Wirkung ist: Wer lustige<br />

Videos postet oder sich stundenlang mit der Freundin auf<br />

WhatsApp unterhält, habe einerseits weniger Zeit für Hausaufgaben.<br />

«Andererseits ist es aber auch möglich, dass gerade die<br />

weniger guten Schüler mehr Sozialkontakte mit anderen<br />

pflegen», so der Melbourner Studienleiter Alberto Posso.<br />

Quelle: Sueddeutsche.de<br />

Welche Lehrstelle passt zu dir?<br />

Finde es<br />

heraus:<br />

future.login.org


Digital & Medial<br />

Also mein Kind<br />

schaut keine Pornos!<br />

Viele Eltern wollen lieber nicht so genau<br />

wissen, welche Begleiterscheinungen die<br />

Geschlechtsreife ihrer Kinder mit sich bringt –<br />

schon gar nicht, wenn eine davon Pornografie<br />

heisst. Text: Michael In Albon<br />

Bild: jeshoots.com<br />

Noch nie war Pornografie<br />

so leicht und<br />

so schnell zugänglich<br />

wie heute. Im<br />

Netz gelangt man<br />

auf pornografische Seiten, ohne dass<br />

man sie sucht. Auch Teenager. So<br />

wie heutige Eltern als Jugendliche<br />

beim Papiersammeln auf Sexheftchen<br />

gestossen sind, die sie dann<br />

verstohlen durchgeblättert haben.<br />

Die Studie EU-Kids Online von<br />

2013 zeigt: 21 Prozent der Schweizer<br />

Jugendlichen zwischen 9 und 16<br />

Jahren haben schon sexuelle Inhalte<br />

im Internet gesehen. Und via Handy<br />

haben 42 Prozent der Knaben und<br />

32 Prozent der Mädchen zwischen<br />

12 und 19 bereits einmal erotische<br />

oder aufreizende Fotos oder Videos<br />

erhalten (JAMES-Studie 2014).<br />

Schädlich oder nicht?<br />

Was das bei Jugendlichen auslöst,<br />

hier scheiden sich die Expertengeister.<br />

Die einen be haupten, Jugendliche<br />

unterschieden klar zwischen<br />

realer und virtueller sexueller Welt,<br />

andere sagen, Jugendliche lernten<br />

von der Pornografie und verinnerlichten<br />

Normen und Standards. Die<br />

Wahrheit liegt wohl dazwischen: Zu<br />

glauben, Ju gendliche übernähmen<br />

das Gesehene ungefiltert und unreflektiert<br />

in ihr Repertoire, wäre unverhältnismässige<br />

Panik. Aber anzunehmen,<br />

die häufig frauenverach -<br />

tenden Handlungen liessen die sexuellen<br />

Vorstellungen der Jugendlichen<br />

unberührt, wäre naiv. Denn Pornografie<br />

beschränkt sich längst nicht<br />

auf das Anschauen im Netz, sie prägt<br />

die Kultur unserer Kinder: etwa<br />

totalrasierte Körper im Jugendmagazin<br />

Bravo, String-Tangas für 8-Jährige,<br />

Rapper Sidos «Arschficksong».<br />

Teenager treibt das Thema Sexualität<br />

um, sie haben Fragen wie: Ist<br />

Analverkehr selbstverständlich? Wie<br />

rasiert man sich im Intimbereich?<br />

Weder Eltern noch Schule antworten<br />

darauf. So nutzen viele Teenager<br />

Pornografie als Aufklärungsquelle<br />

– diese Antwort erhielt Marie-Louise<br />

Nussbaum von fast der Hälfte<br />

jener Jugendlichen, die sie für ihre<br />

Lizenziatsarbeit «Aufklärungsmittel<br />

Pornografie?» befragt hat. Dadurch<br />

können falsche Vorstellungen von<br />

realer Sexualität und Druck entstehen<br />

– bei Jungs sexueller Leistungsdruck,<br />

bei Mädchen der Druck,<br />

einen perfekten Körper zu haben<br />

und stets sexuell verfügbar zu sein.<br />

Darüber reden<br />

Übergehen Sie als Eltern deshalb<br />

nicht einfach die Tatsache, dass pornografische<br />

Angebote existieren.<br />

Offene Gespräche über Pornografie,<br />

Sexualität und Geschlechtsrollenbilder<br />

helfen Ihren Kindern, Gesehenes<br />

und Gehörtes kritisch zu hinterfragen<br />

und einzuordnen. Und: Wenn<br />

Sie mit Ihrem Kind sprechen, dann<br />

nicht mit erhobenem Zeigefinger,<br />

sondern am besten von Mann zu<br />

Mann, von Frau zu Frau. Sprechen<br />

Sie über Gefühle und darüber, dass<br />

die sexuelle Beziehung nicht von<br />

blosser Technik und harten Praktiken,<br />

sondern in erster Linie von<br />

Gefühlen wie Zuneigung, Respekt<br />

und Begehren geprägt ist.<br />

Und wenn Ihre Kinder das Thema<br />

lieber nicht mit Ihnen besprechen<br />

möchten, dann weisen Sie sie<br />

auf sinnvolle Seiten im Internet hin.<br />

Auf feel-ok.ch, tschau.ch, lilli.ch,<br />

147.ch und frageinfach.ch.<br />

Michael In Albon<br />

ist Jugendmedienschutz-Beauftragter<br />

und Medienkompetenz-Experte von<br />

Swisscom.<br />

facebook.com/michaelinalbon<br />

twitter.com/MichaelInAlbon<br />

Auf Medienstark finden Sie Tipps und interaktive<br />

Lernmodule für den kompetenten Umgang mit<br />

digitalen Medien im Familienalltag.<br />

swisscom.ch/medienstark<br />

84 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


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Bild: Basil Stücheli<br />

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✁<br />

Hier abtrennen


Service<br />

Unser Wochenende …<br />

Text: Leo Truniger<br />

in Braunwald<br />

Schwyz<br />

Glarus<br />

Eggstöcke<br />

(Glarner Alpen)<br />

Bergetenseeli<br />

Gumen<br />

Braunwald<br />

Klettersteig<br />

Berggasthaus Gumen<br />

Gumen<br />

Burstberg<br />

Hüttenberg<br />

Niederschlacht<br />

Grotzenbüel<br />

Oberblegisee<br />

Märchenhotel<br />

BSINTI Lesecafé<br />

& Kulturbar<br />

Bergstation<br />

Braunwaldbahn<br />

Rüti<br />

Glarus<br />

Süd<br />

… Darf es etwas höher und ausgesetzter sein? Ein perfektes<br />

Terrain für erste Kletterversuche finden Sie in Braunwald auf<br />

dem Einsteiger- und Kinderklettersteig. Geeignet ist er für<br />

Kinder ab 7 Jahren in Begleitung Erwachsener. Er beginnt auf<br />

dem Gumen (1900 m ü. M.) gleich hinter dem Berggasthaus,<br />

die Kletterzeit beträgt eine bis zwei Stunden. Weitere<br />

Klettersteige für Fortgeschrittene führen über die Gipfel der<br />

Eggstöcke. Die Routen befinden sich immer auf dem Grat. Die<br />

Ausrüstung kann beim Berggasthaus gemietet werden.<br />

Ausrüstungsmiete: beim Berggasthaus Gumen, Mo bis So<br />

8.20 bis 13 Uhr, Mietmaterialrückgabe nach Absprache vor Ort.<br />

www.klettersteige.ch, www.braunwald.ch > Erlebnisse ><br />

Sommer > Sport > Klettersteig<br />

Talstation Linthal Braunwaldbahn<br />

Restaurant Nussbüel<br />

Linthal<br />

Bahnhof Linthal<br />

Linth<br />

Geniessen …<br />

Spiele- und<br />

Erlebnisweg<br />

Glarnerland<br />

Altdorf<br />

(Uri)<br />

Gut zu wissen …<br />

… Als eine der ersten Tourismusdestinationen der Schweiz<br />

erklärte sich Braunwald autofrei. Das touristische Herz der<br />

Ferienregion am Klausenpass auf 1256 m ü. M.ist mit einer<br />

der steilsten Standseilbahnen der Welt zu erreichen – oder<br />

zu Fuss, mit dem Bike oder dem E-Bike.<br />

Erleben …<br />

… Auf dem sechs Kilometer langen Spiele- und Erlebnisweg<br />

Glarnerland kommen die Naturentdecker und Kletterakrobaten<br />

Ihrer Familie auf die Rechnung. Mit einem Entdeckerset im<br />

Rucksack machen sich die Teilnehmer auf die Wanderung, die<br />

bei der Braunwaldbahn in Linthal beginnt und zu zwölf<br />

Spielplätzen mit unterschiedlichen Herausforderungen führt:<br />

Gipfel erstürmen, eine Laubwohnung bauen, ein Mandala<br />

legen. Oben in Braunwald warten drei weitere Erlebniswege<br />

wie der Zwerg-Bartli-Erlebnisweg für Familien.<br />

Spiele- und Erlebnisweg: Einzeleintritt pro Familie Fr. 20.–/<br />

Rucksack (exkl. Depot). Rucksackverleih von 7 bis 19.30 Uhr.<br />

www.spieleunderlebnisweg.ch<br />

… Das BSINTI ist ein Lese- und Kulturcafé in Braunwald. Es<br />

lädt Sie zum Verweilen und Geniessen kleiner Spezialitäten<br />

ein. Das BSINTI ist auch ein Ausstellungsraum, eine kleine,<br />

feine Bibliothek und eine Buchhandlung. Sie finden da Bücher<br />

für Kinder und Erwachsene, ausgewählte Zeitschriften und<br />

Zeitungen. Ausserdem stellt Braunwald allen Gästen 1001<br />

Bücher und Kulturmagazine zur Verfügung. Die Gratislektüre<br />

ist in zehn Minibibliotheken draussen im ganzen Dorf verteilt<br />

in hübschen Holzkisten zu finden: Belletristik, Bergliteratur,<br />

Kinder- und Jugendbücher, Werke von Glarner Autorinnen und<br />

Autoren sowie Bücher mit lokalem Bezug.<br />

BSINTI, Dorfstrasse 9. Drei Minuten von der Bergbahnstation.<br />

Offen Mo bis Sa 10 bis 18 und So 11 bis 17 Uhr. www.bsinti.ch.<br />

Minibibliotheken, Infos und Standorte: www.braunwald.ch ><br />

Für Geniesser<br />

… Mitten in der Berglandschaft der Glarner Alpen ist Wandern<br />

ein besonderes Vergnügen. Sie finden hier Touren in allen<br />

Schwierigkeitsgraden und kommen da und dort in den Genuss<br />

typischer Glarner Spezialitäten, etwa Schabziger, Kalberwurst<br />

oder Magenträs. Eine besonders beliebte Route führt<br />

von der Bahnstation in Braunwald zum Nussbüel mit dem<br />

gleichnamigen Restaurant. Für diesen Spaziergang, der meist<br />

auf horizontalem Weg durch Waldabschnitte und an kleinen<br />

Bergbächen vorbeiführt, brauchen Sie etwa eine Stunde. Für<br />

den Rückweg gibt es verschiedene Varianten hinüber bzw.<br />

hinunter zur Klausenpassstrasse.<br />

86 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


Braunwald: in luftiger<br />

Höhe auf einem<br />

Klettersteig, am<br />

idyllischen<br />

Oberblegisee, im Bann<br />

des Erzählers im<br />

Märchenhotel.<br />

Bilder: ZVG<br />

Karte: www.braunwald.ch > Aktuell > Braunwald Info<br />

Wanderung Nussbüel: www.braunwald.ch > Für Geniesser<br />

Übernachten …<br />

… Im Märchenhotel Bellevue in Braunwald gehört das Haus<br />

den Kindern, und die Erwachsenen können sich zurücklehnen.<br />

Jeden Abend fesselt die Direktorin oder der Direktor die<br />

Kleinen mit einem Märchen. Während Sie es sich im Panorama-Speisesaal<br />

gutgehen lassen, essen die Kinder im eigenen<br />

«Saal der Könige». Und gemeinsam kann Ihre Familie sich im<br />

Erlebnisbad mit Outdoorpool mit 34 Grad warmem Wasser<br />

tummeln. Auf dem Märchenhotel-Programm stehen auch<br />

Ponyreiten, Lamatrekking und Bauernhofbesuche.<br />

Preisbeispiel pro Nacht im Familienzimmer (Doppelzimmer mit<br />

1 bis 2 Zusatzbetten), zwei Erwachsene und zwei Kinder, inkl.<br />

Halbpension: Fr. 185.– bis 245.– plus Fr. 10.– pro Kind und pro<br />

Altersjahr. www.maerchenhotel.ch<br />

… Möchten Sie einmal übernachten wie die Nomaden in<br />

Zentralasien? Auf dem Grotzenbüel kann Ihre Familie<br />

erproben, wie es sich in einer Jurte schlafen lässt. In der Ruhe<br />

der Alp und zusammen mit Gemsen, Murmeltieren und Kühen.<br />

Aufs Grotzenbüel gelangen Sie mit einer Gondelbahn oder zu<br />

Fuss in einer einstündigen Wanderung ab der Bergstation der<br />

Braunwaldbahn. Zur Übernachtung in der Jurte gehören auch<br />

Abendessen und Frühstück im gleich danebenliegenden<br />

Bergrestaurant Chämistube, wo auch Dusche/WC<br />

mitbenutzt werden können.<br />

Bergrestaurant Chämistube, Grotzenbüel. Preisbeispiel für zwei<br />

Nächte, zwei Erwachsene und zwei Kinder: Fr. 332.– inkl.<br />

Frühstück und Abendessen. www.braunwald.ch > Aktuell ><br />

News > Übernachtung in der Jurte<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>87


Service<br />

Vielen Dank<br />

an die Partner und Sponsoren der Stiftung Elternsein:<br />

Finanzpartner Hauptsponsoren Heftsponsor<br />

Dr. iur. Ellen Ringier<br />

Walter Haefner Stiftung<br />

Credit Suisse AG<br />

Rozalia Stiftung<br />

UBS AG<br />

Paradies-Stiftung<br />

für soziale Innovation<br />

Impressum<br />

16. Jahrgang. Erscheint 10-mal jährlich<br />

Herausgeber<br />

Stiftung Elternsein,<br />

Seehofstrasse 6, 8008 Zürich<br />

www.elternsein.ch<br />

Präsidentin des Stiftungsrates:<br />

Dr. Ellen Ringier, ellen@ringier.ch,<br />

Tel. 044 400 33 11<br />

(Stiftung Elternsein)<br />

Geschäftsführer: Thomas Schlickenrieder,<br />

ts@fritzundfraenzi.ch, Tel. 044 261 01 01<br />

Redaktion<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Chefredaktor: Nik Niethammer,<br />

n.niethammer@fritzundfraenzi.ch<br />

Verlag<br />

Fritz+Fränzi,<br />

Dufourstrasse 97, 8008 Zürich,<br />

Tel. 044 277 72 62,<br />

info@fritzundfraenzi.ch,<br />

verlag@fritzundfraenzi.ch,<br />

www.fritzundfraenzi.ch<br />

Business Development & Marketing<br />

Leiter: Tobias Winterberg,<br />

t.winterberg@fritzundfraenzi.ch<br />

Anzeigen<br />

Administration: Dominique Binder,<br />

d.binder@fritzundfraenzi.ch,<br />

Tel. 044 277 72 62<br />

Art Direction/Produktion<br />

Partner & Partner, Winterthur<br />

Bildredaktion<br />

13 Photo AG, Zürich<br />

Korrektorat<br />

Brunner AG, Kriens<br />

Druck<br />

Konradin Heckel, Nürnberg<br />

Auflage<br />

(WEMF/SW-beglaubigt 2015)<br />

total verbreitet 103 920<br />

davon verkauft 17 206<br />

Preis<br />

Jahresabonnement Fr. 68.–<br />

Einzelausgabe Fr. 7.50<br />

iPad pro Ausgabe Fr. 3.–<br />

Abo-Service<br />

Galledia Verlag AG Berneck<br />

Tel. 0800 814 813, Fax 058 344 92 54<br />

abo.fritzundfraenzi@galledia.ch<br />

Für Spenden<br />

Stiftung Elternsein, 8008 Zürich<br />

Postkonto 87-447004-3<br />

IBAN: CH40 <strong>09</strong>00 0000 8744 7004 3<br />

Inhaltspartner<br />

Institut für Familienforschung und -beratung<br />

der Universität Freiburg / Dachverband Lehrerinnen<br />

und Lehrer Schweiz / Verband Schulleiterinnen und<br />

Schulleiter Schweiz / Jacobs Foundation / Forum<br />

Bildung / Elternnotruf / Pro Juventute /<br />

Interkantonale Hochschule für Heilpädagogik<br />

Zürich / Schweizerisches Institut für Kinderund<br />

Jugendmedien<br />

Stiftungspartner<br />

Pro Familia Schweiz / Pädagogische Hochschule<br />

Zürich / Marie-Meierhofer-Institut für das Kind /<br />

Schule und Elternhaus Schweiz / Schweizerischer<br />

Verband alleinerziehender Mütter und Väter<br />

SVAMV / Kinderlobby Schweiz / kibesuisse Verband<br />

Kinderbetreuung Schweiz<br />

im Glarnerland<br />

autofrei<br />

Spielerisches<br />

am laufenden Meter<br />

Nur eineinhalb ÖV-Stunden von Zürich entfernt<br />

kommen Kinder in der autofreien Bergwelt von Braunwald<br />

auf Touren. Die Ferienregion am Klausenpass<br />

holt Schul klassen und Familien mit vier Erlebniswegen<br />

spielerisch ab. Kids lernen Spannendes zur<br />

Tier- und Bergwelt, lösen knifflige Rätsel, tauchen in<br />

Märchenwelten ein und planschen im Bach oder<br />

Bergsee.<br />

Mitte Mai bis Ende Oktober (inkl. RailAway-Kombi)<br />

Wasserforscherreise Oberblegisee<br />

Auf der Spur des Lebenselixiers HcO<br />

Mai bis November<br />

Spiele- und Erlebnisweg Glarnerland<br />

Akrobatik und spielerische Naturkunde<br />

Mitte Juni bis Ende Oktober<br />

Zwerg-Bartli-Erlebnisweg<br />

Neues im Reich des drolligen Glarner Zwerges<br />

Mitte Juni bis Ende Oktober<br />

Tierli-Parcours<br />

Knirpse knipsen sich durch Braunwald<br />

Weitere Informationen zu den Braunwalder<br />

Erlebniswegen unter www.braunwald.ch und<br />

Telefon 055 653 65 65


Buchtipps<br />

Wenn die Lektüre<br />

stimmt, können<br />

sich auch Jungen<br />

fürs Lesen<br />

begeistern.<br />

Pekkas geheime<br />

Aufzeichnungen:<br />

Der komische<br />

Vogel / Die<br />

Wunderelf<br />

Mit seinen Ella-<br />

Büchern hat Timo<br />

Parvela die Schulgeschichten neu<br />

belebt. Nun tritt in einer neuen Serie<br />

Ellas Schulkamerad und<br />

Klassenclown Pekka ins Zentrum<br />

des Geschehens und erzählt<br />

urkomisch von seinen Erlebnissen.<br />

Hanser, 2015/<strong>2016</strong>, je Fr. 13.90,<br />

ab 8 Jahren<br />

Auch viele Jungen lesen gerne. Oft finden<br />

sie aber nicht die Bücher, die sie fesseln:<br />

Spannend und zum Lachen sollten sie sein,<br />

und in den Helden müssen sich die Jungs<br />

wiederfinden können.<br />

Was für Jungs!<br />

Eine Kriminaltrilogie mit Rico und Oskar<br />

Ich, Onkel Mike<br />

und Plan A<br />

Mit der neuen<br />

Familie des Vaters<br />

ins Kinderhotel?<br />

Sicher nicht! Kurz<br />

entschlossen packt<br />

Leon seine Sachen, fährt zu seinem<br />

coolen Onkel Mike und wird gleich<br />

zu dessen Musikmanager. Eine<br />

Geschichte mit viel Fahrt von Alice<br />

Gabathuler.<br />

arsEdition, <strong>2016</strong>, Fr. 17.90,<br />

ab 10 Jahren<br />

Bilder: iStockphoto, ZVG<br />

Rico mag nicht der Allerhellste<br />

sein. Selbst be ­<br />

zeichnet er sich gerne<br />

als «tiefbegabt». Verlässt<br />

er sein Berliner<br />

Quartier und den Weg zu seiner<br />

Förderschule, verläuft er sich sofort.<br />

Aber Rico hat ein grosses Herz, und<br />

die Welt eines Berliner Miethauses<br />

gibt für ihn genug Spannendes her.<br />

Erst recht, als er Oskar kennenlernt.<br />

Der kleine Knirps ist hochbegabt<br />

und trägt immer einen Helm –<br />

sicher ist sicher. Zu zweit macht das<br />

ungleiche Paar sich auf die Suche<br />

nach dem geheimnisvollen Mister<br />

X, der Kinder entführen soll.<br />

Ein Geheimtipp ist Andreas<br />

Steinhöfels Trilogie um den «tiefbegabten»<br />

Rico und seinen hochbegabten<br />

Freund Oskar nicht mehr<br />

wirklich. Bereits der erste Band<br />

«Rico, Oskar und die Tieferschatten»<br />

wurde nach seinem Erscheinen<br />

in Deutschland 2008 mit Preisen<br />

überhäuft – verdientermassen. Ein<br />

Jahr später folgte «Rico, Oskar und<br />

das Herzgebreche». Schade, dass die<br />

Geschichten über Rico und Oskar<br />

in der Schweiz nicht auf die gleiche<br />

Resonanz stiessen. Die Filme –<br />

«Rico, Oskar und der Diebstahlstein»<br />

erschien diesen Frühling –<br />

liefen in Schweizer Kinos nur ganz<br />

kurz oder gar nicht.<br />

Aber lesen kann man die Bücher<br />

auch hier immer noch und so teilhaben<br />

an Ricos Abenteuer, die er<br />

uns in seiner ganz eigenen Sicht der<br />

Welt unnachahmbar lustig erzählt.<br />

Carlsen,<br />

2008/20<strong>09</strong>/2011,<br />

Fr. 17.90,<br />

ab 9 Jahren<br />

Warten auf Gonzo<br />

«Shit happens,<br />

sagte ich mir. Aber<br />

warum immer nur<br />

mir?» – Oz ist mit<br />

seiner Familie aufs<br />

Land gezogen und<br />

macht sich gleich<br />

vor der ganzen Schule zum Depp.<br />

Wie kommt er aus dem Schlamassel<br />

bloss wieder raus?<br />

Freies Geistesleben, <strong>2016</strong>,<br />

Fr. 24.90, ab 12 Jahren<br />

Verfasst von Elisabeth Eggenberger,<br />

Mitarbeiterin des Schweizerischen<br />

Instituts für Kinder- und<br />

Jugendmedien SIKJM.<br />

Auf www.sikjm.ch sind weitere<br />

Buchempfehlungen zu finden.<br />

Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi<br />

September <strong>2016</strong>89


Eine Frage – drei Meinungen<br />

Unsere Tochter, 16, hat Schulprobleme und konsultiert deswegen<br />

einen Psychologen. Nun haben wir erfahren, dass sie diesen nach Strich<br />

und Faden belügt und krasse Unwahrheiten über unsere Familie erzählt.<br />

Wie sollen wir reagieren? George, 41, und Claudia, 39, Zürich<br />

Nicole Althaus<br />

Ihre Tochter hat beim Psychologen<br />

einen geschützten<br />

Raum, in dem sie ihre eigene<br />

Perspektive auf die Familie<br />

darstellt. Die kann durchaus<br />

krass von Ihrer eigenen<br />

abweichen. Vielleicht aber<br />

lügt sie tatsächlich. Verlangen<br />

Sie eine Aussprache, am besten<br />

eine Familiensitzung beim Psychiater Ihrer Tochter.<br />

Tonia von Gunten<br />

Stellen Sie sich als Eltern folgende<br />

Fragen: Was wissen<br />

wir? Was löst das in uns aus?<br />

Was könnte der Grund für<br />

das Verhalten unserer Tochter<br />

sein? Wie geht es ihr? Was<br />

vermisst sie? Wie wollen wir<br />

Eltern mit der Situation<br />

umgehen? Danach setzen Sie<br />

sich mit Ihrer Tochter zusammen und erzählen ihr, was<br />

Sie beschäftigt. Allerdings müssen Sie bereit sein, sich<br />

von ihr auch Dinge anzuhören, die Sie vielleicht<br />

schmerzen werden.<br />

Peter Schneider<br />

Eine verfahrene Situation.<br />

Denn wenn Sie – wie anzunehmen<br />

– nicht von Ihrer<br />

Tochter selbst erfahren<br />

haben, was für einen Seich sie<br />

beim Psychologen erzählt, hat<br />

die psychologische Behandlung<br />

offenkundig ein Leck.<br />

Das ist nicht gut. Noch weniger<br />

gut wäre es aber, nun um den heissen Brei herumzureden.<br />

Bitten Sie also um einen gemeinsamen Termin<br />

(mit Ihrer Tochter) beim Schulpsychologen und stellen<br />

Sie dort die Situation klar. Es wird dabei wohl vor allem<br />

darum gehen müssen, herauszufinden, warum Ihre<br />

Tochter solche Unwahrheiten verbreitet.<br />

Nicole Althaus, 47, ist Kolumnistin, Autorin und<br />

Mitglied der Chefredaktion der «NZZ am Sonntag».<br />

Zuvor war sie Chefredaktorin von «wir eltern» und<br />

hat den Mamablog auf «Tagesanzeiger.ch» initiiert<br />

und geleitet. Nicole Althaus ist Mutter von zwei<br />

Kindern, 16 und 12.<br />

Tonia von Gunten, 42, ist Elterncoach, Pädagogin<br />

und Buchautorin. Sie leitet elternpower.ch, ein<br />

Programm, das frische Energie in die Familien<br />

bringen und Eltern in ihrer Beziehungskompetenz<br />

stärken möchte. Tonia von Gunten ist verheiratet<br />

und Mutter von zwei Kindern, 9 und 6.<br />

Peter Schneider, 58, ist praktizierender<br />

Psychoanalytiker, Autor und SRF-Satiriker («Die<br />

andere Presseschau»). Er lehrt als Privatdozent<br />

für klinische Psychologie an der Uni Zürich und<br />

ist Professor für Entwicklungspsychologie an<br />

der Uni Bremen. Peter Schneider ist Vater eines<br />

erwachsenen Sohnes.<br />

Haben Sie auch eine Frage?<br />

Schreiben Sie eine E-Mail an:<br />

redaktion@fritzundfraenzi.ch<br />

Bilder: Anne Gabriel-Jürgens / 13 Photo, Pino Stranieri, HO<br />

90 September <strong>2016</strong> Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi


© UBS <strong>2016</strong>. Alle Rechte vorbehalten.<br />

Es geht um viel<br />

mehr als den Sieg.<br />

Grosse Emotionen am UBS Kids Cup erleben.<br />

ubs.com/kidscup


SIE MÜSSEN IHREN<br />

KINDERN NICHT<br />

JEDEN WUNSCH ER-<br />

FÜLLEN. SCHENKEN<br />

SIE IHNEN EINFACH<br />

EIN STÜCK SICHERHEIT.<br />

Was bleibt von allen Geschenken, die Sie Ihren Kindern<br />

im Laufe der Zeit machen? Interessen ändern sich, Moden<br />

wechseln. Mit einem Goldgeschenk von Degussa können<br />

Sie dagegen sicher sein, bleibende Werte zu schenken.<br />

Von edlen Schmuckbarren über Spiele aus Sterling Silber<br />

bis zum ersten eigenen Anlagebarren – mit Edelmetallen<br />

geben Sie der nächsten Generation immer auch ein Stück<br />

finanzielle Freiheit mit auf den Weg. Besuchen Sie uns in<br />

Zürich, in Genf oder einfach im Internet. Wir freuen uns,<br />

Sie in aller Ruhe persönlich zu beraten. Auf Wunsch können<br />

Sie Ihre Schätze auch in Ihrem Schrankfach bei uns<br />

verwahren.<br />

DEGUSSA-GOLDHANDEL.CH<br />

Bleicherweg 41 · 8002 Zürich<br />

Telefon: 044 403 41 10<br />

Quai du Mont-Blanc 5 · 1201 Genf<br />

Telefon: 022 908 14 00<br />

Zürich I Genf I Frankfurt I Madrid I Singapur I London

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