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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />

men sie im akademischen Universum kaum vor. 94 Eine betroffenenkontrollierte oder Partizipationsforschung<br />

steht noch aus. Auch als Autor_Innen (mit keineswegs homogenen Auffassungen <strong>und</strong> Argumenten)<br />

finden intergeschlechtliche Menschen wenig Beachtung. Ihre Beiträge werden selten zitiert,<br />

obwohl es mittlerweile auch Buchprojekte gibt, die von Inter* (mit-)herausgegeben worden sind. 95<br />

Auffällig ist zudem, dass das starke akademische Interesse an Inter* sich nicht, oder so gut wie nicht,<br />

in eine praktische politische Zusammenarbeit übersetzt.<br />

Inter* als Expert_Innen in eigener Sache Raum zu geben <strong>und</strong> mit ihnen den Austausch zu suchen,<br />

ist daher ein zentraler Aspekt einer herrschaftskritischen Wissenschaft. Zusammen mit den bereits<br />

genannten Kriterien – Verortung in den aktuellen Auseinandersetzungen, keine Pathologisierung, kein<br />

Paternalismus, strukturelle Bedingungen in den Blick nehmen, auch subtile Machtmechanismen kritisch<br />

analysieren, homogenisierende <strong>und</strong> naturalisierende Zuschreibungen hinterfragen – könnte das derzeitige<br />

Interesse an Inter* auf eine respektvolle Forschung orientiert werden, die den Horizont unseres<br />

Denkens über Geschlecht erweitert <strong>und</strong> neue, vielfältige Erfahrungen für intergeschlechtliche sowie<br />

alle anderen Menschen ermöglicht.<br />

<strong>3.</strong>8 Der Verein „Intersexuelle Menschen e.V.“<br />

Lucie Veith<br />

Mein Name ist Lucie Veith, ich bin ein intersexueller Mensch, ich bezeichne mich als Überlebende eines<br />

uneingewilligten Medizinversuchs, seit 2004 bin ich in der Selbsthilfe „xy-frauen“ ehrenamtlich als Beraterin<br />

tätig, habe ehrenamtlich die Schatten-/Parallelberichte zu den Staatenberichten der UN-Konventionen<br />

bzgl. <strong>Frauen</strong>rechten 2008 (CEDAW), 2010 zum UN Sozialpakt <strong>und</strong> 2011 zum Abkommen gegen<br />

Folter, unmenschliche Behandlungen oder Strafe (CAT) verfasst. 2010 <strong>und</strong> 2011 habe ich den Verein<br />

<strong>und</strong> die angeschlossenen Selbsthilfegruppen bei der Anhörung vor dem „Deutschen Ethikrat“ vertreten.<br />

Wir alle leben in einer Gesellschaft mit einer staatlichen Regelung, die eine traditionelle Zweigeschlechterordnung<br />

verteidigt. Die Annahme, es gäbe nur Männer <strong>und</strong> <strong>Frauen</strong>, ist so absurd, als würde<br />

man auf dem Standpunkt verharren, die Erde wäre eine Scheibe. Das Leben ist ebenso vielfältig wie<br />

die Geschlechtlichkeit von Menschen. 4000 Varianten menschlicher Geschlechtlichkeit sind wissenschaftlich<br />

nachgewiesen.<br />

Intersexuelle Menschen, Zwitter, Herms <strong>und</strong> wie diese Menschen sich sonst selbst benennen, eint<br />

die Tatsache, dass sie Mensch sind, <strong>und</strong> es steht fest, dass Menschenrechte nicht teilbar sind, eine<br />

Benachteiligung wegen des Geschlechts darf nicht stattfinden…Dennoch erleben intersexuelle Menschen<br />

bis zum heutigen Tag Benachteiligungen, Diskriminierungen, werden Opfer von Genitalverstümmelung,<br />

Kastrationen <strong>und</strong> Gewalt, die als strukturelle staatliche Gewalt zu bezeichnen ist. Selbst<br />

in der Sozialgesetzgebung des Staates tauchen wir nicht auf <strong>und</strong> sind scheinbar schutzlos.<br />

Das Geschlecht eines Menschen wird gebildet aus vielen Faktoren: Da sind zum einen die körperlichen<br />

Faktoren zu nennen, die bei jedem Menschen eine unterschiedliche geschlechtliche Differenzierung<br />

aufweisen. Aber auch das psychische Geschlecht. Die geschlechtliche Identität ist ein Teil, der zur Bildung<br />

des Geschlechtsbegriffes gehört. Doch bevor wir hier in eine Geschlechterdiskussion einsteigen<br />

können, bedarf es einer generellen Klärung. Zu klären ist zunächst, über welches „Geschlecht“ wir<br />

sprechen: Wollen wir über das äußere Geschlecht eines Menschen sprechen, die inneren Geschlechtsorgane<br />

<strong>und</strong> das organische Geschlecht? Das gonadale Geschlecht? Auch das hormonelle Geschlecht<br />

wäre sicher eine Gesprächsr<strong>und</strong>e wert. Ein weites Feld ist zudem das chromosomale Geschlecht…<br />

Sie wissen schon XX, XY, XXY0 <strong>und</strong> so weiter. Das Identitätsgeschlecht? Oder wollen wir heute über<br />

das Zuweisungsgeschlecht in einer dichotomen Welt reden? Oder gar über das Personenstandsgeschlecht?<br />

Das Thema der Arbeitsgruppe „Trans* <strong>und</strong> Intersex“ auf der Tagung birgt in der Mischung schon<br />

Zündstoff für ein ganzes Semester: So wollen wir doch hier im geschwisterlichen Umgang miteinander<br />

zu einem Leben hin in Würde, zu gleichen Rechten arbeiten. Die Diskriminierungen mögen sich ähneln,<br />

die Bedürfnisse aber liegen scheinbar weit auseinander. Oder auch nicht…<br />

Gestatten Sie mir einzusteigen in meine Sicht der Dinge aus internormativer Perspektive: Was<br />

sind die Forderungen <strong>und</strong> welche Schritte sind notwendig, um auch intersexuellen Menschen ein<br />

gleichberechtigtes Leben zu ermöglichen?<br />

Lucie Veith, 1. Vorsitzend*<br />

„Intersexuelle Menschen e.V.“<br />

94 Vgl. Koyama (2003): 32.<br />

Vgl. auch: Internationale Vereinigung<br />

Intergeschlechtlicher<br />

Menschen (IVIM) et al. (2009):<br />

Intergeschlechtlichkeit ist kein<br />

medizinisches Problem! In:<br />

GID Spezial 9: Aus dem Bio-<br />

Baukasten - SeXY Gene.<br />

S. 21-26: 24.<br />

95 Zum Beispiel Holmes, Morgan<br />

(2009) (Hg.): Critical Intersex.<br />

Farnham/Surrey,<br />

Burlington/VT.<br />

95

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