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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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84 Koyama, Emi (2003): Suggested<br />

Guidelines for Non-Intersex<br />

Individuals: Writing<br />

About Intersexuality and Intersex<br />

People. In: Intersex Initiative<br />

Portland (Hg.): Teaching<br />

Intersex Issues (The Second<br />

Edition). Portland, S. 32-33: 32<br />

85 So das Thema einer Vielzahl<br />

psychologischer Studien,<br />

z.B.: Richter-Appelt, Hertha; Discher,<br />

Christine; Gedrose, Benjamin<br />

(2005): Gender identity<br />

and recalled gender related<br />

play behavior in individuals<br />

with different forms of intersexuality.<br />

In: Anthropologischer<br />

Anzeiger 63 (3), S. 241-256.<br />

86 Vgl. Klöppel, Ulrike (2012<br />

i.E.): "Leben machen" am<br />

Rande der Zwei-Geschlechter-<br />

Norm. Biopolitische Regulierung<br />

von Inter*. In: Sänger,<br />

Eva; Rödel, Malaika (Hg.): Biopolitik<br />

<strong>und</strong> Geschlecht. Zur Regulierung<br />

des Lebendigen.<br />

Münster: Westfälisches Dampfboot.<br />

87 Vgl. Janssen (2009): 177.<br />

Janssen macht das Problem an<br />

Darstellungen des bekannten<br />

John/Joan-Falls (= David Reimer)<br />

fest. Dabei handelte es<br />

sich nicht um das Schicksal<br />

einer intergeschlechtlichen Person,<br />

doch wurde auch David<br />

Reimer unfreiwilligen Genitaloperationen<br />

im Kindesalter unterzogen.<br />

88 Ausführlich dazu Klöppel,<br />

Ulrike (2012 i.E.).<br />

89 Vgl. Deutsche Ethikrat<br />

(2012).<br />

90 Vgl. die Presseerklärung<br />

der Internationalen Vereinigung<br />

Intergeschlechtlicher<br />

Menschen zur „Stellungnahme<br />

Intersexualität“ des Deutschen<br />

Ethikrats vom 2<strong>3.</strong>02.2012:<br />

http://www.cyber-orchid.de/<br />

OII_DE_WP/presseerklarungzur-stellungnahme-intersexualitat-des-deuschen-ethikratsvom-23-02-2012/<br />

91 Siehe z. B. Schmitz, Sigrid<br />

(2006): Geschlechtergrenzen.<br />

Geschlechtsentwicklung, Intersex<br />

<strong>und</strong> Transsex im Spannungsfeld<br />

zwischen biologischer<br />

Determination <strong>und</strong> kultureller<br />

Konstruktion. In: Ebeling,<br />

Smilla; Schmitz, Sigrid (Hg.):<br />

<strong>Geschlechterforschung</strong> <strong>und</strong><br />

Naturwissenschaften: Einführung<br />

in ein komplexes Wechselspiel,<br />

Wiesbaden, S. 33-56.;<br />

ausführlich zu diesem Problem:<br />

Klöppel (2010): 49-67.<br />

92 Vgl. Koyama (2003): 32.<br />

93 Vgl. Koyama (2003): 3<strong>3.</strong><br />

94<br />

<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />

„Focus on what looking at intersexuality or intersex people tells you about yourself and the<br />

society, rather than what it tells you about intersex people. Turn analytical gaze away from intersex<br />

bodies or genders and toward doctors, scientists, and academics who theorize about<br />

intersexuality.“ 84<br />

Die herrschaftskritische Herangehensweise konkretisiert Emi Koyama hier als Umkehrung der Forschungskonzeption.<br />

Eine einseitige Fokussierung der Untersuchung auf beispielsweise die psychosexuelle<br />

Entwicklung intergeschlechtlicher Menschen 85 nährt die Vorstellung, als handle es sich dabei<br />

um ein intrinsisches Phänomen, während der machtvolle soziale Kontext, in dem sich intergeschlechtliche<br />

Menschen verorten <strong>und</strong> verhalten müssen, ausgeblendet wird. Eine kritische Forschung sollte<br />

also immer auch die Prozesse gesellschaftlicher Normierung, Ausgrenzung <strong>und</strong> bedingter bzw. selektiver<br />

Integration analysieren <strong>und</strong> in Beziehung setzen zu allen Inter* betreffenden Beobachtungen.<br />

Das bedeutet meiner Meinung nach nicht, dass zum Beispiel eine Kritik identitätspolitischer Verfestigungen<br />

in Teilen der inter*-Bewegung nicht geführt werden darf. Sie ist allerdings dann problematisch,<br />

wenn sie isoliert, d. h. ohne Berücksichtigung des Kontextes der Ausschluss- <strong>und</strong> Integrationspolitiken<br />

<strong>und</strong> hegemonialer gesellschaftlicher Praktiken der Anerkennung erfolgt. 86 Hierzu passt auch die Kritik<br />

von Joke Janssen an Ansätzen, die einzelne Fälle von Inter* dermaßen stark in den Vordergr<strong>und</strong><br />

stellen, dass der Anschein entsteht, als handle es sich um eine singuläre bzw. eine Ausnahmesituation,<br />

während die strukturellen Bedingungen, hier insbesondere die Zwei-Geschlechter-Ordnung <strong>und</strong> Heteronormativität<br />

unterbeleuchtet bleiben. 87<br />

Mit einer Heteronormativitätskritik, die pauschal die Unterdrückung von Inter* skandalisiert, wird<br />

die analytische Herausforderung allerdings umgangen. Denn neben gewaltvollen, disziplinierenden<br />

<strong>und</strong> normierenden Praktiken sind auch subtile Machtstrategien zu beachten, die eine normalisierende<br />

Selbstregulierung stimulieren <strong>und</strong> in ambivalenter Weise integrativ wirken. 88 Als ambivalent erweisen<br />

sich die Konditionen, die Anerkennung <strong>und</strong> Integration regulieren, so etwa, wenn neben männlich<br />

<strong>und</strong> weiblich ein dritter Geschlechtseintrag ermöglicht würde, jedoch nur für Menschen, „deren Geschlecht<br />

nicht eindeutig feststellbar ist“, wie es der Deutsche Ethikrat im Februar 2012 empfohlen<br />

hat. 89 Falls sich dieser Vorschlag durchsetzen würde, hätte er zur Folge, dass die medizinische Definitionsmacht<br />

über Geschlecht <strong>und</strong> die Entscheidung „eindeutig – uneindeutig“ aufrechterhalten würde.<br />

Menschen ohne Inter*-Diagnose würde somit die dritte Geschlechtsoption verwehrt werden. 90 Gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

ist zu hinterfragen, ob überhaupt eine amtliche Geschlechtsregistrierung nötig ist oder das<br />

entsprechende Formularfeld nicht einfach offen gelassen werden kann. Denn dass es Staaten zur Voraussetzung<br />

machen, das Geschlecht zu identifizieren <strong>und</strong> zu kontrollieren, um einer Person Bürgerrechte<br />

zu gewähren, knüpft diesen Status an normative Klassifikationskriterien, die notwendig<br />

Ausschlüsse produzieren.<br />

Neben der fehlenden oder unterkomplexen Machtanalyse ist ein häufig damit vergesellschaftetes<br />

Problem ein essentialistisches <strong>und</strong> homogenisierendes Verständnis von Inter*. Es kommt zum Tragen,<br />

wenn Inter* als Phänomen der Natur aufgerufen wird, das die Unrichtigkeit oder Willkürlichkeit der<br />

kulturellen Einteilung in zwei Geschlechter zeigen soll. Dieser Ansatz konstituiert eine theoretische<br />

Asymmetrie: Während männlich <strong>und</strong> weiblich als gesellschaftliche bzw. kulturelle Konstruktionen dechiffriert<br />

werden, unterstellt er, dass Inter* ein selbstevidentes Phänomen <strong>und</strong> eine natürliche Tatsache<br />

sei. 91 Inter* wird als nackter Körper vorgestellt <strong>und</strong> dient als Projektionsfläche für Phantasien vom<br />

gänzlich Anderen. Es handelt sich letztlich um eine sexistische Zuschreibung, weshalb Emi Koyama<br />

fordert: „Do not reduce intersex people to their physical conditions. Depict intersex people as multidimensional<br />

human beings with interests and concerns beyond intersex issues.“ 92 Der abstrakte, reduktionistische<br />

Bezug auf Inter* geht mit einer homogenisierenden Repräsentation einher, die blind<br />

ist für die Lebensrealität intergeschlechtlicher Menschen. Dazu führt Emi Koyama aus: „How people<br />

experience being born intersex is at least as diverse as how people experience being born non-intersex,<br />

and is impacted by various social factors such as race, class, ability, and sexual orientation, as well as<br />

actual medical conditions and personal factors.“ 93 Eine intersektionale Analyse sollte daher für jede<br />

Forschung zu Inter* Standard sein.<br />

Die genannten Probleme – keine oder eindimensionale Machtanalyse, naturalisierende, sexistische<br />

Zuschreibungen <strong>und</strong> Homogenisierung – lassen sich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass die Forschung<br />

sich oftmals gar nicht ernsthaft dafür interessiert, was intergeschlechtliche Menschen selbst<br />

zu sagen haben. Als „Expert_Innen in eigener Sache“, wie von inter*-Aktivist_Innen gefordert, kom-

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