3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />
selbstverständlich sein, dass die wissenschaftliche Untersuchung zentrale Mechanismen der gesellschaftlichen<br />
Marginalisierung intergeschlechtlicher Menschen wie Pathologisierung <strong>und</strong> Paternalismus<br />
nicht reproduziert.<br />
Dass die Wissensproduktion nicht neutral verläuft, vielmehr Fragestellung, Aufbau, Prozess <strong>und</strong><br />
Ergebnisse durch die partiale Perspektive der Forschenden geprägt sind, zeigt sich insbesondere an<br />
medizinisch-psychologischen Studien. Diese bleiben gewöhnlich pathologisierenden Schemata verhaftet.<br />
Aus dem medizinischen Blickwinkel heraus gehört das Abfragen von Intersex-Diagnosen zur<br />
Gr<strong>und</strong>lage einer ordentlich gemachten Studie. Das hält einige medizin- bzw. diagnosekritische intergeschlechtliche<br />
Menschen von einer Studienteilnahme ab; bestenfalls lassen sie diagnosebasierte Fragen<br />
aus oder beantworten sie kreativ <strong>und</strong> kommentieren sie. Inter*-Aktivist_Innen haben wiederholt<br />
Studienverantwortliche auf dieses Problem aufmerksam gemacht. 78 Dennoch erfährt dieser Umstand<br />
in den Studienauswertungen in der Regel keine Berücksichtigung.<br />
Jüngst hat die Online-Umfrage zur „Situation intersexueller Menschen in Deutschland“ des Deutschen<br />
Ethikrats dieses Problem wiederholt, denn der Fragebogen stellt die Erhebung von Diagnosen<br />
an den Anfang. Dazu hieß es zwar im Fragebogen, die Begrifflichkeit „Diagnose“ diene „ausschließlich<br />
zur Vereinfachung der Kommunikation“ <strong>und</strong> würde nicht in pathologisierender Absicht verwendet. 79<br />
Doch in der Auswertung wurden die Umfrageteilnehmer_Innen einfach nach Diagnosegruppen (insbesondere<br />
„Adrenogenitales Syndrom“ – AGS – versus sonstige „Intersexuelle“) unterteilt <strong>und</strong> Differenzen<br />
in den Antworten zur Behandlungszufriedenheit damit erklärt. 80 Darauf gestützt, unterstellt<br />
der Ethikrat, dass die unterschiedliche Behandlungszufriedenheit ihre Ursache in angeblich gr<strong>und</strong>verschiedenen<br />
körperlichen Voraussetzungen habe: Die Zufriedeneren seien geschlechtlich „eindeutig“<br />
weiblich (bei AGS liegt eine mehr oder minder starke „Vermännlichung“ bei XX-Chromosomen <strong>und</strong><br />
Eierstöcken vor), weshalb es sich bei den chirurgischen <strong>und</strong> hormonellen Behandlungen auch nur um<br />
„geschlechtsvereindeutigende“ Eingriffe handle, während bei den Unzufriedenen eine „echte biologische<br />
Zwischengeschlechtlichkeit“ bestehe, weshalb Genitaloperationen <strong>und</strong> Hormongaben „geschlechtszuweisenden“<br />
Charakter hätten. 81 Nicht nur operiert hier der Ethikrat mit einem biologistischen<br />
Verständnis von Geschlecht <strong>und</strong> ignoriert den gar nicht so kleinen Teil der Menschen „mit<br />
AGS“, die unfreiwillige kosmetische Eingriffe im Kindesalter ablehnen (laut Studie immerhin 15 Prozent).<br />
82 Dass ein großer Teil der Fragebögen von den oder mit Hilfe der Eltern ausgefüllt worden sein<br />
musste, weil die Hälfte der Studienteilnehmer_Innen, die die Diagnose AGS angegeben hatten, unter<br />
fünfzehn Jahre alt war (davon einige unter neun Jahre <strong>und</strong> sogar einjährige Kinder), erwähnte der<br />
Ethikrat erst gar nicht. 83 Letzteres wurde immerhin im Auswertungsbericht des Bielefelder Instituts<br />
für Wissenschafts- <strong>und</strong> Technikforschung noch als „Unsicherheitsquelle“ bei der Dateninterpretation<br />
diskutiert, ohne jedoch die Konsequenzen auszubuchstabieren. Vor allem findet sich im wissenschaftlichen<br />
Bericht keine kritische Diskussion der willkürlichen Zuschreibungen, Homogenisierungen <strong>und</strong><br />
Ausschlüsse, die mit der diagnostischen Einteilung der befragten Personen einhergehen. Damit ist erneut<br />
die medizinische Perspektive in weiten Teilen unreflektiert reproduziert worden, während zugleich<br />
kritische Einwände von Inter* ignoriert wurden.<br />
Kein W<strong>und</strong>er, dass viele Betroffene den Eindruck haben, Objekt fremder Interessen zu sein, mit anderen<br />
Worten: instrumentalisiert zu werden. Aus meiner eigenen Forschungsarbeit zur Geschichte der Intersex-Medizin<br />
<strong>und</strong> einer langjährigen politischen Zusammenarbeit mit inter*-Aktivist_Innen weiß<br />
ich, dass einerseits der Instrumentalisierungsvorwurf oftmals zu pauschal ist, dass sich andererseits<br />
nicht wenige Wissenschaftler_Innen, <strong>und</strong> zwar leider auch in den Gender <strong>und</strong> Queer Studies, darüber<br />
gar keine Gedanken machen, sondern Inter* als ihre Forschungsspielwiese begreifen. Pauschalisierend<br />
ist es beispielsweise, wenn jegliche Forschung zu Inter*, die von nicht-intergeschlechtlichen Menschen<br />
durchgeführt wird, als Instrumentalisierung gebrandmarkt wird, oder wenn Projekte der Gender Studies,<br />
die Geschlechter- <strong>und</strong> Sexualitätsnormen hinterfragen, mit Studien der medizinisch-psychologischen<br />
<strong>Geschlechterforschung</strong>, die in aller Regel Geschlechternormen affirmieren, gleichgesetzt werden.<br />
Ein wichtiges Argument für eine engagierte Forschung nicht-intergeschlechtlicher Menschen ist, dass<br />
die Kritik an den Ausschlüssen, Verwerfungen, Normierungen <strong>und</strong> der Gewalt, die die institutionalisierte<br />
Klassifikation der Menschen in zwei Geschlechter mit sich bringt, nicht intergeschlechtlichen<br />
Menschen aufgebürdet werden kann, sondern gerade aus der hegemonialen Gesellschaft heraus<br />
selbstkritisch in Angriff zu nehmen ist.<br />
Damit ist zugleich einer der zentralen Ansatzpunkte für eine ethisch-politisch sensible Forschung<br />
benannt: die herrschaftskritische Perspektive. Emi Koyama fordert:<br />
Ulrike Klöppel,<br />
Humboldt-Universität Berlin<br />
78 Vgl. die Kritik der Internationalen<br />
Vereinigung Intergeschlechtlicher<br />
Menschen an<br />
der Online-Umfrage des Deutschen<br />
Ethikrats: http://www.intersexualite.de/index.php/deutscher-ethikrat-umfragebrief/<br />
79 Bora, Alfons et al. (2011):<br />
Zur Situation intersexueller<br />
Menschen. Bericht über die<br />
Online-Umfrage des Deutschen<br />
Ethikrates. Bielefeld, Anhang:<br />
Fragebogen: 35.<br />
80 Vgl. Bora et al. (2011):<br />
31-3<strong>3.</strong><br />
81 Deutscher Ethikrat (2012):<br />
Intersexualität. Stellungnahme,<br />
Berlin: 27, 37, 174.<br />
82 Vgl. Bora et al. (2011): 32.<br />
83 Vgl. Bora et al. (2011): 4-5.<br />
93