3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
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Vorwort<br />
Die Wahrnehmung <strong>und</strong> Akzeptanz von Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell<br />
oder intersexuell leben (LSBTTI), sind seit den öffentlichen Auseinandersetzungen in den 1970er<br />
Jahren einem ständigen Wandel unterworfen. Zunächst stießen Lebensentwürfe, die quer (bzw.<br />
„queer“) zu heteronormativen Formen angesiedelt waren, überwiegend auf Skepsis <strong>und</strong> Ablehnung.<br />
Mittlerweile lässt sich eine Entwicklung zu einem scheinbar toleranten Miteinander feststellen, die<br />
selbst im klassisch familiären Sektor zu verzeichnen ist, worauf nicht zuletzt die stetig steigende Zahl<br />
von eingetragenen Lebenspartnerschaften hindeutet. Dennoch belegen einschlägige Studien, dass<br />
über ein Drittel der Deutschen moralische Vorbehalte gegen Homosexualität hat bzw. Bedenken hinsichtlich<br />
gleichgeschlechtlicher Eheschließungen äußert (Heitmeyer 2012; Küpper/Zick 2012; vgl. auch<br />
Küpper in diesem Band). Der gesellschaftliche Status von trans*- oder inter*-Personen 1 ist kaum erforscht,<br />
die wenigen Veröffentlichungen verweisen jedoch auf eine überaus prekäre Lage hinsichtlich<br />
ihrer Gleichstellung <strong>und</strong> Akzeptanz. 2<br />
Die aktuellen Entwicklungen in Politik <strong>und</strong> Gesellschaft verweisen ebenfalls auf diese widersprüchlichen<br />
Konstellationen von Öffnungen <strong>und</strong> Ausschlüssen. So hat die EU die Diskriminierung<br />
aufgr<strong>und</strong> von sexueller Orientierung sanktioniert <strong>und</strong> nimmt die Problemlagen von LSBTTI zunehmend<br />
auf. 3 Gleichzeitig bildet die Verfolgung von homosexuellen Menschen – in all ihren bedrohlichen Ausprägungen<br />
– nur selten einen zureichenden politischen Asylgr<strong>und</strong> für deutsche Behörden. 4 Auf europäischer<br />
Ebene zeichnet die Studie „Fleeing Homophobia“ (2011) 5 ein ähnlich problematisches Bild.<br />
Zwar wurde in den letzten Jahrzehnten eine Reihe rechtlicher <strong>und</strong> sozialer Veränderungen für homosexuelle<br />
Menschen eingeleitet, die durch den langen Einsatz der Lesben- <strong>und</strong> Schwulenbewegungen<br />
mit angestoßen wurden (vgl. Dennert/Leidinger/Rauchut 2007; Lenz 2010; Pretzel/Weiß 2010;<br />
Gössl 2009; Herrn 2000). Doch wie diese Tagungsdokumentation <strong>und</strong> der darin enthaltene Literaturbericht<br />
zeigen, müssen die gegenwärtigen Folgeprobleme, Nebenwirkungen <strong>und</strong> neuen Formen von<br />
Diskriminierung ernst genommen werden. Vergleichsweise neu auf der Agenda sind zudem die Problemlagen<br />
von Menschen mit Lebensentwürfen jenseits distinkt schwul-lesbischer Identitäten: trans*oder<br />
inter*-Personen bringen neue <strong>und</strong> wichtige Hinweise in die gesellschaftspolitische Debatte ein<br />
<strong>und</strong> fordern zu Recht eine angemessene Beteiligung im Prozess der Anerkennung <strong>und</strong> Gleichstellung.<br />
Angesichts dieser unterschiedlichen Ausgangssituation möchte die vorliegende Veröffenlichung<br />
vor allem zentrale Ergebnisse <strong>und</strong> Probleme zu Lebenslagen von Menschen mit LSBTTI-Hintergr<strong>und</strong><br />
zusammenfassen. Leitend waren folgende Fragestellungen: Wie leben lesbische, schwule, bisexuelle,<br />
trans*- <strong>und</strong> inter*-Menschen gegenwärtig im B<strong>und</strong>esland Nordrhein-Westfalen? Wie lassen sich ihre<br />
Lebenslagen beschreiben? Welche Studien liegen vor <strong>und</strong> wo besteht Forschungsbedarf?<br />
Die Dokumentation fasst die Ergebnisse eines Projekts zu Lebenslagen von Menschen mit LSBTTI-<br />
Hintergr<strong>und</strong> zusammen, das vom Ministerium für Ges<strong>und</strong>heit, Emanzipation, Pflege <strong>und</strong> Alter des<br />
Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA) gefördert wurde. Es bestand aus zwei Teilen: Zum Ersten wurde<br />
eine Studie zum Forschungsstand zu LSBTTI verfasst. Zum Zweiten wurde eine interdisziplinäre Fachtagung<br />
„anders <strong>und</strong> gleich in <strong>NRW</strong> – Gleichstellung <strong>und</strong> Akzeptanz sexueller <strong>und</strong> geschlechtlicher Vielfalt“<br />
am 10.05.2012 in Bochum veranstaltet, deren Ergebnisse an die Literaturstudie anschließen.<br />
LSBTTI wurden für das Projekt als Strukturkategorien gefasst, die auf die Lebensbedingungen<br />
<strong>und</strong> -lagen einer bestimmten Gruppe von Menschen einwirken. Sie sind aber nicht allein bestimmend,<br />
sondern müssen in intersektionaler Sicht verstanden werden: LSBTTI wirkt etwa mit Klassenlage, Migration<br />
oder Alter zusammen. So unterscheidet sich die Lage von homosexuellen Jugendlichen in<br />
einem deutschtürkischen Arbeiter_innenhaushalt von denen in der akademischen Mittelschicht. Das<br />
Lebenslagenkonzept aus der Soziologie ermöglicht es, die komplexen Konstellationen der Unterschiede<br />
sichtbar zu machen, die Menschen in verschiedenen Dimensionen sozialer Ungleichheit erfahren. Relevant<br />
werden hier Fragen nach den individuellen wie kollektiven Verwirklichungschancen, dem jeweiligen<br />
Zugang zu Ressourcen, den sozialen <strong>und</strong> politischen Partizipationsmöglichkeiten sowie der<br />
generellen Sichtbarkeit <strong>und</strong> Anerkennung im sozialen Raum (Lenz 2009).<br />
Die Literaturstudie (Kapitel 1) trägt dieser Perspektive Rechnung, indem sie den deutschsprachigen<br />
Forschungsstand in den Bereichen zusammenfasst, die für das Verständnis der unterschiedlichen Le-<br />
1 Um den Ausschlussmechanismen<br />
zweigeschlechtlicher<br />
Bezeichnungspraxis zu entgehen,<br />
verwenden wir im<br />
vorliegenden Bericht den<br />
„gender_gap“ („_“). So wird<br />
insbesondere Menschen jenseits<br />
der Geschlechternorm die<br />
Möglichkeit gegeben, sich angesprochen<br />
zu fühlen (vgl.<br />
Herrmann 2003). Außerdem<br />
wird das Sternchen („*“) den<br />
Zusatz „-sexuell“ bzw. „-gender“<br />
in bestimmten Komposita<br />
ersetzen. Damit soll einer Pathologisierung<br />
durch Sprache<br />
entgegengewirkt <strong>und</strong> eine<br />
schriftsprachliche Leerstelle für<br />
identitäre Andersartigkeit geschaffen<br />
werden (vgl. Baumgartinger<br />
2008).<br />
2 Wie der Literaturbericht<br />
(Kapitel 1) zeigt, liegen vornehmlich<br />
Forschungsarbeiten<br />
aus der Geschichts- <strong>und</strong><br />
Rechtswissenschaft wie auch<br />
der Medizin vor.<br />
3 So startete am 02.04.2012<br />
eine Onlinebefragung der EU-<br />
Gr<strong>und</strong>rechtagentur zur Ermittlung<br />
des rechtlichen wie<br />
gesellschaftlichen Status von<br />
LSBTTI-Menschen in Europa<br />
(vgl. http://lgbtsurvey.eu/;<br />
0<strong>3.</strong>04.2012)<br />
4 Vgl. den Fall des Kameruners<br />
Rodrigues K.: Trotz einer<br />
eingetragenen Lebenspartnerschaft<br />
mit seinem deutschen<br />
Fre<strong>und</strong> wird ihm das Bleiberecht<br />
verwehrt, ein Asylantrag<br />
wurde abgelehnt. Die Online-<br />
Petition hierzu informiert umfassend<br />
(http://www.openpetition.de/p<br />
etition/online/aufenthaltsrechtfuer-rodrigue-k;<br />
0<strong>3.</strong>04.2012).<br />
5 Vgl. übersichtsartig die<br />
(französischsprachige) Konferenzseitehttp://www.fleeinghomophobia.fr/<br />
(0<strong>3.</strong>04.2012).<br />
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