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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />

Gegen diese gr<strong>und</strong>legenden Veränderungen trat der Nationalsozialismus für die (Re-)Installierung der<br />

neopatriarchalen Geschlechterordnung in einer extrem rassistischen <strong>und</strong> homophoben Form ein. Der<br />

§ 175 zur Strafbarkeit männlicher Homosexualität wurde verschärft <strong>und</strong> auch Lesben faktisch verfolgt.<br />

Der verschärfte § 175 blieb in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland nach 1945 weiter gültig. Erst<br />

1969 wurden homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen straffrei. In der DDR galt dies faktisch<br />

ab Ende der 1950er Jahre <strong>und</strong> wurde 1968 in der Strafrechtsreform festgehalten.<br />

Hatten die <strong>Frauen</strong>- <strong>und</strong> Homosexuellenbewegungen sich für Gleichheit <strong>und</strong> gegen die neopatriarchale<br />

Geschlechterordnung engagiert, so griffen sie ab den 1960er Jahren die differenzbegründete<br />

Geschlechterordnung gr<strong>und</strong>legend an. Die Homosexuellenbewegung formierte sich im Zusammenhang<br />

mit der Studenten- <strong>und</strong> <strong>Frauen</strong>bewegungen ab 1972 neu. Lesben- <strong>und</strong> Schwulenbewegung kooperierten<br />

zunächst, trennten sich dann aber, da die Lesbenbewegung hegemoniale Tendenzen in<br />

der Schwulenbewegung kritisierte <strong>und</strong> sich feministisch orientierte. Beide Bewegungen vollzogen eine<br />

Neubestimmung ihrer sexualpolitischen Kategorien: Sie lehnten die bisher vorherrschende biologische<br />

Bestimmung ihrer Sexualität radikal ab. Stattdessen entwickelten sie eine radikale Gesellschaftskritik<br />

wie sie schon der Titel des Films von Rosa von Praunheim ausdrückte, der 1971 seinen Startschuss in<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland gab: „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er<br />

lebt“. Demnach müsste die Gesellschaft verändert, nicht die Homosexuellen an sie an- <strong>und</strong> eingepasst<br />

werden. Sie verbanden dies mit dem offensiven Aufbau einer eigenen Identität: Sie nahmen die vorige<br />

soziale Kategorie des Abweichenden <strong>und</strong> Ausgegrenzten, „lesbisch“ oder schwul“, kehrten sie zur<br />

Selbstbezeichnung um <strong>und</strong> werteten sie auf. Zugleich bauten sie eine Bewegungsidentität im Sinne<br />

einer „Wir-Gruppe“ auf. Darunter wird eine Gemeinschaft verstanden, die nach innen gemeinsame<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Normen einfordert (z. B. „frauenidentifizierte <strong>Frauen</strong>“) <strong>und</strong> sich nach außen im<br />

Sinne einer Differenz abgrenzt. Diese Wir-Gemeinschaften <strong>und</strong> eine entsprechende Identitätspolitik<br />

leiteten sich aus der black power-Bewegung in den USA her, die eine eigene schwarze Nation angesichts<br />

der tiefverwurzelten rassistischen Unterdrückung eingefordert hatte. Die <strong>Frauen</strong>bewegung wie<br />

auch die Lesbenbewegung in den USA waren stark davon beeinflusst. Die Identitätspolitik beruhte<br />

also auf einem kommunalistischen „Wir-Gruppen-Modell“. Die konstruktivistische <strong>und</strong> queere Kritik<br />

hat den Essentialismus (also die Vorstellung, manche Menschen wären in ihrem Wesen vor allem Lesben<br />

oder Schwule) <strong>und</strong> die klaren Ausschlüsse dieser Bewegungsidentitäten zu Recht kritisiert.<br />

Ich möchte hier zwei Aspekte hervorheben, die wichtig für die Folgerungen zu sexualpolitischen<br />

Kategorien sind: Zum einen haben bereits die verschiedenen Bewegungsidentitäten wie die der Lesben<br />

<strong>und</strong> Schwulen, der Migrant_innen <strong>und</strong> der schwarzen <strong>Frauen</strong> die Vorstellung einer homogenen Männlichkeit/Weiblichkeit<br />

radikal hinterfragt <strong>und</strong> so wesentlich dazu beigetragen, dass die Zweigeschlechtlichkeit<br />

an Plausibilität verlor <strong>und</strong> kritisiert werden konnte. Zum anderen waren einige vorige<br />

Identitätskategorien wie die „sexuellen Zwischenstufen“ tendenziell nach außen eher offen. „Identität“<br />

<strong>und</strong> „Bewegungsidentität“ führen also nicht per se zu starren Einschlüssen <strong>und</strong> Ausschlüssen.<br />

Vielmehr ergeben sie sich aus dem kommunalistischen Modell sozialer Bewegungen, die in den 1970er<br />

Jahren unter dem Zeichen der eigenen Identität „Lesbe“ oder „Schwuler“ die Ideologie der biologischen<br />

Zweigeschlechtlichkeit radikal angriffen <strong>und</strong> sich so gegen die differenzbegründete Geschlechterordnung<br />

wandten. Auch die Identitätspolitik ist also im soziokulturellen Kontext zu verstehen. Das<br />

provoziert die Frage, welche Einschlüsse <strong>und</strong> Ausschlüsse in den gegenwärtigen sexualpolitischen Kategorien<br />

auftreten. Sie soll nun diskutiert werden.<br />

<strong>3.</strong> Zur flexibilisierten Geschlechterordnung<br />

Wie die Rationalisierung des Kapitalismus <strong>und</strong> die gesellschaftliche Demokratisierung die neopatriarchale<br />

Geschlechterordnung unterspült hatten, so wurde auch die folgende differenzbasierte Ordnung<br />

durch die fortschreitende Modernisierung verändert. Gegenwärtig, so lautet meine These, ist sie im<br />

Übergang zu einer flexibilisierten Geschlechterordnung begriffen. Im Folgenden können nur einige<br />

Probleme dieses Übergangs schlaglichtartig benannt werden, ohne dass er in seinen Triebkräften <strong>und</strong><br />

seinen widersprüchlichen Entwicklungen herausgearbeitet werden kann.<br />

Zum einen ist die biologische Zweigeschlechtlichkeit zumindest relativiert worden. In säkularen<br />

entwickelten Ländern lässt sich gegenwärtig eine Pluralisierung <strong>und</strong> Entbiologisierung von Geschlecht<br />

beobachten. Vom kollektiven, biologisch bestimmten Schicksal erscheint es eher als Frage der individuellen<br />

Wahl: Will frau z. B. auf eine Karriere setzen oder Versorgung durch die Ehe suchen, Männer<br />

oder <strong>Frauen</strong> lieben (oder beide)? Zu dieser individuellen Wahl gehört dann auch eine Pluralisierung

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