3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
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<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />
Sünden, die „wegen ihrer Abscheulichkeit hier nicht genannt werden können“ <strong>und</strong> Juristen rieten im<br />
frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert von einer Strafbarkeit ab, u. a. da sich sonst das Wissen darum ausbreiten könne.<br />
Doch Staatsbeamte, Juristen, Mediziner, Sexual- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler debattierten um das abweichende<br />
Begehren <strong>und</strong> die homosexuelle Emanzipationsbewegung beteiligte sich intensiv daran.<br />
Sie trug auch zur Herausbildung des Verständnisses von Homosexualität als distinkter Sexualform<br />
bei. Selbst die Begriffe „homosexual“ <strong>und</strong> „heterosexual“ wurden von Karl Maria Kertbeny in Kritik<br />
an der Gesetzesnovelle im Strafrecht eingebracht <strong>und</strong> verbreiteten sich dann allmählich. Karl Heinrich<br />
Ulrichs (1825-1895), Jurist <strong>und</strong> Pionier der Homosexuellenbewegung, entwarf eine Reihe früher sexualpolitischer<br />
Kategorien gleichgeschlechtlich Begehrender: Dazu zählten die Urninge oder ein drittes<br />
angeborenes Geschlecht (Lautmann 1993). Damit bewegte er sich auf dem Feld der Medizin <strong>und</strong> Sexualwissenschaft,<br />
den Leitwissenschaften im juristischen Diskurs, die zudem mehrheitlich für Straffreiheit<br />
bei einer angeborenen oder Neigung zur Homosexualität plädierten. Gegenüber dem vorigen<br />
Motiv des triebhaften Sünders, der wider die göttliche Natur handelt, ist diese biologisch-medizinische<br />
Argumentation entlastend <strong>und</strong> sie ermöglicht zudem eine Gemeinschaftsbildung der Urninge, die biologisch<br />
vorgegeben ist. Magnus Hirschfeld, der Arzt <strong>und</strong> Führer der Homosexuellenbewegung im Kaiserreich<br />
<strong>und</strong> der Weimarer Republik, sprach von „sexuellen Zwischenstufen“, die er ebenfalls<br />
biologisch begründete (Lautmann 1993). In diesen sexualpolitischen Kategorien erscheint die Biologie<br />
als verwissenschaftlichte Natur, die sich zu einer rationalen objektiven Beschreibung von Sexualität<br />
gegenüber der religiösen Vorstellung widernatürlicher Sünde <strong>und</strong> Triebhaftigkeit eignet. So kann sie<br />
auch einen möglichen Schutzwall um gleichgeschlechtliche Lebensentwürfe <strong>und</strong> die sich herausbildende<br />
homosexuelle Bewegung <strong>und</strong> entsprechende Identitäten bilden. Homosexualität wurde damit<br />
aber auch tendenziell zu einem objektiven biologischen Merkmal für eine abgrenzbare Gruppe umdefiniert,<br />
die durch ihre sexuellen Praktiken definierbar ist.<br />
Die moderne Zweigeschlechtlichkeit wirkte auch auf das Verständnis von Sex ein: Alle Menschen<br />
sind aufgr<strong>und</strong> ihres biologischen „Sex“ in die zweigeschlechtliche Hierarchie einzuordnen, wofür eindeutige<br />
Geschlechtsorgane erforderlich sind. Die Menschen mit einem uneindeutigen Geschlechtskörper<br />
werden ausgeschlossen: Sie werden zum Objekt der Medizin, die sie „behandelte“, was auch chirurgische<br />
<strong>und</strong> später hormonale Eingriffe beinhaltete. Während die Medizin eine wissenschaftliche Sondersprache<br />
mit Begriffen wie Hermaphroditen usw. für sie entwickelte, wurden Menschen mit dissidentem oder uneindeutigem<br />
Geschlechtskörper selbst aus der Öffentlichkeit oder der allgemeinen Wahrnehmung ausgeschlossen.<br />
Während um Homosexualität ein Meer von Diskursen aufbrandete, wurde, was heute inter*<br />
heißt, hinter einer Mauer des Schweigens von der Öffentlichkeit ausgeschlossen. Diese Verweigerung<br />
einer öffentlichen Existenz kann als vertiefte Exklusion bezeichnet werden (vgl. Lenz 2009).<br />
Die Homosexuellenbewegung entwickelte also eigene sexualpolitische Kategorien zur Mobilisierung<br />
<strong>und</strong> zur Bestimmung ihrer Identität, die sich teils auf biologische <strong>und</strong> verwissenschaftlichte szientistische<br />
Ansätze stützten. Anstatt den Identitätsansatz per se zu kritisieren, ist wichtig, ihn im<br />
soziokulturellen Kontext zu verstehen. Den inter*-Menschen blieb diese Möglichkeit aufgr<strong>und</strong> des<br />
Ausschlusses von der Öffentlichkeit <strong>und</strong> einer eigenen Stimme versperrt.<br />
2. Zur differenzbegründeten Geschlechterordnung<br />
Die neopatriarchale Geschlechterordnung wurde durch die fortschreitende Modernisierung ab dem<br />
frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert erschüttert. Während die Bedeutung der väterlichen Autorität über den gesamten<br />
Haushalt zurückging, wurde die „biologische Geschlechterdifferenz“ zum Strukturierungsprinzip<br />
der neuen Geschlechterordnung. Sie begründete zum einen eine tiefgehende geschlechtliche<br />
Arbeitsteilung: Die Lohnarbeit zur Absicherung der Familie wurde „dem Mann“ zugeordnet <strong>und</strong> die<br />
unbezahlte Familien- <strong>und</strong> Versorgungsarbeit „seiner Hausfrau“. Die Mutterschaft wurde aufgewertet<br />
wie auch die familiäre Versorgungsarbeit weiter verweiblicht. Die „natürliche Mutterrolle“ der Frau<br />
wurde sozusagen selbst naturalisiert. Die Geschlechterdifferenz wurde in Form des Ernährer-/Hausfrauenmodells<br />
in den sich herausbildenden Wohlfahrtsstaat eingebaut <strong>und</strong> dadurch verstärkt.<br />
Zum anderen aber wurden die „zwei Geschlechter“ zunehmend als „unterschiedlich, aber gleichwertig“<br />
gesehen. Die Frau erschien nun von Natur aus zur „Mutter <strong>und</strong> Hausfrau“ bestimmt, nicht<br />
aber, weil sie dem Manne unterlegen <strong>und</strong> von seinem Schutz als „Herr des Hauses“ abhängig wäre.<br />
In der differenzbegründeten Geschlechterordnung wurde die geschlechtliche Ungleichheit also neu<br />
mit biologischer Differenz bei sozialer Gleichwertigkeit begründet. Die Zweigeschlechtlichkeit wurde<br />
nicht aufgehoben oder erschüttert, aber sie wurde nivelliert.