3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
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55 Hier können diese langzeithistorischen<br />
großen Trends<br />
nur knapp benannt <strong>und</strong> auf die<br />
tiefen Einbrüche <strong>und</strong> die Gegenmodernen<br />
vor allem im<br />
Zuge des Nationalsozialismus<br />
hingewiesen werden. Es soll<br />
also keine Fortschrittsgeschichte<br />
angedeutet, sondern<br />
die Widersprüchlichkeit der<br />
Modernisierung mitgedacht<br />
werden.<br />
56 Der Ansatz der Geschlechterordnung<br />
wurde von Raewyn<br />
Connell entwickelt <strong>und</strong> von Birgit<br />
Pfau-Effinger weitergeführt:<br />
Letztere versteht darunter die<br />
Strukturen des Geschlechterverhältnisses<br />
<strong>und</strong> die Beziehungen<br />
zwischen verschiedenen<br />
gesellschaftlichen Institutionen<br />
wie Familie <strong>und</strong> Arbeitsmarkt<br />
in Bezug auf die geschlechtliche<br />
Arbeitsteilung<br />
(vgl. Connell 1999; Pfau-Effinger<br />
2000: 68-77). Die Geschlechterordnung<br />
wird durch<br />
die Geschlechterkultur legitimiert,<br />
aber beide können in<br />
einem Wechselverhältnis zur<br />
gegenseitigen Veränderung<br />
beitragen. Der Ansatz der Geschlechterordnung<br />
wird ausführlich<br />
dargestellt <strong>und</strong> weitergeführt<br />
in: Lenz 2012 i. E.<br />
70<br />
<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />
Für Deutschland lassen sich idealtypisch drei Stufen der Modernisierung der Geschlechterordnung 56<br />
herausarbeiten. In der nationalen Modernisierung wird eine neopatriarchale Geschlechterordnung<br />
etabliert. Mit der Entwicklung der Massendemokratie, den Massenverbänden <strong>und</strong> der Massen- produktion<br />
entwickelt sich die organisierte Moderne (vgl. Wagner 1995): Sie beruht auf einer differenzbegründeten<br />
Geschlechterordnung. In der gegenwärtigen reflexiven Modernisierung, die die bisherigen<br />
F<strong>und</strong>amente der Moderne hinterfragt <strong>und</strong> erschüttert, zeichnet sich der Übergang zu einer flexibilisierten<br />
Geschlechterordnung ab.<br />
In jeder dieser Phasen unterscheiden sich die drei Dimensionen des Geschlechts. Es zeigen sich<br />
jeweils unterschiedliche Formen der Zweigeschlechtlichkeit (Binnendifferenzierung) <strong>und</strong> der Ausgrenzung<br />
„abweichender“ dissidenter Sexualitäten <strong>und</strong> uneindeutiger Geschlechtskörper. Dabei werden<br />
im Folgenden jeweils zunächst die rechtlichen <strong>und</strong> sozialwirtschaftlichen Verhältnisse fokussiert. Die<br />
Praktiken gleichgeschlechtlich begehrender Menschen im Alltagsleben, die weitaus flexibler <strong>und</strong> vieldeutiger<br />
waren als der Rechtsrahmen, werden darauf kurz angesprochen. In diesem Rahmen wird<br />
dann auf die sexualpolitischen Kategorien eingegangen.<br />
1. Zur neopatriarchalen Geschlechterordnung<br />
Die Moderne hatte Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit zum Leitwort erhoben. Aber auf verschiedene Weise wurden<br />
Ungleichheiten <strong>und</strong> Ausgrenzung nach Geschlecht, Klasse <strong>und</strong> Rasse/Kultur in ihr F<strong>und</strong>ament eingebaut.<br />
Die moderne politische Theorie wie auch die sich herausbildende Medizin verankerten die Vorstellung<br />
einer gr<strong>und</strong>legenden Geschlechterdifferenz <strong>und</strong> -hierarchie: Danach besteht die Menschheit<br />
aus zwei Geschlechtern mit ungleichen Aufgaben <strong>und</strong> Rechten, also aus Männern <strong>und</strong> <strong>Frauen</strong>. Von<br />
Natur aus erscheinen Männer überlegen nach Verstand <strong>und</strong> Körperkraft. Deswegen werden sie zu<br />
Bürgern <strong>und</strong> Kämpfern der modernen Republik bestimmt, wie auch <strong>Frauen</strong> zu Hausfrauen <strong>und</strong> Müttern.<br />
Bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden <strong>Frauen</strong> vom Wahlrecht <strong>und</strong> von höherer Bildung ausgeschlossen.<br />
Dafür wurde ihnen die Versorgungsarbeit für Familie <strong>und</strong> soziale <strong>Netzwerk</strong>e zugewiesen. Weil der<br />
Vater/Hausaltsvorstand weitgehende Rechte über Frau <strong>und</strong> Kinder hat <strong>und</strong> die Überlegenheit des<br />
Mannes herrschende Norm ist, spreche ich von einer neopatriarchalen Geschlechterordnung. Denn<br />
das Patriarchat bezeichnet die Herrschaft der älteren Männer, die die <strong>Frauen</strong> <strong>und</strong> Kinder (auch die<br />
Söhne) <strong>und</strong> die Ressourcen des Haushalts kontrollieren.<br />
Die Zweigeschlechtlichkeit ist eine moderne Denkform, die sich auf die Biologie, Medizin <strong>und</strong> die<br />
Sozialwissenschaft des 19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts berief. Wie zahlreiche Studien zu Rechtsgebung,<br />
Medizin <strong>und</strong> Sexualwissenschaft zeigen, wirkte sie auf eine hegemoniale Normierung der anderen<br />
Geschlechterdimensionen hin.<br />
Zur Leitnorm in Recht <strong>und</strong> bürgerlicher Gesellschaft wurde der heterosexuelle Geschlechtsverkehr<br />
in der Ehe mit dem Ziel der Erzeugung von Kindern, der ehelichen Reproduktion. Von <strong>Frauen</strong> wurde<br />
Jungfrauenschaft vor der Ehe <strong>und</strong> dann die Geburt vieler Kinder für Familie <strong>und</strong> Nation erwartet. Prostitution,<br />
Liebschaften <strong>und</strong> selbst ledige Mutterschaft waren tendenziell geächtet. Ledige Mütter <strong>und</strong><br />
Kinder wurden rechtlich <strong>und</strong> gesellschaftlich diskriminiert. Die freie Prostitution war verboten <strong>und</strong><br />
Prostituierte wurden registriert <strong>und</strong> scharf kontrolliert.<br />
Die Zweigeschlechtlichkeit verband sich also mit dem, was heute Heteronormativität genannt<br />
wird. Neben dissidenten heterosexuellen Formen wurde in dieser hegemonialen Normierung der Sexualität<br />
die Homosexualität vertieft diskriminiert <strong>und</strong> sanktioniert. Dabei handelte es sich um den<br />
Ausschluss der Person, die öffentlich als homosexuell bekannt <strong>und</strong> benannt wurde, aus weiten Bereichen<br />
der bürgerlichen Gesellschaft. Homosexualität wurde zu einem kastenartigen Status, der die<br />
ganze Person betraf. Wer sie verschwieg oder heimlich lebte, war potentiell durch Passing an den −<br />
ungleichen − geschlechtlichen Machtverhältnissen <strong>und</strong> Arbeitsteilung beteiligt. Männliche Homosexuelle<br />
hatten die Machtposition von Männern ihrer Schicht, Lesben die von <strong>Frauen</strong>, wenn sie auch<br />
durch lediges Leben, oft mit einer Fre<strong>und</strong>in, der rechtlichen Diskriminierung von Ehefrauen entgehen<br />
konnten. So befanden sich männliche Homosexuelle in der widersprüchlichen Position der potentiellen<br />
Teilhabe an den neopatriarchalen Machtpositionen <strong>und</strong> einer vertieften Ausgrenzung, die durch das<br />
strafrechtliche Verbot männlicher Homosexualität zugespitzt wurde.<br />
Die deutsche Entwicklung zeigt einerseits, wie sich im Zusammenspiel von Strafrechtsreform, Medizin<br />
<strong>und</strong> Sexualwissenschaft die Homosexualität allmählich als eine eigene Form der Sexualität herausbildet,<br />
die dann auch eine spezifische, fest umschreibbare Problemgruppe der Homosexuellen<br />
umfasste. In den vorhergehenden deutschen Rechtssystemen der Neuzeit wurde nämlich gleichge-