08.12.2012 Aufrufe

3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt<br />

WISSENSCHAFT UND SOZIALE PRAXIS: PERSPEKTIVEN AUF<br />

SEXUELLE UND GESCHLECHTLICHE VIELFALT<br />

<strong>3.</strong>1 Zum Regenbogen der LSBTTI.<br />

Chancen <strong>und</strong> Probleme sexualpolitischer Kategorien 52<br />

Ilse Lenz<br />

Der Regenbogen sexualpolitischer Kategorien<br />

In den letzten Jahren haben sich die sexualpolitischen Kategorien vervielfacht <strong>und</strong> differenziert: So<br />

weisen schon die Kürzel LSBTTI im Namen dieser Dokumentation auf Menschen hin, die lesbisch,<br />

schwul, bisexuell, transgender, transsexuell oder intersexuell leben. Noch vor vierzig Jahren wären in<br />

diesem kategorialen Regenbogen nur die Worte bisexuell, lesbisch <strong>und</strong> schwul allgemein erkennbar<br />

<strong>und</strong> gebräuchlich gewesen. Aber damals hatten die Worte schwul <strong>und</strong> lesbisch noch den Beiklang<br />

von starker Abwertung <strong>und</strong> Ausgrenzung. Die Sprecher_innen der neuen homosexuellen Bewegungen<br />

nach 1972 schlugen danach vor, sie als Selbstbezeichnung aufzugreifen <strong>und</strong> umzuwerten. Sie verbanden<br />

damit den Anspruch, eine eigene Identität als „Schwuler“ oder „Lesbe“ aufzubauen. „Lesbisch“<br />

oder schwul“ wurde zum Zeichen einer Identitätspolitik der homosexuellen Bewegungen, die<br />

eine entsprechende Identität für sich konstruierten, verbreiteten <strong>und</strong> teils bei ihren Mitgliedern anforderten<br />

(vgl. Hark 1996). In den folgenden Jahrzehnten nahm die Kritik an diesen bewegungsgetragenen<br />

Identitätskategorien zu. Es wurde ihnen vorgeworfen, eng, starr <strong>und</strong> letztlich ausgrenzend<br />

zu sein. Die queere Theorie sollte demgegenüber ermöglichen, Menschen mit vielfältigen Formen des<br />

Begehrens <strong>und</strong> Körpern einzubeziehen (vgl. u. a. Hark 1996). Weiterhin ging sie von der Vorstellung<br />

einer gemeinsamen homogenen Identität ab <strong>und</strong> stellte die individuelle Person mit ihren Bürgerrechten<br />

in einer Demokratie ins Zentrum (vgl. Beger 2000).<br />

Blicken wir aber einmal weiter zurück in die Bedeutung von sexualpolitischen Kategorien in der<br />

Moderne, dann sehen wir, dass sie eher flexibel, teils auch anschlussfähig an hegemoniale Wissenskonzepte<br />

waren <strong>und</strong> sich in ihrem historischen Kontext wandeln. Sie werden in Politik, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> in die Emanzipationsbewegung selbst eingebracht <strong>und</strong> verhandelt, sodass ihre Bedeutung sich<br />

anreichert oder wieder zurückgeht, worauf oft neue Kategorien gebildet werden.<br />

Damit komme ich zu den Kernthesen dieses Beitrags. Die erste − neue − These lautet: Sexualpolitische<br />

Kategorien wie LSBTTI entstehen im Zusammenhang der sich verändernden Geschlechterordnung<br />

(s.u.) der Moderne. Deswegen ist wichtig, sie auch im Zusammenhang von Geschlecht <strong>und</strong><br />

Modernisierung zu verorten <strong>und</strong> in dieser Form über die aktuelle Kritik der „Identitätspolitik“ in den<br />

letzten zwanzig Jahren hinauszugehen. Die zweite weitergehende These betont die große Bedeutung<br />

emanzipativer sexualpolitischer Bewegungen, die einen Löwenanteil dieser Kategorien entworfen<br />

<strong>und</strong> in gesellschaftliche Verhandlungen <strong>und</strong> Reformen eingebracht haben. Diese Bewegungen sind<br />

insofern in den herrschenden Verhältnissen befangen <strong>und</strong> tragen ihrerseits zu ihrer Veränderung bei.<br />

Während sie alte Ungleichheiten <strong>und</strong> Abwertungen angreifen <strong>und</strong> aufheben, können sie doch zugleich<br />

mit neuen Chancen auch neue Ungleichheiten mit einführen.<br />

(Wie) Passen LSBTTI ins Geschlecht?<br />

In den letzten Jahrzehnten wurden ganze Bibliotheken zur Frage des Geschlechts gefüllt, aber die Regale<br />

stehen sozusagen noch wenig verb<strong>und</strong>en nebeneinander. Ein wichtiger Forschungsstrang hat<br />

untersucht, wie Geschlecht soziale Ungleichheit strukturiert <strong>und</strong> begründet. Dabei hat er meist<br />

„<strong>Frauen</strong>“ <strong>und</strong> „Männer“ im Blick. Er betrachtet also das Geschlecht, das einerseits alle Menschen in<br />

„<strong>Frauen</strong>“ oder „Männer“ einteilt <strong>und</strong> damit andererseits eine gr<strong>und</strong>legende Arbeitsteilung <strong>und</strong> unterschiedliche<br />

Lebenschancen verbindet. So wird Geschlecht als Struktur begriffen, die Menschen in<br />

bestimmten Positionen platziert <strong>und</strong> wichtige Institutionen wie den Arbeitsmarkt, die Familie <strong>und</strong> die<br />

Politik strukturiert. Dieser Strang hat die Geschlechterungleichheit <strong>und</strong> die männliche Herrschaft in<br />

der Moderne herausgearbeitet. Dabei hat er die Zweigeschlechtlichkeit, also die Binnendifferenzierung<br />

<strong>und</strong> -ungleichheit des Geschlechterverhältnisses, betont. Aber die Fragen von Sexualität, insbesondere<br />

homosexuellem Begehren, wurden nur ansatzweise integriert. 53<br />

Prof. Dr. Ilse Lenz,<br />

Ruhr-Universität Bochum<br />

52 Dieser Essay ist die Ausarbeitung<br />

des Vortrags, den ich<br />

auf der Tagung „anders <strong>und</strong><br />

gleich in <strong>NRW</strong>. Gleichstellung<br />

<strong>und</strong> Akzeptanz sexueller <strong>und</strong><br />

geschlechtlicher Vielfalt“ am<br />

10.05.2012 in Bochum gehalten<br />

habe. In diesem Rahmen<br />

war es nicht möglich, die sehr<br />

umfassende herbeigezogene<br />

Literatur vollständig aufzuführen<br />

(vgl. dazu u. a. Lenz 2010;<br />

2012 i. E. sowie den Literaturbericht).<br />

Für Diskussionen, Anregungen<br />

<strong>und</strong> Unterstützung<br />

möchte ich mich sehr herzlich<br />

bei Saida Ressel, Katja Sabisch,<br />

Kim Siekierski, Sonja Teupen<br />

<strong>und</strong> Marcel Wrzesinski bedanken.<br />

53 Am weitesten ging Raewyn<br />

Connells Ansatz der hegemonialen<br />

Männlichkeit, bei<br />

dem die emotionale Besetzung<br />

(Kathexis) einen Teil der Geschlech-terstruktur<br />

bildet <strong>und</strong><br />

der männliche Homosexualität<br />

als subordinierte Männlichkeit<br />

mit einbezieht.<br />

<strong>3.</strong><br />

67

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!