66 2. Interdisziplinäre Fachtagung „anders <strong>und</strong> gleich in <strong>NRW</strong>“ – Überblick <strong>und</strong> Ergebnisse
<strong>3.</strong> Wissenschaft <strong>und</strong> soziale Praxis: Perspektiven auf sexuelle <strong>und</strong> geschlechtliche Vielfalt WISSENSCHAFT UND SOZIALE PRAXIS: PERSPEKTIVEN AUF SEXUELLE UND GESCHLECHTLICHE VIELFALT <strong>3.</strong>1 Zum Regenbogen der LSBTTI. Chancen <strong>und</strong> Probleme sexualpolitischer Kategorien 52 Ilse Lenz Der Regenbogen sexualpolitischer Kategorien In den letzten Jahren haben sich die sexualpolitischen Kategorien vervielfacht <strong>und</strong> differenziert: So weisen schon die Kürzel LSBTTI im Namen dieser Dokumentation auf Menschen hin, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell oder intersexuell leben. Noch vor vierzig Jahren wären in diesem kategorialen Regenbogen nur die Worte bisexuell, lesbisch <strong>und</strong> schwul allgemein erkennbar <strong>und</strong> gebräuchlich gewesen. Aber damals hatten die Worte schwul <strong>und</strong> lesbisch noch den Beiklang von starker Abwertung <strong>und</strong> Ausgrenzung. Die Sprecher_innen der neuen homosexuellen Bewegungen nach 1972 schlugen danach vor, sie als Selbstbezeichnung aufzugreifen <strong>und</strong> umzuwerten. Sie verbanden damit den Anspruch, eine eigene Identität als „Schwuler“ oder „Lesbe“ aufzubauen. „Lesbisch“ oder schwul“ wurde zum Zeichen einer Identitätspolitik der homosexuellen Bewegungen, die eine entsprechende Identität für sich konstruierten, verbreiteten <strong>und</strong> teils bei ihren Mitgliedern anforderten (vgl. Hark 1996). In den folgenden Jahrzehnten nahm die Kritik an diesen bewegungsgetragenen Identitätskategorien zu. Es wurde ihnen vorgeworfen, eng, starr <strong>und</strong> letztlich ausgrenzend zu sein. Die queere Theorie sollte demgegenüber ermöglichen, Menschen mit vielfältigen Formen des Begehrens <strong>und</strong> Körpern einzubeziehen (vgl. u. a. Hark 1996). Weiterhin ging sie von der Vorstellung einer gemeinsamen homogenen Identität ab <strong>und</strong> stellte die individuelle Person mit ihren Bürgerrechten in einer Demokratie ins Zentrum (vgl. Beger 2000). Blicken wir aber einmal weiter zurück in die Bedeutung von sexualpolitischen Kategorien in der Moderne, dann sehen wir, dass sie eher flexibel, teils auch anschlussfähig an hegemoniale Wissenskonzepte waren <strong>und</strong> sich in ihrem historischen Kontext wandeln. Sie werden in Politik, Gesellschaft <strong>und</strong> in die Emanzipationsbewegung selbst eingebracht <strong>und</strong> verhandelt, sodass ihre Bedeutung sich anreichert oder wieder zurückgeht, worauf oft neue Kategorien gebildet werden. Damit komme ich zu den Kernthesen dieses Beitrags. Die erste − neue − These lautet: Sexualpolitische Kategorien wie LSBTTI entstehen im Zusammenhang der sich verändernden Geschlechterordnung (s.u.) der Moderne. Deswegen ist wichtig, sie auch im Zusammenhang von Geschlecht <strong>und</strong> Modernisierung zu verorten <strong>und</strong> in dieser Form über die aktuelle Kritik der „Identitätspolitik“ in den letzten zwanzig Jahren hinauszugehen. Die zweite weitergehende These betont die große Bedeutung emanzipativer sexualpolitischer Bewegungen, die einen Löwenanteil dieser Kategorien entworfen <strong>und</strong> in gesellschaftliche Verhandlungen <strong>und</strong> Reformen eingebracht haben. Diese Bewegungen sind insofern in den herrschenden Verhältnissen befangen <strong>und</strong> tragen ihrerseits zu ihrer Veränderung bei. Während sie alte Ungleichheiten <strong>und</strong> Abwertungen angreifen <strong>und</strong> aufheben, können sie doch zugleich mit neuen Chancen auch neue Ungleichheiten mit einführen. (Wie) Passen LSBTTI ins Geschlecht? In den letzten Jahrzehnten wurden ganze Bibliotheken zur Frage des Geschlechts gefüllt, aber die Regale stehen sozusagen noch wenig verb<strong>und</strong>en nebeneinander. Ein wichtiger Forschungsstrang hat untersucht, wie Geschlecht soziale Ungleichheit strukturiert <strong>und</strong> begründet. Dabei hat er meist „<strong>Frauen</strong>“ <strong>und</strong> „Männer“ im Blick. Er betrachtet also das Geschlecht, das einerseits alle Menschen in „<strong>Frauen</strong>“ oder „Männer“ einteilt <strong>und</strong> damit andererseits eine gr<strong>und</strong>legende Arbeitsteilung <strong>und</strong> unterschiedliche Lebenschancen verbindet. So wird Geschlecht als Struktur begriffen, die Menschen in bestimmten Positionen platziert <strong>und</strong> wichtige Institutionen wie den Arbeitsmarkt, die Familie <strong>und</strong> die Politik strukturiert. Dieser Strang hat die Geschlechterungleichheit <strong>und</strong> die männliche Herrschaft in der Moderne herausgearbeitet. Dabei hat er die Zweigeschlechtlichkeit, also die Binnendifferenzierung <strong>und</strong> -ungleichheit des Geschlechterverhältnisses, betont. Aber die Fragen von Sexualität, insbesondere homosexuellem Begehren, wurden nur ansatzweise integriert. 53 Prof. Dr. Ilse Lenz, Ruhr-Universität Bochum 52 Dieser Essay ist die Ausarbeitung des Vortrags, den ich auf der Tagung „anders <strong>und</strong> gleich in <strong>NRW</strong>. Gleichstellung <strong>und</strong> Akzeptanz sexueller <strong>und</strong> geschlechtlicher Vielfalt“ am 10.05.2012 in Bochum gehalten habe. In diesem Rahmen war es nicht möglich, die sehr umfassende herbeigezogene Literatur vollständig aufzuführen (vgl. dazu u. a. Lenz 2010; 2012 i. E. sowie den Literaturbericht). Für Diskussionen, Anregungen <strong>und</strong> Unterstützung möchte ich mich sehr herzlich bei Saida Ressel, Katja Sabisch, Kim Siekierski, Sonja Teupen <strong>und</strong> Marcel Wrzesinski bedanken. 53 Am weitesten ging Raewyn Connells Ansatz der hegemonialen Männlichkeit, bei dem die emotionale Besetzung (Kathexis) einen Teil der Geschlech-terstruktur bildet <strong>und</strong> der männliche Homosexualität als subordinierte Männlichkeit mit einbezieht. <strong>3.</strong> 67