3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
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41 Vor allem die ungestörte<br />
Entwicklung einer selbstbestimmten<br />
sexuellen Identität<br />
scheint durch medizinische Eingriffe<br />
<strong>und</strong> gesellschaftliche Sozialisation<br />
beeinträchtigt<br />
(Deutscher Ethikrat 2012).<br />
42 Zur Idee <strong>und</strong> Begründung<br />
des universellen Rechts auf sexuelle/geschlechtlicheSelbstbestimmung<br />
sowie einer<br />
entsprechenden Verurteilung<br />
der Diskriminierung deswegen<br />
siehe die Yogyakarta-Prinzipien<br />
von 2006 (abrufbar unter<br />
http://www.yogyakartaprinciples.org/;<br />
vgl. zudem O’Flaherty/Fisher<br />
2008 sowie div.<br />
Stellungnahmen des „Deutschen<br />
Ethikrat“ (abrufbar unter<br />
http://www.ethikrat.org/).<br />
24<br />
1. QUEER in <strong>NRW</strong> – Forschungsstand zu Lebenslagen <strong>und</strong> Sozialstruktur<br />
bens“ indirekt berührt (Plett 2010). Da der gesellschaftliche Zugriff auf inter*-Menschen zunächst<br />
im Säuglings- bzw. Kindesalter wirkt, widerspricht dieser Normalisierungsdiskurs medizinischer Praxis<br />
zudem einer Reihe von Artikeln im Kinderrechteübereinkommen der Vereinten Nationen. 41<br />
Abschließend soll auf die sich damit ergebenden juristischen Probleme verwiesen werden: Laut<br />
geltendem Personenstandsrecht besteht der Zwang zur geschlechtlichen Zuweisung nach „männlich“<br />
oder „weiblich“ binnen einer Woche nach der Geburt. Damit gibt es für Menschen mit Besonderheiten<br />
in der geschlechtlichen Entwicklung bis jetzt keine Möglichkeiten, ihre Identität angemessen im juristischen<br />
Diskurs auszudrücken. Dies stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in das allgemeine<br />
Persönlichkeitsrecht dar <strong>und</strong> widerspricht dem allgemeinen Gleichheitsgr<strong>und</strong>satzes durch einen Diskriminierungsvorgang<br />
des Geschlechtes wegen (Schweizer/Richter-Appelt 2012; Kolbe 2012; Adamietz<br />
2011; Klöppel 2010; Kolbe 2010; Plett 2003). 42<br />
Im Zusammenhang mit den geschlechtszuweisenden Eingriffen ist zu fragen, inwiefern die medizinische<br />
Indikation die ansonsten tatbestandliche Körperverletzung zu rechtfertigen vermag (Foljanty/Lembke<br />
2012, § 10). Die Eltern entscheiden hier an Stelle des Kindes im Sinne ihres<br />
sorgerechtlichen Auftrages, wobei sie den beratenden Zuspruch der behandelnden Ärzte haben. Der<br />
hoch invasive Charakter wirft jedoch Zweifel an der Befugnis der Eltern auf, in diesem Fall allein <strong>und</strong><br />
stellvertretend zu entscheiden (Kolbe 2010; Plett 2003). Dies gilt zumal, wenn kein medizinischer<br />
Notfall oder keine erwartbare Gefährdung des Kindeswohles abzusehen ist. Es bliebe zu unterstellen,<br />
dass in konkreten Fällen das Recht auf körperliche Unversehrtheit verletzt wird <strong>und</strong> der Staat seiner<br />
bestehenden Schutzpflicht im Falle nicht einwilligungsfähiger Kinder nicht nachkommt (Tönsmeyer<br />
2012; Kolbe 2012; Kolbe 2010). Plett verweist in diesem Zusammenhang auf weitere Rechtsgebiete,<br />
in denen die Auseinandersetzung mit inter*-Menschen virulent geworden ist. Im Arzt- <strong>und</strong> Medizinrecht<br />
fehlen griffige Maßstäbe für ärztliches Handeln, im Ges<strong>und</strong>heits- bzw. Krankenversicherungsrecht<br />
mangelt es an übergreifenden Standards. Ebenso wenig ist die Verschränkung des juristischen inter*-<br />
Diskurses mit Aspekten von Kastration <strong>und</strong> Sterilisation hinsichtlich einer Sonderstellung geregelt.<br />
Auch im Bereich des Jugendhilferechts, des Statistik- <strong>und</strong> Archivrechts bestünde hinsichtlich einer<br />
vollständigen Integration von inter*-Menschen Nachholbedarf (Ethikrat 2012; Plett 2010).<br />
Zwischenfazit & Handlungsempfehlungen<br />
Die rechtliche Stellung von Menschen mit LSBTTI-Hintergr<strong>und</strong> ist ein Anzeichen für deren gesellschaftliche<br />
Anerkennung <strong>und</strong> Akzeptanz im Rahmen des Mehrheitsdiskurses. Daraus ergibt sich ein widersprüchliches<br />
Bild. Denn das „vergeschlechtlichte Recht“ in seiner derzeitigen Form ist Baustein der<br />
gesellschaftlichen Heteronormativität. Es kann durch seine regulierende Kraft aber auch Stein des Anstoßes<br />
zur Veränderung werden.<br />
Hinsichtlich der Dimensionen von Teilhabe <strong>und</strong> Anerkennung sind Menschen mit LSBTTI-Hintergr<strong>und</strong><br />
in weiten Teilen des Rechts der Mehrheitsgesellschaft gleichgestellt (LPartG, AGG). Die Rechtsnormen<br />
erkennen nun deren private Autonomie <strong>und</strong> vertragliche Freiheit an, wie auch erste Ansätze<br />
zur Antidiskriminierung etabliert sind. Allerdings bestehen weiterhin Probleme <strong>und</strong> Einschränkungen:<br />
die Kirche als Arbeitsgeber, im Steuerrecht <strong>und</strong> im Beamtenrecht. Dabei spielten die europäischen<br />
Richtlinien eine wichtige Rolle. Daneben wurden durch die rechtlichen Regulierungsbestrebungen<br />
längst überfällige Debatten über die Formen <strong>und</strong> Bedeutung bestimmter sexualpolitischer Kategorien<br />
angestoßen. So werden heute die Begriffe von „sexueller/geschlechtlicher Identität“ oder die dichotome,<br />
heteronormative Strukturierung der Gesellschaft zumindest hinterfragt, ebenso wie die „bürgerliche<br />
Ehe“.<br />
Andererseits ist diese Gleichstellung unter der unausgesprochenen Voraussetzung einer allgemein<br />
akzeptierten <strong>und</strong> lang tradierten Auffassung von Partnerschaft zu verstehen. Das klassische Familienmodell<br />
wird zur Folie, an der meist der Grad an Anerkennung gemessen wird. Eine Aufwertung der<br />
„Ehe“ ist die Folge, im Rahmen derer andere Lebensentwürfe <strong>und</strong> Wahlverwandtschaften (unverheiratet<br />
leben, auch Partnerlosigkeit oder Vielfachbeziehungen) ebenso wenig anerkannt werden wie<br />
Menschen, die der Logik der konstanten Zweigeschlechtlichkeit widersprechen. Trans*- oder inter*-<br />
Menschen haben in rechtlicher Hinsicht nach wie vor einen Exot_innenstatus, der sie von der vollständigen<br />
Teilhabe an der Gesellschaft ausschließt. Dies zeigt sich umso deutlicher in der pathologisierenden<br />
Sprachpraxis, die dem juristischen Diskurs eigen ist. Trotz der sicherlich wichtigen juristischen<br />
Begriffspräzision muss auf die Anmerkungen von Expert_innen im Zusammenhang mit einer<br />
geschlechtersensibleren Sprache eingegangen werden.