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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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1. QUEER in <strong>NRW</strong> – Forschungsstand zu Lebenslagen <strong>und</strong> Sozialstruktur<br />

diesem Verständnis besitzen Menschen neben ihrer rein medizinisch-biologischen Geschlechtlichkeit<br />

ein „soziales Geschlecht“. Im Rahmen subjektiver, nicht pathologischer Identitätsbildungsprozesse<br />

erfahren sie dieses soziale Geschlecht als widersprüchlich zur biologischen Gr<strong>und</strong>ausstattung <strong>und</strong><br />

äußern oft den Wunsch einer entsprechenden geschlechtlichen Anpassung. 36<br />

Mit der Einführung des TSG Anfang der 1980er Jahre begann eine fortlaufende Diskussion über<br />

Persönlichkeitsrechte, Diskriminierungsvorgänge <strong>und</strong> Personenstandsdebatten, in der sich die jeweiligen<br />

Protagonist_innen mit dem Gesetzgeber sowie den juristischen Schiedsinstanzen auseinandersetzten.<br />

37 Nach der achten Entscheidung des BVerfG (2011) ergibt sich im Sinne der Anerkennung<br />

einer Anders-Geschlechtlichkeit für trans*-Menschen folgende Sachlage: Für eine Vornamensänderung<br />

bedarf es den seit mindestens drei Jahren bestehenden, erwartbar dauerhaften Willen, in einem anderen<br />

als in dem laut Geburtseintrag festgelegten Geschlecht zu leben. Zudem muss der Mensch als<br />

Rechtsperson der deutschen Jurisdiktion unterliegen. Die bis 2009 gültige Ehelosigkeitsforderung<br />

wurde durch das TSG-ÄndG (2009) aufgehoben (Adamietz 2011; Ankermann 2010; Franzen/Sauer<br />

2010).<br />

Das TSG in seiner letzten Fassung sieht für die Änderung des Personenstandseintrags ein weiteres<br />

Element vor, das die Körperlichkeit des transidenten Menschen betrifft: Er/sie muss dauernd fortpflanzungsunfähig<br />

sowie dem Wunschgeschlecht operativ angeglichen sein. Das BVerfG erachtete in seiner<br />

Entscheidung vom 11.01.2011 diese Erfordernis mit Blick auf den hoch-invasiven Charakter des Eingriffs<br />

<strong>und</strong> unter gegebenen Umständen als mit dem Recht auf sexuelle Selbstbestimmung wie des<br />

Persönlichkeitsrechts unvereinbar (Adamietz 2011; Franzen/Sauer 2010).<br />

Diese letzte Entscheidung (wie auch jene vorausgegangene zum Ehelosigkeitserfordernis) lässt<br />

auf einen Auffassungswandel des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts schließen, der weitreichende Konsequenzen<br />

für trans*-Menschen im juristischen Diskurs hat: Zum einen wurde die Forderung aufgehoben,<br />

dass ein transidenter Mensch im Zuge eines Geschlechtswechsels ehelos leben muss. Damit<br />

wurde auch die zwingende Charakterisierung der ehelichen Gemeinschaft als heterosexuelle Verbindung<br />

von Mann <strong>und</strong> Frau relativiert. Demgegenüber wurde weiterhin betont, dass es im Zuge des<br />

Schutzes einer Ehe <strong>und</strong> mit Blick auf die Persönlichkeitsrechte der Eheleute unzumutbar sei, eine bestehende<br />

Ehegemeinschaft aufzulösen, um gleichzeitig den Wunsch nach Selbstverwirklichung im<br />

Rahmen eines Geschlechtswechsels herbeizuführen. Zum anderen wurde dem biologischen Geschlechterdeterminismus<br />

vorab durch die letzte Entscheidung des BVerfG entgegengeredet. Obwohl eine<br />

Entscheidung des Gesetzgebers noch aussteht, verweist die Infragestellung der operativen Geschlechtsangleichung<br />

als Voraussetzung für die Personenstandsänderung auf die Anerkennung der Tatsache,<br />

dass eine spezifisch biologische Ausprägung nicht notwendig ein spezifisch soziales Geschlecht ableitbar<br />

macht. Oder anders: Das BVerfG impliziert durch sein Urteil im Januar 2011, dass sich Menschen<br />

unabhängig von der Änderung ihrer sogenannten biologischen Gr<strong>und</strong>ausstattung im Sinne<br />

ihres individuell entwickelten Selbst- bzw. Geschlechterverständnisses verwirklichen können<br />

(Foljanty/Lembke 2012, § 10; Adamietz 2011).<br />

Zur rechtlichen Sonderstellung von inter*-Menschen<br />

In besonderer Weise sind inter*-Menschen von rechtlichen Regulierungen ihrer geschlechtlichen bzw.<br />

sexuellen Identität betroffen, gleichwohl sich keine gesetzliche Vorschrift ausdrücklich mit ihnen befasst<br />

(Kolbe 2012). 38 Denn eine inter*-Person wird unmittelbar <strong>und</strong> existentiell auf die juristische Geschlechterbias<br />

<strong>und</strong> die zugr<strong>und</strong>eliegende Zweigeschlechtlichkeit zurückgeworfen, welche in der deutschen<br />

Rechtsordnung eine lange, aber keinesfalls unhinterfragte Geschichte hat: 39 Dies geschieht erstens<br />

durch die Notwendigkeit einer eindeutigen Personenstandsfeststellung, zweitens durch die Frage der<br />

Rechtmäßigkeit von geschlechtszuweisenden Operationen. 40 Expliziter als im Falle von trans*-Personen<br />

werden Menschen mit einer uneindeutigen geschlechtlichen Merkmalscodierung über juristische Bestimmungen<br />

einer Normalisierungspraxis unterworfen. Dabei wird eine Geschlechtszuweisung vorgenommen,<br />

die im Zuge der neusten rechtlichen Entwicklungen jedoch strittig ist (Kolbe 2012).<br />

In der gegenwärtigen medizinischen <strong>und</strong> juristischen Praxis sind inter*-Menschen präzise zu benennenden<br />

Menschenrechtsverletzungen (im Sinne des GG) ausgesetzt: Ihre Menschenwürde ist beeinträchtigt,<br />

sie werden an der freien Entfaltung ihrer Persönlichkeit gehindert, ihre körperliche<br />

Unversehrtheit wird verletzt, es wird gegen den allgemeinen Gleichheitsgr<strong>und</strong>satz verstoßen sowie<br />

geschlechtlich diskriminiert (Ethikrat 2012; Klöppel 2010; Plett 2010; Zehnder 2010). Daneben wird<br />

die in den Menschenrechtskonventionen des Europarates institutionalisierte „Achtung des Privatle-<br />

36 Vielfach ist das Phänomen<br />

um Menschen <strong>und</strong> ihre trans*-<br />

Identität beforscht worden;<br />

vgl. Franzen/Sauer (2010)<br />

sowie allgemein Hirschauer<br />

(1993) <strong>und</strong> Lindemann (1993).<br />

37 Eine präzise Darstellung<br />

der einzelnen Entwicklungsschritte<br />

des TSG im Widerstreit<br />

der jeweiligen Parteien findet<br />

sich bei Adamietz 2011,<br />

S. 125–149. Sie legt ebenso<br />

eine durchdachte Analyse dieses<br />

Diskurses um Körperlichkeit,<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Heteronormativität<br />

vor (vgl. Adamietz<br />

2011, S. 150–175).<br />

38 Die Bezeichnungs- bzw.<br />

begriffliche Zuweisungspraxis<br />

ist schwierig. Im Rahmen medizinischer<br />

Diskurse hat sich<br />

bewährt, für die Summe geschlechtlicher<br />

Besonderheiten<br />

von DSD (disorders of sex development)<br />

zu sprechen. Diese<br />

wird im Hinblick auf den pathologisierenden<br />

Charakter<br />

von manchen NROs bzw. Vereinen<br />

abgelehnt; vgl. hierzu<br />

Deutscher Ethikrat (2012) oder<br />

Schweizer/Richter-Appelt<br />

2012.<br />

39 Kolbe 2001, S. 30ff., 75ff.;<br />

wichtig ist hier vor allem der<br />

Zwang zum vergeschlechtlichten<br />

Personenstandseintrag<br />

(Foljanty/Lembke 2012, §10).<br />

40 Zur zentralen Stellung dieser<br />

beiden Sphären vgl. Kolbe<br />

2010 sowie insgesamt Klöppel<br />

2010.<br />

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