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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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15 Die Übernahme des Ungleichheitsmerkmals<br />

„Sexuelle<br />

Identität“ in Artikel 3, Absatz 3<br />

des Gr<strong>und</strong>gesetzes blieb bislang<br />

erfolglos. Zahlreiche Landesanträge<br />

im B<strong>und</strong>esrat<br />

(Berlin, Bremen, Hamburg;<br />

Ende 2009) sowie Gesetzesentwürfe<br />

auf B<strong>und</strong>esebene<br />

(durch Bündnis 90/Die Grünen,<br />

die SPD <strong>und</strong> Die Linke; Anfang<br />

2010) führten nach Beratungen<br />

(März 2010) <strong>und</strong> Anhörungen<br />

(April 2010) im<br />

Rechtausschuss des B<strong>und</strong>estages<br />

zu dem Fazit, dass kein<br />

mehrheitsfähiger Konsens insbesondere<br />

zur Gr<strong>und</strong>gesetzänderungen<br />

gef<strong>und</strong>en werden<br />

könne.<br />

16 So über Art. 2, 7, 12, 19,<br />

20, 22 <strong>und</strong> 29 der „Allgemeinen<br />

Erklärung der Menschenrechte”<br />

sowie ausgewählter<br />

Artikel des „Internationalen<br />

Pakts über bürgerliche <strong>und</strong><br />

politische Rechte“ bzw. der<br />

„Europäischen Menschenrechtskonventionen“<br />

(Dudek<br />

et. al. 2007).<br />

18<br />

1. QUEER in <strong>NRW</strong> – Forschungsstand zu Lebenslagen <strong>und</strong> Sozialstruktur<br />

1.2 Rechtlicher Stand der Gleichstellung<br />

Das Rechtssystem eines Staates ist kein geschlechtsfreier Raum. Vielmehr enthalten die juristischen<br />

Regeln auch in modernen Gesellschaften geschlechtliche Hierarchien <strong>und</strong> Normierungen. Denn zur<br />

Aufrechterhaltung sozialer wie staatlicher Ordnung bedarf es juristischer Reglements, die in allen gesellschaftlichen<br />

Teilbereichen eine unterschiedlich ausgeprägte Hierarchie durchsetzen. Aufgr<strong>und</strong> dieser<br />

Verankerung struktureller Ungleichheit im modernen Rechtssystem fand <strong>und</strong> findet eine breite Auseinandersetzung<br />

entlang der Kategorien „Geschlecht“ <strong>und</strong> „Sexualität“ in juristischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen<br />

Diskursen statt (Foljanty/Lembke 2012; Schweizer/Richter-Appelt 2012; Raab 2011;<br />

Rudolf 2009; Shin 2008; Dudek 2007; Lanzinger/Saurer 2007; Gildemeister 2003; Holzleithner 2002;<br />

Lucke 1996; Maihofer 1995).<br />

Diese Fragen sind allerdings kein exklusives Problem der Jurisprudenz. Vielmehr bilden Gesetze<br />

einen zentralen Orientierungspunkt für gesellschaftliche Aushandlungsprozesse: Debatten um Moral<br />

beziehen sich ebenso wie popularisierte Diskussionen um Gerechtigkeit auf jenen Wertekanon, der<br />

in die deutsche Rechtsgeschichte eingeschrieben ist. Umso wichtiger ist es also, entsprechende Normen<br />

bezüglich Gleichstellung <strong>und</strong> Akzeptanz homosexueller, bisexueller, trans*- <strong>und</strong> inter*-Lebensweisen<br />

ausdrücklich gesetzlich zu verankern <strong>und</strong> in das Rechtssystem zu integrieren (vgl.<br />

Foljanty/Lembke 2012; Farrior 2009; „Yogyakarta-Prinzipien“; O’Flaherty/Fisher 2008; Dudek et al.<br />

2007). Zudem wäre zu thematisieren, inwiefern der Rechtsdiskurs sich eine identitätssensible Bezeichnungspraxis<br />

aneignen kann, um potentiell diskriminierte Menschengruppen zu fassen (Foljanty/<br />

Lembke 2012; AK Feministische Sprachpraxis 2011; Butler 2004; Dudek et al. 2007). Denkbar ist hier<br />

der Verzicht auf das generische Maskulinum ebenso, wie die von diversen NROs geforderte Entpathologisierung<br />

der geschlechtlichen Lage.<br />

Volle rechtliche Gleichstellung <strong>und</strong> Anerkennung nicht verwirklicht<br />

Gegenwärtig ist die volle Gleichstellung <strong>und</strong> Anerkennung gleichgeschlechtlicher oder trans*-/inter*-<br />

Lebensweisen nicht verwirklicht. Das deutsche Gr<strong>und</strong>gesetz geht zwar im Rahmen von Artikel 3, Absatz<br />

3 („Gleichstellungsparagraph“) von der Gleichheit aller Menschen aus, sieht aber keine juristische<br />

Anerkennung für jene Personen vor, die ihren Selbstentwurf jenseits der heteronormativen Struktur<br />

der gesetzlichen Praxis positioniert haben. Das Merkmal der „sexuellen Identität“ ist nach wie vor<br />

kein Diskriminierungstatbestand im Sinne des Gr<strong>und</strong>gesetzes. Deswegen wird der Schutz vor Diskriminierung<br />

gemäß dieser nur subsidiär verhandelt (z. B. im AGG vom 18.08.2006). 15<br />

Weiterhin gibt es Bestrebungen, die Gleichstellung, Anerkennung <strong>und</strong> Akzeptanz von Menschen<br />

mit LSBTTI-Hintergr<strong>und</strong> über die Bedeutung der allgemeinen Menschenrechte begründbar <strong>und</strong> damit<br />

über supranationale Organe (z. B. dem Europäischen Gerichtshof oder dem Europäischen Rat) in das<br />

deutsche Rechtssystem implementierbar zu machen (Lohrenscheidt 2009; Dudek et al. 2007). 16Zudem wird innerhalb des b<strong>und</strong>esdeutschen Rechtsdiskurses <strong>und</strong> mit Blick auf das Gr<strong>und</strong>gesetz versucht, die<br />

Kategorie „Geschlecht“ so zu klassifizieren, dass sie mit bestimmten Erwartungen hinsichtlich biologischer<br />

Ausstattung oder sexueller Orientierung versehen wird. Wenn in der Folge ein diskriminierendes<br />

Verhalten gegen diese Neuklassifikation bzw. die damit verb<strong>und</strong>enen Erwartungen (z. B. als „Frau“<br />

eine „Frau“ zu lieben oder zwischengeschlechtlich zu leben) ersichtlich wird, ist das als Verstoß gegen<br />

den „Gleichstellungsparagraphen“ bzw. die „Wahlfreiheit“ zu ahnden (Adamietz 2011). Ähnlich gelagert<br />

sind ältere Argumentationen, die auf die Analogiefähigkeit bzw. Strukturidentitäten der „sexuellen<br />

Orientierung“ mit den existierenden Merkmalskomplexen in Artikel 3 des Gr<strong>und</strong>gesetzes verweisen<br />

(Risse 1998). Offen thematisiert wird zudem die Gleichstellung von Paarbeziehungen durch Öffnung<br />

der Ehe: Ein Mentalitätswandel hinsichtlich des gr<strong>und</strong>sätzlichen Eheverständnisses sei zu verzeichnen,<br />

dem der Gesetzgeber durch seine Pflicht zur Hilfe der Persönlichkeitsentfaltung nachzukommen habe<br />

(Beck 2010). Auch weil als Begründung für die Bedingung der Verschiedengeschlechtlichkeit im Fall<br />

der Ehe bis heute lediglich die „Tradition“ angeführt werden kann (Plett 2012).<br />

Anti-Diskriminierung <strong>und</strong> Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)<br />

Im Zuge der Erarbeitung <strong>und</strong> Etablierung von allgemeinen Antidiskriminierungsrichtlinien auf europäischer<br />

Ebene trat im August 2006 das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG vom 18.08.2006;<br />

letzte Änderung 05.02.2009; Bauer/Göpfert/Krieger 2011) in Kraft. Vier zentrale Vorgaben des Europarechts<br />

zur Antidiskriminierung17 bildeten dabei die Gr<strong>und</strong>lage, um in der Folge „Benachteiligungen

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