3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW
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Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen<br />
Markus, 19 Jahre<br />
Ich wurde 1992 in Hamburg geboren <strong>und</strong> wuchs im Ruhrgebiet auf. Schon im frühen Kindesalter änderte<br />
sich nicht nur mein Wohnort, sondern ich bekam auch neue Eltern: Ich bin zu zwei Menschen<br />
in Bochum gekommen, welche meine Eltern wurden <strong>und</strong> mich aufgezogen haben. Meine beiden leiblichen<br />
Geschwister wohnen weiterhin in Hamburg. Wir haben guten Kontakt <strong>und</strong> sie kommen dreibis<br />
viermal im Jahr mit meinen Eltern, um mich zu besuchen.<br />
Es gab eine Phase in meinem Leben, in der ich nicht nachvollziehen konnte, warum meine leiblichen<br />
Eltern mich abgegeben haben. Mittlerweile verstehe ich mich besser mit ihnen, bin älter geworden<br />
<strong>und</strong> weiß die Vor- <strong>und</strong> Nachteile besser einzuschätzen.<br />
Ich habe grade mein Abitur an einer Waldorfschule abgeschlossen <strong>und</strong> werde nun ein Studium<br />
der Wirtschaftswissenschaften beginnen. Mit 14 war ich für drei Monate in Namibia, was eine sehr<br />
prägende Erfahrung in meinem Leben war. Vor meinem Coming-out war das Verhältnis zu meinen<br />
„<strong>NRW</strong>-Eltern“ nicht so gut. Wir hatten viele Probleme <strong>und</strong> total unterschiedliche Meinungen. Seitdem<br />
ich mich aber geoutet habe, hat sich das Verhältnis deutlich gebessert. Das war mit 17, ist also noch<br />
gar nicht so lange her.<br />
Dass ich mich für Jungen interessiere, bemerkte ich rückblickend schon früh. In Namibia war ich<br />
in einen Jungen aus meiner Klasse verliebt. Zu der Zeit wusste ich aber so gut wie gar nichts über<br />
Homosexualität. Erst als ich mit meiner Familie auf einem Campingplatz in Holland im Urlaub war,<br />
gab es da auch so einen Jungen. Dort ist mir erst so richtig bewusst geworden, dass ich schwul bin,<br />
ich konnte es mir aber nicht direkt eingestehen, denn es war für mich etwas vollkommen „Unnormales“.<br />
Zudem musste ich meine Zukunftsvorstellungen deutlich verändern. Erst hatte ich mir vorgenommen,<br />
zu ignorieren, dass ich Jungen interessanter finde als Mädchen, <strong>und</strong> einfach so zu tun, als<br />
wäre es nicht so. Da ich mich in dem Urlaub jedoch überwiegend unter Mädchen befand, die sich<br />
über die tollen Jungs unterhalten haben, machte ich einfach mit <strong>und</strong> merkte bald, dass ich mich so<br />
viel wohler fühlte.<br />
Meine Eltern waren immer sehr tolerant <strong>und</strong> äußerten auch hier <strong>und</strong> da einmal Kommentare,<br />
dass auch zwei Männer oder zwei <strong>Frauen</strong> einander heiraten können. Damit konnte ich aber vor meinem<br />
„Coming-out vor mir selbst“ überhaupt nichts anfangen. Der Impuls, mich zu outen, kam von<br />
den Erfahrungsberichten anderer, gleichaltriger schwuler Jugendlicher im Internet <strong>und</strong> von einem<br />
Fre<strong>und</strong>, dem ich als Erstem davon erzählt habe <strong>und</strong> der versucht hat, mich zu überzeugen, dass es<br />
bei einem Coming-out nur Vorteile gäbe. Irgendwann konnte ich meine Gefühle nicht mehr nur für<br />
mich behalten <strong>und</strong> nach außen hin etwas anderes vortäuschen <strong>und</strong> fing an, mich selber zu akzeptieren.<br />
Ich fand es gut <strong>und</strong> cool, anders zu sein, <strong>und</strong> dachte: „Das ist etwas, worauf du stolz sein kannst.“<br />
So kam es, dass ich meinen engsten Fre<strong>und</strong>eskreis einweihte <strong>und</strong> nur positive Reaktionen bekam,<br />
worauf ich mein Coming-out mit 17 Jahren ausweitete <strong>und</strong> bei schülerVZ auf meine Profilseite schrieb:<br />
„Ich bin auf der Suche nach dem schönsten Traummann der Welt.“ Natürlich hat sich die Veränderung<br />
auf meiner Profilseite in der Schule rasend schnell herumgesprochen.<br />
Eines Tages kam ich nach Hause <strong>und</strong> meine Mutter fragte mich ganz interessiert, ob es stimmen<br />
würde, dass ich schwul sei. Im Nachhinein war es gut, dass sie von den Gerüchten in der Schule<br />
gehört hatte <strong>und</strong> mich von sich aus darauf angesprochen hat. Ich hätte nämlich nicht gewusst, wie<br />
ich ihr <strong>und</strong> meinem Vater das hätte erzählen sollen.<br />
Von meinen Klassenkameraden wurde ich vereinzelt auf das Thema angesprochen, aber es hielt<br />
sich sehr in Grenzen. Mein bester Fre<strong>und</strong> wurde öfter darauf angesprochen als ich.<br />
Bevor ich mich outete, habe ich ganz viel im Internet über Homosexualität gelesen. Unter anderem<br />
habe ich mich auch über Anlaufstellen für jüngere Schwule im Ruhrgebiet informiert <strong>und</strong> bin auf das<br />
„Café freiRAUM“ in Bochum gestoßen. Anfangs war ich ziemlich nervös, da ich nicht wusste, was<br />
mich erwartet. Das hat sich aber ziemlich schnell gelegt, weil die Gruppe mich gut aufnahm. An Kontakte<br />
zu anderen komme ich, neben dem „freiRAUM“, über schwule Profile im Internet. Dass ich<br />
keine Arme <strong>und</strong> keine Beine habe, schreibe ich nicht direkt auf mein Profil. Das habe ich früher gemacht,<br />
stellte aber fest, dass sich dadurch weniger Kontakte ergeben. Spätestens bevor es zu einem<br />
Treffen kommt, erzähle ich es. Oft ist es so, dass die Leute direkt sagen, sie könnten sich nur eine<br />
Fre<strong>und</strong>schaft vorstellen. Einer hat auch den Kontakt abgebrochen.<br />
Ich selber sehe mich gar nicht als „behindert“, wenn ich mich charakterisieren sollte, da das Wort<br />
im Prinzip bedeutet, dass man „irgendetwas“ hat, wodurch man gehindert ist, bestimmte Dinge zu