3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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08.12.2012 Aufrufe

102 Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen Toni, 25 Jahre Ich war ein Wunschkind, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass sich meine Eltern einen Menschen wie mich nicht gewünscht haben. Seitdem ich denken kann, hatten meine Schwester und ich eine Tagesmutter, da meine Eltern beide berufstätig waren. Bei ihr durfte ich die Sachen machen, die ich zu Hause nicht machen durfte. Eines der ersten traumatischen Erlebnisse, an die ich mich erinnere, war, als ich von meiner Tagesmutter ein Prinzessinnenkleid geschenkt bekommen habe, welches ich ganz stolz meiner Familie präsentierte. Mein Vater hat mir das Kleid vom Körper gerissen und ist richtig böse geworden. Unser Verhältnis hat sich, seitdem ich vier bin, kontinuierlich bis zu meinem Auszug verschlechtert. Damals hatten wir noch eine gemeinsame Passion, Eisenbahnen. Ansonsten war es das auch. Zu meiner Mutter war der Draht schon intensiver. Nach meiner Grundschulzeit bin ich auf ein ziemlich elitäres, privates Jungengymnasium gegangen. Auf der Schule wussten alle, dass ich schwul bin. Ich habe mich geschminkt und hatte meinen eigenen Stil. Jungs haben mich als Schwuchtel, Tucke oder Tunte bezeichnet und damit war mein Outing überflüssig. Meine ersten intensiveren sexuellen Erfahrungen habe ich auf dem Gymnasium gemacht, mit irgendwelchen Jungs. Ich habe auch ziemlich oft die Klasse gewechselt und es waren von 30 Schülern immer zwei, drei dabei, die homoerotische Erfahrungen mit mir geteilt haben. Ich kann mich an Situationen erinnern, in denen ich unter dem Tisch im Unterricht „gefummelt“ habe oder meine ersten Oralsexerfahrungen in der Umkleidekabine machte. Diese Erfahrungen passierten „heimlich“ und den Jungs lag auch immer sehr viel daran, dass ich nichts sage. Nicht selten waren es die „Cooleren“ der Klasse. Offiziell habe ich mich bei meiner Familie mit 16 geoutet. Meine Eltern haben es ziemlich früh bemerkt, wollten es aber nicht wahrhaben. Mein Vater hat Dinge gesagt wie: „Bist du ein Kerl, dann zieh dich auch so an, oder bist du schwul?“ Meine Mutter hat auch ein-, zweimal gefragt, und das fand ich immer sehr schockierend und verstörend. Ich wusste zwar damals, dass ich schwul bin, hatte mich aber noch nicht entschieden, ob ich das mit meinen Eltern teilen will. Eines Tages kam ich morgens nach dem Feiern nach Hause und meine Mutter nagelte mich fest und meinte: „Jetzt will ich es wissen, bist du schwul?“ Das war der Moment, in dem ich all meinen Mut zusammennahm und sagte: „Ja, ich bin schwul!“ Meine Mutter fing bitterlich an zu weinen und forderte mich auf, zu meinem Vater zu gehen und es ihm mitzuteilen. Mein Vater nahm mich in den Arm (das erste Mal seit Jahren) und sagte: „Glaubst du, ich hätte es nicht gewusst? Ich liebe dich trotzdem.“ Zwei Tage später durfte ich mir von meinem Vater anhören ich wäre krank, gegen die Natur und abartig. Er verbot mir, jemals einen Typen mit nach Hause zu bringen und meine Homosexualität offen auszuleben. Und wie ich so bin, habe ich den erstbesten Typen mit nach Hause gebracht und mich ziemlich laut entjungfern lassen… Das war meine Outinggeschichte. Seit zwei, drei Jahren sind meine Eltern offener. Es ist kein wirkliches Thema mehr, aber es war nie leicht. Da ich schon immer sehr promiskuitiv gelebt habe und oft Männerbesuch hatte, erwischte mein Vater mich nicht selten, beispielsweise in der Badewanne, mit Männern, was ihn zum Ausrasten brachte. Meine Mutter stellte mich ständig als Schlampe dar. Bis zu meinem Coming-out habe ich sehr viel unterdrücken müssen und ich denke, alles, was sich in den Jahren angestaut hat, habe ich – „BOOM!“ – rausgelassen. Ich habe mich ziemlich stark geschminkt, mich feminin verhalten und meine Homosexualität sehr stark nach außen getragen. Das musste sich erst mal einpendeln, da ich es durch Unterdrückung und Repression nicht zeigen konnte. Mittlerweile wohne ich in Berlin und definiere mich nicht mehr als schwul, sondern als nicht geschlechtlich. Ich habe keine Lust, Mann oder Frau zu sein. Ich bin Geschlecht Toni oder einfach „queer“. Seit vier, fünf Jahren lebe ich polyamor. Ich habe durch politische Bildung und Sozialisation erstmals Wörter und Begriffe gefunden, um Lebensqualitäten zu benennen. Nach Berlin zu ziehen, gehört zu den besten Entscheidungen, die ich im Leben getroffen habe. Es kommt einer Wiedergeburt oder einem zweiten Outing nahe. Ich kann noch mehr das sein, was ich wirklich will. Das mag mit der Distanz zu meiner Familie, meiner Vergangenheit und meinem alten Leben zu tun haben oder einfach damit, dass ich mich entschieden habe, einen neuen Start zu wagen. Berlin ist genau der richtige Ort für Menschen wie mich.

Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen Ich habe nach wie vor noch Kontakt zu vielen Menschen aus dem Ruhrgebiet, manche Bindungen haben sich verändert, vertieft, gelöst, doch die liebsten Menschen bleiben, auch wenn 550 Kilometer uns trennen. Mit meiner Schwester, die mitunter die wichtigste Person in meinem Leben ist, telefoniere ich zum Beispiel so gut wie täglich. Sie unterstützt und liebt mich wie kaum ein anderer Mensch und ich liebe sie so sehr. Wenn ich mich zurückerinnere, fällt mir ein, dass ich viel Angst vor ihrer Reaktion hatte, wenn sie erfährt, dass ich nicht heterosexuell bin. Leider hatten sich meine Ängste bewahrheitet, sie hat bitterlich geweint und war sehr schockiert. Doch davon ist heute nicht mehr die Rede, ich bin so stolz auf meine Schwester, die gleichzeitig meine beste Freundin und Mitkämpferin ist. Sicherlich habe ich Bedürfnisse und Wünsche wie Sicherheit und Kontinuität, will ein Studium abschließen und unabhängig sein, doch am wichtigsten ist mir, glücklich und zufrieden zu sein. Das bin ich leider nicht, wenn ich wie andere arbeiten gehe. Ich brauche das Neue wie andere Drogen brauchen. Meine persönliche Entfaltung nimmt mich voll ein und ist endlos. Hauptsächlich beschäftigen mich Projekte, die aus der politisch linken, queeren Szene entstehen. Das sind hauptsächlich Foto- oder Filmprojekte, Demonstrationen, Aufklärungskampagnen, Solidaritätsaktionen, Partys oder Inszenierungen. Hin und wieder erschaffe ich auch ganz eigene Sachen. Kunst ist mir sehr wichtig, daher schreibe, dichte, male, singe, tanze, inszeniere ich schon mein ganzes Leben lang. Gerade läuft ein neues Projekt an, welches mich wohl herausfordern wird wie kaum ein Projekt zuvor, es wird das Größte, was ich bisher gemacht habe. So viel kann ich verraten: Es wird eine Show, die Ende dieses Jahres auf die Bühne gebracht werden soll, ich habe die Ehre, mit einer der tollsten queeren Künstler_innen der Gegenwart zusammenarbeiten zu dürfen, und es wird gigantisch! Ich war ein Wunschkind, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass sich meine Eltern einen Menschen wie mich nicht gewünscht haben. 103

Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen<br />

Ich habe nach wie vor noch Kontakt zu vielen Menschen aus dem Ruhrgebiet, manche Bindungen<br />

haben sich verändert, vertieft, gelöst, doch die liebsten Menschen bleiben, auch wenn 550 Kilometer<br />

uns trennen. Mit meiner Schwester, die mitunter die wichtigste Person in meinem Leben ist, telefoniere<br />

ich zum Beispiel so gut wie täglich. Sie unterstützt <strong>und</strong> liebt mich wie kaum ein anderer Mensch <strong>und</strong><br />

ich liebe sie so sehr. Wenn ich mich zurückerinnere, fällt mir ein, dass ich viel Angst vor ihrer Reaktion<br />

hatte, wenn sie erfährt, dass ich nicht heterosexuell bin. Leider hatten sich meine Ängste bewahrheitet,<br />

sie hat bitterlich geweint <strong>und</strong> war sehr schockiert. Doch davon ist heute nicht mehr die Rede, ich bin<br />

so stolz auf meine Schwester, die gleichzeitig meine beste Fre<strong>und</strong>in <strong>und</strong> Mitkämpferin ist.<br />

Sicherlich habe ich Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche wie Sicherheit <strong>und</strong> Kontinuität, will ein Studium abschließen<br />

<strong>und</strong> unabhängig sein, doch am wichtigsten ist mir, glücklich <strong>und</strong> zufrieden zu sein. Das bin<br />

ich leider nicht, wenn ich wie andere arbeiten gehe. Ich brauche das Neue wie andere Drogen brauchen.<br />

Meine persönliche Entfaltung nimmt mich voll ein <strong>und</strong> ist endlos.<br />

Hauptsächlich beschäftigen mich Projekte, die aus der politisch linken, queeren Szene entstehen.<br />

Das sind hauptsächlich Foto- oder Filmprojekte, Demonstrationen, Aufklärungskampagnen, Solidaritätsaktionen,<br />

Partys oder Inszenierungen. Hin <strong>und</strong> wieder erschaffe ich auch ganz eigene Sachen.<br />

Kunst ist mir sehr wichtig, daher schreibe, dichte, male, singe, tanze, inszeniere ich schon mein ganzes<br />

Leben lang.<br />

Gerade läuft ein neues Projekt an, welches mich wohl herausfordern wird wie kaum ein Projekt<br />

zuvor, es wird das Größte, was ich bisher gemacht habe. So viel kann ich verraten: Es wird eine Show,<br />

die Ende dieses Jahres auf die Bühne gebracht werden soll, ich habe die Ehre, mit einer der tollsten<br />

queeren Künstler_innen der Gegenwart zusammenarbeiten zu dürfen, <strong>und</strong> es wird gigantisch!<br />

Ich war ein<br />

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