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3. - Netzwerk Frauen- und Geschlechterforschung NRW

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Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen<br />

Toni, 25 Jahre<br />

Ich war ein Wunschkind, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass sich meine Eltern einen Menschen<br />

wie mich nicht gewünscht haben.<br />

Seitdem ich denken kann, hatten meine Schwester <strong>und</strong> ich eine Tagesmutter, da meine Eltern<br />

beide berufstätig waren. Bei ihr durfte ich die Sachen machen, die ich zu Hause nicht machen durfte.<br />

Eines der ersten traumatischen Erlebnisse, an die ich mich erinnere, war, als ich von meiner Tagesmutter<br />

ein Prinzessinnenkleid geschenkt bekommen habe, welches ich ganz stolz meiner Familie präsentierte.<br />

Mein Vater hat mir das Kleid vom Körper gerissen <strong>und</strong> ist richtig böse geworden. Unser Verhältnis<br />

hat sich, seitdem ich vier bin, kontinuierlich bis zu meinem Auszug verschlechtert. Damals hatten wir<br />

noch eine gemeinsame Passion, Eisenbahnen. Ansonsten war es das auch. Zu meiner Mutter war der<br />

Draht schon intensiver.<br />

Nach meiner Gr<strong>und</strong>schulzeit bin ich auf ein ziemlich elitäres, privates Jungengymnasium gegangen.<br />

Auf der Schule wussten alle, dass ich schwul bin. Ich habe mich geschminkt <strong>und</strong> hatte meinen<br />

eigenen Stil. Jungs haben mich als Schwuchtel, Tucke oder Tunte bezeichnet <strong>und</strong> damit war mein Outing<br />

überflüssig.<br />

Meine ersten intensiveren sexuellen Erfahrungen habe ich auf dem Gymnasium gemacht, mit irgendwelchen<br />

Jungs. Ich habe auch ziemlich oft die Klasse gewechselt <strong>und</strong> es waren von 30 Schülern<br />

immer zwei, drei dabei, die homoerotische Erfahrungen mit mir geteilt haben. Ich kann mich an Situationen<br />

erinnern, in denen ich unter dem Tisch im Unterricht „gefummelt“ habe oder meine ersten Oralsexerfahrungen<br />

in der Umkleidekabine machte. Diese Erfahrungen passierten „heimlich“ <strong>und</strong> den Jungs<br />

lag auch immer sehr viel daran, dass ich nichts sage. Nicht selten waren es die „Cooleren“ der Klasse.<br />

Offiziell habe ich mich bei meiner Familie mit 16 geoutet. Meine Eltern haben es ziemlich früh<br />

bemerkt, wollten es aber nicht wahrhaben. Mein Vater hat Dinge gesagt wie: „Bist du ein Kerl, dann<br />

zieh dich auch so an, oder bist du schwul?“ Meine Mutter hat auch ein-, zweimal gefragt, <strong>und</strong> das<br />

fand ich immer sehr schockierend <strong>und</strong> verstörend. Ich wusste zwar damals, dass ich schwul bin, hatte<br />

mich aber noch nicht entschieden, ob ich das mit meinen Eltern teilen will. Eines Tages kam ich morgens<br />

nach dem Feiern nach Hause <strong>und</strong> meine Mutter nagelte mich fest <strong>und</strong> meinte: „Jetzt will ich es<br />

wissen, bist du schwul?“<br />

Das war der Moment, in dem ich all meinen Mut zusammennahm <strong>und</strong> sagte: „Ja, ich bin schwul!“<br />

Meine Mutter fing bitterlich an zu weinen <strong>und</strong> forderte mich auf, zu meinem Vater zu gehen <strong>und</strong> es<br />

ihm mitzuteilen. Mein Vater nahm mich in den Arm (das erste Mal seit Jahren) <strong>und</strong> sagte: „Glaubst<br />

du, ich hätte es nicht gewusst? Ich liebe dich trotzdem.“<br />

Zwei Tage später durfte ich mir von meinem Vater anhören ich wäre krank, gegen die Natur <strong>und</strong><br />

abartig. Er verbot mir, jemals einen Typen mit nach Hause zu bringen <strong>und</strong> meine Homosexualität offen<br />

auszuleben. Und wie ich so bin, habe ich den erstbesten Typen mit nach Hause gebracht <strong>und</strong> mich<br />

ziemlich laut entjungfern lassen…<br />

Das war meine Outinggeschichte.<br />

Seit zwei, drei Jahren sind meine Eltern offener. Es ist kein wirkliches Thema mehr, aber es war<br />

nie leicht. Da ich schon immer sehr promiskuitiv gelebt habe <strong>und</strong> oft Männerbesuch hatte, erwischte<br />

mein Vater mich nicht selten, beispielsweise in der Badewanne, mit Männern, was ihn zum Ausrasten<br />

brachte. Meine Mutter stellte mich ständig als Schlampe dar.<br />

Bis zu meinem Coming-out habe ich sehr viel unterdrücken müssen <strong>und</strong> ich denke, alles, was sich<br />

in den Jahren angestaut hat, habe ich – „BOOM!“ – rausgelassen. Ich habe mich ziemlich stark geschminkt,<br />

mich feminin verhalten <strong>und</strong> meine Homosexualität sehr stark nach außen getragen. Das<br />

musste sich erst mal einpendeln, da ich es durch Unterdrückung <strong>und</strong> Repression nicht zeigen konnte.<br />

Mittlerweile wohne ich in Berlin <strong>und</strong> definiere mich nicht mehr als schwul, sondern als nicht geschlechtlich.<br />

Ich habe keine Lust, Mann oder Frau zu sein. Ich bin Geschlecht Toni oder einfach<br />

„queer“. Seit vier, fünf Jahren lebe ich polyamor. Ich habe durch politische Bildung <strong>und</strong> Sozialisation<br />

erstmals Wörter <strong>und</strong> Begriffe gef<strong>und</strong>en, um Lebensqualitäten zu benennen.<br />

Nach Berlin zu ziehen, gehört zu den besten Entscheidungen, die ich im Leben getroffen habe.<br />

Es kommt einer Wiedergeburt oder einem zweiten Outing nahe. Ich kann noch mehr das sein, was<br />

ich wirklich will. Das mag mit der Distanz zu meiner Familie, meiner Vergangenheit <strong>und</strong> meinem alten<br />

Leben zu tun haben oder einfach damit, dass ich mich entschieden habe, einen neuen Start zu wagen.<br />

Berlin ist genau der richtige Ort für Menschen wie mich.

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