Über Sexualität an sich wurde auch nicht gesprochen. Abweichungen von der Norm blieben mir völlig unbekannt. 98 Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen VERQUEERE WELTEN – ALTERNATIVE LEBENSWEGE JUNGER MENSCHEN Eva, 24 Jahre Aufgewachsen bin ich mit meinen Eltern <strong>und</strong> meinen Schwestern in einem Dorf in der Nähe von Münster, in einer kleinen, heilen Welt. Seitdem ich die Möglichkeit habe, diesen Kosmos von außen zu betrachten, bin ich sehr froh, das zu können <strong>und</strong> nicht mehr den Blick von innen haben zu müssen. Meine Kindheit war eigentlich sehr schön. Ich hatte alles, was ich brauchte, aber nie zu viel davon. Von meiner Familie wurde ich nie daran gehindert, das anzuziehen <strong>und</strong> die Spiele zu spielen, die ich wollte. Ich hatte Jungsklamotten an, kurze Haare, spielte Fußball, kletterte auf Bäume <strong>und</strong> mochte Lego. Homosexualität wurde von meiner Familie nicht thematisiert, denn die gab es nicht. Über Sexualität an sich wurde auch nicht gesprochen. Abweichungen von der Norm blieben mir völlig unbekannt.
Verqueere Welten – Alternative Lebenswege junger Menschen Ich glaube, der Moment, in dem mir bewusst wurde, dass ich lesbisch sein könnte, hing nicht mit einem konkreten Verliebtsein zusammen. Der innere Prozess, vom ersten Anzeichen bis hin zum Deuten, Sortieren <strong>und</strong> Akzeptieren, hat insgesamt vier Jahre gedauert. Ich war 18 <strong>und</strong> denke, dass ich es schon früher gemerkt habe, es mir aber nicht eingestehen wollte. Natürlich hatte ich auch einen Fre<strong>und</strong>, weil ich erst mal allen anderen <strong>und</strong> mir selbst zeigen wollte, dass ich „normal“ bin. Das war blanker Hohn <strong>und</strong> hat nicht lange gehalten. Ich fühlte mich wie „the only gay in the village“ <strong>und</strong> kannte niemanden, mit dem ich das hätte besprechen können. Dann kam die Zeit meiner ersten Beziehung <strong>und</strong> ich musste „raus“. Da ich mich nicht traute, mit meiner Mutter darüber zu sprechen, habe ich ihr einen Zettel zukommen lassen, auf dem geschrieben stand: „Ich bin jetzt mit [...] zusammen <strong>und</strong> die kommt mit auf den Abiball als meine Begleitung.“ Dann sah ich zu, dass ich das Haus verließ, weil ich auch nicht wusste, wie ich mit irgendeiner Reaktion hätte umgehen sollen. An dem Tag des Abiballs machte ich mich auf den Weg, um meine Fre<strong>und</strong>in abzuholen, <strong>und</strong> meine Mutter fragte: „Wo willst du hin?“ Ich erwiderte: „Ich hole meine Begleitung ab.“ Und dann sagte sie: „Also mit dem Zettel ... ist das Problem ja auch nicht gelöst.“ Ansonsten wurde darüber nicht mehr gesprochen. An meinem Geburtstag kam das Thema dann doch noch einmal auf, denn meine Mutter schien sehr interessiert daran, wer denn alles kommen würde, <strong>und</strong> fragte direkt: „Aber deine Bekannte kommt ja wohl nicht, oder? Das wäre doch zu viel verlangt.“ Meine Schwester reagierte <strong>und</strong> sagte: „Natürlich kommt die, ich hab sie eingeladen.“ Als die Gäste kamen, hat meine Mutter das Haus verlassen. Die Menschen, zu denen ich ein gutes Verhältnis hatte, wussten, dass ich homosexuell bin, <strong>und</strong> fanden es auch o.k. Ansonsten spricht man solche Dinge in dem Dorf nicht an. Nach zwei Jahren wurde die Beziehung beendet. Zu der Zeit wohnte ich bereits in Dortm<strong>und</strong> <strong>und</strong> studierte. Seit meinem Auszug geht es mir persönlich besser. Meine WG ist wie eine kleine Familie, in der jeder wirklich so akzeptiert wird, wie er ist. Der Kontakt zu meinen Eltern ist weniger geworden <strong>und</strong> das ist ganz gut so. An meinem letzten Geburtstag habe ich meiner Mutter gesagt, dass ich nicht zum sonntäglichen Kaffeetrinken mit meiner Familie anlässlich des Geburtstags erscheine, da ich die Rolle, die ich jahrelang eingenommen habe, nicht weiter spielen will, <strong>und</strong> habe gesagt: „Mama, du weißt, ich bin homosexuell. Ich kann <strong>und</strong> will das nicht ändern <strong>und</strong> es tut mir weh, wenn ich da nicht offen drüber reden darf.“ Sie sagte daraufhin: „Spielen wir nicht alle eine Rolle?“ Da ist mir alles aus dem Gesicht gefallen. Ich habe in letzter Zeit den Kontakt zu meiner Mutter so gering wie möglich gehalten, weil es mir immer sehr nahegeht, wenn ich ihr begegne. Jedes Mal wenn ich sie sehe, sehe ich in ihr immer nur meine Mutter, die mich nicht akzeptiert. Das sitzt so tief <strong>und</strong> verletzt mich so sehr, dass ich diesen Gedanken auch nicht für einen Moment ausblenden kann. Mittlerweile ist auch meine Verwandtschaft eingeweiht. Sie wissen, dass ich lesbisch bin, <strong>und</strong> wissen auch, dass genau das zu der sehr gestörten Beziehung zwischen meiner Mutter <strong>und</strong> mir geführt hat <strong>und</strong> auch weiterhin für meine Mutter inakzeptabel ist. Glücklicherweise waren die Reaktionen meiner Verwandten auf mein Outing sehr positiv. Meine Tanten <strong>und</strong> Onkel sind, genauso wie ich, sehr unzufrieden mit der gesamten Situation. Sie überlegen sich gerade zusammen mit mir, wie man das Verhältnis zwischen mir <strong>und</strong> meiner Mutter verbessern kann <strong>und</strong> wie man meine Mutter dazu bewegen könnte, auf mich zuzugehen. Ich selber habe mittlerweile weder Kraft noch Ideen, immer wieder auf sie zuzugehen, ihr immer wieder zu erklären, dass ich nichts an meiner sexuellen Orientierung ändern kann <strong>und</strong> das auch überhaupt nicht möchte. Ich finde, dass es ihre Aufgabe ist, einmal einen Schritt auf mich zuzugehen, auch wenn es nur ein kleiner ist, oder aber wenigstens auf meine Gesprächsangebote zu reagieren. Das wäre schon ein großer Erfolg <strong>und</strong> würde mich glücklich machen. Ich hoffe einfach, dass wir einen Weg finden, in einen Dialog zu treten. Ich bin jedenfalls sehr froh über die Unterstützung meiner Verwandten <strong>und</strong> zuversichtlich, dass wir etwas erreichen können. Der Gr<strong>und</strong> für meine Anonymität liegt darin, dass ich Gr<strong>und</strong>schullehrerin werde <strong>und</strong> ich weiß, dass nicht alle Eltern so denken, wie es vernünftige Menschen tun sollten. Meine Homosexualität nimmt keinen Einfluss auf meine Kompetenz als Lehrerin, aber ich kann nicht davon ausgehen, dass das alle so sehen. Ein weiterer Gr<strong>und</strong> ist, dass ich kein gutes Wort über meine Mutter verloren habe <strong>und</strong> unser Konflikt noch nicht beendet ist. Ich möchte sie nicht öffentlich angreifen, sondern das zuerst mit ihr geklärt haben. Ich finde es sehr schade, deshalb anonym bleiben zu müssen, da ich gr<strong>und</strong>sätzlich finde, dass man sich wegen seiner Homosexualität nicht verstecken muss. 99