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Henselowsky Boschmann – Verlagsprospekt 2016

Der regionale Literaturversorger Ruhrgebiet

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Bahnhofscafé. Castrop-Rauxel<br />

An guten Tagen lese ich den Kunden ihre Wünsche von den Gesichtern ab. Das Mädchen mit rundlichen<br />

Wangen und Sommersprossen: ein Donut mit Streuseln. Ich weiß es, bevor sie es ausspricht. Erst sagt es ihr<br />

Gesicht. Dann sagt es ihr Mund.<br />

Lieber würde ich bei der Arbeit den Menschen nur auf die Hände schauen. Gesichter verraten zu viel. Hände<br />

lenken weniger von der Arbeit ab, auf die ich mich konzentrieren muss. Trotzdem soll ich den Kunden in die<br />

Augen sehen. Es ist unhöflich, sich vor fremde Häuser zu stellen und durch die Fenster zu gaffen. Aber zu<br />

versuchen, fremden Menschen durch die Augen in das Dahinter zu schauen, gehört zum guten Ton. Wenn ich<br />

doch Eva fragen könnte, ob sie das versteht. Meine Schwester Eva, von der ich gelernt habe, in Gesichtern<br />

zu lesen. So wie jetzt im Gesicht der großen, schlanken Frau im mittleren Alter. Sie hat die blonden Haare zu<br />

einem strengen Pferdeschwanz gebunden. Ein Wasser, medium, bitte. Ich weiß es, bevor sie es ausspricht.<br />

Erst sagt es ihr Gesicht. Dann sagt es ihr Mund.<br />

Die Geschäftsführung erwartet, dass wir den Kunden beim Kauf weitere Produkte anbieten. Zum Brötchen ein<br />

Getränk. Zum Getränk ein Brötchen. Ich biete der Frau mit dem blonden Zopf kein Brötchen an. Ihr Gesicht<br />

verrät es. Die Augen verraten es: Da ist ein Hunger, den ein Brötchen nicht stillen kann.<br />

»Übernimmst du die Tische?«, fragt Rita, und ich nicke. Froh, eine kurze Weile auf die eigenen Hände schauen<br />

zu können statt in die Augen der Kunden, die so viel erzählen. Meine Hände sind noch immer glatt, weil<br />

ich jeden Tag in Milch bade. Sie sollen keine Geschichte erzählen. Sie sollen schweigen. Sie räumen Tassen<br />

ab. Wischen die Tische sauber. Von einem Tisch zum anderen. Zum anderen. Zum anderen. Durch die Leere<br />

dieses Cafés. Nur an zwei Tischen sitzen jetzt Menschen.<br />

An dem einen: ein junges Paar mit Baby. Das Gesicht der Frau in Alarmbereitschaft: Geht es dem Kind gut?<br />

Atmet es noch? Hat es Hunger? Behutsam legt sich die Hand des Mannes auf ihren Arm: Hab keine Angst.<br />

Hab keine Angst, hat Eva immer gesagt. Eva hätte so gerne Kinder gehabt.<br />

Am anderen Tisch: ein Mädchen. Sie sitzt schon lange hier. Rita hat sie bedient. Auf dem Tisch stapeln sich<br />

leere Tassen. Das Mädchen trägt einen Ring am Finger.<br />

»Darf ich …«, setze ich an, während mein Blick von den Händen des Mädchens zu ihrem Gesicht wandert,<br />

zu ihrem viel zu schmalen Gesicht. Doch mein Satz splittert und zerbricht. So laut sagt das Gesicht des Mädchens:<br />

Nein! Wie ein Handkantenschlag, der meinen Satz zerschlägt. Und die Augen. Die Augen … ich senke<br />

den Blick. Auf ihre Hände. Das ist sicherer.<br />

Ihre Hände sind nervös. Drehen den Ring hin und her. Hin und her. Ziehen ihn ab. Schieben ihn auf den Finger<br />

zurück. Die Hände viel zu filigran. Wie können solche Hände auch nur eine Tasse halten, frage ich mich.<br />

Wie kann man an so dünne Finger einen Ring stecken, ohne dass sie mit leisem Klirren zerbrechen. Der Ring<br />

ist mit einem Schmetterling verziert. Hin und her drehen ihn die Hände. Auf und ab schieben sie ihn. Vielleicht<br />

wird der Falter gleich seine Flügel bewegen. Auf und ab. Und in mir spüre ich eine Regung. Spüre etwas aufsteigen.<br />

Wenn du dir was wünschen dürftest, klingt Evas Stimme in meinem Kopf. Dann würde ich abheben.<br />

Losfliegen. Und weit oben über dem Ruhrgebiet kreisen.<br />

Ist noch was?, fragen die Hände des Mädchens barsch, und ich kehre zur Theke zurück. Blicke wieder auf<br />

meine eigenen Hände. Auf den Ring daran. Ein schmaler goldener Reif. Ich denke an Jonas. Jonas trinkt seinen<br />

Kaffee immer mit Milch. Eva hat jeden Tag Milch in ihr Badewasser geschüttet.<br />

»Mit der stimmt doch was nicht«, sagt Rita und deutet mit dem Kopf hinüber zu dem Mädchen, auf dessen<br />

Tisch die leeren Tassen stehen. »Müsste die nicht in der Schule sein?«<br />

»Ferien«, sage ich.<br />

»Trotzdem«, Rita wischt sich über die taupefarbene Bluse, die Teil unserer Berufskleidung ist. »Irgendwas ist<br />

mit der. Ich hab sie gefragt, ob ich die Tassen abräumen kann. Aber sie wollte nicht.« Vielleicht hat sie ihre<br />

Gründe. Will ich einwenden. Man kann Menschen doch immer nur vor den Kopf gucken. Will ich sagen. Aber<br />

der Regionalzug aus Dortmund ist eingefahren, und Menschen betreten das Café. Menschen mit fordernden<br />

Gesichtern. Keine Zeit zum Sitzen. Den Kaffee immer »to go«. Nur die ältere Frau, die ihre Brezel immer mit<br />

guter Butter bestellt, nimmt Platz. Am Tisch neben dem Mädchen. Das Mädchen könnte ihre Enkelin sein,<br />

denke ich. Und stelle mir vor, wie die beiden sonntags in der Küche der Frau sitzen. Und die Frau ihrer Enkelin<br />

Buchstabensuppe kocht …<br />

»Zehn Brötchen …«, unterbricht ein Mann mit Anzug und Krawatte meine Gedanken. Seine Augen verraten<br />

es: Die Zeit, die er hier verliert, holt er nie wieder ein. »Bitte …«, setzt er an. »… mit Kassenzettel«, ergänze<br />

ich, ehe sein Mund es ausspricht. Der Mund lacht. Die Augen lächeln. Für den Bruchteil einer Sekunde wird<br />

Zeit gleichgültig. Ich stelle mir vor, wie der Mann abends nach Hause kommt. Den Schlips löst. Und seine<br />

Frau leidenschaftlich küsst. Stelle mir vor: sein Augenaufschlag wie die Regung eines Schmetterlings. Der<br />

Schlag eines Schmetterlingsflügels im Amazonas-Urwald kann, sagen Chaosforscher, einen Orkan in Europa<br />

auslösen. […]<br />

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