Ein Stern am Horizont - Leseprobe

„Habt ihr denn das nicht gewusst, was die mit uns gemacht haben?“ DAVID überlebt 10-jährig zwei Jahre AUSCHWITZ, irrt allein, an Leib und Seele gebrochen, viele Jahre in wahrer Odyssee in der Welt umher, bis er 1988 sein Rettungsboot "Rosegret" trifft, deren Hand zur Versöhnung er nicht mehr loslässt. 1994 erfährt er durch den Zeitzeugen und Freund seines Vaters seine wahre Familiengeschichte, bis er nach weiteren Irrwegen eine "innere Verwandlung" erlebt. Er tritt erlöst aus dem Dunkel der Unwissenheit in das Licht der Wahrheit und findet Trost und Frieden. - "Ein schonungslos offen erzählter und sehr bewegender Schicksalsroman, mit spirituellen Anteilen, über eine tragische Familiengeschichte, deren Bande voller Liebe auch der Holocaust nicht zu brechen vermochte." (P. Schmidt) „Habt ihr denn das nicht gewusst,
was die mit uns gemacht haben?“

DAVID überlebt 10-jährig zwei Jahre AUSCHWITZ, irrt allein, an Leib und Seele gebrochen, viele Jahre in wahrer Odyssee in der Welt umher, bis er 1988 sein Rettungsboot "Rosegret" trifft, deren Hand zur Versöhnung er nicht mehr loslässt.
1994 erfährt er durch den Zeitzeugen und Freund seines Vaters seine wahre Familiengeschichte, bis er nach weiteren Irrwegen eine "innere Verwandlung" erlebt. Er tritt erlöst aus dem Dunkel der Unwissenheit in das Licht der Wahrheit und findet Trost und Frieden.

- "Ein schonungslos offen erzählter und sehr bewegender Schicksalsroman, mit spirituellen Anteilen, über eine tragische Familiengeschichte, deren Bande voller Liebe auch der Holocaust nicht zu brechen vermochte." (P. Schmidt)

Margrit.Seelig.de.Boll
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<strong>Leseprobe</strong><br />

<strong>Ein</strong> <strong>Stern</strong> <strong>am</strong> <strong>Horizont</strong><br />

David<br />

Margrit Seelig de Boll<br />

2. überarbeitete Auflage<br />

Juli 2016<br />

© 2016 by Margrit Seelig de Boll<br />

Korrektorat & Satz: Petra Schmidt, www.lektorat-ps.com<br />

Covererstellung: Henry D<strong>am</strong>aschke, www.sheep-black.com<br />

Herstellung und Verlag: BoD-Books on Demand, Norderstedt<br />

Die Buch- und Cover-Rechte liegen bei der Autorin.<br />

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt.<br />

Jede Verwertung und Vervielfältigung – auch auszugsweise –<br />

ist nur mit ausdrücklicher schriftlicher Genehmigung der<br />

Autorin gestattet. Alle Rechte, auch die der Übersetzung des<br />

Werkes, liegen bei der Autorin. Zuwiderhandlung ist strafbar<br />

und verpflichtet zu Schadenersatz.<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation<br />

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische<br />

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

ISBN: 978-3-74124-282-3


Vorwort<br />

„Habt ihr denn das nicht gewusst,<br />

was die mit uns gemacht haben?“,<br />

fragt verzweifelt der 10-jährige Rudolf, der DAVID, <strong>am</strong> Tag seiner Befreiung<br />

nach zweijähriger Haftzeit in AUSCHWITZ.<br />

1988 wird Rudolf, der David, von der Autorin auf seine Auschwitz-<br />

Erfahrungen hin angesprochen. Zu diesem Zeitpunkt ist er bereits 54 Jahre<br />

alt. Ruckartig schaut er sie aus leeren ausgehöhlten Augen an. Entsetzen<br />

steht in seinem Gesicht geschrieben. Er schluchzt auf, hält sich die Hände<br />

vors Gesicht, sackt nach vorne in die Knie und vornüber aufs Gesicht, kauert<br />

<strong>am</strong> Boden, die Knie bis zum Kinn hochgezogen und mit zus<strong>am</strong>mengekrümmtem,<br />

zuckendem Körper weint und schluchzt er hemmungslos, herzzerreißend,<br />

dazwischen murmelt er irgendetwas Unzus<strong>am</strong>menhängendes,<br />

Unverständliches …<br />

Anmerkung:<br />

Die Geschichte ist nach wahren Begebenheiten eines Zeitzeugen und überlebenden<br />

Freundes seines Vaters, der den Holocaust hautnah miterlebt hat,<br />

entstanden.<br />

Alle N<strong>am</strong>en von noch lebenden Personen sind geändert. Sonstige<br />

Ähnlichkeiten mit noch lebenden Personen und Orten sind rein zufällig.<br />

Die spirituellen Aussagen/Abschnitte sind markiert, sodass der Leser, der<br />

nicht mystisch interessiert ist – mystisch heißt, „mit dem Auge Gottes zu sehen“<br />

–, die Geschichte dennoch durchgehend klar verfolgen kann.<br />

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Teil I<br />

11111<br />

David<br />

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David, Sohn eines reichen Mannes, Ratsherrn,<br />

Ehrenbürgers, Juweliers, Rabbi Guttentag und Frau<br />

1928–1938<br />

Davids Elternhaus<br />

Herr und Frau Guttentag, das junge Juweliers-Ehepaar, kommt aus den<br />

Flitterwochen zurück, die sie an der Ostsee im Landhaus ihrer Eltern verbracht<br />

haben. Sie sitzen auf roten Polstern im Zug 1. Klasse und sind im<br />

Abteil allein. Die junge Frau sitzt ihrem Mann, der gerade einen Blick in<br />

die große Tageszeitung wirft und nicht zu sehen ist, <strong>am</strong> Fenster gegenüber.<br />

Mit einem glücklichen Lächeln schaut sie zu ihm hin. Der Traum meiner<br />

Jungmädchenzeit hat sich genauso erfüllt, wie ich es mir früher einmal ausgemalt<br />

und vorgestellt habe, denkt sie voller Glückseligkeit: Flitterwochen <strong>am</strong><br />

Meer, bei Vollmond <strong>am</strong> Strand mit dem Liebsten. Bei den Gedanken an die<br />

vergangenen, aufregenden und wundervollen letzten vier Wochen fühlt sie<br />

ihr Herz höherschlagen und wild pochen. Sie schaut zu ihm hin und ihre<br />

Wangen glühen und röten sich zugleich. Ihr Ehemann muss ihren intensiven<br />

Blick gespürt haben, denn er senkt abrupt die Zeitung. Ihre Blicke treffen<br />

sich. Er nimmt zärtlich ihre Hand, liebkost sie innig, ohne seinen Blick von<br />

ihr abzuwenden. Da rutscht die Zeitung ihm vom Schoß. Beide versuchen<br />

sie sofort aufzuheben, berühren sich ungewollt an den Schläfen und werden<br />

sogleich von einem heißen Strahl von Wonnegefühlen durchflutet. Beide<br />

schauen schnell zur Glasschiebetür ihres Abteils hin. Als draußen niemand<br />

vorbeigeht, berühren sich ihre Lippen und flüchtig küssen sie sich. Am liebsten<br />

würde sie sich jetzt auf seinen Schoß setzen, sich von ihm streicheln<br />

lassen, ihn selbst streicheln und noch mehr küssen und liebkosen …, doch<br />

hier? Nein, das wagt sie nun doch nicht. Er schien ihr Begehren zu fühlen<br />

und flüstert:<br />

„Warte bis heute Abend.“<br />

Beim Vernehmen seiner Stimme läuft ihr ein heißer Schauer über den<br />

Rücken. Schnell fährt sie sich übers Haar und versucht ihre Erregung und<br />

die Gedanken an den heutigen Abend in den Griff zu bekommen, schaut aus<br />

dem Fenster des fahrenden Zuges und ruft erstaunt aus:<br />

„Wie, … sind wir schon so weit? Da werden wir ja in Kürze in den<br />

Bahnhof von Breslau einlaufen.“<br />

In Gedanken sieht sie schon ihre beiden Elternpaare, die es sich bestimmt<br />

nicht nehmen lassen, „ihre heiß geliebten Kinder“ abzuholen, zum Essen einzuladen<br />

und anschließend in ihr neues Zuhause zu geleiten. Ihre Erregung<br />

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von eben ist der kurz bevorstehenden Freude mit dem Zus<strong>am</strong>mentreffen<br />

ihrer Eltern und Schwiegereltern gewichen.<br />

Schon bei ihrer Verlobung war vereinbart worden, dass sie, sobald sie<br />

verheiratet seien, in die Villa Guttentag, Ohlauerstraße 12, einziehen. Seine<br />

Eltern wollen das große Haus räumen und es ihnen zuliebe allein überlassen.<br />

In den Flitterwochen hat das junge Ehepaar bereits Pläne geschmiedet und<br />

vieles ausführlich besprochen. Sie haben beschlossen, das Haus nach ihren<br />

eigenen Wünschen umzubauen, es neu gestalten und dekorieren zu lassen.<br />

Sie hatte ja eigentlich studieren und Innenarchitektin werden wollen. Jetzt<br />

wird ihr die Möglichkeit geboten, ihre Begabung unter Beweis zu stellen. Es<br />

wartet also sehr viel Arbeit auf sie, doch nicht nur auf sie, sondern auch auf<br />

ihren Mann, der ja jetzt allein fürs Juweliergeschäft verantwortlich ist. Sein<br />

Vater hat es ihm bereits überschrieben.<br />

Ihr neues Zuhause, die Villa Guttentag, verfügt über einen großen Saal<br />

mit Empore und auch sonst über sehr viele Räumlichkeiten. Die oberen<br />

Zimmer sollen ausschließlich für ihren privaten Gebrauch zur Verfügung<br />

stehen, während unten im Haus ihr Mann seine Verkaufsräume einrichten<br />

will. Er hat die Idee, im Haus viele Feste und Feierlichkeiten stattfinden zu<br />

lassen, und ist sehr optimistisch. Er glaubt, bei diesen Gelegenheiten die besten<br />

Geschäfte machen zu können. Und wie sich später herausstellen sollte,<br />

hatte er d<strong>am</strong>it recht.<br />

Zur Villa gehört außerdem ein riesengroßer Park.<br />

Anmerkung:<br />

Im Jahr 2007 wollte niemand auf dem Kataster<strong>am</strong>t in Breslau mehr glauben,<br />

dass so ein großer Park jemals einer einzigen F<strong>am</strong>ilie gehört hat.<br />

Mit diesem Park hat ihr Mann etwas ganz Besonderes vor. Er will ihn zu<br />

einem botanischen Garten umgestalten lassen. Sie werden also in den nächsten<br />

Jahren voll beschäftigt sein.<br />

So war es denn auch. Und sie ahnten zu diesem Zeitpunkt noch nichts<br />

von der nahenden Tragödie, die sich schon bald anbahnen und ihre Schatten<br />

vorauswerfen würde.<br />

Emys Hochzeit im Hause Guttentag<br />

Frau Guttentag hat eine Freundin. Sie heißt Frau Sondra, eine sehr liebe,<br />

mütterliche Frau. Mehrere Jahre, ja eigentlich, wenn man zurückdenkt, ist sie<br />

von Anfang an bei der F<strong>am</strong>ilie und mit dabei gewesen. Zunächst war sie als<br />

Putzfrau tätig, die sich sehr schnell zur Haushälterin entwickelte und dann<br />

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über die Jahre hin und vor allem, seitdem Frau Guttentag schwanger ist, ihr<br />

zur Freundin wurde, die sich aufs Liebevollste um die junge Frau kümmerte.<br />

Dadurch avancierte sie zur Hausd<strong>am</strong>e und übernahm zugleich mehr und mehr<br />

alle Aufgaben der gnädigen Frau. Jetzt beaufsichtigt sie nicht nur das ges<strong>am</strong>te<br />

Personal, sondern organisiert auch die vielen Festlichkeiten, sorgt für die nötigen<br />

<strong>Ein</strong>käufe und übernimmt alle sonstigen Verpflichtungen der Hausherrin.<br />

Für die Guttentags ist sie unentbehrlich geworden. Als die Hausherren nun hören,<br />

dass Emy, ihre älteste Tochter, heiraten will, bieten sie ihr an, die Hochzeit<br />

in ihrem hochherrschaftlichen Haus stattfinden zu lassen. Sie wollen ihre<br />

Dankbarkeit auf diese Weise Frau Sondra gegenüber zum Ausdruck bringen.<br />

Heute ist Emys Hochzeitstag. Die Sondras haben weit mehr als 100 Leute<br />

eingeladen, Verwandte der Braut und des Bräutig<strong>am</strong>s, dazu viele Freunde, gute<br />

Bekannte und Nachbarn. Sie feiern unten im Saal, während die Hausherren,<br />

Herr Guttentag und seine hochschwangere Frau, oben auf der Empore Platz<br />

genommen und die Eltern der Braut, Herrn und Frau Sondra, sowie Herrn<br />

Joshua <strong>Stern</strong>, den Gold- und Di<strong>am</strong>anteneinkäufer und Freund des Hauses,<br />

zu sich gebeten haben. Herr Guttentag, der groß und schlank ist, trägt einen<br />

Mittelscheitel und hat mittelblondes Haar. Herr <strong>Stern</strong> ist etwas größer als der<br />

Hausherr. Auch er ist schlank, mittelblond und, wie immer, äußerst gepflegt.<br />

Beide sind Mitte dreißig.<br />

Inzwischen bedient der Hausdiener die ehrenwerte Herrschaft, der stets<br />

auf dem Sprung ist, jeden Wunsch zuvorkommend zu erfüllen. Von oben<br />

schaut man mit Interesse in den Saal hinunter und kann von dort aus das<br />

Treiben der Hochzeitsgesellschaft, die inzwischen zum Festmahl an langen<br />

Tischen Platz genommen hat, gut verfolgen. Die Braut, in ihrem wundervollen<br />

Brautkleid „mit Schweizer Stickerei“, wie man es immer wieder betonen<br />

hört, zieht alle Blicke auf sich. Sie sieht einfach bezaubernd aus und<br />

steht absolut im Mittelpunkt. Da zu einer richtigen Hochzeit auch Musik<br />

und Tanz gehören, hat Herr Guttentag, wie bei vielen seiner eigenen Feste<br />

zuvor, eine Musikkapelle engagiert. In diesem Augenblick tritt der Hausherr<br />

mit einem Glas in der Hand dicht an den Rand der Brüstung. Nun spielt<br />

die Musikkapelle eilig einen Tusch. Die Hochzeitsgäste verstummen und<br />

schauen gespannt nach oben. Sie hören Herrn Guttentag mit klarer Stimme<br />

in den Saal hinunterrufen:<br />

„<strong>Ein</strong> Hoch auf das Brautpaar. Ihnen beiden viel Glück und Segen für Ihr<br />

weiteres gemeins<strong>am</strong>es Leben. Gesegnet seien alle, die heute hier im Haus<br />

vers<strong>am</strong>melt sind. Das Brautpaar …, es lebe hoch!“<br />

„Hoch, hoch, hoch!“, reagiert sofort von unten begeistert die<br />

Hochzeitsgesellschaft.<br />

<strong>Ein</strong>er nach dem anderen steht auf, schwenkt sein Glas, prostet nach<br />

oben, nach links und nach rechts, um dann mit Herrn Guttentag auf das<br />

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Wohl des Brautpaares zu trinken. Nun werden die Kellner tätig, tragen das<br />

Hochzeitsmenü auf und bedienen die Gäste.<br />

Nach geraumer Zeit ist das Festmahl beendet, die Tafeln werden abgeräumt,<br />

die Tische beiseitegeschoben und der Saal zum Tanzen freigemacht. Braut und<br />

Bräutig<strong>am</strong> eröffnen unter freudigem Beifall den Tanz. Emy umarmt in wilder<br />

überschwänglicher Pose ihren frischgebackenen Ehemann und schlingt ungestüm<br />

beide Arme um seinen Hals. Ihr Kopf liegt nun ganz nahe seinem Ohr.<br />

Gelächter folgt ihrer Spontanität. Sie aber ignoriert es einfach, denn der Drang,<br />

ihm etwas zuzuflüstern, was ihr vorhin beim Erscheinen von Herrn Guttentag<br />

oben an der Balustrade in den Sinn gekommen war, ist stärker. Mit einem Auge<br />

blinzelt sie unaufhörlich zu ihm hinauf, als habe sie bei dem, was sie ihrem<br />

Angetrauten sagen will, ein schlechtes Gewissen, und schon gesteht sie ihm:<br />

„Du, ich mag den Herrn Guttentag nicht, ich habe ihn noch nie gemocht.<br />

Er ist so jung und schon so reich. Was macht es dem schon aus, wenn er uns<br />

jetzt ein 24-teiliges Meißner Ess- und Kaffeeservice schenkt und das Silber<br />

dazu. Für ihn ist das doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Geschirr<br />

hin und Besteck her, das tut dem doch nicht weh. Wir aber leben weiterhin<br />

in Armut. Können wir das Geschirr und das Silber je benutzen? Wann? Ich<br />

habe keinen Platz, um es auch nur einmal auszupacken und irgendwo hinzustellen.<br />

Wir könnten es höchstens verkaufen, doch wer hat heute schon<br />

Geld? Wer würde es uns abkaufen? Kannst du mir das mal verraten?“ Und<br />

sie fährt mit ihrem Klagelied weiter fort: „Wie du weißt, habe ich keine richtige<br />

Arbeitsstelle und muss mich als Zugehfrau bei irgendwelchen reichen<br />

Juden verdingen und mein saures Brot mit Putzen verdienen. Meinen beiden<br />

Schwestern geht es nicht viel besser.“<br />

Jetzt hält der Bräutig<strong>am</strong> beim Tanzen inne. Diese Strophe vom Klagelied<br />

kennt er bereits und schaut sie ungläubig an. Die Hochzeitsgesellschaft deutet<br />

dies als Aufforderung, nun auch mit dem Tanzen zu beginnen. Der frischgebackene<br />

Ehemann aber kann nicht verstehen, warum seine junge Frau heute an<br />

ihrem Hochzeitstag, in diesem hübschen Kleid, in wunderschöner Umgebung<br />

und inmitten all ihrer Freunde, nicht glücklich ist. Sogleich versucht er, sie<br />

aufzumuntern und auf bessere Gedanken zu bringen. Voller Optimismus und<br />

Zuversicht tröstet er sie mit den Worten:<br />

„Hitler wird das in Kürze alles ändern. Er hat schon kräftig d<strong>am</strong>it angefangen<br />

– du wirst sehen, bald wird es uns allen bessergehen. Warte nur ab,<br />

wenn ich mein Studium beendet habe, dann mache ich mich selbstständig.<br />

Dann brauchst du nicht mehr bei anderen Leuten putzen zu gehen.“<br />

Sie winkt ab und gibt ihm stattdessen zu bedenken:<br />

„Und wenn’s Krieg gibt? Dann wirst du – ob du das willst oder nicht –<br />

Soldat und alle deine Pläne fallen ins Wasser.“<br />

„Sieh doch nicht so schwarz, meine süße, kleine Braut in Weiß.“<br />

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Er zieht sie bei diesen Worten zu sich heran und drückt ihr einen Kuss<br />

auf den Mund. Sie lässt es regungslos über sich ergehen.<br />

Oben auf der Empore hat man jetzt ebenfalls das Festmahl beendet und<br />

sich in bequemen Sesseln gemütlich vor der Balustrade zurückgelehnt. Herr<br />

Guttentag nimmt erneut das Sektglas in die Hand, welches der Hausdiener<br />

inzwischen nachgefüllt hat, und sie stoßen mit vielen guten Wünschen erneut<br />

auf das junge Brautpaar an. Nun wendet sich der Hausherr fragend an<br />

Frau Sondra:<br />

„Na, Frau Sondra, wann wird denn Ihre zweite Tochter heiraten? Vielleicht<br />

im nächsten Jahr? Dann soll auch ihre Hochzeit wieder hier stattfinden. Bis<br />

einmal unser zu erwartendes Kind so weit ist, vergehen viele, viele Jahre.“<br />

„Vielen Dank“, antwortet die Angesprochene und auch von ihrem Mann<br />

ist ein „Danke, das ist sehr nett von Ihnen“ zu hören.<br />

Der Hausherr fragt nun auch nach der dritten Tochter:<br />

„Und wann kann man mit einer Hochzeit Ihrer jüngsten Tochter rechnen?<br />

Wann wird es bei ihr so weit sein?“<br />

„Oh, die hat noch Eierschalen hinter den Ohren und dumme Streiche<br />

im Kopf“, meint schmunzelnd Herr Sondra. „Ich glaube kaum, dass daraus<br />

so schnell etwas wird. Darf ich jedoch diese Gelegenheit gleich einmal beim<br />

Schopfe fassen und Ihnen, sehr geehrter Herr Guttentag, und Ihnen, gnädige<br />

Frau, auch im N<strong>am</strong>en unserer Tochter und unseres Schwiegersohns sehr<br />

herzlich dafür danken, dass wir heute in Ihrer prachtvollen Villa dieses Fest<br />

mit all unseren Freunden erleben dürfen. Die kostbaren Hochzeitsgeschenke<br />

sind wunderschön, Sie beschämen uns richtig. Meißner Porzellan und das<br />

Silber für so viele Personen hätten wir uns nie leisten können. Wir danken<br />

Ihnen für Ihre Großzügigkeit.“<br />

„Ist schon gut, sehr gern geschehen“, antwortet der Angesprochene.<br />

Sogleich übernimmt Frau Sondra das Wort:<br />

„Auch ich möchte mich, sehr geehrter Herr Guttentag, den Worten meines<br />

Mannes anschließen und Ihnen besonders für das einzigartige Brautkleid<br />

sehr herzlich danken.“ Sie äußert voller Begeisterung: „Sieht unsere Tochter<br />

in diesem wunderschönen Kleid nicht wie eine richtige Prinzessin aus? Ihre<br />

Freundinnen beneiden sie alle und manch eine hat schon angefragt, ob sie<br />

sich das kostbare Kleid für ihre Hochzeit ausleihen dürfe.“<br />

Herr Guttentag wehrt ab:<br />

„Bitte sehr, dazu kann ich nichts sagen, da müssen Sie sich schon an meine<br />

Frau wenden, d<strong>am</strong>it hatte ich nichts zu tun.“<br />

Er zeigt dabei auf seine Frau, die daraufhin erwidert:<br />

„Sehr gern geschehen, liebste Freundin.“ Sie lächelt ihr freundlich zu.<br />

„Es war mir eine Freude. Ihre Tochter sieht wirklich wunderschön in diesem<br />

Kleid aus.“<br />

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Herr Guttentag prostet mit dem Glas in der Hand nun Frau Sondra zu<br />

und beginnt mit herzlicher Stimme:<br />

„Es liegt an uns, liebe Frau Sondra, sich ganz besonders bei Ihnen zu<br />

bedanken für alles, was Sie für uns getan haben. Vor allem für meine liebe<br />

Frau in den letzten neun Monaten ihrer Schwangerschaft. Wir danken<br />

Ihnen. Als wir heirateten, hat sich meine Frau gleich ein Kind gewünscht.<br />

Wir mussten ganz schön lange darauf warten. Sie will ein Mädchen haben.<br />

Mir ist das sehr recht, doch ein Junge wäre eine weitere große Erfüllung<br />

meines Lebens, ein erneuter Höhepunkt. Ich wäre darüber unaussprechlich<br />

glücklich und doch, ich muss das in diesem Kreis einmal ganz offen<br />

und ehrlich aussprechen: Meine liebe Frau ist und bleibt die wichtigste<br />

Erfüllung in meinem Leben.“<br />

Er blickt seine Frau liebevoll an. Auch sie schaut ihn an und beide sind<br />

für ein paar Sekunden ganz still. Herr Sondra, der dem Hausherrn gegenübersitzt,<br />

nimmt das gerührt zur Kenntnis. Ihm wird bewusst: Mein Gott,<br />

die lieben sich ja. Das spürt man förmlich. Es ist einfach wundervoll, mit diesem<br />

vornehmen Ehepaar zus<strong>am</strong>men sein zu dürfen.<br />

Kurze Zeit später hört er jedoch Herrn Guttentag mit Besorgnis äußern:<br />

„Und nun wird unser Kind in diese sehr unruhige Zeit hineingeboren.<br />

Was meinen Sie, Herr Sondra, Sie kommen doch viel herum, sehen und hören<br />

viel. Wird man uns Juden in Ruhe lassen oder wird es wieder zu einer<br />

Judenverfolgung kommen, wie schon so viele Male in der Geschichte unseres<br />

Volkes? Es wird ja gemunkelt, Hitler habe böse Absichten. Wenn man ihn so<br />

reden hört und seine Drohgebärden sieht, macht das vielen von uns Angst.“<br />

„Lieber Herr Guttentag, ich darf Sie doch so nennen?“<br />

„Bitte sehr“, antwortet dieser mit zustimmender Handgeste.<br />

Herr Sondra nickt, dankt freundlich und spricht sofort weiter:<br />

„Ich halte persönlich sehr viel von Hitler. So einen Mann hat das deutsche<br />

Volk schon lange gebraucht. Bedenken Sie, was er fertiggebracht hat.<br />

Er lässt die Autobahnen bauen. Die Arbeitslosen sind von einem Tag zum<br />

anderen weg von der Straße. Es hat sich im Leben vieler Menschen etwas<br />

zum Positiven hin entwickelt und für sie verändert.“<br />

„Und was sagen Sie zu dem, was sonst noch so geschieht?“, unterbricht<br />

Herr Guttentag ihn und gibt zu bedenken: „Hitler rüstet auf, und dazu<br />

braucht er Geld, sogar sehr viel Geld. Wo aber soll das herkommen?“<br />

„Darüber, so muss ich ganz offen zugeben, habe ich mir bisher noch<br />

keine Gedanken gemacht.“<br />

„Sollten Sie aber, lieber Herr Sondra, sollten Sie“, wirft besorgt der<br />

Hausherr ein.<br />

Sein Gegenüber aber geht nicht weiter auf die Bedenken seines Gastgebers<br />

ein, sondern fährt verzückt mit seinen Ausführungen fort:<br />

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„Ich finde es einfach fantastisch, wenn wir alle <strong>am</strong> S<strong>am</strong>stag die Schaufel<br />

in die Hand nehmen, um uns an den gemeinnützigen Arbeiten zu beteiligen.<br />

Mittags aus der Gulaschkanone Erbsensuppe essen und abends im Saal vom<br />

Bürgerhaus zus<strong>am</strong>menkommen und dann der Arzt neben dem Handwerker<br />

und der Bauer neben dem Stadtrat sitzt. Es gibt keine Standesunterschiede<br />

mehr. Ist das nicht großartig? <strong>Ein</strong> Volk, ein Reich, ein Führer!“<br />

„Sie sind ja richtig begeistert, Herr Sondra! Doch uns Juden schließt man<br />

dabei aus!“, gibt sein Gesprächspartner zu bedenken.<br />

„Um ganz ehrlich zu sein, gefällt mir diese Haltung auch nicht so recht,<br />

schließlich sind Sie, genau wie wir, deutsche Staatsbürger und haben die<br />

gleichen Rechte und Pflichten. Ich hoffe, die Nazis kommen zur Besinnung,<br />

ändern ihre Haltung und beziehen Sie als Juden mit ein.“<br />

Jetzt mischt sich Frau Sondra sehr erregt ins Männergespräch und berichtet<br />

von ihrem Nachbarn, einem Friseur:<br />

„Er hat sein Geschäft schon verkauft und ist in die Vereinigten Staaten<br />

von Amerika ausgewandert. Er war voller Angst und wollte unbedingt sofort<br />

weit weg. Sein Geschäft hat er aus diesem Grund ganz billig abgegeben.<br />

Haben Sie auch schon einmal daran gedacht, falls es für Sie kritisch werden<br />

sollte, das Land zu verlassen?“<br />

„Nein, muss ich ganz ehrlich sagen, nein“, antwortet Herr Guttentag<br />

sehr bestimmt. „Daran habe ich bisher noch keinen einzigen Gedanken verschwendet.<br />

Ich bin Optimist, ich lasse mein Anwesen hier nicht im Stich.<br />

Man wird es nicht wagen, an uns Hand anzulegen. Wir sind Ratsherrn und<br />

Ehrenbürger dieser Stadt, dazu unterstütze ich viele soziale <strong>Ein</strong>richtungen.<br />

Sie werden uns bestimmt nichts tun. Was meinst du, Joshua?“<br />

Herr <strong>Stern</strong>, der bisher interessiert zugehört, doch noch kein einziges<br />

Wort gesagt hat, antwortet jetzt spontan:<br />

„Gestern haben sie mich für Montagmorgen aufs <strong>Ein</strong>wohnermelde<strong>am</strong>t<br />

bestellt. Ich soll einen Diplomaten-Pass erhalten. Sie haben wohl eingesehen,<br />

dass ein Außenstehender ins Geschäft des Di<strong>am</strong>antenhandels, in dem<br />

ich tätig bin, nicht so ohne Weiteres hineinkommt. Bestimmt soll ich für die<br />

Nazis an den Quellen Afrikas auch weiterhin Gold und Di<strong>am</strong>anten besorgen.<br />

Sie brauchen mich.“<br />

„Das kann ich mir denken, dass die Nazis dich als den einzigen europäischen<br />

Di<strong>am</strong>antenhändler, der zu diesen Quellen Zugang hat, gebrauchen<br />

können“, bestätigt Herr Guttentag. „Dazu hast du eine großartige, ja, ich<br />

würde sagen, einzigartige Begabung. Ich habe noch nie erlebt, dass du dich<br />

bei einem Di<strong>am</strong>anten verschätzt hast. Wenn du einen Rohdi<strong>am</strong>anten in die<br />

Hand nimmst, siehst du mit ‚innerem Auge‘ bereits, wie der Stein einmal geschliffen<br />

aussehen wird, und kannst daher vorher schon den Preis fast genau<br />

bestimmen. Du hast wirklich einen enorm sicheren Instinkt, den Wert eines<br />

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Di<strong>am</strong>anten richtig einzuschätzen. Hast du nicht gleichzeitig auch d<strong>am</strong>it eine<br />

hohe Verantwortung auf dich genommen, die von diesem Beruf ohnehin abverlangt<br />

wird? Ich weiß von dir, in diesem Geschäft geht es um gegenseitiges<br />

Vertrauen, doch nicht nur bei mir, als deinem Freund, sondern in diesem<br />

Geschäft des Di<strong>am</strong>anten- und Goldhandels überhaupt. Der Verkauf wird ja<br />

nur per Handschlag abgewickelt und ist d<strong>am</strong>it besiegelt. Soviel mir bekannt<br />

ist, hat es noch nie einen schriftlichen Vertrag gegeben und immer geht es<br />

um sehr viel Geld.“<br />

Herr und Frau Sondra hören interessiert zu und sehen Herrn <strong>Stern</strong> jetzt<br />

lächeln, als er seinen Freund so viele lobende Worte über sich sagen hört.<br />

„Danke, vielen Dank für deine anerkennenden Worte. Ja, was du da sagst,<br />

mein Lieber, ist richtig. Ich muss offen zugeben, ich liebe meinen Beruf.“<br />

Er lächelt erneut, doch kurz darauf ändert sich sein Gesichtsausdruck und<br />

es schien Herrn Guttentag, als schaue er mit geweiteten Augen bis ins ferne<br />

Afrika. Er sollte sich jedoch täuschen, denn sein Freund stellt jetzt vorsichtig<br />

eine Frage in den Raum, mit der er überhaupt nicht gerechnet hat:<br />

„Mir bereitet eine Frage, über die ich viel nachgedacht habe, seit Längerem<br />

Kopfzerbrechen“, beginnt er, „ja, ich mache mir deswegen sogar große<br />

Sorgen. Darf ich dir diese, meine Frage einmal sehr präzise stellen?“ Und<br />

ohne seine Zustimmung abzuwarten, fragt er: „WAS WIRD EIGENTLICH<br />

AUS DEINEM KIND, welches in Kürze geboren wird, wenn es hier zu gefährlich<br />

werden sollte? Hast du schon einmal darüber nachgedacht?“<br />

In diesem Augenblick wird unten im Saal, unter lauten Hurra-Rufen<br />

und Beifallklatschen, die mehrstöckige Hochzeitstorte hereingeschoben. Es<br />

ist ein Meisterstück aus der besten Konditorei <strong>am</strong> Platz. Die eben gestellte<br />

Frage schien zunächst zu verhallen, denn alle blicken sogleich nach unten.<br />

Frau Guttentag, die sich bisher meist ruhig verhielt, hatte natürlich auch<br />

an eine Hochzeitstorte gedacht. Es sollte eine Überraschung sein, die gelungen<br />

schien. Sie selbst aber fühlt sich heute gar nicht wohl und ist außerstande,<br />

sich an den Gesprächen zu beteiligen. Selbst das Zuhören fällt ihr schwer.<br />

Ihre Hände ruhen auf ihrem gewölbten Leib, denn das ungeborene Kind<br />

war heute schon den ganzen Tag über besonders unruhig und hat kräftig<br />

gestr<strong>am</strong>pelt. Joshuas Frage ist ihr jedoch, trotz der lauten Begeisterungsrufe<br />

unten im Saal, nicht entgangen. Und genau in diesem Augenblick durchzuckt<br />

sie ein heftiger Schmerz. Sie beugt sich vornüber und presst mühs<strong>am</strong><br />

hervor:<br />

„Die Wehen …, bitte …, bitte helft mir, die Weh…!“<br />

Alle springen auf. Jeder will helfen und sich nützlich machen, sogar der<br />

Hausdiener eilt herbei, bereit, mit anzufassen. Schließlich wird sie von ihrem<br />

Ehemann und Frau Sondra, rechts und links gestützt, in ihr Zimmer geleitet,<br />

welches man schon für die bevorstehende Geburt vorbereitet hatte. Ihre<br />

12


Freundin hilft der werdenden Mutter, sich zu entkleiden, während ihr Mann<br />

sich beeilt, den Arzt und die Heb<strong>am</strong>me herbeizurufen.<br />

Nachdem Herr Guttentag wieder auf der Empore erschienen ist und sich<br />

gesetzt hat, nimmt jetzt Herr Sondra als Erster das Gespräch wieder auf und<br />

fragt:<br />

„Darf ich noch einmal auf das zurückkommen, was Herr <strong>Stern</strong> vorhin<br />

zur Diskussion in den Raum stellte? Er machte sich Sorgen um das in Kürze<br />

Geborene.“ Er wirft die Frage erneut auf: „Ja, was wird im Ernstfall aus<br />

Ihrem Kind?“ Da Herr Guttentag zunächst nicht darauf reagiert, fährt Herr<br />

Sondra fort: „Ich könnte Ihnen, lieber Herr Guttentag, darauf eine Antwort<br />

geben. Meine Frau und ich haben uns nämlich diese Frage auch schon gestellt<br />

und sie eingehend besprochen. Natürlich vorausgesetzt, es wird ein<br />

Junge, und meine Frau meint, es wird einer. Frauen haben ja für so etwas immer<br />

ein gutes Gespür. In diesem Zus<strong>am</strong>menhang muss ich leider – und das<br />

tut mir zu diesem Zeitpunkt wirklich sehr leid – an unser trauriges Ereignis<br />

vom letzten Jahr erinnern.“ Er stockt, dann presst er hervor: „Unser kleines<br />

geliebtes Rudölfchen …, es hörte plötzlich auf zu atmen.“ Es war Herrn<br />

Sondra bis dahin gar nicht bewusst gewesen, dass es ihm immer noch so sehr<br />

naheging. Er schluckt kräftig, dann sagt er leise, doch mit gefasst ernster<br />

Stimme: „Es war ein großer Schock für uns.“<br />

Herr Guttentag versucht mit warmer Stimme, sein Mitgefühl zum<br />

Ausdruck zu bringen:<br />

„Ich kann mich erinnern, lieber Herr Sondra. Wir erlebten es ja mit.<br />

Auch uns hat es tief berührt und sehr leidgetan.“<br />

Herr Sondra sieht auf und bringt in Erinnerung:<br />

„Nach drei erwachsenen Töchtern und 24 Jahren dazwischen der langersehnte<br />

Sohn, und dann das Unglück. Er blieb nicht lange bei uns …“ Nach<br />

diesem letzten Satz wird seine Stimme jedoch sofort wieder fest. „Darf ich<br />

Ihnen deshalb einen Vorschlag machen.“ Er macht eine kurze Pause, bevor<br />

er fortfährt: „Sollte sich je für Sie eine gefährliche Situation ergeben, würden<br />

wir Ihren Sohn ...“ Er macht eine Pause und fügt nebenbei mit etwas leiserer<br />

Stimme ein: „Natürlich, versteht sich’s, eine Hand wäscht die andere.“ Dann<br />

fährt er mit normaler Stimme weiter fort: „... als unseren Sohn annehmen.<br />

Natürlich nur so lange, bis alles vorüber ist. Wenn man Glück hat, gewöhnt<br />

sich Ihr Kind gleich an meine Frau. Dann dürfte es für Ihr Kind kein größeres<br />

Problem werden.“<br />

„Wirklich eine gute Idee“, antwortet Herr Guttentag, „ich hoffe nur und<br />

bete im Stillen, es möge nie dazu kommen. Ich danke Ihnen jedoch für<br />

Ihr liebenswertes Angebot und ich kann Ihnen jetzt schon versichern, Ihr<br />

Schaden soll es nicht sein. Ich würde mich erkenntlich zeigen und verspreche<br />

Ihnen, Sie und Ihre Frau hätten für den Rest Ihres Lebens ausgesorgt,<br />

13


denn um meinen Sohn zu retten, dafür tue ich alles! Im Ernstfall würde ich<br />

sehr gern auf Ihr Angebot zurückkommen. Ich danke Ihnen jedenfalls“, entgegnet<br />

er und lächelt Herrn Sondra dankbar zu.<br />

Das Versprechen der Freundin<br />

Im Geburtszimmer fühlt Frau Guttentag nach einer starken Wehe, dass sie<br />

einmal gegenüber ihrer Freundin das aussprechen möchte, was ihr schon<br />

lange auf dem Herzen liegt.<br />

„Liebste“, so beginnt sie, „auch ich möchte Ihnen meinen innigsten Dank<br />

sagen. Mein Mann hat es ja bereits vorhin schon getan und betont, Sie hätten<br />

mich während der neun Monate so überaus liebevoll betreut. Ich muss gestehen,<br />

eine Mutter hätte es nicht besser tun können. Sie haben aber auch miterleben<br />

müssen, welche Sorgen ich mir tagtäglich gemacht und unter welch<br />

fürchterlichen Angstzuständen und Albträumen ich gelitten habe, die mich<br />

oft sehr elend und schwach machten. Ihnen ist es immer wieder gelungen,<br />

mich aufzumuntern. Angst und Sorgen plagen mich jedoch bis heute, ich<br />

konnte sie trotz allem nicht überwinden.“ Und sie platzt mit einer Bemerkung<br />

heraus, die Frau Sondra erkennen lässt, wie tief ihre Angst tatsächlich sitzt,<br />

denn sie äußert: „Hoffentlich sterbe ich jetzt nicht bei der Geburt.“<br />

„Liebste“, ruft ihre Freundin voller Entsetzen aus, „wie können Sie so<br />

etwas auch nur denken!“ Frau Sondra schlägt ein Kreuzzeichen, streckt ihre<br />

Hände offen und flehentlich gen Himmel, faltet sie zum Gebet und betet<br />

leise: „Vater unser, der du bist im Himmel …“<br />

Frau Guttentag lässt sie gewähren. Der Friede, der von diesem Gebet<br />

ausgeht, tut ihr gut. Nachdem sie ihre Freundin das Gebet mit einem<br />

Kreuzzeichen beenden sieht, gesteht sie ihr mit weicher Stimme:<br />

„Ich habe mir dieses Kind so sehr gewünscht. Es ist das Kind unserer großen<br />

Liebe. Mein Mann sagte es bereits vorhin schon, wir mussten sehr lange<br />

auf ein Kind warten. Mir k<strong>am</strong> zu der Zeit der Gedanke, ich sei unfruchtbar.“<br />

Sie schaut lächelnd mit ihren großen, dunklen Augen ihre Freundin an. Ihr<br />

Gesichtsausdruck verspannt sich jedoch von Neuem, Angst klingt aus ihrer<br />

Stimme. Verzweifelt presst sie hervor: „Wenn ich doch nur Herr meiner<br />

Furcht werden könnte. Ich wünschte mir beinahe, ich hätte den Wunsch<br />

nach einem Kind niemals gehabt. Wenn Sie wüssten, welch schreckliche<br />

Bilder mich in meinen Träumen verfolgen, dann könnten Sie meine Sorgen<br />

um dieses Kind verstehen. Wir haben ja schon gelebt, doch dieses Kind!“<br />

Jetzt kann sie nicht länger an sich halten. Laut schreit sie ihre Angst aus sich<br />

heraus: „WAS WERDEN DIE NAZIS MIT IHM MACHEN, wenn es in<br />

deren Hände fallen sollte?“<br />

14


<strong>Ein</strong>e erneute, heftige Wehe überrollt sie. Als sie vorüber ist, rückt Frau<br />

Sondra einen Stuhl sehr nahe an ihr Bett, nimmt die Hand ihrer Freundin<br />

und streichelt sie liebevoll. Gleichzeitig versucht sie, ihr Trost zuzusprechen:<br />

„Liebste, ich habe d<strong>am</strong>als miterlebt, wie hart Sie gearbeitet haben, um<br />

das Haus zu dem zu machen, was es heute ist. Da war es überhaupt kein<br />

Wunder, dass zunächst ein Kind ausblieb. Nun aber freuen Sie sich auf<br />

Ihr Kind und ich werde mich mit Ihnen freuen.“ Sie ist fest entschlossen,<br />

die negativen Gedanken ihrer Freundin zu vertreiben. Sie will alles versuchen,<br />

um ihr Mut und Vertrauen einzuflößen, d<strong>am</strong>it sie die Strapazen der<br />

Geburt gut überstehen kann. Sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es einer<br />

Gebärenden hilft, wenn sie während der Geburt innerlich entspannt ist. Aus<br />

diesem Grund gibt sie ihr in dieser schwierigen Situation ein Versprechen,<br />

das sie später dann auch tatsächlich gehalten hat. Mit fester Stimme lässt<br />

sie verlauten: „Ich verspreche Ihnen, sollte die Gefahr für Sie, Ihren Mann<br />

und das Neugeborene akut und gefährlich werden, dann werde ich für Ihr<br />

Kind sorgen, als sei es mein eigenes.“ Sie fühlt jetzt, sie muss nun doch etwas<br />

erwähnen, was sie eigentlich hatte vermeiden wollen, und erinnert ihre<br />

Freundin an das, was sie selbst im vergangenen Jahr hat erleben und erleiden<br />

müssen: „Mein geliebtes Rudölfchen!“, stößt sie hervor, „Sie erlebten es<br />

ja mit …“ <strong>Ein</strong>en Augenblick sind beide Frauen ganz still. Die Traurigkeit<br />

über den Verlust dieses Kindes hängt im Raum. Frau Sondra rafft sich jedoch<br />

sogleich wieder auf und überwindet ihren eigenen Schmerz. Sie will<br />

ihrer Freundin die feste Gewissheit geben, dass sie in ihr nicht nur einen<br />

Menschen gefunden hat, der dankbar und treu ist, sondern auch in schwerer,<br />

ja schwierigster Zeit zu ihr steht, deshalb sagt sie entschlossen: „Was immer<br />

auch zukünftig geschehen mag …, IHR KIND SOLL LEBEN! Ich verspreche<br />

Ihnen hoch und heilig, ich werde Ihr Kind, als sei es mein eigenes, weder<br />

im Stich noch alleine lassen und ihm in jeder Situation beistehen. Und<br />

sollten sich die Zeiten dahin verändern und es von mir gefordert werden,<br />

werde ich …“, ihre Stimme nimmt nun einen beinahe heroischen Ton an,<br />

„… bis in den Tod hinein bei ihm und an seiner Seite sein und bleiben.“<br />

Sie stockt, als sie sich das sagen hört, doch ohne weitere Überlegung drückt<br />

sie die Hand ihrer Freundin fest und bekräftigt mit sicherer Stimme noch<br />

einmal ihre Worte: „Ja, das werde ich tun.“ Nicht ahnend, was ihr zukünftig<br />

abverlangt wird und geschehen sollte, fügt sie mit fester Stimme voll<br />

Vertrauen auf Gottes Liebe hinzu: „Bitte seien Sie ganz unbesorgt, es wird<br />

weder Ihnen noch Ihrem Kind irgendetwas Böses zustoßen. Gott wird Sie<br />

und Ihr Ungeborenes beschützen und ER wird auch Ihnen in aller Zukunft<br />

beistehen und weiterhelfen. Vertrauen Sie auf Gott!“<br />

Beide Frauen halten sich an den Händen und werden erneut ganz still,<br />

denn sie glauben, eine tiefe Stimme zu hören, die da spricht:<br />

15


„Sei getreu bis in den Tod, so will ICH dir die Krone des Lebens geben.“<br />

(Offenbarung 2:10)<br />

Mit tiefem Dankgefühl streckt Frau Guttentag nun auch ihrer Freundin<br />

ihre andere Hand entgegen und mit festem Händedruck sagt sie:<br />

„Danke.“ Von so viel Liebe, Zuneigung und Hingabe einer Angestellten,<br />

die ihr zur Freundin wurde, fühlt sie sich zutiefst berührt. Voller Vertrauen<br />

flüstert sie zu ihr aufschauend: „Ich weiß es jetzt. Es wird alles gut werden.“<br />

Spontan zieht sie die beiden Hände ihrer Freundin zu sich heran und<br />

küsst sie hingebend zärtlich und voller Dankbarkeit. Frau Sondra lässt sie<br />

gewähren. Die unerwartete, sehr ehrliche Geste voll tiefer Dankbarkeit ihrer<br />

Arbeitgeberin, die ihr in all den vergangenen Jahren ans Herz gewachsen ist,<br />

macht sie sehr glücklich. Sie will noch etwas sagen, doch … eine neue Wehe<br />

lässt ihr weiteres Gespräch verstummen.<br />

Da hören sie von draußen ein Klopfen an der Tür ihres Schlafzimmers.<br />

Herr Guttentag hat das „Herein“ von Frau Sondra sogleich vernommen<br />

und macht eilig die Tür nach innen weit auf. Arzt und Heb<strong>am</strong>me treten<br />

freundlich grüßend, sehr geschäftig ins Zimmer. Die Heb<strong>am</strong>me wendet sich<br />

sogleich an Frau Sondra und bittet sie, ihr eine Schüssel mit abgekochtem<br />

Wasser zu besorgen.<br />

Hochzeitstorte, Brautstrauß, Ehrentanz<br />

Kurz nachdem Herr Guttentag aus dem Geburtszimmer zurück ist, begeben<br />

sich die drei Herren nach unten. Man hatte sie gebeten, doch auch die köstliche<br />

Hochzeitstorte zu probieren, die das junge Brautpaar inzwischen angeschnitten<br />

hatte. Emy ist noch immer d<strong>am</strong>it beschäftigt und eifrig bemüht, sie<br />

an alle Gäste, die sich ungeduldig um sie herumdrängeln, gerecht zu verteilen.<br />

Herr <strong>Stern</strong> ist froh, dass sein Freund durch diese Unterbrechung abgelenkt<br />

wird und auf andere Gedanken kommt. Denn er konnte beobachten, wie<br />

dieser zunächst gebannt und dann wieder sehr unruhig auf die Tür starrte, aus<br />

der irgendwann die gute Nachricht <strong>am</strong> heutigen Tag kommen wird. Daher<br />

klopfte er seinem Freund verständnisvoll auf die Schulter, der das sofort als<br />

Geste des Beistands verstanden hat und mit dankbarem Blick honorierte.<br />

Kaum sind sie unten erschienen, machen die Umstehenden Platz, und<br />

man reicht auch ihnen beiden ein Stück von der köstlichen Hochzeitstorte.<br />

Hier unten ist es jetzt sehr laut. Man schien viel getrunken zu haben und<br />

sich gut zu <strong>am</strong>üsieren. Nun ist die Braut mit dem Verteilen der Torte fertig.<br />

Sie schnappt sich ihren Brautstrauß, der in einer Vase auf dem Tisch gestanden<br />

hat, hält ihn hoch und ruft laut aus:<br />

16


„Wer fängt den Brautstrauß auf und wird die nächste Braut?“<br />

Sofort strecken alle jungen Mädchen ihre Hände weit aus. Jede will ihn<br />

auffangen. Herr Guttentag stutzt: Das habe ich aber bei einer christlichen<br />

Hochzeit schon mal anders gesehen. Nun, jeder scheint das wohl anders zu machen.<br />

Unter den vielen Mädchen ist auch Maria, die jüngste Tochter der<br />

Sondras. Sie steht weiter hinten im Saal. Sie nimmt ihr halblanges Kleid,<br />

rafft es an zwei Enden wie zu einer großen, offenen Schürze und hofft auf<br />

diese Weise, den Strauß aufzufangen. Und sie fängt ihn auf! Sie braucht sich<br />

überhaupt nicht anzustrengen. Als sich die im Saal Anwesenden nach ihr<br />

umdrehen, hält sie ihr Kleid verschämt weit tief nach unten. Das Lachen aus<br />

der Menge treibt ihr die Röte ins Gesicht. Mit einem Ruck nimmt sie den<br />

Brautstrauß in beide Hände, streckt die Arme hoch über ihren nach hinten<br />

gebeugten Kopf, dreht sich dazu im Kreis und ruft glückstrahlend mit einem<br />

hellen Freudenjauchzer aus:<br />

„Ich hab’ ihn!“<br />

Entzückt vom graziösen Anblick dieses hübschen, fröhlichen Mädchens<br />

wird ihr spontaner Beifall zuteil, um sich kurz darauf wieder von ihr abzuwenden.<br />

Maria aber setzt sich unter einen der Tische und beobachtet<br />

von dort aus das weitere Geschehen. Den Brautstrauß aber legt sie in ihren<br />

Schoß. Herrlich ist er, denkt sie und riecht daran. Oh, wie er duftet, auch dafür<br />

hat die gnädige Frau gesorgt. Ob ich auch mal so einen schönen Brautstrauß<br />

bekommen werde? Sie zupft verträumt an der weißen Schleife. Ich werde ihn<br />

aufheben, selbst dann noch, wenn er schon längst vertrocknet ist.<br />

Jetzt formiert sich ein großer Kreis um Herrn Guttentag und man schaut<br />

ihn auffordernd an. Er begreift sofort: Aha, jetzt ist die Reihe an mir, als<br />

Hausherr den Ehrentanz mit der Braut zu tanzen. Diese Show können sie haben.<br />

Schnell stellt er den Teller, den er noch immer in der Hand gehalten<br />

hatte, beiseite, geht auf die Braut zu und verneigt sich kurz vor ihr. Mit<br />

einem „Darf ich bitten“ reicht er ihr die Hand. Sofort weicht man vor ihnen<br />

zurück, während er galant die Braut bis zur Mitte des Saales führt. Musik<br />

setzt ein und nach alter Manier beginnt der Tanz. Jubelnd und Beifall klatschend<br />

schaut die Hochzeitsgesellschaft ihnen begeistert zu. Meine Frau sagt<br />

immer, und seine Gedanken sind in diesem Augenblick schon wieder bei ihr,<br />

du bist ein wunderbarer Tänzer. Am liebsten würde ich ihr jetzt nahe sein, ihre<br />

Hand halten und ihr in ihrer schweren Stunde beistehen, stattdessen hört er<br />

sich abwesend der Braut ein Kompliment machen:<br />

„In Ihrem weißen Braukleid sehen Sie einfach bezaubernd aus.“<br />

Er, als Geschäftsmann, ist es ja gewohnt, tagtäglich etwas Nettes zu seinen<br />

Kunden zu sagen. Freundlich lächelnd schaut er seine Tänzerin an. Als<br />

er jedoch ins Gesicht seines Gegenübers sieht, fragt er sich sehr verwundert:<br />

17


Soll das ein Lächeln sein? Das ist noch nicht einmal eine Andeutung von einem<br />

Lächeln. Warum reagiert sie nicht auf das, was ich eben sagte? Irgendwie wirkt<br />

sie abweisend. Ja, ich würde sagen, sie macht einen störrischen <strong>Ein</strong>druck. Oder<br />

sollte ich mich täuschen? Eigenartig, sie ist stumm wie ein Stockfisch, bedankt sich<br />

weder für das Kompliment noch erwähnt sie auch nur mit einem einzigen Wort<br />

eins unserer Geschenke. Ich werde sie nicht danach fragen, schließlich haben wir<br />

ihrer Mutter aus Dankbarkeit diese Hochzeit ausgerichtet. Was kümmert mich<br />

da ein ‚Danke‘ der Beschenkten. Ich will zwar ihr Tanzen nicht kritisieren, doch<br />

ich habe schon mit vielen D<strong>am</strong>en getanzt. Diese hier tanzt sehr ungeschickt, lässt<br />

sich nicht führen und liegt mir so schwer wie ein Mehlsack im Arm. Und wieder<br />

kehren seine Gedanken zu seiner Frau zurück: Wenn ich bedenke, meine<br />

Frau tanzt hingegen so wunderbar leicht wie eine Feder. Am liebsten würde ich<br />

immer nur mit ihr tanzen. Oftmals konnten wir beobachten, wenn wir tanzten,<br />

dass die Leute mit dem Tanzen aufhörten und begannen, uns zuzuschauen.<br />

Still beglückt lächelt er in sich hinein. Jetzt wird sie sich erst einmal von den<br />

Strapazen der Geburt erholen müssen, dann kommt bestimmt ihre alte, körperliche<br />

Schönheit ganz von allein zurück. Doch der Unmut dieser Braut gefällt<br />

ihm absolut nicht. Ist sie glücklich? Glücklich sieht sie, weiß Gott, nun wirklich<br />

nicht aus. Warum mag sie diesen Mann geheiratet haben? War es Liebe?<br />

Da ist der Tanz zu Ende. Zur Überraschung aller bedankt sich Emy mit einem<br />

tiefen Hofknicks, schmunzelnd kommt ihm der Gedanke: Wie eine Szene<br />

aus der Oper ‚Figaros Hochzeit‘ von Wolfgang A. Mozart, in der Susanne, die Zofe,<br />

sich mit einem tiefen Hofknicks vor dem Grafen verneigt. In diesem entzückenden<br />

Kleid sieht die Braut tatsächlich zauberhaft aus. Spontaner Beifall wird ihr<br />

zuteil. Emy schien den Applaus so richtig zu genießen und sich darin zu sonnen,<br />

doch sie verharrt einen Augenblick zu lange in dieser Pose, sodass ihm ein<br />

zweiter Gedanke durch den Kopf schießt: Halt, was soll das? Hat sie vielleicht<br />

vor, mich zu provozieren? Er schaltet sofort, spielt mit und verneigt sich so, wie<br />

er es bei dem Grafen in der Oper gesehen hat, der gnädig die Ehrung und<br />

Huldigung seiner Zofe entgegennimmt. Er <strong>am</strong>üsiert sich selbst über die Rolle,<br />

die ihm zwar zusteht, doch die er – von ihr ihm aufgedrängt – jetzt spielen<br />

muss. Als sie hochschaut, trifft sie unausweichlich sein Blick, dem sie vorher<br />

konstant ausgewichen ist, und muss erleben, dass er sie von oben herab mit<br />

einem spöttischen Lächeln nahezu zu durchbohren schien. Ja, mit mir musst<br />

du dich nicht anlegen, auf diesem Gebiet bist du unerfahren und verlierst. Sie<br />

fühlt seine Gedanken, steht schnell auf, st<strong>am</strong>pft wütend wie ein Teenager mit<br />

ihrem Stöckelschuh heftig auf und läuft ärgerlich maulend davon. Schallendes<br />

Gelächter sollte ihr nachfolgen. Sie hat ihm das nie verziehen!<br />

Der Tanz geht weiter. Maria sieht die drei Herren wieder hinaufgehen.<br />

Herr Guttentag fragt sich besorgt: Ob jemand den Arzt und die Heb<strong>am</strong>me<br />

bemerkt hat, als ich sie die hintere Treppe nach oben zu meiner Frau brachte?<br />

18


Von der bevorstehenden Geburt haben sie niemandem etwas mitgeteilt, sie<br />

wollen auf keinen Fall das Fest gestört und die Tanzenden beunruhigt sehen.<br />

Da Herr <strong>Stern</strong> und Herr Sondra sich intensiv unterhalten und ihr bereits unten<br />

begonnenes Gespräch über Afrika hier oben weiter fortsetzen, will Herr<br />

Guttentag sie nicht unterbrechen. Er setzt sich so, dass er die Tür im Auge<br />

behält, aus der die gute Nachricht zum heutigen Frühlingsanfang kommen<br />

wird.<br />

Ihre wunderbare Liebesgeschichte<br />

Herr Guttentag muss wohl etwas eingenickt sein, doch innerlich ist er hellwach.<br />

Erinnerungen tauchen vor ihm auf und er „sieht“ sich plötzlich wieder<br />

im Juweliergeschäft seines Vaters vorne <strong>am</strong> Tresen stehen.<br />

Die Glocke schlägt an, jemand kommt zur Tür herein. Er hört eine weibliche,<br />

warme, dunkle Stimme „Guten Morgen“ sagen. Diese Stimme trifft<br />

ihn völlig unerwartet mitten ins Herz. Er schaut auf.<br />

„Guten Morgen, Sie wünsch…?“<br />

Er kann nicht weitersprechen, denn was er da sieht, verschlägt ihm den<br />

Atem und er weiß, niemand hat es ihm gesagt, da steht sie: MEINE FRAU,<br />

denkt er beglückt. <strong>Ein</strong>e schöne, gut gewachsene, junge D<strong>am</strong>e mit gepflegtem<br />

Äußeren, sehr elegant gekleidet, kommt auf ihn zu. Sie hat schwarzes, welliges<br />

Haar, tiefdunkle Augen, einen schönen Mund und gleichmäßig gewachsene<br />

Zähne. Es ist ihm, als ob sein inneres Bild von einer Frau, meiner Frau,<br />

wiederholt sich in ihm von Neuem, hier leibhaftig vor ihm erschienen ist.<br />

Sie fängt seinen Blick auf, kommt näher, und ohne ihm auszuweichen,<br />

denkt sie in einem unbeschreiblichen Glücksgefühl: Er ist es, auf den ich<br />

gewartet habe. Ich wusste, dass ich ihm begegnen würde. Sie setzt sich automatisch<br />

auf einen Stuhl, der vor dem Tresen steht, und streckt ihm ihre rechte<br />

Hand entgegen. Warum tue ich das nur?, denkt sie. Eigentlich wollte ich doch<br />

einen Anhänger passend zu meinem neuen Kleid kaufen.<br />

Er aber hat sofort verstanden, holt den Ringkasten heraus und steckt ihr<br />

automatisch einen hübschen Ring nach dem anderen an ihren Ringfinger,<br />

vollkommen fasziniert von dieser eleganten, jungen Frau. Jetzt kenne ich die<br />

Größe ihres Ringfingers, denkt er, und weiß auch schon, welchen Ring ich ihr<br />

zur Hochzeit an die Hand stecken werde. Er wird das Feuer in ihren wundervollen<br />

dunklen Augen noch mehr zum Leuchten bringen und sich im erwählten<br />

Stein widerspiegeln. Längst hatte er mit Kennerblick wahrgenommen, dass<br />

sie <strong>am</strong> kleinen Finger eine wertvolle Kostbarkeit trägt. Auch ihre Halskette<br />

ist ein wunderschönes altes Stück von besonderer Art. So viel ist sicher, sie<br />

st<strong>am</strong>mt aus reichem Haus.<br />

19


Er lächelt beglückt und fühlt sich im Bannkreis dieser entzückenden,<br />

jungen Frau gefangen. Da stößt sie unerwartet hervor:<br />

„Bitte, sag doch etwas.“<br />

Angesprochen, zuckt er zus<strong>am</strong>men und auch sie ist erschrocken, als sie<br />

sich das sagen hört. Später gesteht sie ihm, sie habe bis dahin noch nie jemanden<br />

sofort geduzt. Er aber ist verdutzt und vermag nur zu stottern:<br />

„Darf ich Sie … zu einer Tasse Kaffee einladen?“ Es war ihm gar nicht<br />

aufgefallen, ihm, der sonst immer so gesprächig ist und zu verkaufen versteht,<br />

dass sie bis dahin überhaupt noch kein einziges Wort miteinander<br />

gesprochen haben. Als sie ihm bejahend zulächelt, nimmt er die Gelegenheit<br />

sofort wahr und ruft nach hinten: „Kann mal bitte jemand nach vorne zum<br />

Bedienen kommen. Ich muss dringend weg!“<br />

Während des Rufens klappt er schnell den Deckel des Ringkästchens zu<br />

und stellt ihn an seinen gewohnten Platz. Als jemand kommt, sind sie bereits<br />

aus der <strong>Ein</strong>gangstür heraus. Er stellt sich vor und auch sie sagt ihren N<strong>am</strong>en.<br />

Er stutzt, als sie ihn nennt.<br />

„Ihre Eltern kenne ich“, sagt er hocherfreut. Sein Gesicht erhellt sich und<br />

er kann nicht verhindern, zu denken: Jetzt weiß ich endlich, wer sie ist, und er<br />

sagt: „Ihren Vater schätze ich sehr.“<br />

Er muss ungewollt lächeln. Also sie ist die einzige, so sehr geliebte Tochter,<br />

von der ihr Vater immer so gern spricht. Bei diesen Gedanken verbeugt Herr<br />

Guttentag sich vor ihr und reicht ihr seinen Arm. Sie nimmt ihn sofort und<br />

fühlt, wie er mit seiner anderen Hand zärtlich ihre Hand in seinem Arm<br />

kurz berührt. Bei der Berührung zucken beide ungewollt, als habe sie ein<br />

leichter elektrischer Schlag getroffen.<br />

„Nanu, was ist denn das?“, entschlüpft es ihr.<br />

Verwundert schauen sie sich an und beider Blicke verschmelzen erneut<br />

ineinander. Am liebsten, so drängt sich ihr der Gedanke auf, würde ich<br />

ihm gleich hier auf offener Straße um den Hals fallen. Auch er hat denselben<br />

Gedanken: Wenn ich sie doch gleich hier auf der Stelle küssen könnte. Doch<br />

halt, immer schön langs<strong>am</strong>, ermahnt er sich, eins nach dem anderen.<br />

Verträumt gehen sie weiter, hängen jeweils ihren eigenen Gedanken nach<br />

und sagen kein einziges Wort, um den Zauber der Stille nicht zu stören.<br />

Sie werden ein paar Mal gegrüßt und haben die größte Mühe, darauf zu reagieren.<br />

Jahrelang habe ich von einem so zauberhaften Geschöpf geträumt, und<br />

nun halte ich sie von einer Sekunde zur anderen <strong>am</strong> Arm. Ich kann es kaum<br />

fassen. Er fühlt sich unbeschreiblich glücklich und es fallen ihm seine bisherigen<br />

Mädchenbekanntschaften ein. Ich kenne zwar ein paar Mädchen, doch<br />

keine hat mich bisher sonderlich interessiert. Diese aber ist das Abbild meiner<br />

Traumfrau, ich werde sie nie wieder loslassen. Sie ist es, die ich heiraten werde!<br />

Auch ihr wird bewusst: Wie oft hab’ ich ihn im Traum gesehen und wusste<br />

20


nicht, wer er war. Jetzt gehe ich an seinem Arm und nicht nur das, er berührte<br />

eben sogar zärtlich meine Hand. ES IST KEIN TRAUM, frohlockt sie. In ihr<br />

sollte sich die Gewissheit formen: Jetzt weiß ich, wen ich heiraten werde. Ich<br />

habe ihn gefunden!<br />

Der Heiratsantrag im Restaurant<br />

Sie lassen sich treiben und gehen verträumt durch den Park, der den<br />

Guttentags gehört. Herrlich hohe Bäume bringen gerade ihr erstes Grün<br />

hervor. Sie finden sich plötzlich auf einer Terrasse eines kleinen, exklusiven<br />

Restaurants wieder, welches <strong>am</strong> Rand des Parks steht. Also hier sind wir gelandet.<br />

Erst kürzlich haben wir den Geburtstag meiner Mutter hier gefeiert,<br />

erinnert er sich. Beide konnten später nicht mehr sagen, wie sie überhaupt<br />

hierhergekommen waren. Kaum haben sie an einem der Tische Platz genommen,<br />

verbeugt sich jemand vor ihnen und eine Männerstimme fragt<br />

sehr höflich:<br />

„Bitte schön, was wünschen Sie? Was darf ich Ihnen bringen?“<br />

„Zwei Kännchen Kaffee, bitte“, antwortet Herr Guttentag.<br />

Er schaut sie jedoch dabei fragend an, und als sie zustimmend nickt,<br />

blickt er bejahend zum Ober.<br />

Der aber denkt begeistert: Was für ein hübsches, vornehmes Paar, wie füreinander<br />

bestimmt, das fühlt man. Ich kenne mich in so etwas aus. Er geht und<br />

holt das Gewünschte.<br />

Nachdem sie den ersten Schluck Kaffee getrunken haben, platzt es förmlich<br />

aus ihr heraus:<br />

„Es ist passiert, es ist schon alles passiert.“<br />

Er versteht sofort.<br />

„Ja, du hast recht, es ist passiert“, lautet seine Antwort, „jetzt brauchen<br />

wir nur noch den begonnenen Weg weiterzugehen, bis es in aller Form passieren<br />

darf.“<br />

Bei diesen Worten fasst sie nach seiner Hand.<br />

„Die werde ich nie wieder loslassen.“<br />

„Ich weiß es.“<br />

Er nimmt ihre Hand, beugt sich über sie und verharrt für einen<br />

Augenblick wortlos über ihr. Sie hat den <strong>Ein</strong>druck, als würde er nicht nur<br />

überlegen, sondern ernsthaft über etwas nachdenken. Dann schaut er ein<br />

klein wenig verlegen, wie ihr schien, zu ihr hinüber.<br />

„Wenn ich dich etwas fragen würde“, hört sie ihn leise sagen. Er macht<br />

eine Pause, doch spricht schon kurz darauf weiter: „Würdest du meine Frage<br />

ehrlich beantworten?“ Sie nickt voller Erwartung. <strong>Ein</strong>en Augenblick schien<br />

21


er unschlüssig zu sein, doch als er in ihre dunklen Augen blickt, die ihn<br />

brennend voller Liebe und Erwartung anschauen, fühlt er, wie der Mut in<br />

ihm wächst, um das entschlossen auszusprechen, was ihm auf dem Herzen<br />

liegt. Mit zärtlicher Stimme fragt er sie: „Willst du bei mir bleiben? Und ...“,<br />

stockt er und ist einen Augenblick still, dann fährt er fort: „... könntest du<br />

dir vorstellen, meine Frau zu werden?“<br />

Jetzt ist es heraus. Sie zeigt sich überrascht und senkt für einige Sekunden<br />

ihren Blick. Die Frage taucht vor ihr auf: Wir kennen uns erst eine Stunde,<br />

und er fragt mich das? Kann er etwa meine Gedanken lesen? Sie schaut ihn an.<br />

Es verschlägt ihr vor innerer Erregung fast die Sprache, als sie sich sagen hört:<br />

„Ich bin es ja schon“, und vor Glück strahlend antwortet sie: „Ja, mit<br />

Freuden, ja“, und besiegelt d<strong>am</strong>it zugleich entschlossen ihr Schicksal.<br />

Es ist ausgesprochen! Beiden stockt der Atem, sie fühlen sich unfähig,<br />

noch irgendetwas zu sagen und schauen sich selig in unaussprechlicher<br />

Wonne an. Nach einer Weile ergreift sie mutig das Wort:<br />

„Da du mich gefragt hast“, äußert sie, „darf ich dir ebenfalls eine Frage<br />

stellen?“ Er nickt und erwartet voller Neugier ihre Frage. Da sprudelt es ohne<br />

große Umschweife aus ihr heraus: „Möchtest du bei mir bleiben? Könntest<br />

auch du dir vorstellen, mein Mann zu sein?“<br />

Als sie ihre Stimme jedoch so atemlos sprechen hört, schämt sie sich dessen,<br />

errötet und fühlt ihr Herz nicht nur rasend schnell schlagen, sondern<br />

ihr bis zum Hals hin heftig pochen. Verblüfft schaut er sie an. Erregt und mit<br />

glühenden Wangen sieht sie noch viel schöner aus, als sie es ohnehin schon ist,<br />

denkt er verzaubert und kann sich an dieser entzückenden, jungen D<strong>am</strong>e,<br />

seiner zukünftigen Frau, kaum sattsehen. Nur das, was sie ihn fragte, hat<br />

er nicht erwartet, reagiert jedoch sofort darauf und antwortet lächelnd mit<br />

großer Bestimmtheit:<br />

„Ja, liebend gern, ich kann es kaum erwarten, dein Mann zu werden.“<br />

Wir haben also beide zugestimmt, denken sie im Stillen und auch jetzt<br />

lässt keiner den Blick mehr vom anderen. Sie bemerkt, wie er fest ihre Hand<br />

drückt, die er noch immer in seiner hält. Es wird ihm bewusst: Sie ist also<br />

eine sehr selbstbewusste Frau, das gefällt mir und ist mir sehr recht. Er spürt, wie<br />

sie seinen Händedruck erwidert. Beide verharren stillschweigend in tiefer<br />

Glückseligkeit.<br />

Der Ober war immer wieder in die Nähe ihres Tisches gekommen, wollte<br />

etwas fragen, doch wagte es nicht, sie in ihrem Glück zu stören. So bringt er<br />

einfach etwas … Eisbecher, einen Teller mit Waffeln und Mineralwasser. Er<br />

sieht zwar, wie der junge Herr einmal verwundert mit fragendem Blick zu<br />

ihm aufschaut, doch als der Gast nichts sagt, beobachtet der Ober, wie sie<br />

alles zu sich nehmen, was er vor sie hingestellt hat. Da ist er sich ganz sicher:<br />

Das geht höchstwahrscheinlich in Ordnung. Seitdem er in diesem Beruf tätig<br />

22


ist, konnte er sich einiges an Menschenkenntnis aneignen und sah sich noch<br />

nie enttäuscht. Falls sie jedoch wider Erwarten sagen sollten: ‚Wir haben das<br />

nicht bestellt‘, werde ich es bezahlen. Das soll mir auch recht sein, wenn ich nur<br />

noch ein bisschen in ihrer Nähe sein kann, ihr Fluidum spüren und den Strom<br />

ihrer Liebe, welche von diesen beiden so zauberhaften Menschen ausgeht, fühlen<br />

darf. Ununterbrochen beobachtet er sie unbemerkt und es zieht ihn immer<br />

wieder in ihre Nähe.<br />

Als sie dann aufstehen und Herr Guttentag einen größeren Geldschein<br />

auf dem Tisch liegen lässt, dazu mit einer Handbewegung andeutet, es sei<br />

gut so, hält ihnen der Ober überschwänglich weit die Tür auf und sagt mit<br />

einer ehrerbietig tiefen Verbeugung:<br />

„Danke, vielen Dank. Ich wünsche Ihnen ein langes und sehr glückliches<br />

Leben. Gott segne Sie alle beide!“<br />

Diese Worte waren ihm einfach so über die Lippen gerutscht. Jetzt hört<br />

er sie noch wie aus einem Mund „Danke“ und mit freundlichem Lächeln<br />

„Auf Wiedersehen“ sagen. Fasziniert schaut der Ober mit einem „Auf<br />

Wiedersehen“ dem entzückenden Liebespaar hinterher. Es ist ihm, als habe<br />

er das, was sich eben vor seinen Augen abgespielt hat, heute selbst erlebt.<br />

Sie wird mich doch wohl nicht gleich zu ihrer Haustür hinführen? Herr<br />

Guttentag wirft ihr bei diesem Gedanken einen fragenden Blick zu. Sie aber<br />

hat den gleichen Gedanken: Nur so lange wie möglich die Trennung von diesem<br />

wundervollen Mann hinauszögern. Und fügt hinzu: MEINEM MANN. Sie<br />

fassen sich an den Händen, gehen zunächst weiter in anderer Richtung durch<br />

den Park. Beide vermeiden es, sich anzuschauen. Keiner kann das, was sich<br />

eben zwischen ihnen abgespielt hat, so richtig begreifen. Plötzlich können sie<br />

ihren Blicken nicht länger ausweichen und fangen wie auf Kommando herzhaft<br />

zu lachen an. Der Bann ist gebrochen. Sie fühlen sich befreit. Da lässt<br />

sie ihn unvermittelt los und läuft ein kurzes Stück voraus. Er eilt ihr nach,<br />

umfängt sie und schlingt seine Arme von hinten um sie herum. Sein Gesicht<br />

ist nun ganz nahe ihrem Ohr und mit weicher Stimme flüstert er verliebt:<br />

„Ich liebe dich.“<br />

Sie dreht sich zu ihm um und erwidert ebenso zärtlich:<br />

„Ich liebe dich ebenso.“<br />

Von ihren Glücksgefühlen erneut überwältigt, küssen sie sich. Dann lösen<br />

sie sich, sie schmiegt sich hingebungsvoll an seine Schulter. Lange stehen<br />

sie still mit geschlossenen Augen in inniger Umarmung und unbeschreiblicher<br />

Seligkeit, in der einer im anderen aufzugehen und zu verschmelzen<br />

schien. Als sie daraus erwachen, versteht sie es wiederum, sich ihm zu entziehen,<br />

und wieder lachen sie wie zwei glückliche Kinder, fröhlich und unbeschwert,<br />

berühren sich an den Händen und verschlingen ihre Finger ineinander.<br />

Jetzt ist es nicht mehr aufzuhalten, es sprudelt förmlich aus ihnen<br />

23


eiden heraus. Sie haben sich ja so viel zu erzählen. Voller Glück hört er ihr<br />

und sie ihm zu, und beide haben das Gefühl, als würden sie sich schon immer<br />

kennen und hätten sich nur nach sehr langer Zeit erneut wiedergefunden.<br />

Schließlich gehen sie eng umschlungen nebeneinander her, bis sie vorm<br />

Haus ihrer Eltern angekommen sind und dort stehen bleiben. Er beugt sich<br />

kurz wie ein Gentleman über ihre Hand, berührt sie zart mit seinen Lippen<br />

und lässt sie wissen:<br />

„Ich werde mich so bald wie möglich wieder bei dir melden.“<br />

„Ja, bitte … bald“, erwidert sie voller Ungeduld.<br />

„Grüße bitte deine lieben Eltern sehr herzlich von mir“, hört sie ihn noch<br />

sagen, als sie beschwingt und glücklich die Treppenstufen zum Haus ihrer<br />

Eltern hinaufeilt.<br />

„Ja, danke, ich werde es ihnen sehr gern ausrichten“, antwortet sie und<br />

wirft ihm mit einem zauberhaften Lächeln ein Luftküsschen zu, bevor sie im<br />

Haus verschwindet.<br />

Er hatte jede ihrer Bewegungen förmlich in sich aufgesogen und konnte<br />

sich an ihren graziösen Bewegungen kaum sattsehen. Das Luftküsschen<br />

hatte einen wunders<strong>am</strong>en Schauer in ihm ausgelöst. <strong>Ein</strong> Engel, war ihm in<br />

den Sinn gekommen. Ja, sie ist ein Engel … MEIN ENGEL. Er ist nicht nur<br />

glücklich, sondern überaus dankbar, sie, seine zukünftige Frau gefunden zu<br />

haben. Dann löst auch er sich, dreht sich um und geht.<br />

Die Sorgen ihrer Eltern sind unbegründet<br />

Kaum hat sie die Haustür von innen geschlossen, hört sie auch schon die<br />

Mutter ihr fragend zurufen:<br />

„Wer war denn eben dieser gut aussehende junge Mann? Ich habe euch<br />

beide, hinter der Gardine stehend, beobachtet. Er gefällt mir. Kenne ich ihn<br />

nicht? Er scheint ja ganz schön verliebt in dich zu sein.“<br />

Fröhlich hört sie ihre Tochter antworten:<br />

„Er ist mein zukünftiger Ehemann.“<br />

„WAAAS?“, ruft die Mutter laut vor Schreck aus und steht starr.<br />

Sie schien wie vom Blitz getroffen zu sein und es ihre Sprache verschlagen<br />

zu haben. Doch als ihre Tochter unbeschwert auf sie zukommt, sie in die<br />

Arme nimmt und die Mutter in das glückstrahlende und unbekümmerte<br />

Gesicht ihrer Tochter schaut, fühlt sie Leben in sich zurückkehren und sieht<br />

ihre Bedenken dahinschmelzen. Sehr aufgeregt sucht sie sofort nach ihrem<br />

Mann und bittet ihn zur Besprechung in den Salon.<br />

Als sich ihre Eltern in großer Erwartung wenig später dort eingefunden<br />

und niedergelassen haben, um ihrer Tochter zuzuhören und den N<strong>am</strong>en des<br />

24


jungen Mannes erfahren, sind sie nicht nur mit der Wahl ihrer einzigen<br />

Tochter einverstanden, sondern hochentzückt und zugleich ungemein erleichtert.<br />

Die Tochter erlebt nun, wie beide Eltern sich tief zufrieden in ihren<br />

Sesseln zurücklehnen. Sie kennen den jungen Herrn Guttentag und seine<br />

Eltern. Beide F<strong>am</strong>ilien schätzen sich sehr. Ihre Mutter meint verwundert:<br />

„Ich hätte ihn doch erkennen müssen, als ich euch beide da draußen<br />

stehen sah. Er k<strong>am</strong> mir gleich so bekannt vor. Ich habe nur nicht an ihn<br />

gedacht. Das wird es gewesen sein.“<br />

Beide Eltern gestehen ihr, dass sie sich im Stillen eine solche Partie für<br />

ihre Tochter erhofft haben. Sie hätten sich schon einige Zeit, bevor sie aus<br />

dem Internat zurückk<strong>am</strong>, ernsthafte Gedanken um ihre Zukunft gemacht.<br />

Denn man wisse ja nie, wo die Liebe hinfalle.<br />

Nun aber stellt sich heraus, dass ihre Befürchtungen völlig unbegründet<br />

waren. Sie fühlen sich beide ungemein erleichtert. Ihr Wunsch, ihre einzige,<br />

von ihnen beiden so sehr geliebte Tochter glücklich und in guten Händen<br />

zu wissen, sehen sie unerwartet und so plötzlich in Erfüllung gehen. Die<br />

Tochter hört ihre Eltern erleichtert aufatmen und sie blickt in zwei zufrieden<br />

lächelnde Gesichter. In Gegenwart ihrer frohgestimmten Eltern wird auch<br />

sie noch viel glücklicher, als sie es ohnehin schon ist.<br />

Herr Guttentag jun. wird neuer Besitzer<br />

Mit strahlender Miene meldet sich der junge Herr Guttentag wieder im<br />

Geschäft seines Vaters zurück, der wohl auf ihn gewartet haben muss, denn<br />

er hört ihn von Weitem schon rufen:<br />

„Du hattest es aber eilig und bliebst lange weg. Wer war denn die bezaubernde<br />

junge D<strong>am</strong>e?“<br />

„Meine zukünftige Frau.“ Sein verwundert dreinblickender Vater will etwas<br />

erwidern, sein Sohn ist jedoch schneller und berichtet dem Vater, wer<br />

sie ist: „Da kennen wir den Vater und ich wusste nicht, dass er solch eine<br />

entzückende Tochter hat, dazu im heiratsfähigen Alter!“<br />

Der Vater lächelt, denkt: Auf diesen Augenblick habe ich schon lange gewartet<br />

und ihn herbeigesehnt. Mein Herz! Es will nicht mehr so richtig, und<br />

entgegnet:<br />

„Jetzt kann ich mich endlich getrost zur Ruhe setzen und mich ausruhen.<br />

Außerdem kann ich an dem weiterarbeiten, was ich schon so lange begonnen<br />

habe. Nun wird es mir endlich vergönnt sein, die Geschichte über einen<br />

Vorfahren der Guttentags zu Ende zu schreiben. Ja, ja, wenn man jung ist,<br />

hat man viel Energie und schafft große Dinge, doch so manches bleibt dem<br />

Alter vorbehalten, weil es oft ein Leben lang braucht, bis es voll ausgereift<br />

25


ist.“ Er schaut seinen Sohn an und seine Worte klingen jetzt sehr feierlich,<br />

als er sagt: „Deshalb bist du jetzt an der Reihe und somit der neue Besitzer<br />

des Juweliergeschäfts der Herren Guttentag. Herzlichen Glückwunsch!“ Er<br />

geht auf seinen Sohn zu und umarmt ihn. „Die Schwiegertochter ist mir<br />

sehr recht. Ihre Eltern kennen wir und ihren Vater schätzen wir beide sehr.“<br />

„Danke, Vater, danke. Warum hast du es denn so eilig? Du brauchst dich<br />

doch nicht so früh schon zur Ruhe zu setzen.“<br />

„Nein, nein, das ist richtig so“, antwortet der Vater, „und d<strong>am</strong>it du weißt,<br />

dass ich es ernst meine, gebe ich dir diesen Siegelring“, und zieht ihn sofort<br />

von seinem Finger ab. „Du darfst ihn ab sofort tragen. Die notarielle<br />

<strong>Ein</strong>tragung lasse ich gleich morgen vornehmen. Dieser Ring aber, wie dir<br />

bekannt ist, wird immer vom Vater an den Sohn weitergegeben, sobald dieser<br />

das Geschäft übernimmt. Du bist d<strong>am</strong>it der Vierte in der Dynastie der<br />

Hofjuweliere Guttentag, der ihn trägt.“ Er steckt den Siegelring an die Hand<br />

seines Sohnes und umarmt ihn erneut, als er sich kurz darauf von ihm löst<br />

und ihn verwundert und sehr ungläubig in die Augen schaut. „<strong>Ein</strong>s kann<br />

ich kaum glauben“, beginnt er von Neuem, „wie eigenartig … Bist du ihr<br />

eigentlich bis dahin noch nie begegnet? Hast du sie wirklich nicht gekannt?“<br />

„Nein“, lautet die ehrliche Antwort seines Sohnes, „ich habe zwar gewusst,<br />

dass da eine Tochter existiert, ich hörte ihren Vater öfters von ihr<br />

sprechen, doch ich kann mich nicht erinnern, sie jemals bewusst gesehen zu<br />

haben. Es ist durchaus möglich, dass ich ihr früher schon einmal begegnet<br />

bin“, und er fügt scherzhaft hinzu: „Zu einer Zeit, als ich mich noch nicht<br />

für Mädchen interessierte. Das kann allerdings sein. Sie erzählte mir, sie sei<br />

mehrere Jahre in der Schweiz in einem französischen Internat gewesen. Sie<br />

habe dort kürzlich ihr Abitur gemacht. Erst seit zehn Tagen sei sie wieder in<br />

ihr Elternhaus zurückgekehrt.“<br />

Verlobung, Hochzeit, Flitterwochen<br />

Schon <strong>am</strong> kommenden Sabbat wird er zum Essen ins Haus ihrer Eltern eingeladen<br />

und hält offiziell um die Hand ihrer Tochter an. Den Sabbat darauf<br />

holt er sie zu einem Dinner ins Haus seiner Eltern ab. Am darauffolgenden<br />

Wochenende treffen sich beide F<strong>am</strong>ilien. Die Verlobung wird vereinbart.<br />

Sie soll in einem Monat gefeiert werden. Die Väter handeln inzwischen die<br />

Mitgift ihrer Kinder aus. Beiden F<strong>am</strong>ilien passt diese Heirat in die Pläne, die<br />

sie für die Zukunft ihrer Kinder haben. Zwei große Häuser kommen zus<strong>am</strong>men<br />

und vereinigen sich. Das wird ein Stadtereignis!<br />

Nach der Verlobung lässt die Hochzeit nicht lange auf sich warten,<br />

die man offiziell im Breslauer Stadtanzeiger ankündigt und sofort zum<br />

26


Stadtgespräch wird. Zur Hochzeitsfeier hatte man nicht nur die F<strong>am</strong>ilie,<br />

sondern auch die Honoratioren der Stadt, dazu einen Großteil der jüdischen<br />

Gemeinde eingeladen. Alle waren erschienen. Mit den Hochzeitsgeschenken<br />

k<strong>am</strong> nahezu der komplette Hausrat zus<strong>am</strong>men, wie es bei solchen Festen<br />

üblich ist. Zuerst wurde die standes<strong>am</strong>tliche Hochzeit im Rathaus vollzogen.<br />

Als man sie als junges Ehepaar aus der Rathaustür heraustreten sah,<br />

wurden sie jubelnd und sehr stürmisch von vielen Breslauern begrüßt. Alle<br />

wollten das reiche, gutaussehende Juweliers-Hochzeitspaar sehen. Vor allem<br />

wollte man das traumhaft schöne Hochzeitskleid der hübschen Braut bewundern<br />

und den Hochzeitskuss miterleben. <strong>Ein</strong>e Trachtenkapelle und ein<br />

gemischter Chor hatten sich eingefunden, um zu Ehren des hochgeschätzten<br />

Hochzeitspaares und deren Eltern ihre Ständchen zum Besten zu geben.<br />

Niedlich gekleidete Kinder streuten aus ihren Körbchen Blumen auf ihren<br />

Weg bis zur vorgefahrenen, geschmückten Pferdekutsche. Der Jubel nahm<br />

kein Ende. Man rief ihnen ununterbrochen Glückwünsche zu und winkte<br />

freudig. Der Braut reichte man von allen Seiten Blumen entgegen. Ja, man<br />

warf von vielen Seiten einzelne Blumen voller Begeisterung in die Kutsche<br />

hinein. Wie ein Prinzenpaar winkten Braut und Bräutig<strong>am</strong> den Menschen,<br />

die an den Straßen Spalier standen, voller Freude und Glück unaufhörlich<br />

zu. Begeisterte folgten sogar dem Pferdewagen bis zur Villa Guttentag, dem<br />

Haus ihrer Eltern und zugleich ihrem zukünftigen Zuhause.<br />

Kaum war das Brautpaar hinter dem großen <strong>Ein</strong>gangstor der Villa verschwunden,<br />

geleitete man sie mit Geigenspiel-Klängen und dem Gesang des<br />

Rabbiners zur „Chuppa“ – einer Art Baldachin –, die man im Garten der<br />

Villa aufgebaut hatte. Dort im Freien wurde nun die jüdische Hochzeits-<br />

Zeremonie nach jüdischem Brauch und alter Tradition vollzogen. Die<br />

„Shewa Brachoth“, das Hochzeitsgebet, wurde von dem Rabbiner und vielen<br />

aus der jüdischen Gemeinde gesungen. Unter dem Jubel der Gäste zertrat<br />

Herr Guttentag das Glas. Jetzt setzte ein Progr<strong>am</strong>m ein, das die geladenen<br />

Gäste der Hochzeitsgesellschaft unterhielt. Freunde hatten Sketche und<br />

Showeinlagen vorbereitet, über die viel gelacht und mit reichlichem Applaus<br />

bedacht wurden. Auch einen Klarinetten-Spieler hatten die Eltern der Braut<br />

engagiert, der mit Klezmer-Musik aufspielte. Nach einer zärtlichen Rede des<br />

Bräutig<strong>am</strong>s an seine Braut stiegen mit einem Feuerwerk Fl<strong>am</strong>men der Liebe<br />

in den Himmel auf. Bis zum frühen Morgen wurden getanzt und gesungen<br />

und alle Gäste mit köstlichen Speisen und Getränken verwöhnt. Welch ein<br />

glücklicher Tag. Das Brautpaar schw<strong>am</strong>m in Wonne, Glück und Seligkeit<br />

seiner jungen Liebe.<br />

Als Herr Guttentag so dasitzt und auf die gute Nachricht aus dem<br />

Geburtszimmer wartet, erinnert er sich weiter:<br />

27


Am nächsten Morgen verließen sie das Fest. Der Chauffeur seiner<br />

Schwiegereltern fuhr sie in deren Wagen zu ihrem Landhaus direkt an der<br />

Ostsee. Auf der langen Fahrt dorthin erzählte ihm seine junge Frau, sie liebe<br />

das Haus und die dortige Umgebung. Sie habe als Kind und junges Mädchen<br />

an diesem zauberhaften Ort oft traumhaft schöne Ferien verbracht. Wegen<br />

der Abiturvorbereitung sei sie jedoch länger nicht dort gewesen. Nun aber<br />

würde alles für ihre Ankunft gut vorbereitet sein. Sie freute sich sichtlich<br />

darauf, ihm das zeigen zu dürfen, was ihr lieb und teuer war. Natürlich war<br />

auch er neugierig, das kennenzulernen, was sie liebte.<br />

In diesem Augenblick sah er sich mit ihr wieder eng umschlungen erneut<br />

<strong>am</strong> Strand stehen und er nahm den Lichtweg des Vollmonds wahr, der geradewegs,<br />

gleich einer hell erleuchteten Straße, auf sie zuk<strong>am</strong>. Und dann war da<br />

plötzlich diese dunkle Wolke, die sich vor den Mond schob und sie eine Zeit<br />

lang in totaler Finsternis stehen ließ. Als die Wolkendecke plötzlich etwas aufriss,<br />

tauchte weit draußen auf dem Meer ein kleines Fischerboot auf, welches<br />

von einem einzigen Mondstrahl hell beschienen wurde, während alles Übrige<br />

um sie herum völlig im Dunkeln lag. Sie bemerkten das Boot erst jetzt. Man<br />

hatte den <strong>Ein</strong>druck, als existiere außer diesem Fischerboot und ihnen beiden<br />

sonst nichts auf dieser Welt. Waren das Vorzeichen?, so fragte er sich schon d<strong>am</strong>als.<br />

Das Dunkel um uns herum, doch wir dürfen im Boot, vom Wasser getragen,<br />

noch einige Zeit im hellen Licht stehen? Das Bild vom verdunkelten Mond und<br />

das plötzlich hell erleuchtete, eins<strong>am</strong>e Boot weit draußen auf dem Wasser,<br />

während sie eng umschlungen <strong>am</strong> Strand standen, hatte sich fest in ihrer<br />

Erinnerung eingeprägt. Zwar nahm der Mond von da an ab, doch ihre Liebe<br />

wuchs, wie die wundervolle Blüte einer Blume, die sich von Tag zu Tag mehr<br />

und mehr öffnet, um ihre ganze Schönheit voll zum Ausdruck zu bringen.<br />

Oh, wie ich sie liebe. Bei diesem Gedanken wird es ihm warm ums Herz und<br />

es fällt ihm ein: Eigentlich haben wir uns bis zur Hochzeitsnacht nicht berührt,<br />

nur vorher ein paar Mal zärtlich geküsst. Versunken in Erinnerung und einem<br />

Schmunzeln auf den Lippen sitzt er still da und es wird ihm bewusst: Es ist<br />

unbeschreiblich, wenn zwei Menschen sich lieben und EINS werden, … falls das<br />

überhaupt möglich ist, … dann sind wir beide es geworden. Dieses Kind, es ist<br />

das KIND UNSERER GROSSEN LIEBE!<br />

Davids Geburt<br />

Plötzlich fühlt Herr Guttentag eine Hand auf seiner Schulter und wie durch<br />

einen Schleier hört er eine Männerstimme sagen:<br />

„Herzlichen Glückwunsch, Herr Guttentag! Sie haben einen Sohn.“<br />

28


„Bin ich eingeschlafen?“, fragt er verdattert, schüttelt kurz seinen Kopf<br />

und springt vom Sessel auf.<br />

Es ist der Arzt, der vor ihm steht und ihm die Hand entgegenstreckt.<br />

„Ihrer Frau geht es den Umständen entsprechend gut. Sie hatte wahrlich<br />

keine leichte Geburt, doch ich denke, sie wird sich sehr schnell davon erholen.“<br />

„Danke, … vielen Dank“, st<strong>am</strong>melt Herr Guttentag und kann die<br />

frohe Botschaft kaum fassen, wendet sich vom Arzt ab und spricht leise<br />

auf Hebräisch ein kurzes Dankgebet, dennoch ist es deutlich von den<br />

Anwesenden zu vernehmen: „Dank sei dir, Herr, der dich geschaffen hat,<br />

Jakob, und dich gemacht hat, Israel. Dank für diese große Gnade. EIN<br />

SOHN, die Erfüllung meines Lebens!“ Er dreht sich halb von ihnen weg<br />

und ruft im Forteilen: „Bitte entschuldigen Sie mich.“<br />

Und schon hat er mit schnellen Schritten und in großer Erwartung die<br />

Tür erreicht, hinter der seine Frau und ihr Neugeborenes auf ihn warten.<br />

MEIN SOHN, jubelt es in ihm und er verschwindet im Zimmer seiner<br />

Lieben.<br />

Herr <strong>Stern</strong> begleitet indessen den Arzt hinaus. Kaum ist er zurück, tritt er<br />

mit einem Glas in der Hand an die Brüstung zum Saal. Mit einem kleinen<br />

Silberlöffel schlägt er an den Rand vom Glas. Auf die hellen Töne erfolgt von<br />

unten ein Tusch der Musikkapelle. Viele Augen schauen sogleich neugierig<br />

zu ihm hinauf, und um ihn besser sehen zu können, vers<strong>am</strong>meln sie sich in<br />

der Mitte des Saales. Seine Stimme ist verständlich und gut zu hören, als er<br />

feierlich verkündet:<br />

„Ich darf Ihnen bekanntgeben, Frau Guttentag hat soeben einen kräftigen,<br />

gesunden Jungen zur Welt gebracht.“<br />

„<strong>Ein</strong> Junge, ein Junge!“, schreit man mit Hurra-Rufen voller Begeisterung<br />

und lautem Beifallklatschen zu ihm hinauf. „Hurra, ein Junge!“ Viele<br />

schwenken ihre Gläser und prosten Herrn <strong>Stern</strong> zu, der sich bedankt und<br />

sofort den Prost nach allen Seiten erwidert. Kurz darauf geht unten im Saal<br />

der Tanz fröhlich weiter.<br />

Etwas später tritt der junge Vater aus dem Zimmer seiner Frau. Er hält,<br />

in Tücher gewickelt, seinen neugeborenen Sohn liebevoll im Arm. Als Rabbi<br />

hat er sich seine Kippa, die jüdische Kopfbedeckung, aufgesetzt und den<br />

Gebetsschal um die Schultern gelegt. Auch er tritt jetzt an die Brüstung. Sofort<br />

ist wieder ein Tusch der Kapelle zu hören. Die Hochzeitsgäste vers<strong>am</strong>meln<br />

sich erneut und schauen fasziniert nach oben. Es ist still geworden, niemand<br />

spricht ein Wort. Sie erleben, wie ein Vater in großer Freude und Dankbarkeit<br />

seinen Sohn mit beiden Händen hoch über seinen Kopf hält, als wolle er ihn<br />

Gott darbringen und zugleich allen Menschen zeigen. Seine Stimme ist deutlich<br />

zu hören, die auf Hebräisch erneut das Dankgebet spricht:<br />

29


„Dank sei dir, Herr, der dich geschaffen hat, Jakob, und dich gemacht<br />

hat, Israel: Dieser, mein lang ersehnter Sohn, soll DAVID heißen. David, der<br />

den Goliath besiegt. Du, mein Sohn David, sollst jeden Goliath besiegen,<br />

in welcher Form er dir in deinem zukünftigen Leben auch jemals begegnen<br />

mag. Sei gewiss, du wirst ihn besiegen! Auf dass die Schrift sich erfülle.“<br />

Als er innehält, bricht unter ihm im Saal ein Begeisterungssturm los und<br />

aus allen Kehlen wird laut „DAVID, David!“, gerufen. Kurz darauf formt<br />

sich ein Sprechchor, der den Segenswunsch artikuliert: „Lang lebe David,<br />

Glück und Segen, David!“, und man wiederholt ihn immer und immer wieder,<br />

bis es ruhiger wird und der Ruf schließlich gänzlich verstummt.<br />

Herr Guttentag hat inzwischen seine Arme, mit denen er seinen Sohn<br />

hochhielt, heruntergenommen. Er hält das kleine Bündel nun liebevoll vor<br />

sich im Arm und schaut voller Stolz zu ihm hinab. Das Kind öffnet kurz<br />

seine Äuglein und sein Vater hat den <strong>Ein</strong>druck, als schaue es ihn an und<br />

verziehe sein süßes Gesichtchen zu einem Lächeln. Er beugt sich über das<br />

kleine, entzückende Wesen und küsst es auf die Stirn. Blaue Augen hat er,<br />

Augen so blau wie das tiefe Meer, denkt er und streichelt dem kleinen David<br />

mit dem Handrücken sanft über seine zarten Bäckchen. Beglückt stellt er<br />

fest: Und die helle S<strong>am</strong>thaut seiner Mutter. Die Menschen schauen gerührt<br />

zu, wie ein Vater seinen neugeborenen Sohn voller Liebe und Glück betrachtet<br />

und liebkost.<br />

Plötzlich stößt unten im Saal einer den anderen an und es wird von<br />

Neuem mucksmäuschenstill. Alle scheinen angestrengt zu lauschen, denn<br />

von draußen sind deutlich Geräusche zu vernehmen. <strong>Ein</strong> gleichmäßiges<br />

Marschieren und kräftiges Knallen von Kommiss-Stiefeln ist zu hören. Raue<br />

Stimmen fangen zugleich an zu singen: „SA marschiert mit ruhigem, festem<br />

Schritt …“ Kaum ist die Strophe zu Ende, hört man erst eine und dann<br />

viele Stimmen rufen, die sich gleichfalls zu einem Sprechchor formieren und<br />

rhythmisch laut zu schreien beginnen:<br />

„Alle Juden raus, alle Juden raus!“<br />

Im Saal haben es alle gehört, was da geschrien wird. Auch Herr Guttentag<br />

schaut für einen Augenblick beunruhigt in die Richtung, aus der die drohenden<br />

Stimmen kommen, und denkt: Kann man so etwas für möglich halten?<br />

Selbst das Baby in seinen Armen scheint darauf zu reagieren und fängt zu<br />

weinen an. Sein Vater wiegt es sogleich hin und her und drückt es schließlich<br />

schützend an sich, bis es sich beruhigt und still wird.<br />

Im Saal wird es jetzt sehr lebhaft. Die Hochzeitsgäste fühlen sich, als<br />

seien sie zwischen „zwei Fronten“ geraten. Unerklärliche Angst überfällt sie.<br />

Alle reden wild durcheinander. Was ihnen bisher nicht bewusst war, wird<br />

ihnen plötzlich zur Gewissheit:<br />

„Wir sind ja hier in einem jüdischen Haus.“<br />

30


Und einer spricht es jetzt sogar mit lauter Stimme offen aus:<br />

„Das sind ja Juden, wo wir hier sind.“<br />

Jeder rennt kopflos sehr aufgeregt und in Panik hin und her. Schnell<br />

sucht man seine sieben Sachen und verschwindet durch den Hintereingang.<br />

Zum Vordereingang aber waren alle zuvor hereingekommen.<br />

Herr Guttentag hat die laute Stimme des Rufers unten im Saal gehört.<br />

Er nimmt die große Unruhe wahr und muss erleben, wie der riesige Raum<br />

sich mehr und mehr leert, bis niemand mehr zu sehen und Ruhe eingekehrt<br />

ist. Auch draußen ist es still geworden. Da zieht er ein Büchlein aus seiner<br />

Tasche, welches er immer bei sich trägt, und beginnt in hebräischer Sprache<br />

aus Jesaja 43 vorzulesen:<br />

„Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem<br />

N<strong>am</strong>en gerufen, du bist mein.“<br />

Die Musiker haben bereits ihre Instrumente eingepackt und sind verschwunden,<br />

ebenso die Kellner, sogar die Feuerwehrleute quittierten ihren<br />

Dienst vor der Zeit. Ja selbst der Hausdiener, der heute oben auf der Empore<br />

seine Herrschaft, die Eltern des Brautpaares und Herrn <strong>Stern</strong> so überaus<br />

zuvorkommend und aufmerks<strong>am</strong> bediente, verließ seinen Posten Hals über<br />

Kopf. Die Angst trieb alle aus dem Haus.<br />

Nur das Brautpaar ist noch da. Sie hatten in einer Ecke gesessen und dem<br />

ungewollt stürmischen Aufbruch völlig fassungs- und sprachlos, nahezu apathisch<br />

zugeschaut. Sie mussten erleben, dass alle, sowohl ihre Verwandten<br />

als auch Freunde und Bekannten, wortlos an ihnen vorbeistürmten, um<br />

so schnell wie möglich den Ausgang zu erreichen. Angst war in ihren<br />

Augen zu lesen. Niemand hatte sich von ihnen verabschiedet. So fand ihre<br />

Hochzeitsfeier ein jähes und abruptes Ende. Jetzt, da sie sich im großen<br />

Saal allein und verlassen sitzen sehen, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als<br />

auch den Heimweg anzutreten. Doch noch ist Herrn Guttentags Stimme<br />

von oben her sehr deutlich zu hören. Emy, neugierig geworden, hält ihren<br />

frischgebackenen Ehemann für einen Augenblick <strong>am</strong> Rockzipfel zurück und<br />

meint spöttisch:<br />

„Du, das will ich mir doch mal genauer anhören, was Herr Guttentag da<br />

oben faselt.“ Sie schaut hinauf und ruft sogleich verwundert aus: „Was ist<br />

denn das für ein komisches Deutsch?“<br />

„Deutsch, sagst du?“, antwortet ihr Ehemann fragend und belehrt sie<br />

zugleich: „Das ist Hebräisch.“<br />

„Hebräisch? Kann der nicht Deutsch reden wie jeder andere vernünftige<br />

Mensch hier in unserem deutschen Land auch? Immer diese Geheimnistuerei,<br />

als hätten sie ihren Gott ganz allein für sich gepachtet!“, erwidert sie, winkt<br />

jedoch sofort mit den Worten ab: „Ach, lass nur.“ Sie kann sich aber dennoch<br />

die Frage nicht verkneifen: „Möchtest du jetzt mit ihm tauschen und<br />

31


an seiner Stelle sein?“ Ihre Stimme klingt jetzt unbeherrscht laut und mit<br />

verzerrtem Gesicht kreischt sie erbarmungslos in den Saal hinein, ohne seine<br />

Antwort abzuwarten: „Und jetzt auch noch das Kind!“<br />

Sie spreizt in wilder Pose die Finger ihrer Hände weit auseinander und<br />

streckt sie ungestüm hoch über ihren Kopf hinaus gen Himmel.<br />

Rabbi Guttentag hat zwar ihre schrille Stimme wahrgenommen, doch er<br />

lässt sich weder davon beeindrucken noch ablenken. Ungestört liest er aus<br />

„Jesaja 43“ weiter:<br />

„Denn so du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die<br />

Ströme nicht sollen ersäufen.“<br />

„Ach, komm doch, lass uns gehen“, fordert Emy energisch ihren Mann<br />

auf, der kurz stehen geblieben war, und geht ihm ein Stückchen voraus. Er<br />

folgt ihr nach. Es ist ihm anzumerken, dass das undankbare und vor allem<br />

respektlose Verhalten seiner nunmehr Ehefrau gegenüber dem Hausherrn,<br />

der ihnen dieses Fest so großzügig ermöglicht hat, sehr peinlich ist. Sie aber<br />

zischt: „Moment noch, bleib doch stehen“, ist selbst erneut stehen geblieben<br />

und st<strong>am</strong>pft sehr ärgerlich mit dem Schuh auf. „Mal sehen, ob ihr Gott<br />

‚Jakob und Gott Israel‘ jetzt zu ihnen vom Himmel herabsteigt, ihnen hilft<br />

und sie vor den Nazis rettet.“<br />

Verachtungsvoll schaut sie erneut zum Hausherrn hinauf. Von oben aber<br />

ist seine Stimme wunderbar klar zu hören:<br />

„Und so du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen und die Fl<strong>am</strong>me soll<br />

dich nicht versengen, denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige in Israel,<br />

dein Heiland.“<br />

Emy, die ohnehin nichts verstehen kann und dazu viel zu viel getrunken<br />

hat, eilt jetzt mit einem lauten, abweisenden „Ach, was soll’s“ und schnellen,<br />

schwankenden Schritten hinter ihrem Mann her. Dieser aber hatte schon<br />

fast den Ausgang erreicht.<br />

„Lauf doch nicht so schnell!“, keift sie laut voller Respektlosigkeit hinter<br />

ihm her, das Klappern ihrer Stöckelabsätze ist nicht zu überhören. „Warte<br />

doch auf mich, du d…“, bricht sie ab und spricht das Schimpfwort, welches<br />

ihr schon auf der Zunge lag, heute mal nicht aus.<br />

Wenig später ist sie weder zu sehen noch zu hören.<br />

Maria hört zu<br />

Maria sitzt noch immer unter dem Tisch. Sie hat das Theater ihrer Schwester,<br />

das sie eben veranstaltete, mitverfolgt. Nur gut, dass sie mich nicht entdeckt<br />

hat. Von ihrem Gehabe ließ sie sich jedoch nicht durch die Lesung von Rabbi<br />

Guttentag ablenken. Sie versteht zwar kein Hebräisch, doch seine Stimme<br />

32


erührt ihr Herz. Sie glaubt beinahe das, was dort gelesen wird, zu verstehen<br />

und hört voller Wonne seinen hebräischen Worten zu:<br />

„Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, musst du auch herrlich<br />

sein und ich habe dich lieb.“<br />

Da bemerkt sie ihre Eltern, die sich leise auf Zehenspitzen hinter Herrn<br />

Guttentag und dem Baby davonschleichen und Herrn <strong>Stern</strong> kurz zuwinken,<br />

der ihren Gruß erwidert. Sie wollen sicher mit dem Brautpaar und der übrigen<br />

F<strong>am</strong>ilie noch zus<strong>am</strong>men sein. Maria bückt sich ein wenig weiter nach vorne,<br />

um Rabbi Guttentag mit dem Baby besser sehen zu können. Was würde<br />

ich jetzt darum geben, das Kind im Arm halten zu dürfen. Mein Brüderchen<br />

war so süß, doch er hat immer so fürchterlich geschrien und plötzlich war er …<br />

Der letzte Gedanke wurde von der tröstenden und zuversichtlichen Stimme<br />

Rabbi Guttentags verschluckt. Die hebräisch gesprochenen Worte lassen bei<br />

ihr einfach keine Traurigkeit zu:<br />

„Ich, ICH BIN der Herr und ist außer mir kein Heiland.“<br />

Auch das Kind ist still. Jetzt schien sein Vater mit der Lesung fertig zu<br />

sein. Er klappt leise sein Büchlein zu, dreht sich um und geht. Bestimmt<br />

bringt er das Kind zur Mutter zurück. Nun krabbelt auch Maria auf allen<br />

vieren unter dem Tisch hervor und begibt sich auf den Heimweg.<br />

Zu Hause findet sie alle F<strong>am</strong>ilienmitglieder einmütig vers<strong>am</strong>melt vor.<br />

„Da bist du ja endlich, wo warst du denn noch so lange?“, fragt ihr Vater<br />

sie besorgt. „Haben die Nazis dich …?“<br />

„Oh, nein, nein“, wehrt Maria ab, „ich habe Rabbi Guttentag zugehört.“<br />

Sie sucht nach einer Vase, in die sie den wunderschönen Brautstrauß ihrer<br />

Schwester, den sie aufgefangen und noch immer in Händen hält, stellen<br />

kann. Mit einem Blick nimmt sie die Braut wahr, die müde ihren Kopf auf<br />

den Tisch gelegt hat. Der Kopfschmuck ist verrutscht und hängt ungeordnet<br />

in ihrem Gesicht. Mit ihren glasigen Augen schaut sie kurz zu ihr auf. Ihr<br />

Anblick zeigt deutlich, sie hat zu viel getrunken. Zwar hat ihre Schwester sie<br />

gesehen, doch sagen tut sie nichts, stattdessen gähnt sie mit offenem Mund<br />

laut und ungehemmt. Daraufhin fragt die Mutter die jungvermählte Frau,<br />

ihre älteste Tochter, ob sie sich nicht mit ihrem Mann zurückziehen wolle,<br />

doch diese lehnt nahezu gekränkt ab. Da geht Frau Sondra in die Küche. Sie<br />

will für alle Kaffee kochen. Als sie zurückkommt, fragt sie:<br />

„Wer möchte gern eine Tasse Kaffee?“<br />

Maria, die gerade den Brautstrauß an einen schönen Platz gestellt hat,<br />

verlangt danach und bedankt sich bei ihrer Mutter. Dabei fällt ihr Blick<br />

auf den Bräutig<strong>am</strong>. Er hält ein Schnapsglas in der Hand, starrt vor sich<br />

hin und murmelt etwas, was mürrisch und unzufrieden klingt und Gott sei<br />

Dank von niemandem verstanden werden kann. Im Hintergrund sieht sie<br />

33


Grete mit ihrem Freund, die sich auf dem Sofa herumflegeln. Kein besonders<br />

schöner Anblick von einer Hochzeitsgesellschaft, denkt Maria. Nur ihre Eltern<br />

zeigen wie immer eine aufrechte Haltung. Sie trinkt ein Schlückchen vom<br />

Kaffee, setzt sich im Schneidersitz unter die weit ausladende Zimmerlinde<br />

auf den Fußboden, ihren Lieblingsplatz, und balanciert dabei die Tasse geschickt<br />

in ihrer Hand. Unvermittelt stellt sie die Frage in den Raum:<br />

„Was haben die Christen eigentlich gegen die Juden?“<br />

Sie hatte es nur denken wollen, doch es war ihr so herausgerutscht. Die<br />

Braut, ihre älteste Schwester, muss ihre Frage gehört haben, denn sie hebt<br />

den Kopf und antwortet vorwurfvoll:<br />

„Das müsstest du doch wohl <strong>am</strong> besten wissen, wenn du BDM-Führerin<br />

werden willst.“<br />

Ohne darauf zu reagieren, wendet Maria sich an ihre Mutter und meint:<br />

„Beinhaltet deren Thora nicht die Zehn Gebote? Lernten wir nicht in der<br />

Schule, dass Martin Luther das Alte und auch das Neue Test<strong>am</strong>ent aus den<br />

hebräischen und griechischen Schriften in die deutsche Sprache übersetzt<br />

hat? Ich habe zwar nur ‚Jesaja‘ verstanden, doch es müssen herrliche Verse<br />

gewesen sein, die Rabbi Guttentag vorgelesen hat. Ich würde sie selbst gern<br />

einmal lesen, nur um genau zu wissen, was er an Wunderbarem da vorgetragen<br />

hat. Es hat mich nicht nur tief berührt, sondern froh und glücklich<br />

gestimmt.“<br />

„Ach, hör doch endlich da unten auf mit dem blöden Juden-Gequatsche.<br />

Du nervst“, hört sie dieses Mal sehr ärgerlich ihre älteste Schwester sagen,<br />

die auch gleich noch den bitteren Vorwurf hinzufügt: „Du verdirbst mir<br />

meine ganze Hochzeit.“<br />

„Oh, entschuldige bitte, das wollte ich nicht.“<br />

Maria steht schnell auf, gibt Mutter und Vater ein Küsschen, wünscht<br />

allen eine gute Nacht und ihre helle Stimme klingt so glücklich, als hätte sie<br />

und nicht ihre Schwester Hochzeit gefeiert. Die Eltern erwidern ihren Gruß<br />

und sie verlässt kurz darauf das Wohnzimmer. Die Mutter jedoch ist froh,<br />

dass sie gegangen ist, es heute keinen Streit mehr gibt und der Tag nicht, wie<br />

so oft, mit lautem Gezanke geendet hat. An diesem Abend sind alle viel zu<br />

müde, um noch streiten zu können.<br />

Joshuas Vision<br />

Im Hause Guttentag hat nur Herr <strong>Stern</strong> die Stellung gehalten und sitzt ganz<br />

allein auf der Empore. Durch die plötzliche Stille im großen Haus muss er<br />

unbemerkt eingenickt sein. Als sein Freund zurückkommt und ihn vorsichtig<br />

an der Schulter berührt, wacht er erschreckt auf.<br />

34


„Was ist, Joshua?“, fragt der Hausherr besorgt, denn sein Freund schien<br />

sehr unruhig und aufgewühlt zu sein. „Mir scheint, deine Augen haben sich<br />

mit Tränen gefüllt oder täusche ich mich?“<br />

„Ja, denk’ dir“, antwortet dieser erregt, „ich muss wohl in Halbschlaf gefallen<br />

sein. Als du weg warst, habe ich etwas erlebt und gesehen. Ich habe es<br />

sogar ganz deutlich gesehen und frage mich nun: Wie kann so etwas möglich<br />

sein? Willst du es hören? Darf ich es dir erzählen?“<br />

„Ja, bitte.“<br />

„Denk dir, ich ‚sah‘ mich als alten Mann, doch ich war nicht allein, neben<br />

mir stand ein anderer Mann, der viel jünger war als ich. Er sah dir<br />

komischerweise sehr ähnlich. Wir standen draußen <strong>am</strong> großen Tor, doch<br />

euer wundervolles Tor …“, und er wird lauter, „… es war nicht mehr da …,<br />

nur die Pfosten, die das Tor gehalten haben, standen noch. Man hatte diese<br />

Pfosten sogar noch vergrößert, sodass auf jeder Seite ein Panzer-ähnliches<br />

Fahrzeug darauf Platz hatte. So ein Fahrzeug habe ich bisher noch nie in<br />

meinem ganzen Leben zuvor gesehen. Sie trugen russische Embleme.<br />

UND DEINE VILLA …, EUER WUNDERVOLLES HAUS … ES<br />

WAR NICHT MEHR DA!“ Diesen Satz schreit er nahezu mit Entsetzen<br />

in die Stille des Hauses hinein, erschrickt vor sich selbst, wird wieder leiser<br />

und sagt nun mit normaler Stimme: „Nur das Haus, welches du für die<br />

Dienerschaft gebaut hast, stand noch“, und haucht beinahe im Flüsterton<br />

stotternd: „Mir graut, es aussprechen zu müssen …, im Park …, in eurem<br />

Park sah ich eine unübersehbar hohe Anzahl von Gräbern, auf denen Kreuze<br />

standen, Holzkreuze!“ Voller Ahnung fügt er sehr schnell sprechend hinzu:<br />

„Es gibt Krieg, mein Freund, es wird Krieg geben.“<br />

Seine Augen weiten sich, Angst ist darin zu lesen.<br />

Herr Guttentag nimmt unerschrocken die Hand seines Freundes in seine<br />

eigene.<br />

„Beruhige dich, Joshua, bitte beruhige dich doch, noch haben wir keinen<br />

Krieg, sondern ein FREUDIGES EREIGNIS in unserem Haus. Mein Sohn<br />

DAVID ist doch heute geboren. Wollen wir nicht lieber auf ihn anstoßen<br />

und ihm eine glückliche und friedvolle Zukunft wünschen? Wir können<br />

doch nur JETZT leben und morgen ist wieder JETZT.“<br />

„Da hast du allerdings recht, mein Freund, bitte entschuldige. Bitte verzeih<br />

mir.“ Joshua hat sich wieder unter Kontrolle und spricht nun ruhiger<br />

geworden weiter: „Ich freue mich genauso wie du über die Geburt deines<br />

Sohnes David.“<br />

Er sieht die Augen seines Freundes glänzen. Dieser ist voller Begeisterung<br />

über seinen soeben geborenen Sohn und schwärmt:<br />

„Weißt du, Joshua, er hat blaue Augen, ich habe es sofort entdeckt.<br />

DAVID WIRD ÜBERLEBEN. Was immer auch zukünftig geschehen mag,<br />

35


mit seinen blauen Augen wird er ÜBERLEBEN. Und wie du ja weißt, findet<br />

in acht Tagen das Beschneidungsfest statt, dazu wird die ges<strong>am</strong>te männliche<br />

Gemeinde zu uns hierher ins Haus eingeladen. Es wird ein großes Ereignis<br />

werden!“<br />

„Ja, mein lieber Freund, ich weiß“, antwortet Joshua. „Dann lass uns<br />

jetzt auf das Wohl deines Sohnes David anstoßen. Möge er leben, möge er<br />

glücklich werden.“<br />

„Ja, stoßen wir auf meinen Sohn David an. Möge Gott ihn beschützen,<br />

möge Gott ihn segnen! Zum Wohl, Joshua!“<br />

„Zum Wohl, mein Lieber!“<br />

Schau ein zweites Mal genauer hin<br />

Sieh hin! Schau ein zweites Mal genauer hin. <strong>Ein</strong> <strong>Stern</strong> mit N<strong>am</strong>en DAVID,<br />

ein DAVIDSTERN, wird an einem ersten warmen Frühlingstag geboren, an<br />

dem sich die ganze Fülle Gottes in aller Herrlichkeit von Neuem entfaltet und<br />

offenbart. Es ist ein hübscher Junge, mit s<strong>am</strong>tweicher Haut und Augen so blau<br />

wie das tiefe Meer und wie der Himmel an einem sonnigen, wolkenlosen Tag.<br />

Das göttliche LICHT der LIEBE wird immer wieder als ein ICH BIN in<br />

jedem Neugeborenen, welches von Neuem auf dieser Erde erscheint, offenbar.<br />

Dieses göttliche Licht der Liebe ist in jedem Menschen hinter seiner äußeren<br />

menschlichen Hülle für sein Auge unsichtbar, herrlich verpackt versteckt und in<br />

ihm verborgen, vorhanden. Es muss erneut nur von jedem <strong>Ein</strong>zelnen wahrgenommen<br />

werden, d<strong>am</strong>it es in seinem/ihrem Leben in seiner ganzen Fülle harmonisch<br />

wirken kann. Das neugeborene ICH BIN nahm die Gesichtszüge des<br />

geliebten Mannes oder der geliebten Frau, oft auch der Großeltern an. Hinter<br />

den Gesichtszügen verbirgt sich in Wirklichkeit Gottes Gegenwart, SEIN Leben<br />

und SEINE Liebe, die man IHN unbewusst zu lieben beginnt. Und wer eine<br />

Geburt je miterlebte und das Neugeborene zum ersten Mal in seinen Armen hält,<br />

erinnert sich bestimmt an die tiefe Freude, die dieses Wunder in ihm auszulösen<br />

vermochte. Wie schnell ist meist alles wieder im Unterbewusstsein des persönlichen<br />

Selbst verschwunden, denn man hat vergessen, ein zweites Mal genauer<br />

hinzuschauen.<br />

Hinter jeder äußeren Maske liegt auch im Bewusstsein eines jeden Neugeborenen<br />

verborgen die ganze Fülle von Begabungen und Fähigkeiten des EINEN<br />

göttlichen Bewusstseins. Diese Talente kommen von Gott und werden früher oder<br />

später von demjenigen selbst wahrgenommen, entfalten und offenbaren sich. Es<br />

heißt, sie im Lauf der menschlichen Entwicklung zu entdecken, um seine Mitmenschen<br />

d<strong>am</strong>it zu erfreuen, ihnen zu dienen und selbst voll Genüge zu haben.<br />

Jedes Kind bringt Erfahrungen aus vorausgegangenen Verwirklichungen vieler<br />

36


Jahrhunderte in diese neue, jetzige Verwirklichung hin mit, die von ihm/ihr in<br />

jener Zeit in seinem Bewusstsein entwickelt und ges<strong>am</strong>melt wurden. Bewusstsein<br />

vergisst nichts. Mit seinem Erscheinen wird ihm oder ihr erneut die Möglichkeit<br />

geboten, sich selbst und seine/ihre Fähigkeiten und Begabungen weiter und<br />

höher zu entwickeln. Man fängt zu jeder Zeit dort wieder an, wo man zuletzt<br />

aufgehört hat.<br />

Ist man sich bewusst, dass Gott das alleinige Leben von allem auf dieser<br />

Erde ist, was da atmet, lebt und ist? Dieses göttliche Leben ist kontinuierlich, es<br />

ist unendlich, unsterblich, unzerstörbar, ein EWIGES SEIN. Der geistige Vater<br />

offenbart sich in jedem Neugeborenen und lebt sich letztendlich durch SEIN<br />

göttliches ICH BIN selbst.<br />

Das heißt, man ist als Mann und Frau ein Instrument für das göttliche<br />

geistige Bewusstsein oder die Seele eines Kindes, dem man als Paar eine neue<br />

Form oder Gestalt, einen neuen menschlichen, vergänglichen Körper geben darf,<br />

der sich d<strong>am</strong>it in den Kreislauf von Geburt und Tod einordnet. Das Kind ist<br />

zur Freude der Eltern, Großeltern, ja manchmal zur glücklichen Bereicherung<br />

einer Stadt, zum Segen für ein Volk oder zur Bereicherung der ganzen Welt als<br />

„ein Geschenk von Gott“ in DIESER WELT erschienen. Zum Wohl des Kindes<br />

wird es der Liebe von Mutter und Vater anvertraut, bis es selbst einmal so weit<br />

erwachsen ist, um diese Liebe an eigene Kinder weiterzugeben. Das JA zu einem<br />

Kind ist Ausdruck von Nächstenliebe und zugleich großer Dankbarkeit, dass<br />

man selbst Eltern gefunden hat, die bereit waren, d<strong>am</strong>it man zu diesem Zeitpunkt<br />

hat leben und sich verwirklichen können. Jeder Mensch, jedes Lebewesen,<br />

welches geboren wird, kommt in DIESE WELT, um von der Herrlichkeit Gottes,<br />

seines Vaters und Schöpfers zu zeugen. <strong>Ein</strong>em jeden, den das Kind durch seine<br />

Äuglein anblickt, strahlt göttliche Liebe entgegen, doch man muss schon genauer<br />

hinschauen.<br />

Der kleine Junge in dieser Lebensgeschichte hat eine Bestimmung. Gott hatte<br />

einen Plan für ihn. Lange bevor er in diese Welt eintrat, wurde er in anderen<br />

Verwirklichungen auf dieses jetzige Leben vorbereitet. Im Jahr 2004 hört er von<br />

„innen her“ sagen: „Bevor du geboren wurdest, habe ICH, Gott, einen Pakt mit<br />

dir geschlossen. Dir sind viele Mörder begegnet, doch keiner konnte seine Hand<br />

gegen dich erheben. Sie waren in deiner Gegenwart stets wie gelähmt, denn du<br />

stehst unter MEINEM Schutz!“<br />

Der Weg einer Verwandlung bis hin ins Licht sollte jedoch ein langer tränenreicher<br />

und sehr steiniger Weg voller Wirren, Qualen und Irrtümer werden, aber<br />

Gott hielt seine schützende Hand allezeit über ihn und blieb diesem Versprechen<br />

treu, trotz vielseitiger Gefahren und bitteren Enttäuschungen in diesem Leben.<br />

37


Die Zeit von 1935–1938<br />

Davids erste Lebensjahre<br />

Frau Guttentag erholt sich sehr schnell von der Geburt ihres Sohnes.<br />

Dankbar erlebt sie die Freude ihres Mannes, der Gott für die große Gnade,<br />

einen Sohn sein Eigen nennen zu dürfen, alltäglich lobt, preist und dankt.<br />

Vor allem sein ständiger Optimismus: „Es wird alles gut werden“ gibt ihr<br />

immer wieder neue Hoffnung, Kraft und Auftrieb.<br />

Dazu spricht auch ihre Freundin, Frau Sondra, ihr immer wieder Mut zu,<br />

wenn sie Bedenken äußert. Sie versichert ihr immer wieder aufs Neue, falls<br />

irgendetwas Unvorhergesehenes geschehen sollte, sie werde sich um David<br />

wie um ihren eigenen Sohn kümmern, das beruhigt sie.<br />

Der Kleine entwickelt sich zu einem besonders hübschen und aufgeweckten<br />

Jungen, der mit seinem fröhlichen, liebenswerten Wesen und<br />

besonders seinen strahlend blauen Augen jeden zu beglücken weiß. Man<br />

kann sich weder seinem Lachen noch seinem kindlichen Charme entziehen.<br />

Alle lieben das kleine Kerlchen. Er ist seiner Eltern Freude und ihr<br />

ganzes Glück.<br />

Allerdings zeigt sich sein Vater sehr besorgt, wenn er bei seinem Söhnchen<br />

das kleinste Anzeichen einer Krankheit zu erkennen glaubt. Dann bleibt er<br />

zu Hause und beobachtet ihn ständig, um notfalls einen Arzt rufen zu können.<br />

Wenn morgens der Chef im Geschäft nicht gleich anwesend ist, spotten<br />

seine Angestellten hinter vorgehaltener Hand: „Sicher hustet der Kleine<br />

heute wieder.“ Hat David wirklich einmal hohes Fieber, fordert sein besorgter<br />

Vater umgehend einen Spezialisten aus Berlin an. Er muss erleben, dass<br />

sein Söhnchen zwar nachts hohes Fieber hat, doch <strong>am</strong> anderen Morgen wieder<br />

wohlauf und quicklebendig ist. Erscheint der Berliner Professor, stellt<br />

sich meistens heraus, dass sein Kommen unnötig war. Herr Guttentag hört<br />

den Arzt einmal sehr zuversichtlich äußern:<br />

„Ihr Sohn hat sehr gesundes Blut. Alle Abwehrstoffe gegen jegliche Arten<br />

von Krankheiten – ob nun Kinder-, tropische oder sonstige Krankheiten –<br />

sind bereits in ihm vorhanden. Bei einem Kind ist das sehr ungewöhnlich<br />

und kommt unter einer Million Menschen nur einmal vor. Durch seine gesunde<br />

Natur wird er daher jede Krankheit sehr schnell wie von selbst überwinden.“<br />

Er betont dann noch: „Das ist sicher in seinem späteren Leben<br />

einmal für ihn von großem Vorteil. Aus diesen Gründen, Herr Guttentag,<br />

ist die Angst um Ihren Sohn völlig unbegründet.“<br />

38


Anmerkung:<br />

Der Herr Professor sollte recht behalten. Sein gesundes Blut – man sprach<br />

später sogar von phänomenalen Blutwerten – und „seine gesunde Natur“<br />

ließen ihn vieles besiegen.<br />

In dieser Zeit hätten sie eine sehr glückliche F<strong>am</strong>ilie sein können, wären<br />

da nicht ständig diese schwarzen, dunklen und drohenden Gewitterwolken<br />

<strong>am</strong> <strong>Horizont</strong>, die, oftmals von Blitzen durchzuckt, sich immer weiter verdichteten<br />

und Gestalt annehmen. Sie müssen sich dauernd fragen: Werden<br />

sie sich noch mehr zus<strong>am</strong>menziehen, entladen … oder lösen sie sich auf und<br />

ziehen an uns vorüber? Das junge Ehepaar ist sehr bemüht, sich nicht der<br />

Angst hinzugeben, die überall in ihren Kreisen zu spüren ist, um auch ihr<br />

zum Opfer zu fallen.<br />

[...]<br />

„AUSCHWITZ war meine Spielwiese“<br />

Das Martyrium<br />

Heute ist Rudolf, der David, in der Gruppe der Kinder aus seiner Baracke<br />

dem SS-Aufseher zum ersten Mal aufgefallen, als sie wie jeden Tag mit Steine<br />

schleppen beschäftigt werden. Nanu, der Junge, der da so schnell hin- und herläuft<br />

und geschäftig die Steine von einer Seite zur anderen trägt, ist ja noch mit<br />

vollem Eifer bei der Sache und scheint sogar Freude an seiner Beschäftigung zu<br />

haben. Na, so was! Den muss ich mir mal genauer ansehen, denkt er und ruft<br />

ihn zu sich. Rudölfchen kommt sogleich herbei und schaut den SS-Mann<br />

mit seinen hübschen blauen Augen voller Unschuld offen ins Gesicht und<br />

wird unerwartet angeschnauzt:<br />

„Du Rindvieh, du elendes, hat man dir denn noch nicht beigebracht,<br />

dass du keinem von uns in die Augen schauen darfst?“ Rudölfchen zuckt<br />

zus<strong>am</strong>men. Er ist sich keiner Schuld bewusst und senkt augenblicklich seinen<br />

Blick. Der Wachsoldat aber droht weiter: „Soll ich dich Moores lehren?“, und<br />

fuchtelt mit seinem Stock dicht vor seinem Kopf herum. Rudölfchen kneift<br />

die Augen zus<strong>am</strong>men und erwartet einen Schlag, so wie er das bei anderen<br />

Kindern schon mit ansehen musste, doch heute bleibt der Schlag aus. „Wenn<br />

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du das noch einmal tust“, ereifert sich der Aufseher, „dann bekommst du<br />

einen Tag lang nichts zu essen. Also merk’ es dir gut und richte dich danach!“<br />

Sehr erschrocken steht Rudölfchen jetzt mit tief gesenktem Kopf verschüchtert<br />

vor dem strengen Mann, der um ihn herumgeht und ihn mit<br />

wollüstiger Begierde von allen Seiten begutachtet. Mmmh, dieser hier<br />

scheint ein intelligenter Junge zu sein. Mit seinen schönen blauen Augen, hellem<br />

Haaransatz, gerader Nase, vollen Lippen, gut gewachsenen Zähnen und<br />

seiner schönen S<strong>am</strong>thaut ist er so ganz anders als die meisten dieser kleinen<br />

Untermenschen hier. Er ist bestimmt der ‚Sohn eines reichen Mannes‘. Sein runder<br />

Po lässt dazu erkennen, dass er noch ganz gut im Futter ist. Gutes, ja bestes<br />

Material für unser Vergnügen. Da steht meiner direkt aufrecht. Das wird bestimmt<br />

auch die anderen anmachen. Ich werde ihn gleich nachher als Gewinn<br />

beim Skat einsetzen, denkt er belustigt und schreibt sich seine Nummer auf.<br />

Eigentlich sind ja Jungen im Alter von 8 Jahren d<strong>am</strong>it beschäftigt, kleine<br />

Steinchen aufzus<strong>am</strong>meln und sich darin zu üben, einen Stein so geschickt über<br />

die Wasseroberfläche eines Sees oder Flüsschens hüpfen zu lassen und dabei zu<br />

zählen, wie viele kleine Kreise er hinterlässt, ehe er versinkt. Mit Steinen kann<br />

man auch ein fließendes Wässerchen oder gar ein Bergflüsschen stauen. Vor allem<br />

aber spielen kleine Jungs auf einer Spielwiese mit Vorliebe Fußball, rennen<br />

um die Wette, üben sich mit Gleichaltrigen im Kräftemessen, lernen, auf hohen<br />

Stelzen zu gehen, sogar Fahrrad zu fahren oder auf hohe Bäume zu klettern,<br />

um sich die Welt von oben anzusehen. <strong>Ein</strong> Junge in seinem Alter legt sich auch<br />

schon mal gern, die Hände hinterm Kopf verschränkt, auf eine Wiese, pfeift<br />

ein Lied vor sich hin, betrachtet die Wolken, den Sonnenaufgang oder den<br />

Sonnenuntergang, den Mond <strong>am</strong> <strong>Stern</strong>enhimmel, hält nach der Milchstraße,<br />

dem Orion oder dem großen und kleinen Bären Ausschau. Er kann von<br />

dorther aber auch einer Amsel lauschen, die hoch oben auf einer Baumkrone<br />

sitzt und ihr Morgen- oder Abendlied singt. Dreht dieser Junge sich auf seinen<br />

Bauch, hat er den Blumenteppich der Wiese direkt vor sich. Vielleicht findet<br />

er genau dort, wo er gerade liegt, sogar ein vierblättriges Kleeblatt oder er<br />

pustet den S<strong>am</strong>en einer Pusteblume vom Stil des Löwenzahns, der dann lustig<br />

umhertanzt und vom Wind weit fortgetragen wird. Vielleicht probiert er<br />

auch den Sauer<strong>am</strong>pfer, beobachtet eine Biene, wie sie sich ihren Nektar emsig<br />

aus den Wiesenblumen holt, oder er schaut geduldig einer Ameise zu, die<br />

etwas hinwegträgt, was zehnmal größer ist als sie selbst, sich dabei unendlich<br />

abmüht und nicht eher aufgibt, bis alle Hindernisse überwunden sind, und<br />

sie plötzlich vor seinen Augen in einem Loch verschwindet. Vielleicht schaut<br />

er auch geduldig seiner Katze zu, die darauf lauert, bis die Maus sich wieder<br />

aus ihrem Erdloch herauswagt, um sich dann sofort auf sie zu stürzen, danach<br />

noch eine Weile mit ihr spielt, bis sie schließlich ihre Beute stolz dem dort<br />

liegenden Jungen präsentiert und die Maus direkt vor ihn hinlegt.<br />

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Kindgerechte Spiele gibt es für einen 8-Jährigen hier in AUSCHWITZ<br />

nicht. Das einzige Spielzeug, was er je hatte, war ein Kreisel, den ein<br />

Gefangener ihm schnitzte. Er hütete ihn wie einen kostbaren Schatz. Man<br />

brauchte nur einen Bindfaden um ihn herumzuwickeln und schon drehte er<br />

lustige Kreise. So oft er nur konnte, hat er ihn, vor den Augen der anderen<br />

Kinder, zum Tanzen gebracht. Nein, kindgerechte Spiele gibt es hier nicht<br />

für Kinder. Ihre Spielwiese ist keine grüne Wiese. Es ist ein Schotterplatz,<br />

Schotter aus Asche und den Knochenresten der verbrannten Leichen der von<br />

den Nazis vergasten oder anderweitig getöteten Männer, Frauen und Kinder.<br />

Weder ein Baum noch eine Blume gedeihen auf diesem Schotter. Nur Steine<br />

liegen dort, große schwere Steine, die sie jeden Tag von einem Ort zum<br />

anderen tragen müssen. Dieser Ort, der tägliche Spielplatz dieser Kinder, ist<br />

mit Stacheldraht umgeben. „Fass das nicht an“, hatte man ihm eingeschärft,<br />

„das ist gefährlich.“ Er erinnert sich, dass Erwachsene ihn doch angefasst<br />

hatten. Sie waren daran hängengeblieben und hatten entsetzlich geschrien,<br />

bis man von den Wachtürmen aus so lange auf sie geschossen hatte, bis sie<br />

nicht mehr geschrien hatten. Auch auf ihn wurde einmal geschossen, als er<br />

wohl doch zu nahe an den Zaun herangekommen war. Er aber war so schnell<br />

gelaufen, dass sie ihn nicht treffen konnten.<br />

Ende der <strong>Leseprobe</strong><br />

Das Taschenbuch „<strong>Ein</strong> <strong>Stern</strong> <strong>am</strong> <strong>Horizont</strong> – David“, 568 Seiten, BoD<br />

Norderstedt, 2016, ISBN 978-3-74124-282-3, ist auf allen bekannten<br />

Online-Plattformen erhältlich.<br />

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