Nr. 14 (II-2016) - Osnabrücker Wissen
Nr. 14 (II-2016) - Osnabrücker Wissen Wir beantworten Fragen rund um die Osnabrücker Region. Alle drei Monate als Printausgabe. Kostenlos! Und online unter www.osnabruecker-wissen.de
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KUNST & KULTUR<br />
KUNST & KULTUR<br />
Aufstand in der<br />
Gartenlaube?<br />
Vergessene Bücher (2): Eugenie Marlitts<br />
Roman „Reichsgräfin Gisela“<br />
Im weißen Schloss gehen die Lichter aus. Der einstige Schlossherr,<br />
der seinem Schurkenleben selbst ein vorzeitiges Ende gesetzt<br />
hat, liegt tot in den Buketten, und die junge Reichsgräfin<br />
Gisela, die den Nachstellungen des Bösewichts gerade noch entkommen<br />
ist, eilt zum nächstgelegenen Pfarrhaus, um sich hier<br />
endgültig zu dekontaminieren.<br />
Kurze Zeit später wird sie an die Brust<br />
ihres Geliebten sinken, der die morsche<br />
Adelsgesellschaft in ihre Grenzen gewiesen<br />
und eindrucksvoll demonstriert hat,<br />
dass Schönheit, Reichtum und moralische<br />
Integrität mittlerweile vornehmlich<br />
im aufstrebenden Bürgertum beheimatet<br />
sind.<br />
Eugenie Marlitt, die sagenhafte Bestsellerautorin,<br />
die von <strong>Wissen</strong>schaft und<br />
Feuilleton mit Vorliebe unter dem Stichwort<br />
„Trivialliteratur“ oder gleich als „saccharinsüße<br />
Kitschtante“ abgeheftet wird,<br />
hat selbst durchaus ambitionierte Vorstellungen<br />
von dem Wert und der Wirkung<br />
ihrer Arbeit. Jedenfalls in pädagogischer<br />
Hinsicht, die für sie entscheidender ist als<br />
die Frage der ästhetischen Qualität. Auch<br />
wenn der Kollege Theodor Fontane „Personen“<br />
wie Eugenie Marlitt „gar nicht als<br />
Schriftsteller gelten“ lassen will, spiegeln<br />
ihre Romane die großen gesellschaftlichen<br />
Verwerfungen, die Deutschland in<br />
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
erschüttern: den unaufhaltsamen Vormarsch<br />
der Industrialisierung, die Auseinandersetzungen<br />
zwischen Adel und<br />
Bürgertum, den Glaubwürdigkeitsverlust<br />
von Klerus und Militär und selbstredend<br />
die Emanzipationsbestrebungen<br />
des weiblichen Geschlechts.<br />
Eugenie Marlitt serviert diese komplexen<br />
Themen kleidsam und wohldosiert, und<br />
das Publikum<br />
dankt ihr das Bemühen<br />
um ein<br />
übersichtliches<br />
Weltbild mit<br />
anhänglicher<br />
Liebe und wachsender<br />
Begeisterung.<br />
„Goldelse“<br />
(1866), „Das Geheimnis der alten Mamsell“<br />
(1867), „Das Heideprinzeßchen“<br />
(1871), „Im Hause des Kommerzienrats“<br />
(1877) oder „Die Frau mit den Karfunkelsteinen“<br />
(1885) tragen maßgeblich dazu<br />
bei, dass die Familienzeitschrift „Die<br />
Gartenlaube“ ihre Abonnentenzahl in 20<br />
Jahren vervierfachen kann und um 1885<br />
schließlich die stolze Zahl von 375.000 regelmäßigen<br />
Lesern erreicht.<br />
Die Autorin und ihre Werke sind schließlich<br />
so populär, dass mit ihnen allerorten<br />
Grüße und Nachrichten dekoriert werden:<br />
Allein die von Prof. Dr. S. Giesbrecht angelegte<br />
Sammlung historischer Bildpostkarten<br />
der Universität Osnabrück enthält ein<br />
rundes Dutzend Marlitt-Motive.<br />
Wer verdreht Arbeitern die Köpfe?<br />
Der 1869 erschienene Roman „Reichsgräfin<br />
Gisela“ kann infolge der vielen moralisierenden<br />
Betrachtungen heute sicher nicht<br />
mehr als ungetrübtes Lektürevergnügen<br />
durchgehen. Der dokumentarische Wert<br />
ist dagegen beträchtlich. Denn gerade<br />
wenn die Marlitt holpert und ihre zwischen<br />
überraschendem Esprit und belangloser<br />
Schablone hin- und herwechselnden<br />
Naturbeschreibungen oder Charakterporträts<br />
unterbricht, wird es historisch interessant.<br />
Wie in einem Brennglanz formulieren<br />
sich hier die Machtansprüche<br />
des aufstrebenden Bürgertums, aber auch<br />
fremdenfeindliche Ressentiments und<br />
Rollenklischees, die Deutschland noch<br />
lange zu schaffen machen werden.<br />
Freilich überwiegt der progressive Eindruck.<br />
Klagen über das „waffengesegnete<br />
Jahrhundert“ wechseln mit eindringlichen<br />
Forderungen nach religiöser Toleranz, die<br />
manche Zeitgenossen als offene Provokation<br />
empfinden. In der Allgemeinen Deutschen<br />
Biographie weiß Franz Brümmer zu<br />
berichten, „dass in erzkatholischen Ländern<br />
die Dichtung nach ultramontaner<br />
Anschauung förmlich umgemodelt und<br />
dadurch verballhornisirt“ wird.<br />
Marlitt, Titelseite "Gartenlaube" © wikimedia / Bildpostkarte © Universität Osnabrück / Sammlung Prof. Dr. S. Giesbrecht<br />
Aber die Marlitt schreckt auch vor einer virtuellen<br />
Umgestaltung der Gesellschaft nicht zurück. In<br />
„Reichsgräfin Gisela“ werden den Arbeitern mit<br />
materiellen Leistungen und Bildungsprogrammen<br />
„dergestalt die Köpfe verdreht, dass sie buchstäblich<br />
nicht mehr wissen, was unten und oben ist.“<br />
Wie rächte sich die DDR<br />
an einer bürgerlichen Autorin?<br />
Solche revoluzzerhaften Untertöne sind umso bemerkenswerter,<br />
als die 1825 in Arnstadt geborene<br />
Friederike Henriette Christiane Eugenie John von<br />
klein auf gelernt hat, wie die Gewichte im vordemokratischen<br />
Zusammenleben verteilt werden.<br />
Immerhin verdankt die Kaufmannstochter der<br />
Fürstin Mathilde von Schwarzburg-Sondershausen<br />
nicht nur ihre Ausbildung zur Sängerin, sondern<br />
– nachdem sie die Opernkarriere wegen<br />
eines Gehörleidens aufgeben muss - auch die Anstellung<br />
als hochherrschaftliche Vorleserin und<br />
Gesellschaftsdame. Erst als sich die Fürstin diese<br />
Annehmlichkeit aufgrund eigener finanzieller<br />
Probleme versagen muss, beginnt die Marlitt ihre<br />
seinerzeit beispiellose Karriere, die ihr neben dem<br />
hohen Bekanntheitsgrad so viel Geld beschert,<br />
dass sie sich in ihrer Geburtsstadt die „Villa Marlittsheim“<br />
errichten lassen kann. Die Krönung des<br />
persönlichen Lebensglücks bleibt ihr<br />
gleichwohl versagt. Denn die literarische<br />
Wedding-Planerin wird selbst nie heiraten und<br />
muss die letzten Jahre, an schwerer Arthritis leidend,<br />
im Rollstuhl, verbringen. Sie stirbt 1887 und<br />
sorgt noch posthum für ideologische Auseinandersetzungen.<br />
Den Kulturpolitkern der DDR geht<br />
ihr Klassenbewusstsein nicht weit genug, so dass<br />
ihr Denkmal in Arnstadt 1951 entfernt wird.<br />
Doch zu guter Letzt überlebt die Idee der Gartenlaube<br />
auch noch die Heilsversprechen des real<br />
existierenden Sozialismus. Seit 1992 erinnert der<br />
Gedenkstein nun wieder an „DIE“ Marlitt. | TS<br />
Titelseite der „Gartenlaube“ aus dem Jahr 1869,<br />
in dem "Reichsgräfin Gisela" erschien.<br />
Historische Bildpostkarte der Universität<br />
Osnabrück. Sie zeigt als Motiv eine Szene<br />
aus Marlitts Roman „Im Hause des<br />
Kommerzienrats“.<br />
WISSEN KOMPAKT<br />
Marlitt lesen<br />
Die BestselIer von einst verschwanden<br />
im Laufe der Jahrzehnte aus<br />
den Buchläden. Mittlerweile gibt es<br />
Marlitts Romane wieder in Buchform<br />
oder als (mitunter sogar kostenlose)<br />
eBooks - allerdings oft in stark verkürzten<br />
Fassungen.<br />
Die Universitätsbibliothek Osnabrück<br />
hat mehrere Marlitt-Titel im<br />
Programm, unter anderem auch<br />
„Reichsgräfin Gisela“ in einer Ausgabe<br />
von 1870. Der Text steht als<br />
pdf-Dokument zur Verfügung.<br />
Interessenten erhalten im Web unter<br />
www.nationallizenzen.de einen<br />
kostenlosen Zugriff auf die Datei.<br />
Eugenie Marlitt<br />
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