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Nr. 14 (II-2016) - Osnabrücker Wissen

Nr. 14 (II-2016) - Osnabrücker Wissen Wir beantworten Fragen rund um die Osnabrücker Region. Alle drei Monate als Printausgabe. Kostenlos! Und online unter www.osnabruecker-wissen.de

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STADT- & LANDGESCHICHTEN<br />

Postkarte mit dem Motiv des Schiffes MS<br />

Madrid, mit dem Carl Meyer nach<br />

Argentinien gereist ist<br />

... argentinische Rindersteaks, könnte man meinen. Aber nein - es geht um Carl Meyer und<br />

seine deutsch-jüdische Familie. Mitte der 1930er Jahre bewohnten Carl und Clara Meyer mit ihren<br />

Töchtern Helga und Inge kurzzeitig eine Wohnung im Dachgeschoss des Hauses Krahnstraße 1/2<br />

in Osnabrück, in eben jenem Haus, das heute das Gourmet-Restaurant „La Vie“ beherbergt. Carl<br />

Meyer und seine Familie wanderten ebenso wie die Familie seiner Schwester Ida, die mit Ernst Voss<br />

aus Bramsche verheiratet war, später nach Argentinien aus. Ihre bewegten Geschichten werden in<br />

einem neuen Buch dokumentiert.<br />

Carl Meyer, der aus Badbergen stammte,<br />

arbeitete als kaufmännischer Angestellter<br />

bei der renommierten Wild-, Geflügelund<br />

Delikatessengroßhandlung „Julius<br />

Cantor“, deren Produktionsstätte in Eversburg<br />

an der heutigen Atterstraße lag,<br />

während sich das Verkaufsgeschäft in der<br />

Hasestraße befand.<br />

1924 wurde Carl Meyer auf Betreiben des<br />

„Lieber Erwin! Damit Du siehst, womit ich<br />

fahre, sende Dir diese Karte. Dein Onkel Carl“<br />

(Dr. Erwin H. Voss, Buenos Aires)<br />

Was hat das „La Vie“ mit Buenos Aires zu tun?<br />

Fabrikanten Fritz Frömbling sen. aus dem<br />

<strong>Osnabrücker</strong> Turnverein (dem Vorläufer<br />

des heutigen OSC) herausgedrängt, weil er<br />

Jude war. Carl Meyer hatte maßgeblichen<br />

Anteil daran, dass unmittelbar danach ein<br />

Jüdischer Sportverein gegründet wurde.<br />

Wegen seiner Verdienste um den Verein<br />

wurde er zum Ehrenvorsitzenden ernannt.<br />

Als langjährigem Gaujugendvorsitzenden<br />

für den Bezirk Osnabrück wurde<br />

ihm sogar vom Westdeutschen<br />

Spielverband die goldene Ehrennadel<br />

überreicht und das, obwohl<br />

„er hier unter starken<br />

antisemitischen Anfeindungen<br />

zu leiden hatte“, wie das „Israelitische<br />

Familienblatt“ im Juni<br />

1932 berichtete. Nach der Machtübergabe<br />

an Hitlers NSDAP<br />

bekamen auch die Kinder der<br />

Familie Meyer, die zu dieser Zeit<br />

noch in einer städtischen Wohnung<br />

in der Artilleriestraße<br />

wohnte, hautnah zu spüren, was<br />

es bedeutete, Jude zu sein. Sie<br />

mussten die evangelische Schule<br />

Carl Meyer und seine Frau Carla<br />

in Eversburg verlassen und besuchten fortan<br />

die jüdische Schule neben der Synagoge<br />

an der Rolandsmauer. Helga und Inge<br />

Meyer kamen nicht mehr zum Spielen auf<br />

die Straße. Die Familie Meyer musste auch<br />

die städtische Wohnung in der Artilleriestraße<br />

räumen und zog in die Krahnstraße<br />

1/2. Das Haus gehörte damals Otto David,<br />

der ebenfalls Jude war und im Erdgeschoss<br />

das Manufakturwarengeschäft „Samson<br />

David“ führte.<br />

Beim Boykott jüdischer Geschäfte im<br />

April 1933 standen<br />

SA-Posten vor dem<br />

Eingang und fotografierten<br />

Kunden, die<br />

den Laden betreten<br />

wollten. Ein Schild<br />

verkündete: „Wer<br />

beim Juden kauft,<br />

wird öffentlich gebrandmarkt.“<br />

Auch<br />

vor dem Eingang<br />

zum Geschäft von<br />

Julius Cantor standen<br />

SA-Posten.<br />

Buchcover © Verlag Hentrich & Hentrich, Berlin / Carl, Clara und Inge Meyer in Basavilbaso/ Carl Meyer und Frau © Raul Reinberg, Israel /<br />

Restaurant (2012) „La Vie“ © Dieter Przygode, Bramsche / Postkarte, Fahrschein © Dr. Erwin H. Voss, Buenos Aires<br />

Von Bramsche<br />

nach Buenos Aires<br />

Die Umstände der Emigration<br />

nach Argentinien sind in dem kürzlich<br />

erschienen Buch „Von Bramsche<br />

nach Buenos Aires“ ebenso<br />

beschrieben wie der weitere<br />

Lebensweg in Argentinien und<br />

das Schicksal von Familienangehörigen,<br />

die sich nicht mehr retten<br />

konnten. Im Jahre 2011 besuchte<br />

der Autor den Neffen von Carl<br />

Meyer, Dr. Erwin Voss, in Argentinien.<br />

Die dabei gewonnenen<br />

Eindrücke finden als eine Art<br />

Reisetagebuch in dem Buch ihren<br />

Niederschlag.<br />

Im Dezember letzten Jahres war<br />

der inzwischen 86-jährige Dr. Voss<br />

zusammen mit seiner Frau Hebe<br />

bei der emotionalen Buchpräsenttion<br />

im Tuchmachermuseum<br />

seiner Heimatstadt Bramsche<br />

dabei. Bei einem Rundgang durch<br />

Osnabrück stand er auch vor dem<br />

„La Vie“. Leider fehlte die Zeit, um<br />

einen Blick in das Gebäude zu<br />

werfen, in dem sein Onkel Carl vor<br />

fast 80 Jahren gelebt hatte.<br />

Das Buch „Von Bramsche nach<br />

Buenos Aires – Auf den Spuren<br />

der jüdischen Familie Voss“ ist im<br />

Verlag Hentrich & Hentrich<br />

erschienen und für 19,90 EUR im<br />

Buchhandel erhältlich.<br />

Wo<br />

fanden<br />

jüdische Familien<br />

eine neue Heimat?<br />

Julius Cantor, der als gebrochener Mann<br />

aus der sogenannten Schutzhaft zurückkehrte,<br />

sah für sich und seine Familie keine<br />

Zukunft mehr in seiner Heimatstadt. Er<br />

verkaufte sein Geschäft und wanderte<br />

1935 nach Palästina aus. Ein Jahr später<br />

entschied sich auch die Familie Meyer, ihr<br />

Heimatland zu verlassen. Die Wahl fiel<br />

auf Argentinien, das bereit war, jüdische<br />

Flüchtlinge aufzunehmen – außerdem<br />

wurde Buenos Aires als Stadt mit europäischen<br />

Flair in den jüdischen Gazetten<br />

gepriesen. Carl Meyer reiste im Dezember<br />

1936 allein nach Argentinien. Frau und<br />

Kinder fuhren zusammen mit der Familie<br />

seiner Schwester Ida im September 1937<br />

mit dem Schiff von Hamburg nach Buenos<br />

Aires. In einer jüdischen Kolonie in Basavilbaso<br />

über 300 km nördlich von Buenos<br />

Aires lebten die Familien Meyer und Voss<br />

zunächst mehrere Jahre von der Landwirtschaft,<br />

was äußerst beschwerlich war. Mitte<br />

der 1940er Jahre siedelten sie sich in Buenos<br />

Aires an. Carl Meyer starb am 23. Mai<br />

1956 und wurde auf dem jüdischen Friedhof<br />

La Tablada bestattet. Seine Töchter<br />

heirateten und zogen später in den neu<br />

entstandenen Staat Israel. Ebenso seine<br />

Witwe. | DP<br />

Restaurant "La Vie"<br />

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