Semesteraufgabe Politikaufmacher
MM9 Geraldine Simdorn
MM9 Geraldine Simdorn
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DIE<br />
Friedrichstadt<br />
BERLIN, SOMMER 2016<br />
Ein Studienprojekt der AMD Akademie Mode & Design<br />
WWW.AMDNET.DE<br />
Foto: Manfred Brueckels<br />
Eingang zur Südlichen Friedrichstadt: Mehringplatz 2006 vor der Umgestaltung<br />
EIN QUARTIER<br />
IM<br />
WANDEL<br />
Soziale, kulturelle und urbane Vielfalt.<br />
Das alles macht das Großstadtleben aus.<br />
Ganz besonders ausgeprägt ist die<br />
Diversität allerdings in der südlichen<br />
Friedrichstadt. Soziale Welten stoßen<br />
dort aufeinander, wo die City-Ost in<br />
direkter Nachbarschaft zum multikulturellen<br />
Kiez um den Mehringplatz<br />
liegt. Aber was liegt dazwischen? Das<br />
Jüdische Museum, die Berlinische<br />
Galerie, der Checkpoint Charlie und<br />
viele Zeitungs- und Verlagsunternehmen.<br />
Alle diese Orte tragen zur Entwicklung<br />
in ein neues Kreativzentrum<br />
Berlins bei. Zahlreiche gesellschaftliche<br />
Aktivitäten und Veränderungen, mit<br />
denen sich unserer Redaktion beschäftigt<br />
hat, tragen dazu bei, dass die<br />
südliche Friedrichstadt neubelebt wird.<br />
In Reportagen, Interviews und Berichten,<br />
zeigt unsere Zeitung die Stärken und<br />
Chancen des Quartiers und dokumentiert<br />
die derzeitigen Veränderungen.<br />
Janina Oehlbrecht
POLITIK<br />
Die Friedrichstadt SOMMER 2016<br />
3<br />
Glosse<br />
PETER MUSS<br />
PUTZEN<br />
SCHATTENSEITE Die zwei Gesichter der Friedrichstraße S. 4<br />
HALTUNG Das denken die Bewohner der südlichen Friedrichstadt über Politik S.6<br />
VORBILD Das Haus der Statistik bekommt eine zweite Chance S.10<br />
Vollständige Meinungsumfrage auf S. 6 – 9<br />
Wenn ich morgen<br />
Bundeskanzlerin wäre,<br />
würde ich ...<br />
... die Situation<br />
der Flüchtlinge<br />
versuchen zu<br />
verbessern.<br />
... die<br />
Bausituation der<br />
Stadt verändern.<br />
... das<br />
bedingungslose<br />
Grundeinkommen<br />
einführen.<br />
Illustration: ?????<br />
Die Schweiz hat sich entschieden.<br />
77 Prozent haben dort Anfang Juni<br />
gegen das Bedingungslose Grundeinkommen<br />
gestimmt. Finnland hingegen<br />
will es ab 2017 testen. Bis zu<br />
10.000 Einwohner sollen dort zwei<br />
Jahre lang jeden Monat einen<br />
existenzsichernden Betrag bekommen.<br />
Ohne Gegenleistung.<br />
Fragt man die Menschen in der<br />
Südlichen Friedrichstadt, dann<br />
sprechen sich 27 von 34 Bewohnern<br />
für das Grundeinkommen aus.<br />
Schließen wir also für einen Moment<br />
die Augen. Rund 1.000 Euro im<br />
Monat für jeden. Ohne Rechtfertigung.<br />
Ein Traum. Oder etwa nicht?<br />
Deutschland steckt derzeit Millionen<br />
in das von Gerhard Schröder ins<br />
Leben gerufene Hartz IV. Keine<br />
Arbeit? Dein Problem. In Deutschland<br />
gibt es viele Jobs und wer will, der<br />
findet auch einen. So oder so ähnlich<br />
denken jedenfalls viele. Die Realität<br />
sieht oft anders aus. Nehmen wir<br />
Peter. Er ist arbeitslos, geht zum<br />
Jobcenter. Peter bekommt eine Stelle<br />
als Reinigungsfachkraft bei einem<br />
Elektronikkonzern angeboten. Er<br />
nimmt den Arbeitsplatz an. Qualifikationen<br />
hin oder her. Eigentlich ist<br />
Peter ausgebildeter Fliesenleger.<br />
Aber er will Arbeit, nun hat er sie.<br />
Davon leben kann er nicht. Also muss<br />
er weiterhin aufs Amt. Viel mehr als<br />
ein HartzIV-Empfänger hat er am<br />
Ende des Monats nicht.<br />
Es ist nur ein Beispiel für die Auswirkungen<br />
der Agenda 2010 auf unsere<br />
Gesellschaft. Arbeitslose und Arbeitnehmer<br />
liefern sich erbittertere<br />
Diskussionen über Steuergelder.<br />
Beide werden durch das System<br />
gegeneinander aufgebracht.<br />
1.000 Euro monatlich für jeden.<br />
Würde Peter dann noch den Besen in<br />
die Hand nehmen? Vermutlich nicht.<br />
Wäre das schlimm? Vielleicht würde<br />
er seine Energie stattdessen in soziale<br />
und ehrenamtliche Projekte stecken,<br />
und so seinen Teil zur Gesellschaft<br />
beitragen. Im besten Fall fände er<br />
durch diese neuen Kontakte irgendwann<br />
wieder Arbeit in seinem<br />
eigentlichen Beruf. Und auch Angst<br />
vor der Altersarmut müsste mit<br />
Grundeinkommen keiner mehr haben.<br />
Omi könnte ihren Lebensabend<br />
genießen, und Peter entspannt in die<br />
Zukunft blicken.<br />
Merit Geier, Geraldine Simdorn
4 POLITIK<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 POLITIK 5<br />
Auf der<br />
anderen<br />
Seite<br />
Eine der berühmtesten<br />
Shoppingmeilen Berlins<br />
mündet in einen verlassen<br />
Kiez. Ein Streifzug durch<br />
den verborgenen Teil der<br />
Friedrichstraße<br />
Die beliebte Shoppingmeile an der Kreuzung zum Checkpoint Charlie<br />
TEXT Mirta Sander,<br />
Geena Birkenmeier<br />
FOTOS Geena Birkenmeier<br />
Anwohner der Friedrichstraße<br />
Auf dem Mehringplatz<br />
Leergefegte Gebäude, Spätis<br />
und bröckelnde Fassaden –<br />
was sich wie ein abgehängter<br />
Bezirk im Berliner Osten anhört,<br />
findet man tatsächlich<br />
auf einer der beliebtesten Shoppingmeilen<br />
der Hauptstadt: der gut drei Kilometer<br />
langen Friedrichstraße.<br />
Nach der Wende entstand zwischen<br />
Checkpoint Charlie und Bahnhof Friedrichstraße<br />
eine Einkaufsmeile mit Luxus-Quartieren,<br />
darunter der Berliner Ableger<br />
des bekannten Pariser Kaufhauses<br />
Galeries Lafayette. In den Schaufenstern<br />
liegen aktuelle Kollektionen von Hermès,<br />
Prada und Gucci. Auf der Straße reihen<br />
sich Modeketten wie H&M, Zara oder<br />
Gina Trikot aneinander, und verführen die<br />
Touristen, das Portemonnaie aus der Tasche<br />
zu ziehen.<br />
Abseits des Touristenrummels<br />
Was den meisten Touristen aber verborgen<br />
bleibt, ist der untere Teil der Friedrichstraße.<br />
Geht man vom Checkpoint<br />
Charlie an der Kochstraße in Richtung der<br />
U-Bahn-Station Hallesches Tor, scheint<br />
nach nur zehn Metern die Zeit stehen geblieben<br />
zu sein.<br />
Vereinzelt lassen sich zwar schicke Restaurants<br />
und neu renovierte Kaffees im<br />
Mitte-Stil entdecken, bald schon aber dominieren<br />
graue Betonbauten, Spielotheken<br />
und Billig-Friseure das Straßenbild.<br />
Bis zur Wende verlief genau beim<br />
ehemaligen Grenzkontrollpunkt Checkpoint-Charlie<br />
die Berliner Mauer, die die<br />
Stadt in den sozialistischen Osten und<br />
den kapitalistischen Westen teilte. Nach<br />
dem Mauerfall wurde der ehemals östliche<br />
Teil der Friedrichstraße Richtung Unter<br />
den Linden rundum erneuert. Der<br />
untere Teil zwischen Checkpoint Charlie<br />
und Mehringplatz – der damals im Westen<br />
lag – wurde dagegen komplett vernachlässigt.<br />
Dieser gravierende Unterschied<br />
wird mit jedem weiteren Schritt<br />
sichtbarer.<br />
Mit dem Menschengewimmel der<br />
oberen Friedrichstraße im Rücken, scheint<br />
die Straße tot zu sein. Vereinzelt laufen<br />
zwar Menschen, die mehr nach Anwohner,<br />
als nach Touristen aussehen, an Lotto-Toto-Läden,<br />
Ein-Euro-Shops und Kneipen<br />
vorbei – mehr passiert hier aber nicht.<br />
Anstelle von Markengiganten wie<br />
H&M und Zara, scheint hier einzig und<br />
allein der Billig-Discounter KIK mithalten<br />
zu können. Nur zwei Häuser weiter hat die<br />
Straßenzeitung MOTZ einen Laden. Gegenüber<br />
der Baustelle, auf der das neue<br />
Haus der taz entsteht, betreibt sie einen<br />
Second-Hand- und GebrauchtwarenShop.<br />
Eingestaubte Bücher stapeln sich hier neben<br />
antikem Geschirr und Vintage-Mänteln<br />
auf runden Kleiderstangen.<br />
Die Stadt hat es sich zur Aufgabe gemacht,<br />
die gesamte Friedrichstraße zu<br />
modernisieren und die soziale Diskrepanz<br />
zwischen dem oberen und dem unteren<br />
Ende aufzuheben. MOTZ-Mitarbeiter Thomas<br />
Dringer scheint das allerdings gleichgültig<br />
zu sein. „Was für neue Bauten hierher<br />
kommen sollen, interessiert mich<br />
nicht. In erster Linie geht es mir darum,<br />
dass unsere Obdachlosen überhaupt ein<br />
Dach über dem Kopf haben. Modernisierung<br />
und der ganze Dreck – solche Luxusprobleme<br />
sind zweitrangig.“<br />
Momentan ist<br />
hier alles tot.<br />
Sogar am<br />
„ Wochenende<br />
Verlässt man den Trödel-Shop, folgen<br />
weitere lieblose kleine Geschäfte und<br />
leerstehende Galerien, die wie wahllos<br />
zusammengewürfelt nebeneinander stehen.<br />
Jugendliche laufen in Trainingsanzügen<br />
herum, einige muslimische Familien<br />
sitzen auf einem kleinen Spielplatz. Zwischen<br />
dem Wohnhaus, an dessen Stelle zu<br />
NS-Zeiten das Konzentrationslager „Gutschow-Keller“<br />
stand und einer Reihe von<br />
Fast-Food-Imbissen spielen ihre Kinder im<br />
Sand. Ein beklemmendes Gefühl hier<br />
durchzulaufen. Plötzlich drängt sich der<br />
Eindruck auf, dass die Anwohner wie Ausgestoßene<br />
auf den unteren Teil der Friedrichstraße<br />
verbannt worden sind.<br />
Onurs Lotto-Toto<br />
Trotzdem wirkt es so, als fühlten sich die<br />
Menschen hier zu Hause. Über Kreuzungen<br />
und Querstraßen begrüßen sich lauthals<br />
junge Leute, die mit lauter Musik und<br />
Hupen an kleinen Menschengrüppchen<br />
vorbeifahren. Anscheinend haben sie gelernt,<br />
das Beste aus ihrer sozialen Misslage<br />
zu machen und sich damit abgefunden.<br />
Der 28-jährige Onur wohnt bereits<br />
sein Leben lang in Berlin. Ihm gehört einer<br />
der Lotto-Toto-Läden in der Friedrichstra-<br />
Fastfood aller Länder im ruhigen Teil der Friedrichstraße<br />
Grafitti-Kunst an Häuserwänden<br />
ße, den er seit 12 Jahren führt. Er blickt<br />
der Tatsache nüchtern ins Auge, dass er<br />
im vernachlässigten Teil der Straße wohnt.<br />
Trotzdem wünscht er sich mehr Kundschaft<br />
und findet, dass es Zeit für Veränderung<br />
ist. „ Ich bekomme hier natürlich<br />
noch ein paar Touristen als Kunden ab,<br />
aber auf der anderes Seite des Checkpoint<br />
Charlie würde es besser laufen. Ich<br />
finde es richtig, dass die Gegend modernisiert<br />
wird. Momentan ist hier alles tot.<br />
Sogar am Wochenende.“<br />
Nach Veränderung scheint jedoch dieser<br />
Teil der Friedrichstraße nicht zu schreien.<br />
Vor den Imbiss-Buden spürt man<br />
schnell den für Berlin so typischen sympathischen<br />
Kiez-Flair. Altbauhäuser mit besprühten<br />
Türen, Menschen die mit einem<br />
Feierabendbier den warmen Frühlingsabend<br />
auf Bänken genießen. Wir sind<br />
spürbar in Kreuzberg angekommen: Supermärkte<br />
und Drogerien stehen neben<br />
kleinen Cafés und türkischen Restaurants.<br />
Aufwändige Graffiti-Kunst zieht die Blicke<br />
auf sich und vor einem Jugendzentrum<br />
hängen die Kids ab.<br />
Je weiter entfernt von der belebten<br />
Kochstraße, desto bedürftiger und ärmlicher<br />
wird zwar der Brennpunkt, dennoch<br />
sorgt der authentische Kiez-Charakter für<br />
eine vertraute Atmosphäre – fernab des<br />
Konsums und der Kommerzialisierung.<br />
Am Ende der Straße ist der U-Bahn<br />
Eingang zum Halleschen Tor und kurz dahinter,<br />
umzäunt von einem riesigen Bauzaun,<br />
der Mehringplatz. Inmitten von<br />
Schutt und Betonabfällen steht die Viktoria-Statue.<br />
Wie ein stolzer Engel wacht sie<br />
über den missachteten Teil der Friedrichstraße<br />
und lässt ihn, trotz seiner Kahlheit<br />
und Einfachheit, in einem ganz besonderen<br />
Licht erstrahlen.
6 POLITIK<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt<br />
POLITIK<br />
Die Friedrichstadt SOMMER 2016 7<br />
HIER LEBEN?<br />
JA BITTE!<br />
Wir haben 34 Bewohner der Südlichen Friedrichstadt nach ihrem Glauben,<br />
sozialem Engagment und Ängsten gefragt. Ein politisches Stimmungsbild<br />
JA<br />
40%<br />
NEIN<br />
60%<br />
UMFRAGE Merit Geier, Julia Gleß, Geraldine Simdorn<br />
NEIN<br />
12<br />
%<br />
JA<br />
88%<br />
Wohnst du<br />
gerne in der<br />
südlichen<br />
Friedrichstadt?<br />
Findest<br />
du es gut,<br />
dass im<br />
Viertel so<br />
viel gebaut<br />
wird?<br />
Welche Medien<br />
benutzt du für<br />
politische<br />
Informationen?<br />
100<br />
%<br />
JA<br />
20<br />
%<br />
NEIN<br />
80<br />
%<br />
Bist du<br />
sozial<br />
engagiert?<br />
INTERNET<br />
FERNSEHN<br />
82<br />
%<br />
RADIO<br />
44<br />
%
8 POLITIK<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 POLITIK 9<br />
JA<br />
6%<br />
Bist du politisch aktiv?<br />
Bist du mit dem<br />
amtierenden Bürgermeister<br />
Michael Müller zufrieden?<br />
NEIN 94%<br />
JA<br />
26%<br />
NEIN<br />
50%<br />
WEISS<br />
NICHT<br />
24%<br />
NEIN<br />
26 %<br />
JA<br />
74 %<br />
Fühlst du dich<br />
von Flüchtlingen<br />
bedroht?<br />
100 % Nein<br />
Hast du Angst vor<br />
steigenden Mieten?
10 POLITIK<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 POLITIK 11<br />
Das Haus der Statistik am Alexanderplatz<br />
Alle unter einem Dach<br />
Das Haus der Statistik am Alexanderplatz steht seit acht Jahren leer. Nun könnte hier<br />
ein deutschlandweites Vorzeigeprojekt entstehen. Ziel ist es, einen gemeinsamen Ort<br />
für Geflüchtete, Studenten und Künstler zu schaffen<br />
TEXT Marie-Luise Kramer<br />
Verlässt man das Gebiet der<br />
Südlichen Friedrichstadt<br />
Richtung Nord-Osten, stößt<br />
man auf den weitläufigen,<br />
eher kühlen Alexanderplatz<br />
am Fernsehturm in Berlin-Mitte. Das Haus<br />
der Statistik, ein massiver 11-stöckiger<br />
Plattenbau, ist hier nicht zu übersehen.<br />
Seit 2008 steht das Gebäude leer und ist<br />
heruntergekommen, es gleicht einer Ruine.<br />
Ein Geruch von Fäulnis und das Gefühl<br />
von Verlassenheit machen sich in dem<br />
Komplex breit. Für Besucher ist das Gelände<br />
gesperrt. Es besteht wegen maroder<br />
Böden und Treppen Lebensgefahr.<br />
Ursprünglich wurde das Haus 1968 zur<br />
Wiederherstellung der Stadtstruktur nach<br />
sozialistischen Vorstellungen gebaut. Zunächst<br />
wurde das Gebäude von der staatlichen<br />
Zentralverwaltung für Statistik der<br />
DDR genutzt, nach der Wende waren hier<br />
die Berliner Außenstelle des Statistischen<br />
Bundesamts und der Berliner Dienstsitz<br />
der Bundesbeauftragten für Stasi-Unterlagen.<br />
Beide Behörden zogen bis 2008 aus.<br />
Auch wenn das Haus der Statistik nicht im<br />
Stadtgebiet der Südlichen Friedrichstadt<br />
liegt, ist das Gebäude in der Otto-Braun-Straße<br />
gerade jetzt, wo immer<br />
mehr Menschen aus außereuropäischen<br />
Nationen einwandern, ein Thema für ganz<br />
Berlin. Derzeit leben rund 3,5 Millionen<br />
Menschen in der Hauptstadt. Berlin<br />
wächst laut Stadtentwicklungssenator<br />
Andreas Geisel (SPD) jährlich um 8.000<br />
Einwohner. Hinzu kommen Geflüchtete,<br />
Foto: www.hausderstatistik.org<br />
deren Zahl schwer vorhersehbar ist.<br />
Menschen aus über 189 verschiedenen<br />
Nationen leben derzeit in Berlin. Das<br />
Problem: Der Wohnraum ist begrenzt, die<br />
vorhandenen Wohngebiete sind teils veraltet<br />
und renovierungsbedürftig. So besteht<br />
vor allem im Zentrum der Stadt<br />
Bedarf, neuen Wohnraum und Begegnungsplätze<br />
für verschiedene soziale<br />
Schichten und Kulturen zu schaffen.<br />
Das Haus der Statistik könnte den nötigen<br />
Raum für eine kreative Gestaltung<br />
bieten, den umliegende Gebaüde und<br />
Baufelder nicht leisten können, weil sie<br />
Privateigentum oder vermietet sind. Die<br />
Option eines kompletten Abrisses, um ein<br />
hochpreisiges Wohn- und Geschäftsviertel<br />
zu erbauen, wurde vor einiger Zeit bereits<br />
verworfen.<br />
Die Initiative Haus der Statistik hat sich<br />
gegründet, um einen öffentlichen Meinungsaustausch<br />
darüber zu ermöglichen,<br />
wie das Haus zu einem integrativen, kreativen<br />
und lebendigen Ort werden kann. In<br />
der Bauhütte am ehemaligen Blumengroßmarkt,<br />
wo ein Kunst- und Kreativquartier<br />
für die Südlichen Friedrichstadt<br />
entsteht, treffen sich die Beteiligten regelmäßig,<br />
um sich über die Zukunft des Hauses<br />
auszutauschen. Ihr Ziel ist es, diesen<br />
schwierigen innerstädtischen Stadtraum<br />
neu zu beleben und eine „Win-Win“-Situation<br />
zu schaffen. Geflüchtete, Künstler,<br />
Initiativen und Anwohner sollen gleichermaßen<br />
davon profitieren. Da das ehemalige<br />
Haus der Statistik ein Stahlbeton-Skelett<br />
ist, kann es sehr kostengünstig<br />
zum Wohnen umgebaut werden. Die Mieten<br />
wären wegen des geringen Kostenaufwands<br />
entsprechend niedrig.<br />
2015 veröffentlichte der Soziologe<br />
Walter Siebel ein umfangreiches Buch mit<br />
dem Titel „Die Kultur der Stadt“. Die Ziele,<br />
die das Projekt am Alexanderplatz anstrebt,<br />
werden hier verdeutlicht. Im Kern<br />
geht es darum, Fremde aus der Isolation<br />
zu befreien und die Kommunikation zwischen<br />
Einwanderern und Einheimischen<br />
zu erleichtern.<br />
Idealer Arbeitsort<br />
Aktuell feilen mehrere Initiativen weiter an<br />
Konzept und Umsetzung, darunter die<br />
„Open Berlin e.V, Stiftung Zukunft Berlin“<br />
und das „Zentrum für Kunst und Urbanistik“.<br />
Für den Erdgeschossbereich ist ein<br />
öffentlich zugänglicher, kreativer Begegnungsort<br />
geplant. Das Gebäude soll integrativ<br />
und innovativ genutzt werden: Geflüchtete,<br />
Senioren, soziale Initiativen,<br />
Künstler und Studenten, sollen hier gemeinsam<br />
wohnen und arbeiten können,<br />
außerdem sollen sie durch verschiedene<br />
Veranstaltungen zusammenfinden.<br />
Rocco Zühlke ist Mitglied der Initiative<br />
Open Berlin e.V. Auch er ist häufig in der<br />
Bauhütte auf dem ehemaligen Blumengroßmarkt<br />
in der Südlichen Friedrichstadt<br />
anzutreffen. Zühlke ist überzeugt, dass das<br />
Statistik: Marie-Luise Kramer; Quelle: XXXX<br />
Wenn alles nach<br />
Plan läuft, ziehen<br />
Mitte 2017 die<br />
„ ersten Mieter ein<br />
Haus der Statistik auch Impulse für eine<br />
neue soziale und kulturelle Vielfalt im Umfeld<br />
des Alexanderplatzes geben kann. Er<br />
sieht ihr Projekt als eine echte Möglichkeit,<br />
um Geflüchtete nicht auszugrenzen,<br />
sondern einzubinden. „Und auch für die<br />
rund 120.000 in Prenzlauer Berg, Mitte<br />
und Kreuzberg lebenden Künstler und<br />
Kreative wäre der Alexanderplatz ein idealer<br />
Arbeitsort“, sagt der Architekt.<br />
Um das Projekt auf der Nutzfläche von<br />
rund 40.000 qm zu realisieren, bedarf es<br />
eines Investors. Die geschätzte Bauzeit für<br />
die Ateliers beträgt ein Jahr, die der Wohnungen<br />
zwei Jahre. Das planmäßig vielfach<br />
genutzte Gebäude soll außerdem in<br />
das Viertel eingebunden werden. Durch<br />
die Integration von Freibereichen in die<br />
bereits bestehende Grünflächen wird der<br />
Gebäudekomplex in die Nachbarschaft<br />
eingpasst, die dadurch aufgewertet werden<br />
soll.<br />
In den kommenden Monaten sollen<br />
der Kauf und die Übergabe an einen gemeinnützigen<br />
Verwalter stattfinden. Anschließend<br />
werden die weiteren Baumaßnahmen<br />
besprochen. Ab Mitte 2017 ist<br />
der Einzug der Mieter vorgesehen. Dank<br />
der Zusammenarbeit verschiedener Initiativen,<br />
Stiftungen und Verbände aus Kultur,<br />
Sozialem und Wissenschaft kann der Zukunft<br />
des Projekts optimistisch entgegen<br />
gesehen werden. Sowohl der Bezirksbürgermeister<br />
und der Stadtrat von Mitte, als<br />
auch Mitglieder der Bezirksverordnetenversammlung<br />
und des Berliner Abgeordnetenhauses<br />
leisten Unterstützung. Die<br />
Chancen zur Verwirklichung stehen gut.<br />
Wenn die Pläne umgesetzt werden,<br />
könnte das Haus der Statistik am Alexanderplatz<br />
nicht nur als Vorbild für die Integration<br />
verschiedener Nationen in der<br />
Südlichen Friedrichstadt dienen, sondern<br />
sogar zu einem deutschlandweiten Vorzeigeprojekt<br />
werden, wie Kultur, Bildung und<br />
soziales Miteinander unter einem Dach<br />
vereinbar sind sind.<br />
INFO<br />
Baukosten:<br />
Wohnen: 800-1.200€/qm<br />
Ateliers/ Büros: 400-500€/qm<br />
Voraussetzung: Bereitstellung durch Entwicklungsträger<br />
Bauzeit: Ateliers 1 Jahr/ Wohnen 2 Jahre
KULTUR Die<br />
Friedrichstadt SOMMER 2016<br />
13<br />
ZWEI ZU EINS Die Taz wagt einen Neubeginn an der Friedrichstraße S. 16<br />
KUNST TO GO Im Jüdischen Museum steht ein besonderer Automat S. 18<br />
BILDWECHSEL Kunstwerke kann man so einfach wie Bücher ausleihen S. 20<br />
FILM AB In der Berlinischen Galerie trifft Vorstellung auf Realität S. 22<br />
Kolumne<br />
TECHNO<br />
GESUCHT, JAZZ<br />
GEFUNDEN<br />
Als Bezirksneuling suche ich nach<br />
einem Ausgehort in der Südlichen<br />
Friedrichstadt. Wie wäre es mit dem<br />
Club in der Charlottenstraße, in dem<br />
die Protagonistin des Films Victoria<br />
einen Berliner kennenlernt, mit dem<br />
sie noch in der gleichen Nacht eine<br />
Bank ausraubt? Später wird der<br />
dunkle Technokeller noch einmal zum<br />
Schauplatz von Sebastian Schippers<br />
Film, der in nur einer Einstellung und<br />
ohne Schnitte gedreht wurde. Victoria<br />
und ihr neuer Freund Sonne tanzen<br />
ausgelassen zu den dumpfen Bässen.<br />
Dort möchte ich hin.<br />
In der Charlottenstraße angekommen,<br />
suche ich vergeblich nach dem<br />
Club. Im Film sind die Bässe schon<br />
auf der Straße zu hören. Stattdessen<br />
stehe ich vor einem Bunker, in dem<br />
die angrenzende Bar ihre Getränke<br />
lagert. Die scheint jedoch interessant<br />
zu sein.<br />
Le Labo heißt sie. Tagsüber ist sie ein<br />
Café, am Abend verwandelt sie sich<br />
in eine gemütliche Bar. Dunkle<br />
Holzmöbel, braune Ledersofas und<br />
ein alter Flügel versetzen die Besucher<br />
zurück in die zwanziger Jahre.<br />
Aushängeschild sind die Molekular<br />
Cocktails, deren Konsistenz und<br />
Textur strukturell verändert wurde,<br />
durch flüssigen Stickstoff zum<br />
Beispiel. Die Drinks, aus denen<br />
weißer Rauch strömt, werden damit<br />
zu wahren Kunstwerken. Wer dem<br />
Alltag komplett entfliehen will, findet<br />
hier zwar keine Tanzfläche vor, er kann<br />
sich aber eine der vielen verschiedenen<br />
kubanischen Zigarren gönnen,<br />
deren rauchig-süßer Geruch in den<br />
antiken Möbeln der abgesonderten<br />
Cigar Lounge hängt.<br />
Mein nächtlicher Streifzug begann mit<br />
einer Enttäuschung und endet mit<br />
einer angenehmen Überraschung.<br />
Den erhofften Technokeller habe ich<br />
zwar nicht gefunden, stattdessen sitze<br />
ich mit einem dampfenden Getränk,<br />
das wie aus einem Chemielabor<br />
entsprungen aussieht, auf einem<br />
gemütlichen Ledersofa und lausche<br />
den Jazzklängen der Liveband.<br />
Janina Oehlbrecht
14 KULTUR SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 KULTUR 15<br />
Die neue taz wird nur einen Katzensprung vom Rudi-Dutschke-Haus entfernt sein<br />
TAZ MACHT PLATZ<br />
Die taz baut ein neues Haus und zieht 2017 in die Südliche Friedrichstadt.<br />
Geschäftsführer der Tageszeitung Karl-Heinz Ruch erklärt die Vor- und Nachteile der<br />
neuen Umgebung und zeigt außerdem, was der neue Standort in Zukunft bedeutet<br />
TEXT Jessica März<br />
Schon immer war die tageszeitung<br />
ein Projekt, das sich stetig<br />
weiterentwickelt hat und nie<br />
wirklich still stand. Als erste<br />
Überregionale stellte sie vor 20<br />
Jahren ihre Zeitung ins Netz, heute steht<br />
hinter taz.de eine professionelle Online-Redaktion.<br />
Nun wagt die taz den<br />
nächsten großen und wichtigen Schritt:<br />
Sie baut ein neues Redaktionsgebäude<br />
und will damit für eine Verbesserung der<br />
Arbeitsabläufe sorgen.<br />
Derzeit wird die taz noch an zwei<br />
Standorten produziert, was auf Dauer vieles<br />
erschwert. In der heutigen Rudi-Dutschke-Straße<br />
arbeiten Verlag und<br />
Redaktion der taz bislang auf unterschiedliche<br />
Häuser verteilt in der Mitte der Stadt:<br />
In einem historischen, denkmalgeschützten<br />
Gewerbebau aus dem frühen 20. Jahrhundert,<br />
mit weit tragenden, offenen Geschossen,<br />
ungewöhnlicher Höhe und<br />
einer von Säulen und Skulpturen geschmückten<br />
Fassade. Und in einem Neubau<br />
von 1991, direkt daran angelehnt, der<br />
mit seiner filigranen Stahlver- bundweise<br />
und seinen transparenten Glasflächen Einblicke<br />
in die Arbeit der taz und Ausblicke<br />
auf die inzwischen belebte Straße ermöglicht.<br />
Ein Teil der Mitarbeiter sitzt momentan<br />
allerdings noch in einem Mietshaus,<br />
schräg gegenüber des Rudi-Dutschke-<br />
Gebäudes, auf der anderen Straßenseite.<br />
Grundsätzlich digital<br />
„Die taz ist durch die Digitalisierung der<br />
Medien ohnehin in einem Transformationsprozess“,<br />
sagt Karl-Heinz Ruch, Geschäftsführer<br />
der taz. Das neue Haus soll<br />
endlich genug Platz für alle bieten, um<br />
stärker zusammenzurücken und noch effektiver<br />
zu arbeiten. Alle MitarbeiterInnen<br />
der taz werden gemeinsam die großen<br />
Räume nutzen und sich so besser für das<br />
Foto: E2A Piet Eckert und Wim Eckert Architekten ETH BSA SIA AG 8005 Zürich<br />
digitale Zeitalter organisieren können.<br />
Auch ein Newsroom für die Journalisten<br />
ist geplant. Ein Verkauf der beiden<br />
taz-Häuser in der Rudi-Dutschke-Straße ist<br />
nicht beabsichtigt. Für die Genossenschaft<br />
sind sie eine gute und sichere Kapitalanlage<br />
in attraktiver Lage – und werden<br />
künftig vermietet.<br />
Der Onlinebereich der taz soll sich<br />
durch den Hausbau allerdings nicht noch<br />
weiter vergrößern. „Eine separate Onlineredaktion<br />
ist nur ein Übergangsstadium. In<br />
Zukunft wird der Journalismus grundsätzlich<br />
digital sein und Online nur einer neben<br />
vielen Publikationswegen“, erläutert<br />
Ruch. Der 62-Jährige ist Mitbegründer der<br />
taz und seit 37 Jahren ihr Geschäftsführer.<br />
Über die südliche Friedrichstadt sagt er:<br />
„Fast zu spät haben wir bemerkt, dass dieses<br />
neue Quartier auch für uns Entwicklungsmöglichkeiten<br />
bietet: Ein neues Haus<br />
für die taz mit einem interessanten Umfeld,<br />
in dem wieder alle tazlerinnen und<br />
tazler unter einem Dach arbeiten können.<br />
Angenehme, lichte, offene Räume werden<br />
hier entstehen, die unser wichtigstes Kapital<br />
beherbergen werden: die Kreativität<br />
und Kompetenz engagierter Mitarbeiter.“<br />
Der neue Standort liegt am unteren<br />
Ende der Friedrichstraße, nur einen Katzensprung<br />
vom aktuellen Rudi-Dutschke-Haus<br />
entfernt, nahe dem 1965 erbauten<br />
Blumengroßmarkt. Heute ist dort die<br />
Akademie des Jüdischen Museums, rundum<br />
wird gebaut.<br />
Hoffnung keimt auf<br />
Kaum ein Ort in der Hauptstadt kann so<br />
viel über Brüche und Veränderungen erzählen<br />
wie die Südliche Friedrichstadt.<br />
„Es keimt Hoffnung auf für diese schwer<br />
geplagte Gegend. Die taz hat lange in die<br />
andere Richtung, in die Berliner Mitte geschaut<br />
und zunächst gar nicht erkannt,<br />
welche Chancen sich hier eigentlich bieten“,<br />
sagt Ruch. Berlin erfindet sich immer<br />
wieder neu, besonders in diesem Viertel<br />
wird sich das in den nächsten Jahren konkret<br />
beobachten lassen.<br />
Wer heute durch die Südliche Friedrichstadt<br />
schlendert, sucht noch vergeblich<br />
nach einem Ort, der stellvertretend<br />
für das Quartier zwischen Rudi-Dutschke-Straße<br />
im Norden, dem Mehringplatz<br />
im Süden, der Wilhelmstraße im Westen<br />
und der Alexandrinenstraße im Osten<br />
steht. Anders als die Kreuzberger Gründerzeitquartiere<br />
wurde diese nordwestliche<br />
Ecke Kreuzbergs bei einem Bombenangriff<br />
am 3. Februar 1945 weitgehend<br />
zerstört. Später wurde sie zum Experimentierfeld<br />
für den sozialen Wohnungsbau<br />
und die Internationale Bauausstellung<br />
(IBA) in den 1980er Jahren.<br />
„Lange Zeit hat man die Südliche<br />
Friedrichstadt mit dem Mehringplatz<br />
Wir haben fast zu<br />
spät bemerkt,<br />
dass dieses neue<br />
Quartier auch für<br />
uns Entwicklungsmöglichkeiten<br />
„ bieten kann<br />
gleichgesetzt“, erklärt Stadtsoziologe<br />
Florian Schmidt. „Damit war alles irgendwie<br />
ein sozialer Brennpunkt.“ Für den Bezirk<br />
Friedrichshain-Kreuzberg hat er das<br />
Konzept für ein Kunst- und Kreativquartier<br />
an diesem Standort entwickelt. „Bald wird<br />
das Gebiet sein Gesicht verändern“, verspricht<br />
Schmidt. „Wenn hier bis 2017 die<br />
neuen Gebäude stehen, kommen auch<br />
Cafés, Läden, Gewerbe und neue Bewohner.“<br />
Dann werde der verschlafene kleine<br />
Besselpark die Mitte der Südlichen Friedrichstadt<br />
sein, der Mehringplatz ihr Entree<br />
und die taz ein Teil dieses Kunst- und Kreativquartiers.<br />
Baubeginn war bereits im<br />
Herbst 2015. Der endgültige Umzug soll<br />
bis Ende 2017 abgeschlossen sein.<br />
Bislang ist das Quartier um den<br />
Mehringplatz allerdings noch eine Sackgasse:<br />
kaum Grün, viel sozialer Wohnungsbau.<br />
5.500 Einwohner, verteilt auf<br />
2.500 Haushalte, ballen sich auf 25 Hektar<br />
Fläche. Der Kiez ist jung: 22,4 Prozent sind<br />
unter 18 Jahre alt, stadtweit sind es knapp<br />
15 Prozent. Am Mehringplatz gibt es aber<br />
auch mehr Kinderarmut als überall sonst<br />
in Berlin. 70 Prozent der unter 15-Jährigen<br />
sind Empfänger von Transferleistungen.<br />
Den Eltern, viele von ihnen eingewandert<br />
aus der Türkei oder dem Nahen Osten,<br />
geht es kaum besser: Rund 22 Prozent der<br />
erwerbsfähigen Bewohner sind arbeitslos.<br />
Auch das soll sich durch die Neubebauung<br />
bald ändern.<br />
Karl-Heinz Ruch sieht das als eine<br />
überaus positive Entwicklung: „Das Gesicht<br />
des Quartiers hat sich schon jetzt<br />
sehr verändert. Es gibt hier das Forum Berufsbildung<br />
mit den Cafés in der Charlottenstraße<br />
ebenso wie das Edelrestaurant<br />
Nobelhart & Schmutzig. Das alles wird<br />
durch die Bebauung noch befördert.“<br />
Es mag etwas überraschend klingen, dass<br />
Ruch dies als alteingesessener tazler begrüßt,<br />
für die Südliche Friedrichstadt sieht<br />
er aber nur Vorteile: „Da kommen Leute,<br />
die sind gleichzeitig Investoren und Nutzer.<br />
Das stärkt die Identifizierung mit den<br />
Projekten, aber auch mit der Umgebung.<br />
Es ist gut, wenn sich die homogene Situa-<br />
tion durch die Neubebauungen etwas diversifiziert.“<br />
Neben der taz, die ihr Grundstück in<br />
der Friedrichstraße vom Land Berlin gekauft<br />
hat, auch um den Medienstandort<br />
im alten Zeitungsviertel zu stärken, haben<br />
drei weitere Projekte erst ein Konzept vorlegen<br />
müssen, um den Zuschlag zu erhalten.<br />
Das war neu: Nicht der Bieter mit<br />
dem dicksten Geldbeutel bekam für die<br />
Baufelder rund um den ehemaligen Blumengroßmarkt<br />
den Zuschlag, sondern der<br />
mit der besten Idee für den Ort.<br />
Bleibt die Frage, wie man ein solches<br />
Projekt in Zeiten der Medienkrise finanziell<br />
stemmt. Der gesamte Kostenrahmen für<br />
den Neubau der taz liegt bei knapp 20<br />
Millionen Euro. Mit 2,1 Millionen Euro<br />
schlagen die Grundstückskosten zu Buche,<br />
17,9 Millionen Euro werden für die<br />
Baukosten veranschlagt. „Reibungslos,<br />
ohne Probleme und schneller als erwartet“,<br />
sagt Karl-Heinz Ruch, haben die<br />
taz-Genossinnen und Genossen bereits<br />
den wichtigen Finanzierungsanteil der stillen<br />
Beteiligungen aus der Genossenschaft<br />
mit insgesamt 7 Millionen Euro aufgebracht.<br />
Für Ruch, der mit der taz im Juni 1989<br />
von der Weddinger Wattstraße in die damals<br />
im Mauerschatten liegende Kochstraße<br />
gezogen war, beginnt mit diesem<br />
taz-Neubau nun auch eine neue Geografie.<br />
„Vor dem Fall der Mauer haben wir<br />
immer in den Osten Richtung Oranienstraße<br />
geschaut, weil dort sehr viele<br />
tazlerinnen und tazler gewohnt haben.“<br />
Nach dem Fall der Mauer ging der Blick<br />
Richtung Norden, zum Checkpoint Charlie<br />
und zum Bahnhof Friedrichstraße.<br />
„Nun schauen wir in den Süden, weil dort<br />
die spannenden Sachen geschehen“,<br />
sagt er.<br />
Kalle Ruch, Geschäftsführer der taz<br />
Foto: XXXX
16 KULTUR<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 KULTUR 17<br />
Der Kunstautomat vom Jüdischen Museum Berlin steht in der Eingangshalle vom Museum<br />
KUNST AUF<br />
KNOPFDRUCK<br />
Im Foyer des Jüdischen Museums steht seit drei Jahren ein besonderer Automat. Für<br />
sechs Euro kann man sich ein Kunstwerk ziehen.<br />
TEXT Zsa Zsa Gersina<br />
Die Luft hat etwas steriles,<br />
klares und unnatürlich kühles.<br />
Nur noch quer durch<br />
die große Halle. Vorbei an<br />
den Sicherheitskontrollen<br />
und der Empfangsdame, schließlich fällt<br />
der Blick auf den Automaten. Man muss<br />
nur den geringen Betrag von 6 Euro einwerfen,<br />
dann steht es dem Käufer offen,<br />
welches der 24 Fächer aufgeklappt wird<br />
und schon ist er im Besitz eines Exemplars<br />
einer limitierten Kleinstserie eines etablierten<br />
Künstlers. Der Selbstbedienungsautomat<br />
enthält Kunstwerke oder Kunstbotschaften<br />
von verschiedenen jüdischen<br />
Künstlern. Die Kunstpäckchen sind bestückt<br />
mit den verschiedensten Kostbarkeiten<br />
der unterschiedlichsten Genres.<br />
Die Käufer können kleine Grafiken, Bilder,<br />
Plastiken, Skulpturen, Texte in Lyrik oder<br />
Prosa, Hörbücher, Videofiles, Dokumentationen<br />
oder Musik aus den verschiedensten<br />
Bereichen erwerben. Auch experimentale<br />
Kunst, zum Beispiel Glasmalerei von<br />
dem Künstler Daniel Wiesenfeld findet<br />
sich in dem Automaten. Jede Kunstform<br />
ist möglich, Hauptsache das Werk passt in<br />
den Automaten.<br />
So unterschiedlich wie die Kunst im<br />
Automaten sind auch die Künstler dahinter.<br />
Auf einem Beipackzettel kann der<br />
Künstler Auskunft über sich und sein<br />
künstlerisches Schaffen geben. Die Teilnehmerbedingungen<br />
sind leicht zu erfüllen,<br />
generell können alle Kunstschaffenden<br />
(alle, oder nur jüdische Künstler?)<br />
mitmachen, auch ohne Abschluss eines<br />
Kunststudiums. Der Erlös kommt den<br />
Künstlern unmittelbar zugute, darüber hinaus<br />
kommt das Jüdische Museum Berlin<br />
für die Materialkosten auf. Unter den Werken<br />
befinden sich in diesem Jahr hochwertig<br />
produzierte Fotografien von Noga<br />
Shtainer, Birgit Naomi Glatzel, Daniela<br />
Orvin, Ölgemälde von David Benforado,<br />
Foto: Stephan Klonk/ Jüdisches Museum Berlin<br />
Kunstpostkarten von Shira Wachsmann,<br />
ein Kunstfilm von Birgit Naomi Glatzel sowie<br />
Keramiken von Rachel Kohn. Form<br />
und Material wählten die Künstler selbst.<br />
Der Kunstautomat steht seit dem<br />
Sommer 2013 im Jüdischen Museum. Bislang<br />
wurden in den ersten drei Runden<br />
5.400 Kunstwerke verkauft, seit April läuft<br />
die vierte Runde und die Künstler für die<br />
nächsten Kunstwerke stehen bereits fest.<br />
Der Automat bringt mit seinem Produkt<br />
natürlich Vorteile für Verkäufer und Käufer.<br />
In diesem Fall macht es die Kunst beziehungsweise<br />
den Künstler einer breiteren<br />
Öffentlichkeit bekannt. Für den Kunden ist<br />
es eine Wundertüte, ein Kunstunikat, ein<br />
Mitbringsel rund um die Uhr zu erwerben.<br />
Malen heißt<br />
entschlossen<br />
„ Handeln<br />
Einer der Künstler der die Automaten<br />
momentan bestückt, ist der gebürtige<br />
Grieche David Benforado. Der 39-Jährige<br />
studierte Malerei und Skulptur-Installation<br />
in Amerika und setze sein Studium in Ungarn<br />
fort. David hat an zahlreichen Ausstellungen,<br />
Projekten und Leistungen in<br />
ganz Europa und in den USA teilgenommen.<br />
Für sein kreatives Schaffen spielte<br />
Musik immer schon eine große Rolle.<br />
Durch seine langjährige Beschäftigung<br />
mit der Ney Flöte, einer orientalischen<br />
Längsflöte aus Holz, sowie modaler Musik,<br />
insbesondere aus dem östlichen Mittelmeerraum,<br />
hat sich seine Malweise weiterentwickelt.<br />
So wird aus einer Inspirationsquelle<br />
wie Musik, Farbe.<br />
Die Bilder entstehen intermedial aus<br />
Farbe, Melodie und Pinselstrichen. Die<br />
Musikrichtung Makams entspricht mit ihren<br />
Tongattungen und ihrem Melodieverlauf<br />
geradezu ideal der abstrakten Kunst.<br />
Beides basiert auf einer Anordnung einzelner<br />
Töne beziehungsweise Farben die<br />
zu harmonischen Einheiten zusammengefügt<br />
werde und durch Improvisation ihren<br />
unverwechselbaren Charakter erhalten.<br />
Diese Tatsache macht sich Benforado zunutze.<br />
In seiner aktuellen Kunstautomaten–Serie<br />
„Makams Malen“ ist das Resultat<br />
die abstrakte Darstellung einer<br />
Musikvorführung. Durch seine malerische<br />
Interpretation des Musikstückes überträgt<br />
jedes Bild eine Identifizierung mit der Musik.<br />
Malen ist für Benforado eine entschlossene<br />
Handlung: „Das, was ich tue,<br />
geht ganz auf die Farbwahrnehmung zurück,<br />
egal ob ich ein gegenständliches<br />
Bild oder eine abstrakte Komposition anfertige.“<br />
Kunst für diese neue Plattform<br />
des Kunsthandels anzufertigen, inspirierten<br />
ihn zur Entwicklung eigener Farben<br />
aus Pigmenten, welche die Oberfläche<br />
der Bilder aktiver und dynamischer machen.<br />
Kunst zu besitzen beziehungsweise<br />
sie zu erwerben ist ein altes Geschäft, es<br />
zugänglich für die breite Masse zu machen,<br />
in einem Museum, ist neu. Den Vorwurf,<br />
dass Kunst nur etwas für Reiche ist,<br />
muss die Kunstszene sich schon lange<br />
anhören. Wobei diese Behauptung eigentlich<br />
schon längst überholt ist.<br />
Kunst kann verwirren, erhellen, aufregen<br />
und süchtig machen. Es geht darum,<br />
was sie in uns auslöst. Das kann bei jedem<br />
etwas anderes sein, aber sie lässt keinen<br />
kalt. Den Kunden wird ein preiswerter Zugang<br />
ermöglicht, um die Vielfältigkeit der<br />
Berliner Kunst und Literatur zu erleben.<br />
Nicht nur zu erleben, nein sogar zu besitzen.<br />
Der eine kauft sich für knapp 180 Millionen<br />
Dollar ein Picasso Gemälde, der<br />
andere für ein paar Euro ein Überraschungskunstwerk<br />
eines Berliner Künstlers.<br />
Niemand könnte sich das Recht herausnehmen<br />
zu benennen, wer glücklicher<br />
ist über den neuen Besitz in der eigenen<br />
Kunstsammlung. Diese Preise basieren auf<br />
Angebot und Nachfrage. Es ist unmöglich,<br />
einen fairen und vernünftigen Preis<br />
für ein Kunstwerk festzulegen. Der Wert<br />
eines Kunstwerkes steigt in die Höhe,<br />
wenn das Angebot begrenzt ist. Ein Pablo<br />
Picasso wird nicht von den Toten auferstehen.<br />
Ein relativ unbekannter Künstler hingegen<br />
wird eine eher geringe Nachfrage<br />
genießen und so einen geringeren Wert<br />
auf dem Kunstmarkt haben. Wobei die<br />
Nachfrage und die Preise für Zeitgenössische<br />
Kunst rasant in die Höhe gestiegen<br />
sind. Die amerikanische Kunstpreisdatenbank<br />
Artpice verzeichnet allein in den vergangen<br />
drei Jahren einen Preisanstieg<br />
von 43 Prozent für Gegenwartskunst. Zustande<br />
kommt dies, da die Nachfrage<br />
stieg, es wächst der Käuferkreis für teure<br />
Gemälde. Waren früher noch Amerikaner<br />
und Europäer größtenteils unter sich, sind<br />
nun auch die Superreichen aus Asien,<br />
dem Mittleren Osten und Russland da.<br />
Kunst als Mitbringsel<br />
Der Kunstautomat macht sich dieses Prinzip<br />
zu nutze. Im Museum wird die Kunst<br />
einer größeren Masse bekannt, das steigert<br />
die Nachfrage. Das Angebot ist durch<br />
die limitierte Stückzahl der Kunstwerke<br />
begrenzt. Durch den Automaten entsteht<br />
eine neue Plattform in der Kunstszene und<br />
es ist noch nicht vorherzusehen, wie sich<br />
Angebot und Nachfrage entwickeln. Genau<br />
so unergründlich wie die nächste Periode,<br />
das nächste Werk oder der nächste<br />
Pinselstrich eines Künstler unberechenbar<br />
ist, so ist auch der Weg seines Erfolges<br />
unergründlich.<br />
Die Anonymität die der Kunstautomat<br />
mit sich bringt ist etwas Neues in der<br />
Kunstbranche. Unbekannte Leute, kaufen<br />
unbekannte Kunst von ihnen meist unbekannten<br />
Künstlern und bringen sie an einen<br />
unbekannten Ort. Veraltet jedoch das<br />
Prinzip von billig, bekannt und der breiten<br />
Masse zugänglich. Durch das Konzept des<br />
öffentlich zugänglichen maschinellen<br />
Kunsthandels laufen wir nicht Gefahr dem<br />
Ganzen die Besonderheit zu nehmen. Viele<br />
Erschütterungen erlitt die Kunstszene in<br />
den letzten Jahren, wie zum Beispiel die<br />
Digitalisierung von Kunst. Jeder weiß wie<br />
das berühmte Gemälde von Leonardo da<br />
Vinci: die Mona Lisa aussieht. Fraglich ist<br />
woher? Wer stand wirklich vor dem<br />
schönsten Lächeln der Welt mitten in Paris<br />
im Louvre, und wer hat sie nur auf dem<br />
Bildschirm auf dem Sofa gesehen? Macht<br />
es für die breite Masse überhaupt noch<br />
einen Unterschied, ob sie das Ölgemälde<br />
sieht, wo man Pinselstrich und Maserung<br />
auf der Leinwand erkennt – oder reicht es,<br />
Aus der Serie „Makams Malen“<br />
von David Benforado, 2014<br />
das flackernde, abgefilmte oder abfotografierte<br />
Bild zu sehen? Der Kunstautomat<br />
sorgt dafür, dass wir Kunst wieder direkt<br />
anschauen, anfassen. Die Schnelllebigkeit<br />
ist in naives Wagnis, dass uns das wesentliche<br />
an der Kunst verlieren lässt. Die<br />
oberflächliche Parallele zur Mode veranschaulicht<br />
es. Die Nähmaschine nahm<br />
dem Kleidungsstück seine Besonderheit,<br />
die Großindustrie überholte die Handwerkskunst,<br />
der Onlinehandel gefährdet<br />
die Geschäfte – die Schnelllebigkeit<br />
nimmt dem ganzen den Zauber. Wir uns<br />
in acht nehmen vor der „Apace Art“ (eng.<br />
schnelle Kunst).<br />
Foto: Jens Ziehe/ Jüdisches Museum Berlin
18 KULTUR<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 KULTUR 19<br />
Gemälde, wechsel dich<br />
Kunstwerke in Museen mit Sicherheitsabstand zu betrachten, war gestern.<br />
Dank der Berliner Artothek kann das heute jeder ganz einfach an den eigenen vier<br />
Wänden – auch ohne großen Geldbeutel. Unsere Autorin hat es ausprobiert<br />
TEXT Rebecca Koppitz<br />
FOTOS Felix Conrad<br />
Eine Auswahl an Gemälden, Grafiken XXX der Artothek<br />
Bibliotheken haben etwas Faszinierendes<br />
an sich. Die deckenhohen<br />
Regale, über und<br />
über gefüllt mit Büchern aus<br />
vergangen Jahrzehnten, haben<br />
mich schon ziemlich früh in ihren Bann<br />
gezogen. Während andere Kinder ihre<br />
Nachmittage auf den lauten, überfüllten<br />
Spielplätzen verbracht haben, hatte ich<br />
mindestens genauso viel Spaß daran,<br />
durch die oft viel zu leeren Gänge der Bibliothek<br />
meiner Heimatstadt zu schleichen<br />
und die kunterbunter Buchrücken zu<br />
begutachten. Ich war äußerst wählerisch,<br />
was die Geschichten anging, die ich erzählt<br />
bekommen wollte. Umso größer war<br />
meine Freude deshalb jedes Mal, wenn<br />
ich ein Buch fand, das mich begeisterte.<br />
Es gab wenig, das mich hielt und immer<br />
so viel mehr, was ich noch sehen und erleben<br />
wollte. Eine Geschichte gegen eine<br />
neue eintauschen zu können, nachdem ich<br />
mich an ihr satt gelesen hatte, war für<br />
mich noch schöner als die Bibliothek<br />
selbst. Warum am selben Ort bleiben,<br />
wenn einem die Welt offen steht? Wenn<br />
es so viel Neues zu entdecken gibt?<br />
Dieses Prinzip scheint auch die Artothek<br />
der Amerika-Gedenkbibliothek verstanden<br />
zu haben. Mitten in Kreuzberg,<br />
direkt am Halleschen Tor, lässt sie Träume<br />
für viele Kunstliebhaber wahr werden:<br />
Nach dem gängigen Leihprinzip einer jeden<br />
Bibliothek wechseln hier nicht etwa<br />
Bücher oder DVDs in regelmäßigen Abständen<br />
ihre Besitzer, sondern Kunstwerke.<br />
Das Spektrum ist nicht klein: Von Plastiken,<br />
über Grafiken bis hin zu Ölmalereien<br />
ist alles dabei. Die Leihe selbst kostet<br />
keinen Cent, nur der Bibliotheksausweis<br />
muss wie in jeder anderen Einrichtung<br />
dieser Art, bezahlt werden. Bis zu drei Monaten<br />
kann man sich an den Kunstwerken<br />
sattsehen. Ob Zuhause, bei Freunden,<br />
Die Berliner Artothek am Blücherplatz 1. Seit 1969 lässt sie Kunstliebhaberherzen höher schlagen<br />
Tanten, Onkels oder anderen Verwandten,<br />
das bleibt dem Ausleihenden vollkommen<br />
selbst überlassen.<br />
Von Kunst habe ich nie viel verstanden<br />
und es, um ehrlich zu sein, auch nie versucht.<br />
Sicherlich kann ich einen Monet von<br />
einem Picasso unterscheiden. Wenn mich<br />
allerdings jemand fragen würde, warum<br />
Monsieur Monet so gern Wasserlilien<br />
zeichnete und keine Chrysanthemen,<br />
müsste ich passen. Vielleicht, weil er das<br />
Wasser mochte? Das satte Blau und die<br />
symbolische, künstlerische Tiefe. Ich weiß<br />
es nicht. Bücher sind da einfacher. Irgendwie<br />
offensiver. Bilder sprechen ihre eigene<br />
Sprache, die allzu oft nur der Künstler<br />
selbst verstehen kann. Doch Sprachen<br />
können gelernt werden, auch wenn am<br />
Anfang vielleicht erstmal nur Kauderwelsch<br />
entsteht. Mein Entschluss, als<br />
nächstes kein Buch, sondern ein Gemälde<br />
ausleihen zu wollen, war gefasst. Nun galt<br />
es nur noch, ein für einen ratlosen Kunstinteressenten<br />
angemessenes Bild zu suchen.<br />
Ich habe ein Date.<br />
Mit einem Bild<br />
Der Künstlerindex, den man sich problemlos<br />
auf der Homepage der Amerika-Gedenkbibliothek<br />
ansehen kann, bietet<br />
eine erste Orientierung. Nun ja,<br />
zumindest, wenn man in der Kunstszene<br />
bewandert ist. Ansonsten bereiten einem<br />
Namen wie Munir Alubaidi und Helga<br />
Cmelka eher Kopfzerbrechen. Gar nicht<br />
so einfach, etwas zu finden, wenn man<br />
FOTOS: Fotoklasse BEST-Sabel Designschule Berlin<br />
selbst nicht so recht weiß, wonach man<br />
sucht. Ein bisschen ist das wie mit dem<br />
Online-Shopping. Nachdem ich eine gefühlte<br />
Ewigkeit weitergeklickt und den<br />
Browser aktualisiert habe, entschließe ich<br />
mich dazu, das nächstbeste Bild zu nehmen,<br />
das mich kurz stocken lässt. „Öffnung“<br />
heißt das Gemälde von Silvia Dzubas,<br />
auf dem ich mit dem Maus-Cursor<br />
hängenbleibe. „Komischer Name“, denke<br />
ich, weil ich auf den ersten Blick nur<br />
einen unförmigen dunklen Acryl-Fleck<br />
wahrnehme. Ich entscheide mich trotzdem<br />
dafür, der schwarzen Öffnung eine<br />
Chance zu geben. Ein Buch, dessen Teaser<br />
nicht gelungen ist, ist deswegen noch<br />
lange kein schlechtes Buch. Oft zählt der<br />
zweite Blick. Das gilt sicher auch für die<br />
Kunst.<br />
Auf unkompliziertem Wege wird mir<br />
angezeigt, dass mein gewähltes Kunstwerk<br />
derzeit zu verleihen ist. Das trifft sich<br />
gut. Ich habe also eine Verabredung. Mit<br />
einem Bild. Einer dunklen Öffnung, um<br />
genauer zu sein. Auch wenn das Prozedere<br />
des Kunstausleihens sich kein bisschen<br />
von Büchern unterscheidet, bekommt<br />
man den Gegensatz spätestens beim<br />
Transport zu spüren. Bewaffnet mit meiner<br />
neuen Errungenschaft und unter äußerster<br />
Vorsicht mache ich mich an einem<br />
sonnigen Freitagnachmittag von Kreuzberg<br />
auf den Weg nach Hause. Die Berliner<br />
schleppen zwar Facebook-Videos<br />
zufolge ihre Ponys und Hausschweine<br />
regelmäßig mit in die U-Bahnen, eine junge<br />
Frau mit einem 60 mal 50 Zentimeter<br />
großen gerahmten Bild, scheint für das<br />
Berliner Urgestein aber dennoch eine Kuriosität<br />
zu sein.<br />
Zuhause angekommen, stelle ich fest,<br />
dass ich noch nicht einmal einen geeigneten<br />
Platz für Silvia Dzubas „Öffnung“<br />
vorbereitet hatte. Kurzerhand entschließe<br />
ich mich, all meine privaten Bilder von<br />
der grauen Wand abzuhängen und verstaue<br />
sie sorgfältig unter meinem<br />
Schreibtisch. So leer hat meine Wand<br />
wohl noch nie ausgesehen. Der Anblick<br />
macht mich ein wenig traurig, weswegen<br />
ich den freigewordenen Platz schnellstmöglich<br />
mit dem gerade erworbenen<br />
Acrylgemälde fülle.<br />
Prüfend stelle ich mich davor. Macht<br />
man das nicht so in einer Kunstgalerie?<br />
Ich verschränke die Arme vor der Brust<br />
und kneife die Augen zusammen. Ja.<br />
Eine schwarze Öffnung. Ganz klar. Oder<br />
doch nicht? Könnte auch ein im Schatten<br />
der Sonne liegender Gebirgszug sein.<br />
Ein Gebirgszug oder doch die Überreste<br />
eines in Schutt und Asche versunkenen<br />
Hauses? Rechts das zarte Orange der<br />
langsam ersterbenden Flammen. Die<br />
Bilder sprechen<br />
ihre eigene<br />
Sprache. Allzu<br />
oft kann sie nur<br />
der Künstler<br />
„ selbst verstehen<br />
gelben Funken der Glut noch auf dem<br />
Berg aus Asche.<br />
Ich frage mich, was Frau Dzubas jetzt<br />
zu mir sagen würde, stünde sie in diesem<br />
Augenblick neben mir. Vielleicht würde sie<br />
lachen, wenn sie wüsste, was ich in ihrer<br />
Öffnung sehe. Vielleicht auch nicht. Ich<br />
stelle mir vor, was sie gedacht hat, während<br />
sie die schwarze Farbe auf das Papier<br />
gepinselt hat. Was mag sie 1991 darin gesehen<br />
haben, an das ich womöglich nicht<br />
im Entferntesten denke? 1991. Dieses Bild<br />
ist älter als ich selbst und hat, so gesehen,<br />
schon mehr erlebt als ich mit meinen<br />
zwanzig Jahren. Hat mehr Geschichten<br />
gehört und anderen Menschen noch viele<br />
mehr erzählt. Wer wohl schon ebenso grübelnd<br />
wie ich vor ihm gestanden hat? Und<br />
an wie vielen verschiedenen Wänden es<br />
schon gehangen haben mochte?<br />
Mit jeder Minute, die vergeht, wird mir<br />
eines klarer: Wie viel mehr ein Bild erzählt<br />
als wir mit dem bloßen Auge erfassen<br />
können. Dass ein Kunstwerk deutlich mehr<br />
als ein paar Farbtupfer auf weißem Hintergrund<br />
ist und dass eine schwarze Öffnung<br />
eben nicht für jeden eine schwarze Öffnung<br />
ist. Eines aber ist es in jedem Fall:<br />
ein Tor in eine andere Welt.<br />
Artothek, Amerika-Gedenkbibliothek,<br />
Blücherplatz 1, 10961 Berlin.<br />
Weitere Infos unter zlb.de
20 KULTUR<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 KULTUR 21<br />
KOPFKINO<br />
Bewegte Bilder sind in den meisten<br />
Museen immer noch Mangelware.<br />
Die Berlinische Galerie lädt<br />
ihre Besucher mit Videokunst zum<br />
Nachdenken und Mitfühlen ein<br />
TEXT Julia Gleß<br />
Kolumne<br />
DER STIL<br />
DER<br />
FRIEDRICH-<br />
STÄDTER<br />
Der Kontrast zwischen der lichtdurchfluteten Eingangshalle<br />
und dem nahezu komplett dunklen<br />
Gang, bringt die Augen auf Hochtouren. Die<br />
Wände sind mit schwarzem Stoff überzogen, der<br />
jegliches Licht zu verschlucken scheint. Lediglich<br />
drei Lichtquellen, die in Glasvitrinen nostalgisches Zubehör von<br />
Film und Fernsehen anstrahlen — darunter Fernbedienungen<br />
und Videorekorder — weisen den Weg in den IBB-Videoraum.<br />
Eine tiefe, euphorische Männerstimme ist aus dem offenen<br />
Raum zu vernehmen: „Was kann jetzt noch kommen? Sie werden<br />
erstaunt sein, vielleicht verstört. Meine sehr verehrten Damen<br />
und Herren: Friends of Hein!“. Der erwartete Applaus<br />
bleibt aus. Auf der Leinwand ist ein Mann in betagterem Alter<br />
zu sehen. Er steht auf einer Bühne in schwarzem Hemd und<br />
schwarzer Hose. Die Bühne ist ebenfalls schwarz, so wie der<br />
schwere Vorhang, der hinter ihm hängt. Seine Augen funkeln<br />
während er von einer „Sensation“ schwärmt, die gleich auf die<br />
Bühne kommen wird. Währenddessen schweift sein Blick über<br />
die Reihen, in denen das Publikum sitzen muss. Zu hören ist<br />
nichts. Warum klatscht keiner, an den dafür vorgesehenen<br />
Sprechpausen?<br />
Der IBB-Videoraum befindet sich in der Berlinischen Galerie.<br />
Das Landesmuseum hat sich auf Kunst nach 1870 spezialisiert,<br />
seit 2004 hat es in der alten Jakobstraße sein eigenes Haus, in<br />
dem es Bildende Kunst, Fotografie, Architektur, Grafik und<br />
Künstlerarchive in Szene setzt. Vor fünf Jahren kam der Videoraum<br />
hinzu, den die Investitionsbank Berlin (IBB) finanziell unterstützt.<br />
Jeweils über den Zeitraum eines Jahres werden hier zwölf<br />
Künstlerinnen und Künstler vorgestellt, die vielversprechende<br />
Neuentdeckungen, oder auch<br />
fester Bestandteil der Berliner<br />
Videokunstszene sind.<br />
Im Rahmen des diesjährigen<br />
Gallery Weekends, stellte die<br />
Berlinische Galerie nun unter<br />
dem Motto Videoart at Midnight<br />
sieben hochkarätige Werke vor.<br />
Eines davon ist Greatest Show<br />
on Earth von Sven Johne. Der<br />
Künstler konzentriert sich auf<br />
den Akt des Erzählens per se.<br />
Johne, der 1976 in Bergen auf<br />
Rügen geboren ist, hat an der<br />
Hochschule für Grafik und Buchkunst<br />
in Leipzig Fotografie studiert.<br />
Im Mittelpunkt seiner Arbeiten<br />
steht die<br />
Auseinandersetzung mit der<br />
Frage nach Authentizität und<br />
BERLINISCHE GALERIE<br />
Landesmuseum für Moderne Kunst, Fotografie und<br />
Architektur<br />
Stiftung des Öffentlichen Rechts<br />
Direktion: Dr. thomas köhler<br />
Baujahr: 1965<br />
Ort: Berlin - Kreuzberg<br />
Alte Jakobstraße 124 - 128, 10969 Berlin<br />
Öffnungszeiten: Mittwoch bis Montag: 10 uhr bis 18 uhr<br />
Dienstag: geschlossen<br />
Eintritt: 8€ — Ermäßigt: 5€<br />
Treppenhalle, Berlinische Galerie<br />
dem Beweischarakter von Information, Dokument und Erzählung.<br />
Dass mit dem Conférencier der Greatest Show on Earth<br />
etwas nicht stimmt, ist dem Besucher schnell bewusst.<br />
Mit ihrem Videoraum will die Berlinische Galerie einen Einblick<br />
in die einzigartige, internationale Welt der Videokunst geben.<br />
Die Besucher des Hauses sind eingeladen, sich neben<br />
klassischen Ausstellungen wie Kunst in Berlin 1880–1980 auch<br />
diese oft etwas schwieriger zugängliche Form der zeitgenössischen<br />
Kunst anzusehen. Nest von Antje Majewski ist einer dieser<br />
künstlerischen Filme. Darin ist zu sehen, wie die Künstlerin mit<br />
einer Baulampe, die nicht in einer Steckdose zu enden scheint,<br />
in die Nacht hinaus geht, um ausgewählte Dinge zu suchen und<br />
zu finden. Sie scheint einem bestimmten<br />
Weg zu folgen, der sie<br />
immer weiter führt, bis zu dem<br />
Punkt, an dem sie sich selbst in<br />
einem rituellen Akt das Gesicht<br />
bemalt, um dann silberne Kugeln<br />
in ein Nest zu legen. So<br />
fordert die Videokunst auch die<br />
Bereitschaft, mit den eigenen<br />
Erwartungen zu brechen, was<br />
mitunter sehr anstrengend sein<br />
kann.<br />
Kopf des Projekts ist der Galerist<br />
Olaf Stüber, der die Videoart<br />
at Midnight als Plattform<br />
für junge Talente und renommierte<br />
Künstler gegründet hat.<br />
Einmal im Monat — immer freitags<br />
und immer um Mitternacht<br />
— laden Olaf Stüber und der<br />
VIDEOART AT MIDNIGHT<br />
Gründung: 2008<br />
Leitung: Olaf Stüber und Ivo Wessel<br />
einmal monatlich — freitags — 24 Uhr<br />
Kino Babylon, Rosa-Luxemburg-Straße 30, 10178 Berlin - Mitte<br />
Sammler Ivo Wessel die Young-Stars ein, ihre Werke auf der großen<br />
Leinwand im denkmalgeschützten Kino Babylon in Mitte zu<br />
zeigen und zur Diskussion zu stellen. Jeder Abend ist einem<br />
Künstler gewidmet, der selbst die Auswahl seiner Stücke trifft.<br />
Meist sind es Uraufführungen oder Werke, die bisher selten in<br />
Museen gezeigt wurden. Alle Künstler, die in den letzten Jahren<br />
im Babylon eingeladen waren, stellen eine signifikante Arbeit<br />
aus ihrem Gesamtkunstwerk oder eine exklusive Arbeit für die<br />
Videoart at Midnight Edition zur Verfügung. So wächst nach und<br />
nach die Anthologie eines Mediums, das zunehmend an Bedeutung<br />
gewinnt.<br />
Der Mann in Schwarz auf der Bühne schwärmt noch immer<br />
von der Sensation, die angeblich gleich auftauchen soll. Aber<br />
immer noch keine Reaktion aus dem Publikum. Der Conférencier<br />
verläuft sich in einer Endlosschleife aus Ankündigungen der<br />
Spektakel, eines größer als das Andere. In Wirklichkeit wird diese<br />
Show nie eröffnen. In dem geschlossenen Theater ist die<br />
größte Show der Welt von der Realität abgeschirmt. Mit einer<br />
enormen Einfühlsamkeit erzeugt der Herr auf der Bühne eine<br />
Spannung, die zu fühlen ist und zieht nahezu jeden Zuschauer in<br />
seinen Bann. Er pustet die Bilder und Emotionen wie Seifenblasen<br />
in den Raum. Kurz darauf lässt er sie allesamt auf einmal<br />
wieder zerplatzen. Begleitet von der tiefen Stimme führt der<br />
schwarze Gang wieder zurück in die blendend helle Eingangshalle.<br />
Zurück in die Realität.<br />
Foto: Nina Straßgütl<br />
Normcore war vor zwei Jahren der<br />
Modetrend der Saison. Rund um den<br />
Checkpoint Charlie bis hin zum<br />
Jüdischen Museum sieht man Männer<br />
und Frauen, die weiße, hochgezogene<br />
Socken in den Birkenstocksandalen<br />
tragen oder Sneaker, die mehr<br />
Wanderstiefel als lässiger Sportschuh<br />
sind. Ein Architekt hat einmal eine<br />
Parallele zwischen dem Stil und den<br />
Häusern in der Südlichen Friedrichstadt<br />
gezogen, und tatsächlich ist<br />
dieses Viertel auch modisch eine<br />
Baustelle. In kurzen Hosen, Polo-Shirt<br />
und dem in Berlin allseits beliebten<br />
Jutebeutel machen sie die Straßen<br />
unsicher. Sogar Capri-Hosen sieht<br />
man hier en masse.<br />
Anders als die Vorreiter des<br />
Unisex-Modetrends, die sich durch<br />
durchschnittliche Kleidung von teuren<br />
Marken auszeichneten, tragen die<br />
Friedrichstädter Sneaker von Deichmann<br />
und T-Shirts mit Aufdrucken wie<br />
„nice & dirty“. Apropos dirty. Um<br />
dem Stil mehr Individualität zu<br />
verleihen, trägt man hier vor allem<br />
Caps und den 2000er Modehit<br />
schlechthin: das Bandana. Am<br />
liebsten als Dreieck über den ganzen<br />
Kopf gebunden wie Wrestlinglegende<br />
Hulk Hogan, als würde man gleich in<br />
den Ring steigen. Natürlich finden<br />
sich in der Friedrichstadt auch ein<br />
paar schwarze Schafe, die mit ihren<br />
dunklen Outfits, den bauchfreien Tops<br />
und hochgekrempelten Hosen bei<br />
den Bewohnern Aufsehen erregen.<br />
Für modebegeisterte Berliner, die<br />
sonst in Neukölln und Friedrichshain<br />
abhängen, ist der Anblick der<br />
Friedrichstädter ein Graus. Irgendwer<br />
muss aber die Trends von morgen<br />
setzten, und wer weiß, wie lange es<br />
noch dauert, bis wir Deichmann Nike<br />
vorziehen und unsere Bierbäuche in<br />
Crop Tops nicht mehr so straff<br />
aussehen? Es ist allseits bekannt das<br />
die besten Trends von den seltsamsten<br />
Orten kommen.
ALLTAG<br />
Die Friedrichstadt SOMMER 2016<br />
23<br />
Horoskop<br />
WIE STEHEN<br />
DIE STERNE?<br />
LESERATTE Im Café Westberlin schmeckt es nicht nur gut S. 24<br />
LECKER Die Kantine Kreuzberg kocht Gerichte aus aller Welt S. 26<br />
VILLA KUNTERBUNT Fotostrecke aus dem Tommy-Weisbecker-Haus S. 28<br />
STEIN AUF STEIN Baugruppen wollen anders miteinander wohnen S. 32<br />
KINDERSPIEL Sandkästen umringt von grauer Wüste S. 38<br />
Fische: War die U6 heute früh wieder<br />
überfüllt – oder warum reagieren Sie<br />
beim geringsten Anlass so emotional?<br />
Gönnen Sie sich mehr Ruhe.<br />
Widder: Mit Ihrem Enthusiasmus<br />
können Sie Ihren Partner für den<br />
Umzug in ein innovatives Wohnprojekt<br />
begeistern. Wie wäre es mit der<br />
Ritterstraße 50?<br />
Stier: Wer so viel leistet wie Sie,<br />
braucht einen Ausgleich. Ein bisschen<br />
Leichtathletik auf dem Lobeck-Sportplatz<br />
gefällig?<br />
Zwilling: Sie dürfen sich diese Woche<br />
geborgen fühlen, denn jemand<br />
versucht, Ihr Herz zu gewinnen. Wie<br />
wäre es mit einem romantischen<br />
Nachtspaziergang am Mehringplatz ?<br />
Krebs: Sie strahlen Freude und<br />
Motivation aus. Frühlingsgefühle<br />
bereits vorhanden? Wenn nicht, dann<br />
raus ans Hallesche Tor, denn es ist<br />
Paarungszeit!<br />
Löwe: Mehr Motivation bitte! Das<br />
Leben besteht nicht nur aus Parkbankchillen<br />
und Kekseessen im Café<br />
Westberlin. Im Haushalt muss der<br />
Wischmob geschwungen werden. Wo<br />
bleibt Ihr Perfektionsanspruch?<br />
Jungfrau: Momentan beschäftigen<br />
Sie sich sehr mit Ihrer Vergangenheit.<br />
Kunst, wenn auch nur geliehen am<br />
Blücherplatz, kann Ihnen helfen,<br />
Erlebtes zu verarbeiten.<br />
Waage: Ihre Stimmung ist fantastisch.<br />
Beugen Sie Langeweile vor, damit die<br />
Freude anhält. Wie wäre es mit einer<br />
neuen Location? Darf es ein Molekular-Cocktail<br />
in der Bar Le Labo sein?<br />
Skorpion: Seien Sie nicht so negativ<br />
eingestellt. Nur Mut, dann werden<br />
große Projekte wie die Wiederbelebung<br />
des Hauses der Statistik<br />
bestimmt gelingen.<br />
Schütze: Auf zu neuen Ufern, schließlich<br />
ist die Südliche Friedrichstadt im<br />
Wandel. Engagieren Sie sich bei einer<br />
Initiative wie openBerlin e.V..<br />
Steinbock: Hat Ihnen der gemischte<br />
Salat in der Kantine Kreuzberg nicht<br />
gemundet? Womöglich weil Sie<br />
Single sind und Ihnen das Leben nicht<br />
schmeckt. Zeigen Sie sich flirtfreudiger.<br />
Die Bedienung ist doch nett.<br />
Wassermann: Tun Sie, was ein<br />
Wassermann im Sommer tun muss:<br />
„Pack die Badehose ein, nimm Dein<br />
kleines Schwesterlein“. Verlassen Sie<br />
die Friedrichstadt. Ab an den<br />
Wannsee. Marie-Louise Kramer
24 ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt<br />
Die Friedrichstadt SOMMER 2016 RESSORT 25<br />
Bloß nicht retro<br />
Das Westberlin ist Café, Denkwerstatt und Treffpunkt für Kreative.<br />
Neben Snacks und Drinks findet man hier 150 internationale Magazine<br />
TEXT Liesa Eschemann FOTOS Sara Reuter<br />
Schon von außen wirkt der Coffee- und Mediashop<br />
durch seine limettengrüne Schrift erfrischend modern<br />
und einladend. Durch die großen Fenster erkennt<br />
man ein freundliches, durchdesigntes Inneres, helles<br />
Holz und Weißtöne dominieren. Da wundert es nicht,<br />
dass der Inhaber Kai Bröer Architekt ist. New York und Japan<br />
aber auch Skandinavien inspirierten ihn für seinen Laden und,<br />
tatsächlich, diese Einflüss harmonieren perfekt.<br />
Kai Bröer ist ein sympathischer Mittvierziger, ein junggebliebener<br />
Typ mit leicht ergrautem Haar. Er ist lässig aber dennoch<br />
adrett gekleidet und passt so perfekt in das Ambiente des Westberlin<br />
hinein. Bröer wollte in seinem Laden nicht den typischen<br />
Berlin Look, mit zusammengewürfelten Vintage Möbeln und<br />
Wohnzimmer Atmosphäre schaffen, sondern etwas neues, modernes,<br />
das dennoch zum Verweilen einlädt. Er muss allerdings<br />
zugeben, dass die Designer Stühle aus Dänemark sehr wohl Retro<br />
inspiriert sind. Wie so oft, wenn er lacht, erscheinen spitzbübische<br />
Grübchen auf seinen Wangen.<br />
Die Lightbox am Ende des Raumes ziert ein großes Bild, hinter<br />
dem sich das Office und eine kleine Küche verstecken. Das<br />
Bild zeigt eine Hochhausfassade, die zwei Blöcke weiter von einem<br />
befreundeten Fotografen aufgenommen wurde. Die Gäste,<br />
die in der Umgebung wohnen, erzählt Broer, stünden gerne vor<br />
dem Bild und versuchten<br />
ihre Wohnung zu finden.<br />
Was das Westberlin so<br />
besonders macht? Neben<br />
Kaffee und Kuchen gibt es<br />
eine Mediathek, die eine<br />
Vielzahl von Magazinen<br />
enthält. Rund 150 Titel<br />
kann man heute in den Regalen<br />
finden. Anfangs begrenzte<br />
sich sich die Anzahl<br />
nur auf ein paar<br />
dutzend, es waren hauptsächlich<br />
Titel, die Bröer und einer seiner<br />
Freunde aussuchten. Mit der Zeit kamen immer<br />
mehr Titel dazu und heute bekommt er<br />
jede Woche neue Anfragen von Magazinen,<br />
die gerne in die Regale wollen.<br />
Die Themen reichen von Mode, Design,<br />
Architektur und Kunst bis zu Gesellschaftsund<br />
Reisetiteln. Achtung, Interview, Vanity<br />
Fair, W, Crash, Mousse<br />
und das israelische Magazin<br />
Picnic sind nur einige<br />
von ihnen. Außerdem gibt<br />
es einen extra Berlin-Tisch<br />
auf dem Guides und Berliner<br />
Magazine liegen.<br />
Laut Bröer sind die<br />
Gäste zu 30 Prozent Touristen,<br />
weitere 30 Prozent<br />
arbeiten in der Umgebung,<br />
die meisten in den<br />
Bereichen Medien, Kunst<br />
oder aus Agenturen. Die restlichen 40 Prozent setzten sich aus<br />
Kaffeeliebhabern und Anwohnern zusammen. Schaut man sich<br />
um erkennt man größtenteils Vertreter der zweite Gruppe, die<br />
dort top gestylt ihre Mittagspause verbringen oder einen Cappuccino<br />
schlürfen und sich nebenbei an einem Magazin bedienen<br />
oder an einem wichtigen Projekt arbeiten. Mit Macbook, of<br />
course!<br />
Im übrigen Gebäude trifft man auf so allerhand gemixtes<br />
Volk: vom Einwanderer über den obligatorischen Berliner Hipster<br />
bis hin zum alteingesessenen Dämchen um die 70.<br />
Die Speisekarte ist immer recht konstant, bis auf die im Winter<br />
wechselnde Tagessuppe, andere saisonale Gerichte und ein<br />
Standardangebot von- Stullen, Salaten, Buletten und Quiche,<br />
Kuchen, Gebäck, Croissants und Cookies.<br />
Der „Drop Coffee“ kommt jede Woche frisch aus Schweden<br />
genauer gesagt aus dem südlich<br />
gelegenen Stockholmer<br />
In-Viertel Södermalm und gehört<br />
zu den Lieblingen von Inhaber<br />
Kai: „Ich trinke am liebsten<br />
den leicht fruchtigen Drop<br />
Coffee mit geschäumter Milch:<br />
Das macht den perfekten Flat<br />
White.“<br />
Für die Zukunft wünscht<br />
Bröer sich noch mehr Kaffeespezialitäten<br />
und eine bessere<br />
und persönlichere Auswahl an<br />
Magazinen. Aber am allerwichtigsten<br />
ist ihm, dass er seinem<br />
Grundkonzept treu bleibt.<br />
FOTOS: Fotoklasse BEST-Sabel Designschule Berlin
26<br />
ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 ALLTAG 27<br />
HAUTE CANTINE<br />
Wie international und<br />
regional verbunden werden<br />
kann, zeigt die Kantine<br />
Kreuzberg in Berlin. Fünf<br />
Mal die Woche wird hier<br />
gekocht, und das nicht<br />
nur für die Bewohner rund<br />
um den Mehringplatz<br />
TEXT Janina Oehlbrecht<br />
FOTOS Liesa Fuchs<br />
Es ist zwölf Uhr in der Kantine<br />
Kreuzberg am Mehringplatz.<br />
Ein großer gemischter Salat<br />
mit Hähnchenbruststreifen<br />
wird passend zu dem warmen<br />
Frühlingstag von der Frau mit Kopftuch<br />
auf die Edelstahl-Küchentheke gestellt.<br />
Das erste Essen für heute ist damit raus.<br />
Einige weitere Gäste machen es sich an<br />
den großen Holztischen bequem. Diese<br />
sind mit hellgrünen Tischdecken und frühlingshaften<br />
Blumensträußen dekoriert. An<br />
der dahinter hängenden Tafel steht das<br />
heutige Tagesgericht geschrieben.<br />
Groß ist es hier nicht. Die Kantine befindet<br />
sich im Integrationshaus am<br />
Mehringplatz, das hier alle nur Inti-Haus<br />
nennen und in dessen Eingangsbereich<br />
derzeit von Kindern gemalte Bilder die<br />
Gäste anlachen. Sie alle nehmen an einem<br />
Malwettbewerb teil. Aufgabe war es, das<br />
Mottotier des Kinderkarnevals der Kulturen,<br />
den Löwen, mit viel Fantasie in bunten<br />
Bildern darzustellen. Ein paar Schritte<br />
vom Eingang entfernt, versteckt sich hinter<br />
der Tür auf der linken Seite die Kantine.<br />
Hinter den vier großen Holztischen,<br />
befindet sich in dem kleinen, schmalen<br />
und rechteckig geschnittenen Raum, die<br />
silberglänzende Edelstahl-Küchentheke<br />
mit angrenzendem Arbeitsbereich.<br />
Die Qual der Wahl<br />
Entscheiden können sich die Besucher<br />
heute zwischen Hähnchenbruststreifen<br />
und Fetakäse als Extra zum Salat. Jedoch<br />
nicht nur im Menü gibt es zwei Angebote,<br />
sondern auch beim Preis. Warum steht<br />
dort 2,80 Euro und dahinter 3,80 Euro?<br />
Die Antwort ist ganz einfach: Für jedes<br />
Essen gibt es einen Kiez- und einen Soli-<br />
Innenansichten der Kantine Kreuzberg<br />
Das Essen ist<br />
gesund und<br />
lecker, der Preis<br />
„ unschlagbar<br />
Tarif. Besucher, die im Kiez um den<br />
Mehringplatz wohnen, im Integrationshaus<br />
arbeiten oder über ein geringes Einkommen<br />
verfügen, zahlen den Kiez-Tarif.<br />
Der Soli-Tarif ist für alle diejenigen, die<br />
mehr Geld zur Verfügung haben. Egal ob<br />
Kiez- oder Soli-Tarif: Das Essen ist für jeden<br />
eine günstige Mahlzeit. Lediglich zwei<br />
bis vier Euro muss man hier für eine Speise<br />
hinterlassen. Allein durch diese Einnahmen,<br />
Spenden und durch eine kleine finanzielle<br />
Unterstützung des Vereins „Children<br />
for a better world“, finanziert sich die<br />
Kantine. So ist es deshalb auch möglich,<br />
den Kindern im Integrationshaus eine kostenlose<br />
und warme Mahlzeit zu geben.<br />
FOTOS: Fotoklasse BEST-Sabel Designschule Berlin<br />
Entstanden ist die Idee im Sommer<br />
2013 vom Verein „Kreuzberger Musikalische<br />
Aktion“, um einen Kieztreffpunkt zu<br />
schaffen. Seit 1987 besteht die gemeinnützige<br />
Organisation, bei der vor allem<br />
der soziale und integrative Aspekt im Vordergrund<br />
steht.<br />
Lange Zeit stand die Küche im Inti-Haus<br />
leer. Ungenutzt und verkalkt.<br />
Schließlich kam der Verein auf die Idee,<br />
eine Kantine einzurichten. Fünf Mal die-<br />
Woche wird dort nun vollwertig und saisonal<br />
gekocht. Ganz nach dem Motto einer<br />
interkulturellen, internationalen und regionalen<br />
Küche, bereiten Menschen verschiedenster<br />
Nationen ein gesundes Essen<br />
mit Gemüse und Kräutern aus dem<br />
hauseigenen Kiezgarten zu. Einige wurden<br />
vom Jobcenter vermittelt und reichen pro<br />
Tag ungefähr 90 Essen über die Theke.<br />
Insgesamt acht Mitarbeiter und darunter<br />
zwei gelernte Köche geben täglich ihr Bestes.<br />
Durch die verschiedenen Nationen<br />
der Köche, entsteht eine großartige Mischung<br />
auf der Speisekarte, die wöchentlich<br />
wechselt. Von italienisch, asiatisch,<br />
arabisch bis hin zur deutschen Küche, wird<br />
kulinarisch die gesamte Welt bereist. So<br />
bekommen die Gäste auch heute wieder<br />
einen Einblick in die libanesische Küche,<br />
denn als Dessert gibt es Madlouka, eine<br />
aus Pistazien und Sahne bestehende Süßigkeit,<br />
die an Pudding erinnert.<br />
Nur einen Grundsatz gibt es in der<br />
Kantine: kein Schweinefleisch. Sie ist<br />
schließlich für Besucher aller Glaubensrichtungen<br />
gedacht.<br />
Elke kommt fast jeden Tag. Die 84-jährige<br />
Witwe kocht nicht gerne für sich alleine.<br />
„Wenn man in der Gemeinschaft isst,<br />
schmeckt es immer viel besser“, stellt sie<br />
fest. Seit ihr Mann vor vier Jahren gestorben<br />
ist, findet sie im Inti-Haus viel Anschluss<br />
und verbringt ihre Freizeit bei gutem<br />
Wetter gerne im direkt anliegenden<br />
Kiezgarten.<br />
Der perfekte Ort<br />
für die Mittagspause<br />
Nudeln mit Pesto<br />
REZEPT Kantine Kreuzberg<br />
für 4 Personen<br />
4 Zehen Knoblauch<br />
40 g Pinienkerne<br />
1 Msp. Salz<br />
2 Bund Basilikum, frisches<br />
120 ml Olivenöl<br />
70 g Parmesan, frischen<br />
Msp. Pfeffer<br />
500 g Tomaten<br />
200 g Parmesan<br />
1 kg Pasta<br />
Knoblauch schälen und grob<br />
hacken. Mit den Pinienkernen<br />
und Salz im Mörser zermahlen.<br />
Basilikum waschen,<br />
trocken schütteln und<br />
Blättchen abzupfen.<br />
In Streifen schneiden und<br />
zu der Paste in den Mörser<br />
geben. 2 El. Olivenöl zufügen<br />
und alles fein zerreiben.<br />
Eine halbe Stunde nach Öffnung der Kantine,<br />
wird einer der drei großen Holztische<br />
von einer großen Gruppe belegt. Die<br />
sechs Arbeitskollegen verbringen hier re-<br />
Parmesan fein reiben und<br />
nach und nach in die Kräuterpaste<br />
einarbeiten. Restliches<br />
Öl langsam unter die Masse<br />
rühren. Pesto mit Salz und<br />
Pfeffer abschmecken.<br />
Tipp: Man kann das Pesto<br />
auch in der Küchenmaschine<br />
zubereiten. Dann aber darauf<br />
achten, dass die Kräuter nicht<br />
zu lange gehackt werden,<br />
da sie sonst Bitter werden.<br />
Zwiebeln schälen und in<br />
feine Würfel schneiden.<br />
Die Tomaten waschen, den<br />
Strunk entfernen und in<br />
grobe Würfel schneiden.<br />
Zwiebeln und Tomaten in<br />
einem Topf anschwitzen und<br />
mit dem Pesto ablöschen.<br />
gelmäßig ihre Mittagspause. „Das Essen<br />
ist gesund und lecker – der Preis unschlagbar“,<br />
schwärmt die 45-jährige Ina. „Die<br />
Speisekarte diese Woche ist wie für mich<br />
gemacht. Jedes meiner Lieblingsgerichte<br />
wurde angeboten“, freut sich ihr Arbeitskollege<br />
Thomas. Auch die Kiezgartenbeauftragte<br />
Regina freut sich heute wieder<br />
auf ihr Mittagsessen. „Meine eigenhändig<br />
angebauten Gemüsesorten zu essen,<br />
macht mich sehr stolz und wo bekommt<br />
man heute noch eine warme Mahlzeit für<br />
zwei Euro?“, fragt sich die 61-jährige.<br />
Innerhalb der letzten drei Jahre ist mit<br />
dem Wachsen der Kantine Kreuzberg ein<br />
Ort der Begegnung entstanden. Die Gäste<br />
sind so unterschiedlich, wie sie es nur<br />
sein können und auch die Mitarbeiter aus<br />
den verschiedensten Ländern ergänzen<br />
und helfen sich gegenseitig. Egal ob Koch<br />
oder Küchenhilfe, arabisch oder deutsch,<br />
männlich oder weiblich: Respektiert wird<br />
hier jeder.<br />
Um halb drei am Nachmittag geht<br />
heute der letzte Salat über die Küchentheke<br />
und er ist immer noch genauso frisch<br />
wie vor zwei Stunden.<br />
Eventuell nochmal mit<br />
Salz und Pfeffer abschmecken.<br />
Am Ende die Pasta<br />
abkochen (Je nach Art<br />
die Garzeit beachten) und mit<br />
dem Tomaten-Pesto übergießen.<br />
Als Deko Parmesan oder<br />
frische Basilikumblätter<br />
benutzen.
28 ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 ALLTAG 29<br />
DAS<br />
BESETZTE<br />
HAUS<br />
Im Tommy-Weisbecker-Haus<br />
an der Wilhelmstraße finden<br />
junge Obdachlose ein<br />
Zuhause und einen Ort, an<br />
dem ihre Initiative gefragt ist<br />
FOTOS Sara Reuter<br />
TEXT Julia Gleß<br />
Ein typischer Berliner Altbau,<br />
der zwischen Brachen und<br />
Neubauten so aussieht, als<br />
hätte er als einziger die Strapazen<br />
des Zweiten Weltkrieges<br />
überstanden. Die Fassaden sind mit<br />
farbenfrohen Zeichnungen verziert. Das<br />
Tommy-Weisbecker-Haus ist ein Wohnkollektiv,<br />
das 1973 gegründet und in Eigenverwaltung<br />
von dem gemeinnützigen<br />
Verein „Sozialpädagogische Sondermaßnahmen<br />
Berlin (SSB e.V.) unterhalten wird.<br />
Benannt wurde es nach Tommy Weisbecker,<br />
einem Mitglied der linksextremistischen<br />
Terrororganisation „Bewegung<br />
2. Juni“.<br />
Im ruhigen Teil des Berliner Szene-Kiezes<br />
Kreuzberg liegt das bunte Gebäude<br />
zwischen Wilhelmstraße und dem Theodor-Wolff-Park.<br />
Mit Hilfe des SSB e.V. haben<br />
Obdachlose und junge Erwachsene,<br />
die keinen festen Schlafplatz haben, hier<br />
die Chance wieder ein selbstorganisiertes<br />
Leben zu führen. Die Bewohner können<br />
seit den 1990er Jahren hier ihre Freizeit<br />
sinnvoll gestalten. Im Erdgeschoss des<br />
Tommy-Weisbecker-Haus gibt es den Veranstaltungsraum<br />
„Schicksaal“. Hier organisieren<br />
die Mitglieder des ehrenamtlichen<br />
Kollektivs unter Anleitung Musikevents<br />
und Konzerte. Jeder soll kommen können<br />
und deshalb kosten Eintritt und Getränke<br />
höchstens ein paar Euro. Bei der Umsetzung<br />
der Projekte lernen die Bewohner<br />
Verantwortung durch eigene Aufgaben zu<br />
übernehmen. Dieses Jahr feiert der<br />
„Schicksaal“ seinen 25. Geburtstag mit<br />
vielen glücklichen Gesichtern.<br />
Mädel und Hund auf<br />
Sofa, typ heißt<br />
Yunus, 29 Jahre,-<br />
wohnt seit 1 1/2<br />
Jahren, seit 2014 im<br />
haus, Mädel + hund<br />
keine angaben<br />
Micha, 30 Jahre,<br />
wohnt seit 4 1/2<br />
Jahren, seit 2012<br />
im Haus<br />
FOTOS: Fotoklasse BEST-Sabel Designschule Berlin<br />
Mitbewohner Fleck<br />
in der Küche
30 ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 ALLTAG 31<br />
Es gibt viel zu tun. Beim Erdgeschossfest des Metropolenhauses kommen Architekten, Nachbarn und künftige Bewohner zusammen.<br />
DREI HÄUSER,<br />
EIN GEDANKE<br />
Auf dem Gelände des ehemaligen Blumengroßmarkts tut sich etwas. Zwei Baugruppen<br />
wollen hier Wohnen, Arbeiten und soziales Miteinander unter einem Dach verwirklichen.<br />
In der Ritterstraße 50 hat man damit schon erste Erfahrungen gemacht<br />
REPORTAGE Carmen Wolfschluckner<br />
Nach dem zweiten Weltkrieg<br />
lag die südliche Friedrichstadt<br />
in Schutt und Asche.<br />
In den vergangenen 50 Jahren<br />
wurde hier viel ausprobiert<br />
und gebaut. Geht man südlich des<br />
Moritzplatzes entlang, spürt man, dass die<br />
Südliche Friedrichstadt irgendwie nichts<br />
Halbes und nichts Ganzes ist. Es wohnen<br />
viele Menschen hier, Gewerbe findet man<br />
allerdings selten, was zu einem wenig bis<br />
gar nicht existierenden Straßenleben<br />
führt. Durch die großen Gärten und das<br />
viele Grün hat man mitunter das Gefühl,<br />
nicht mehr in Berlin zu sein. Der schon fast<br />
künstlerische Städtebau der teilweise vollzogen<br />
wurde, ist ungewöhnlich aber gelungen.<br />
Wohnbauten der Nachkriegszeit<br />
stoßen an neue Gebäude und prägen das<br />
Umfeld stark.<br />
Die Gegend hat viele Kreative angezogen,<br />
auch in diesem Teil von Berlin-Kreuzberg<br />
befinden sich mehr und mehr Kultureinrichtungen<br />
und Unternehmen aus<br />
dieser Branche. Vor allem Architekten sind<br />
daran interessiert die Friedrichstadt mit<br />
temporären Projekten, Galerien und Ateliers<br />
aufzulockern und Wohnen mit Gewerbe<br />
zu vermischen. Mit der Idee, die Blumengroßmarkthalle<br />
in Richtung Süden zu<br />
verlegen, wurde ein Stein ins Rollen gebracht.<br />
Die Erschließungsrampen um die<br />
Halle wurden abgerissen und so neue<br />
Grundstücke freigelegt. „Es bringt nichts,<br />
Grundstücke an irgendwelche Investoren<br />
zu verscherbeln“, sagt Architekt Christoph<br />
Heinemann vom Institut für angewandte<br />
Urbanistik, kurz ifau, das sich mit Städtebau<br />
beschäftigt. Heinemann holt sein<br />
MacBook aus der Aktentasche hervor, legt<br />
seine Zigarettenschachtel auf den Tisch<br />
und fängt an zu erzählen: „Die Südliche<br />
Foto: Philipp Schulze<br />
Friedrichstadt hat nach dem Mauerfall<br />
sehr gelitten. Es kam zu keiner Entwicklung,<br />
es wurde einfach nur gebaut.“ Umdem<br />
ein Ende zu setzen, entschloss man<br />
sich die freien Grundstücke um die Markthalle<br />
nach dem Konzept der Einreichung<br />
zu vergeben. Drei Grundstücke wurden<br />
Konzeptgebunden vergeben, darunter<br />
das Metropolenhaus und das integrative<br />
Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt,<br />
bei dem auch Christoph Heinemann<br />
als Architekt mitwirkt.<br />
Auf dem Blumengroßmarkt<br />
Heinemann startet die Powerpointpräsentation<br />
auf seinem Laptop und erzählt wie<br />
das Bewerbungsverfahren um das Grundstück<br />
am ehemaligen Blumengroßmarkt<br />
lief, das unter dem Begriff „Kreativquartier“<br />
gehandelt wird. Ein typischer Marketingbegriff,<br />
den der Architekten selbst<br />
ungern benutzen will. 2013 bewarben sich<br />
die Architekturbüros ifau und Heide & Von<br />
Beckerath für das besagte Grundstück mit<br />
einem ausgearbeiteten Entwurf, der Ateliers<br />
und Wohnungen vereint. „Der Senat<br />
kauft ja nicht die Katze im Sack. Man muss<br />
so ein Projekt sehr weit im Voraus entwickeln,“<br />
sagt Heinemann. Um das zu realisieren,<br />
startete die Gruppe ein Baugemeinschaftliches<br />
Projekt mit mehreren<br />
Bauherren.<br />
Die ARGE ifau und Heide & Von Beckerath<br />
Architekten wollen Mietwohnungen<br />
und Ateliers für Kreativtätige unterbringen,<br />
die Selbstbaugenossenschaft<br />
Berlin eG hilft die Mieten mit Eigentumswohnungen<br />
zu decken. So ist es möglich,<br />
die Mietwohnungen angepasst auf das<br />
Einkommen von Leuten der Kreativbranche<br />
auf einem bestimmten Niveau zu halten.<br />
Der dritte im Bunde ist ein sozialer<br />
Träger, die Sinneswandel GmbH, die<br />
Apartments für gehörlose Menschen<br />
suchte. Die Gegend ist dafür ideal, zwei<br />
Straßen weiter ist unter anderem eine<br />
Schule für Gehörlose. Drei Jahre nach der<br />
Einreichung befinden sich die Architekten<br />
nun in der Bauphase. Das Haus soll Ende<br />
2017 fertig sein.<br />
„Wir wollten mit möglichst wenig Aufwand<br />
viel erreichen“, erklärt Christoph<br />
Heinemann „denn das Haus ist einfach<br />
und zugleich super kompliziert. Wichtig<br />
ist, dass alle gleich behandelt werden. Wir<br />
unterscheiden nicht zwischen jemandem<br />
der in der Genossenschaft oder der Baugemeinschaft<br />
ist.“ Gerade für kreative<br />
Köpfe ist die Lage der Wohnungen und<br />
Arbeitsräume perfekt. Es sind beispiels-<br />
„<br />
verscherbeln<br />
Es bringt nichts,<br />
Grundstücke an<br />
irgendwelche<br />
Investoren zu<br />
Christoph Heinemann, Architekt<br />
Entwurf des Integrativen Bauprojekts am ehemaligen Blumengroßmarkt<br />
Bildquelle: ARGE ifau und Heide & Von Beckerath<br />
weise nur wenige Minuten Fußweg zur<br />
Friedrichstraße und der Architektur- und<br />
Künstlerbedarfsladen Modulor ist nicht<br />
weit entfernt.<br />
Im Untergeschoss des Gebäudes befinden<br />
sich fünf Meter hohe Ateliers, zusätzlich<br />
gibt es Eigentumswohnungen für<br />
Familien oder Wohngemeinschaften, Maisonettwohnungen<br />
und kleine Apartments.<br />
Um eine starke Verzahnung zwischen<br />
Wohnen und Arbeiten in demselben Haus<br />
zu erreichen, können die Apartments mit<br />
einem Atelier zusammengeschlossen werden.<br />
„Hätten wir die Wohnungen im Internet<br />
angeboten, wären sie sofort weggewesen,<br />
aber dann hätten wir auch die<br />
entsprechenden Leute gehabt mit bestimmten<br />
Forderungen“, sagt Heinemann.<br />
Das Grundstück wurde mit einer Kerngruppe<br />
von 15 Leuten gekauft, die das<br />
Konzept verstanden und getragen haben.<br />
Personen zu finden, die ein Projekt dieses<br />
Ausmaßes unterstützen, ist nicht so leicht,<br />
es braucht viel Vertrauen von allen Seiten.<br />
„Wir haben das Projekt vielen Leuten vorgestellt<br />
und uns sehr viel Zeit gelassen, bis<br />
wir das Haus voll hatten. Absurderweise<br />
ist ausgerechnet eine Familie, die das Projekt<br />
mitentwickelt hatte, abgesprungen.<br />
Aber das gibt es eben manchmal“, sagt<br />
der Architekt, der selbst viel Wert auf eine<br />
gute Hausgemeinschaft legt.<br />
Im Haus gibt es neben Familien mit<br />
Kindern und WGs auch ältere Leute. Die<br />
Altersspanne ist enorm und dementsprehend<br />
konfliktbeladen. „In so einer großen<br />
Gruppe kann man keinen Konsens erreichen.<br />
Am Ende haben wir aber eine gute<br />
Hausgemeinschaft in der sich alle kennen<br />
und gut miteinander auskommen. Wenn<br />
man gleichzeitig einzieht hat das einen<br />
Rieseneffekt“, beteuert Heinemann, der<br />
aus Erfahrung spricht. Seit zwei Jahren<br />
wohnt der Architekt in der Ritterstraße 50,<br />
kurz R50 genannt.<br />
In der Ritterstraße 50<br />
Die Ritterstraße sollte ursprünglich zu einer<br />
Stadtautobahn umgebaut werden,<br />
dort wo heute Hausnummer 50 steht,<br />
wäre die Auffahrt gewesen. Dazu ist es<br />
aber nie gekommen und der Berliner Senat<br />
hat das freie Land an eine private Baugemeinschaft<br />
vergeben. Auch hier waren<br />
die Architekten der ARGE ifau, Heide &<br />
von Beckerath und zusätzlich der Architekt<br />
Jesko Fezer am Werk. Sie schlossen sich<br />
zu einer Baugruppe zusammen und kauften<br />
das Grundstück, mit dem Konzept, ein<br />
gemeinschaftliches Wohnprojekt, auch<br />
CoHousing genannt, in Berlin zu errichten.<br />
CoHousing ist ein nachhaltiges und<br />
innovatives Konzept für das Wohnen und<br />
Zusammenleben in Großstädten für Men-
32 ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 ALLTAG 33<br />
schen, die selbstorganisiert, aber gemeinschaftlich<br />
leben möchten. Das Haus wirkt<br />
von außen nüchtern und wenig einladend,<br />
aber dennoch modern. „Die komplett<br />
durchgezogenen Balkone sind ungewöhnlich<br />
und haben schon sehr viel Aufsehen<br />
in der Nachbarschaft erregt, da sie<br />
zu schmal sind für Stühle oder Tische“,<br />
erzählt Architekt Jesko Fezer, der im<br />
sechsten Stock mit seiner Familie ein<br />
Apartment bewohnt. Da der Boden und<br />
die Decke aus grauem Beton sind, hilft<br />
das viele Tageslicht der Fenster die Wohnung<br />
größer und heller erscheinen zu lassen.<br />
Im Hause Fezer strahlt die Sonne auf<br />
das meterlange Bücherregal und die vielen<br />
Topfpflanzen, die im Wohnzimmer<br />
verteilt stehen. Das Haus wurde so kostengünstig<br />
wie möglich gebaut, die Türen zu<br />
Bad und WC sind beispielsweise aus gelbem<br />
Kunststoff, wie bei mobilen Toilettenkabinen<br />
– auch das ist etwas, das sicher<br />
nicht jedem auf Anhieb einleuchtet.<br />
In der Umgebung leben vor allem ältere<br />
Menschen, die das Haus anfangs<br />
missverstanden und erst für eine Parkgarage<br />
und dann für ein Gefängnis hielten.<br />
„Sie müssen sich bis heute noch daran<br />
gewöhnen“, sagt Jesko Fezer. „Als wir das<br />
erste Mal Wäsche in unserem Garten aufhingen,<br />
kam ein Nachbar und sagte uns,<br />
dass wir das nicht machen können und<br />
fragte, was unser Vermieter wohl sagen<br />
würde? Tja, wir haben keinen. Tatsächlich<br />
können wir alles selbst entscheiden.“<br />
Eine baugemeinschaftliche Gruppe zu<br />
gründen, bedeutet, dass mehrere Personen<br />
zusammen ein Stück Land erwerben<br />
und ein Haus bauen. Die Bewohner haben<br />
keine klassischen Mietgebühren, sondern<br />
jede Familie bezahlt ihren eigenen Kredit<br />
Benita Braun-Feldweg mit Partner Matthias<br />
Muffert, bfstudio-architekten<br />
Foto: Philipp Schulze<br />
ab, der Teil des Gesamtkredits für das<br />
Haus ist. Manche bezahlen mehr, manche<br />
weniger. „Ein Gebäude zu besitzen bedeutet,<br />
man hat die volle Kontrolle über<br />
alles, was passiert. Wir wollten alles selbst<br />
entscheiden und nicht als einzelne Individuen<br />
leben, sondern so viel wie möglich<br />
miteinander teilen. Wir wollten etwas Radikales<br />
machen und umdenken, was das<br />
Leben miteinander betrifft“, beschreibt<br />
Jesko Fezer das Projekt R50. Für gemeinschaftliche<br />
Aktivitäten wurde ein Raum im<br />
Erdgeschoss gebaut, der halbversenkt<br />
und völlig gläsern ist. Der Gemeinschaftsraum<br />
soll eine offene Beziehung zwischen<br />
Haus und Stadt widerspiegeln.<br />
Am Metropolenhaus<br />
Die Beziehung zwischen Haus und Umgebung<br />
spielt auch für das Metropolenhaus<br />
eine große Rolle. Der Architektin Benita<br />
Braun-Feldweg ist es extrem wichtig, dass<br />
Design als ein Anlass zur sozialen Begegnung<br />
verstanden wird. Zusammen mit anderen<br />
Architekten hat sie eine Projektgesellschaft<br />
gegründet und sich mit einem<br />
Nutzungsprojekt um ein Grundstück in<br />
der Friedrichstadt beworben. Da hier viele<br />
Menschen nicht deutscher Herkunft leben,<br />
Wohnungen überbelegt sind und es<br />
wenig Orte für ein Miteinander gibt, stand<br />
bei ihrem Projekt an erster Stelle, nicht nur<br />
Wohnungen zu bauen, sondern auch für<br />
Die meisten<br />
Geschäfte mache<br />
ich auf der Straße<br />
„Benita Braun-Feldweg , Architektin<br />
Gemeinschaftsräume, Projekträume und<br />
Gastronomie zu sorgen. „Wir wollen auf<br />
verschiedenste Art und Weise Kommunikation<br />
erschaffen. Die Nachbarschaft ist<br />
sehr besonders, es gibt unglaublich viele<br />
Ressourcen“, sagt die Architektin. So entstand<br />
kurzer Hand für das Erdgeschossfest<br />
im Mai beispielsweise eine Nachbarschaftsband.<br />
Bevor es mit dem eigentlichen Bau<br />
losging gab es auf dem leeren Baufeld<br />
bereits einen Open Air Coffee Shop, einen<br />
irischen Fish & Chips Laden, sowie<br />
eine Ausstellung einer Designkooperation<br />
mit einer der umliegenden Grundschulen.<br />
„Interkulturelles Mosaik“ nennen die Architekten<br />
ihr Konzept. 70 Prozent der Fläche<br />
sind für Wohnen vorgesehen und 30<br />
Prozent für Gewerbe. Das Herzstück ist<br />
Metropolenhaus - Interkulturelles Mosaik<br />
das Erdgeschoss mit Lernwerkstätten und<br />
Aktionsräumen. Hierfür wurde ein gemeinnütziger<br />
Verein gegründet, der helfen<br />
soll, diese Räume mit Workshops,<br />
Tanzveranstaltungen oder auch Modeevents<br />
unterschiedlich zu bespielen.<br />
„Nichtsdestotrotz, für Kultur braucht man<br />
Geld“, sagt Braun-Feldweg. Um die temporäre<br />
Nutzung der Räume zu ermöglichen<br />
und den Bau zu finanzieren, werden<br />
die Wohnungen von der ersten bis zur<br />
sechsten Etage verkauft.<br />
Anders als bei den Projekten Blumengroßmarkt<br />
und R50, wo Architekten und<br />
künftige Bewohner sich zusammengeschlossen<br />
haben, muss das Metropolenhaus<br />
Partner finden, die das Konzept finanzieren<br />
möchten. Dafür finden im<br />
kleinen Büro in der Nähe des Jüdischen<br />
Museums zwei bis drei mal die Woche<br />
Meetings statt. „Das ist total spannend. In<br />
unserem Sanierungsbeirat sitzen auch Designer<br />
und Vertriebskoodinatoren. Da versucht<br />
ein ganz anderer Kreis herauszufinden,<br />
wie man sich in der Umgebung<br />
vernetzen kann“, erzählt die Architektin.<br />
Vor diesem Metropolenhaus gab es bereits<br />
zwei andere. Damals wollten die Architekten<br />
eine Espressobar im Erdgeschoss<br />
einrichten, was finanziell nicht<br />
möglich war. Der Rat der Architektin ist<br />
deshalb, immer quer zu finanzieren. „Wir<br />
haben es diesmal lange ohne eine Bankenfinanzierung<br />
geschafft, da wir Gelder<br />
von Privatpersonen hatten und damit das<br />
Grundstück kaufen konnten. Erst nachdem<br />
wir 30 Prozent der Wohnungen verkauft<br />
hatten, haben wir eine Finanzierung<br />
in Anspruch genommen“, berichtet sie.<br />
Vom ersten Gespräch bis zum Verkauf<br />
vergehen oft viele Wochen bis die<br />
Unterschrift schließlich steht, denn es ist<br />
wichtig, dass die Bewohner erfahren,<br />
was im Erdgeschoss passiert. „Sonst<br />
würde da ein Starbucks oder drei Souvenirläden<br />
einziehen, was nichts mit dem<br />
Quartier zu tun hat“, erklärt Braun-Feldweg.<br />
„Der Fokus liegt immer auf dem<br />
Erdgeschoss. Wir wollen für unser Haus<br />
keine Leute gewinnen, die das dann weitervermieten.<br />
Wir wollen, dass die hier<br />
wohnen.“<br />
Eine Wohnung im Haus nennt sie liebevoll<br />
die „Schnorchelwohnung“, weil<br />
sie mehr lang als breit ist. „Das ist eine<br />
ganz tolle Wohnung, aber es ist nicht<br />
einfach, jemanden dafür zu finden. Man<br />
hat einen Laufmeter für Bücher, Bilder<br />
oder CDs. Da muss ein Freak rein, jemand<br />
der das unbedingt will. Ich bin mir<br />
sicher wir finden so jemanden.“ Auch<br />
das Metropolenhaus – ein Herkules-Pro-<br />
Bildquelle: Architektin Braun-Feldweg<br />
jekt, wie es die Architektin betitelt – soll<br />
im Sommer 2017 fertig werden. Es lebt<br />
von Kommunikation, Vertrauen und<br />
den Bewohnern Kreuzbergs. „Das Ganze<br />
wäre nicht möglich, würden wir nicht<br />
hier wohnen. Die meisten Geschäfte<br />
mache ich auf der Straße“, sagt Benita<br />
Braun-Feldweg und lacht.<br />
Das Haus in der Ritterstraße 50<br />
Foto: Carmen Wolfschluckner<br />
Interview<br />
JESKO FEZER<br />
Der Architekt über das Zusammenleben<br />
in der Ritterstraße 50 und die<br />
Frage, wie viele Grundregeln es<br />
überhaupt braucht.<br />
Wer wohnt hier?<br />
Wir sind eine ziemlich homogene<br />
Gruppe von Menschen. Die Wohnungen<br />
sind 70-130 Quadratmeter groß.<br />
Darin leben viele Familien mit<br />
Kindern oder auch Paare, alle<br />
zwischen 30 und 60 Jahren.<br />
Wie ist das Zusammenleben?<br />
Wir haben einen normalen Lebensstil.<br />
Wenn ich mich zurückziehen möchte,<br />
dann ist das natürlich möglich. Treffe<br />
ich jemanden im Haus, unterhalten<br />
wir uns und machen Pläne für später.<br />
Im Sommer grillen wir auf der<br />
Dachterrasse oder trinken Bier ehe<br />
die Kinder im Bett sind. Wir veranstalten<br />
auch jedes Jahr eine Sommerparty<br />
und besprechen Finanzielles und<br />
andere Dinge in regelmäßigen<br />
Meetings. Im Januar hatte wir<br />
beispielsweise eine Flüchtlingsfamilie<br />
in unserem Gemeinschaftsraum, wo<br />
wir türkischen Kindern oft Deutsch<br />
Unterricht geben oder gemeinsam<br />
Musik machen. Es gibt eine bestimmte<br />
Intimität in unserem Haus, aber<br />
andererseits ist es auch groß genug<br />
um sich zu ignorieren. (lacht)<br />
Gibt es Grundregeln?<br />
Wir hatten vor dem Einzug angefangen<br />
ein Manifest zu schreiben, es<br />
aber glücklicherweise nie zu Ende<br />
gebracht. Das ist ein gutes Zeichen,<br />
weil anscheinend alles gut läuft. Wir<br />
arbeiten zwar weiter daran, vor allem<br />
muss entschieden werden wie wir<br />
vorgehen wenn jemand seine<br />
Wohnung verkaufen möchte. Eigentlich<br />
hat das Manifest aber einen<br />
symbolischen Charakter.<br />
Was braucht es, um so ein Projekt<br />
umzusetzen?<br />
Vertrauen. Es ist ein Risiko, einen<br />
Kredit aufzunehmen und dann ein<br />
Haus zu bauen ohne bestimmte<br />
Dinge im Voraus abzuklären. Da wir<br />
uns aber alle schon kannten, verstanden<br />
wir uns sehr gut und vertrauten<br />
einander. Es gab Leute die nicht<br />
einziehen wollten weil wir im Vorhinein<br />
nicht besprachen, ob wir Graffitis<br />
an der Wand erlauben oder nicht.<br />
Über so etwas zu diskutieren ist<br />
unsinnig.
34 ALLTAG<br />
SOMMER 2016 Die Friedrichstadt Die Friedrichstadt SOMMER 2016 ALLTAG 35<br />
KEIN<br />
HERZ<br />
FÜR<br />
KINDER<br />
INTERVIEWS Nastassia Schubarth<br />
Mütter mit Kinderwagen<br />
sieht man in der Südlichen<br />
Friedrichstadt genug.<br />
Schöne Spielplätze sind<br />
hingegen Mangelware.<br />
Mehr als ein paar verlassene Schaukeln<br />
und vereinzelte Wippen finden sich in dieser<br />
Gegend nicht. Die Kinder, die man<br />
hier sieht, spielen auf dem harten Asphalt.<br />
Und auch sonst ist der Bereich um den<br />
Mehringplatz herum nicht besonders kinderfreundlich<br />
gestaltet. Weder Kitas, Horte<br />
oder sonstige Angebote für die Kleinen<br />
sind auf den ersten Blick zu erkennen.<br />
Alles wirkt eher wie eine große Baustelle.<br />
Wer einen sauberen und abenteuerlichen<br />
Ort für seine Kinder zum Spielen sucht,<br />
muss schon das Gleisdreieck oder den<br />
Bergmannkiez aufsuchen. Zu weit für die<br />
meisten Eltern, die arbeiten gehen.<br />
Foto: Nastassia Schubarth<br />
Warum sind Spielplätze<br />
für Sie wichtig?<br />
Welche Defizite beobachten<br />
Sie auf Spielplätzen?<br />
Inwiefern könnte die südliche<br />
Friedrichstadt durch Errichtung<br />
von Spielplätzen attraktiver für<br />
junge Leute werden?<br />
Gibt es hier gute Spielplätze?<br />
Wie hätte die südliche<br />
Friedrichstadt die Chance, einen<br />
Status als zweites Prenzlauerberg<br />
zu bekommen?<br />
Lässt der Verkehr es zu,<br />
dass man die Kinder<br />
auch unbeaufsichtigt spielen<br />
lassen kann?<br />
Ist die Südliche Friedrichstadt<br />
generell kinderfreundlich?<br />
Wie finden sie es, dass der<br />
Theodor-Wolff-Park in einen<br />
großen Abenteuerspielplatz<br />
verwandelt werden soll?<br />
Name: Martin<br />
Ort: U-Bahnhof Hallesches Tor<br />
Alter: 37 Jahre<br />
Kind: Tochter, 3 Jahre alt<br />
Weil es der einzige Ort ist, an dem man<br />
die Kleinen laufen lassen kann, ohne auf<br />
den Verkehr aufpassen zu müssen.<br />
Mangelnde Sauberkeit. Ansonsten sind<br />
die Spielplätze ganz okay.<br />
Je mehr Spielplätze, umso mehr Kinder,<br />
umso mehr Leben.<br />
Ich gehe hier in der Südlichen<br />
Friedrichstadt eher nur mit dem<br />
Kinderwagen spazieren, weil es kaum<br />
welche gibt und alle sehr dreckig sind.<br />
Hoffentlich gar nicht.<br />
Nein, ich glaube nicht. Es gibt zwar<br />
verkehrsberuhigte Bereiche, aber da<br />
möchte man seine Kinder auch nicht<br />
unbedingt spielen lassen.<br />
Die Menschen und das Umfeld hier sind<br />
kinderfreundlich. Die Infrastruktur<br />
könnte aber auf jeden Fall noch<br />
kinderfreundlicher werden. Das trifft<br />
aber eigentlich auf fast jeden Ort in<br />
Berlin zu.<br />
Gut, es gibt ja auch einen relativ neuen<br />
am Gleisdreieckpark, der sehr schön ist.<br />
Große Parks sind besser, weil mehr<br />
Leute kommen und es so mehr sozialen<br />
Kontakt für die Kleinen gibt.<br />
Name: Samira<br />
Ort: Café Bargeflüster<br />
Alter: 29 Jahre<br />
Kind: Tochter, vier Jahre alt<br />
Für die Bewegung, dazu kommt man ja<br />
heutzutage kaum noch ohne Kinder.<br />
Dreck und Müll. Es gibt in der Gegend<br />
wenig intakte Spielplätze. Ich bin mit<br />
meiner Tochter deshalb selten zum<br />
Spielen hier. Die meisten Kinder spielen<br />
auf dem Asphalt. Wir gehen lieber in<br />
den Wald.<br />
Da müsste sich etwas an der Einstellung<br />
der Menschen ändern, die hier wohnen.<br />
Denn auch neue Spielplätze würden<br />
wieder verdreckt werden. Für Müll sind<br />
nämlich meistens die Menschen<br />
verantwortlich.<br />
Mir fällt keiner ein, wo ich jetzt gerne<br />
mit meiner Tochter hingehen würde.<br />
Hat sie das vor? Hier wohnen eigentlich<br />
schon genügend Leute, die Häuser sind<br />
ja ziemlich voll. Aber ich glaube wenn,<br />
dann müssten andere Leute herziehen.<br />
Dann könnte es bestimmt so werden.<br />
Ja, dadurch, dass es hier einen<br />
verkehrsberuhigten Bereich gibt, geht<br />
das. Ich würde mein Kind trotzdem<br />
nicht unbedingt alleine hier spielen<br />
lassen, weil es kaum Spielmöglichkeiten<br />
gibt.<br />
In Richtung Bergmannstraße schon,<br />
aber die gehört ja nicht mehr zur<br />
Südlichen Friedrichstadt. Sonst gibt es<br />
halt einfach nicht genügend Angebote.<br />
Da bauen sie seit geraumer Zeit. Vorher<br />
waren dort auch wenigstens Schaukeln,<br />
drei Stück sogar. Ich finde das super,<br />
dann müssten wir nicht mehr so weit<br />
raus in den Wald fahren.<br />
Name: Ismail und Saida<br />
Ort: Friedrichstraße<br />
Alter: 35 und 28 Jahre<br />
Kinder: Sohn, zwei Jahre alt<br />
Tochter, drei Monate alt<br />
Mein Kind braucht viel Platz zum<br />
Spielen. Im Haus geht das nicht, weil es<br />
ein Problem für die Nachbarn wäre,<br />
wegen der Lautstärke. Da ist der<br />
Spielplatz die optimale Lösung.<br />
Der Sand ist ein Problem. Ich glaube,<br />
dass sich Holz besser eignen würde.<br />
Jedes Mal wenn ich mit meiner Tochter<br />
nach Hause gehe, muss sie gewaschen<br />
werden, weil sich der Sand überall<br />
sammelt.<br />
Mit der Errichtung von bezahlbaren<br />
Indoor-Spielplätzen für kalte Tage wäre<br />
das Viertel sicherlich attraktiver für<br />
junge Menschen. Aber alle<br />
geschlossenen Spielplätze sind teuer<br />
und weit entfernt.<br />
Ja gibt es, aber sehr kleine. Ein<br />
größerer wäre schön.<br />
Prenzlauerberg ist unter anderem<br />
wegen seiner Altbauten attraktiv. Hier<br />
im Kiez gibt es hauptsächlich<br />
Neubauten und es wird viel gebaut.<br />
Da müsste unser Kiez schon etwas<br />
zusätzlich haben, was die anderen<br />
Bezirke nicht haben.<br />
Nicht in allen Straßen. Ich muss meine<br />
Augen immer offen halten und meine<br />
Tochter beobachten. Nur in einem<br />
Indoor-Spielplatz habe ich die<br />
Sicherheit, meine Tochter<br />
unbeaufsichtigt spielen zu lassen.<br />
Bis auf ein paar Ausnahmen sind<br />
zumindest die Menschen hier sehr<br />
kinderfreundlich.<br />
Das ist eine sehr gute Idee. Hier ist ein<br />
guter Platz dafür, weil es viele Kinder<br />
gibt und der Park nahegelegen ist. Die<br />
Kinder könnten dort sicher spielen,<br />
ohne Autos und Fahrräder.<br />
IMPRESSUM<br />
Verantwortliche Dozenten<br />
Janine Sack (Layout)<br />
Christine Käppeler (Text)<br />
Olga Blumhardt (Studienleitung,<br />
V.i.S.d.P.)<br />
Redaktion<br />
Geena Birkenmeier<br />
Liesa Eschemann<br />
Merit Geier<br />
Zsa Zsa Gersina<br />
Julia Gleß<br />
Rebecca Koppitz<br />
Marie-Luise Kramer<br />
Linda Krüger<br />
Jessica März<br />
Janina Oehlbrecht<br />
Mirta Sander<br />
Nastassia Schubarth<br />
Geraldine Simdorn<br />
Carmen Wolfschluckner<br />
Illustrationen<br />
Julia Gleß<br />
Merit Geier<br />
Geraldine Simdorn<br />
Fotos<br />
Felix Conrad<br />
Liesa Fuchs<br />
Sara Reuter<br />
Philip Schulze<br />
Wir danken für die Fotografien<br />
der Klasse F14 der BEST-Sabel<br />
Designschule Berlin und ihrer<br />
Dozentin Nora Bibel.<br />
DIE FRIEDRICHSTADT ist ein<br />
Studienprojekt des 4. Semesters im<br />
Ausbildungsgang Modejournalismus/Medienkommunikation<br />
an der<br />
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