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ianus 5/2000 - IANUS - Technische Universität Darmstadt

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<strong>IANUS</strong><br />

Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit<br />

Interdisciplinary Research Group Science, Technology and Security<br />

Arbeitsbericht <strong>IANUS</strong> 5/<strong>2000</strong><br />

Working Paper<br />

M. E. Hummel, Prof. Dr. H. R. Simon, Dr. J. Scheffran (Hrsg.)<br />

3. Symposium Konfliktfeld Biodiversität<br />

<strong>IANUS</strong> - <strong>Technische</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Darmstadt</strong> - Hochschulstraße 4a, Geb. S2/09<br />

D-64289 <strong>Darmstadt</strong>, Germany<br />

Tel.: 0 61 51/16 43 68 (Sekretariat) - Fax: 0 61 51/16 60 39<br />

Mail: <strong>ianus</strong>@hrzpub.tu-darmstadt.de - Internet: http://www.<strong>ianus</strong>.tu-darmstadt.de


Vorwort der Herausgeber<br />

Der vorliegende <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht dokumentiert das 3. <strong>IANUS</strong>-Symposium „Konfliktfeld Biodiversität“,<br />

das am 17. und 18. Februar <strong>2000</strong> in <strong>Darmstadt</strong> stattfand. Wie die vorangegangenen<br />

Symposien in den Jahren 1998 und 1999 ging es dabei sowohl darum, einen Überblick über aktuelle<br />

Fragestellungen der Biodiversitätsforschung zu gewinnen, als auch um die Auseinandersetzung<br />

mit ausgewählten Konfliktbereichen. Was die aktuellen Fragestellungen der Biodiversitätsforschung<br />

angeht, widmete sich das 3. <strong>IANUS</strong>-Symposium „Konfliktfeld Biodiversität“ überwiegend<br />

aktuellen Forschungsfragen in der Biologie. Gerold Kier und Jens Mutke vom Institut für Botanik<br />

der <strong>Universität</strong> Bonn berichteten von ihren Bemühungen zur Kartierung der biologischen Vielfalt<br />

der Erde. Thomas Wagner vom Forschungsinstitut und Museum Alexander König in Bonn vermittelte<br />

einen Eindruck zeitgemäßer biologischer Feldforschung zur Bestimmung der Artenzahlen<br />

baumbewohnender Insekten (Arthropoden) im tropischen Afrika.<br />

Die behandelten Konfliktfelder um biologische Vielfalt betrafen die Themenbereiche Agrobiodiversität,<br />

Ex-situ-Sammlungen und genetische Sicherheit. Im Themenbereich Agrobiodiversität steht<br />

den Zielen der Bewahrung der Diversität von Nutzpflanzensorten sowie der Entwicklung nachhaltiger<br />

Anbaumethoden im Sinne der Konvention zur biologischen Vielfalt eine industrialisierte, von<br />

modernen Life-Sciences-Unternehmen propagierte Hochertrags- und Monokultur-Landwirtschaft<br />

gegenüber. Thomas Gladis von der Zentralstelle Agrardokumentation und -information (ZADI) in<br />

Bonn sowie Jürgen Pohlan von der <strong>Universität</strong> Bonn konnten jedoch auf bemerkenswerte Beispiele<br />

des Erhalts bzw. der Gestaltung einer Vielfalt bewahrenden landwirtschaftlichen Kultur verweisen.<br />

Ali Hensel vom Werkhof <strong>Darmstadt</strong> e.V. verdeutlichte aber in einem Kurzreferat, wie leichtfertig<br />

Ansätze nachhaltiger Landwirtschaft in Entwicklungsländern durch bedeutende Abnehmerländer<br />

der Agrarprodukte aufs Spiel gesetzt werden können.<br />

Ex-situ-Sammlungen stehen seit Beginn der Verhandlungen der Konvention zur biologischen Vielfalt<br />

in einem besonderen Spannungsfeld. Es ist einerseits strittig, welche Rolle botanische Gärten<br />

und Genbanken bei der Verwirklichung der Zielsetzung des Erhalts der biologischen Vielfalt spielen<br />

können und sollen. Andererseits besteht ein großes Nutzungsinteresse an den vergleichsweise<br />

einfach verfügbaren, systematisch aufgearbeiteten und katalogisierten genetischen Ressourcen in<br />

diesen Sammlungen seitens der Biotechnologie-Industrie. Und schließlich sehen sich Ex-situ-<br />

Sammlungen der unklaren Verpflichtung zu einer gerechten Beteiligung der Herkunftsländer an<br />

den Gewinnen bei der Sammlung und Weitergabe genetischer Ressourcen gegenüber. Dieses<br />

Spannungsfeld konnte Stefan Schneckenburger von der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Darmstadt</strong> aus<br />

der Sicht des Leiters eines botanischen Gartens anschaulich beleuchten. Dietrich von Knorre vom<br />

Phyletischen Museum der <strong>Universität</strong> Jena machte außerdem in eindringlicher Weise auf die Vernachlässigung<br />

naturkundlicher Sammlungen aufmerksam, die zur Sicherung unseres Wissens über<br />

die biologische Vielfalt unersetzlich sind. Den damit verbundenen Schwund des Wissens bezeichnete<br />

er als 2. Biodiversitätskrise.<br />

Die Züchtung und Verbreitung lebender, gentechnisch veränderter Organismen stellt eine in ihrem<br />

Ausmaß noch nicht absehbare Bedrohung der biologischen Vielfalt dar. Die notwendige Regulierung<br />

der grenzüberschreitenden Verbringung solcher Organismen war lange Zeit Gegenstand heftiger<br />

Kontroversen im Rahmen der Konvention zur biologischen Vielfalt. Wenige Tage vor Beginn<br />

des 3. <strong>IANUS</strong>-Symposiums war es jedoch gelungen, in Montreal das sog. Cartagena-Protokoll zur<br />

genetischen Sicherheit nach jahrelangen, intensiven Verhandlungen zu verabschieden. Hartmut<br />

Meyer vom Forum Umwelt & Entwicklung und Christine von Weizsäcker von Ecoropa konnten uns<br />

daher aus erster Hand vom Konfliktbereich genetische Sicherheit, seiner erfolgreichen Regulierung<br />

und weiteren offenen Fragen berichten. Während Hartmut Meyer die Bedeutung des sog. Biosafety-Protokolls<br />

aufzeigen konnte, schilderte Christine von Weizsäcker eindrücklich die Schwierigkeiten<br />

und Problembereiche im Verlaufe des Verhandlungsprozesses zu dem Protokoll. Der Beitrag<br />

von Christine von Weizsäcker ist jedoch in dem vorliegenden <strong>IANUS</strong>-Arbeitsbericht nicht enthalten<br />

und wird erst in einer von uns für das Jahr 2001 geplanten Buchveröffentlichung zum Konfliktfeld<br />

Biodiversität erscheinen.


Zum Abschluß des Symposiums stellte Horst Freiberg, der Koordinator des deutschen Clearing-<br />

House-Mechanismus bei der ZADI in Bonn, den Clearing-House-Mechanismus der Konvention zur<br />

biologischen Vielfalt vor. Als Informations- und Kooperationssystem halten wir einen solchen Mechanismus<br />

für einen hilfreichen Ansatz, der durch die Schaffung von Transparenz für alle Verhandlungspartner<br />

zur Lösung von Konflikten im Verlaufe des Verhandlungsprozesses beitragen kann.<br />

Wie bereits erwähnt wurde, ist für das Jahr 2001 eine Buchveröffentlichung zum „Konfliktfeld Biodiversität“<br />

geplant, die inhaltlich alle 3 <strong>IANUS</strong>-Symposien zu diesem Thema aufarbeiten soll. Dieses<br />

Buch soll in der Reihe „Darmstädter interdisziplinäre Studien“ im Agenda-Verlag erscheinen.<br />

<strong>Darmstadt</strong>, im November <strong>2000</strong><br />

Matthias E. Hummel<br />

Jürgen Scheffran<br />

Hans-Reiner Simon


Matthias E. Hummel, Hans-Reiner Simon, Jürgen Scheffran (Hrsg.)<br />

3. Symposium Konfliktfeld Biodiversität<br />

1. Die biologische Vielfalt der Erde:<br />

Stand und Probleme der aktuellen Forschung<br />

Gerold Kier:<br />

Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus<br />

und Artenreichtum<br />

Jens Mutke:<br />

Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt – das Beispiel der<br />

Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Thomas Wagner:<br />

Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas - Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit<br />

von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

2. Ausgewählte Konfliktbereiche<br />

2.1 Agrobiodiversität<br />

Thomas Gladis:<br />

Agrobiodiversität – Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

Jürgen Pohlan:<br />

Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale<br />

und biodiversitive Armut - Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Ali Hensel:<br />

Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

2.2 Ex-Situ-Sammlungen<br />

Stefan Schneckenburger:<br />

Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Dietrich v. Knorre:<br />

Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher<br />

Sammlungen<br />

Hartmut Meyer:<br />

Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

2.3 Genetische Sicherheit<br />

3. Ansatz zur Konfliktlösung<br />

Horst Freiberg:<br />

Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als Informations- und<br />

Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt<br />

Verzeichnis der Autoren


1. Die biologische Vielfalt der Erde:<br />

Stand und Probleme der aktuellen Forschung


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

Gerold Kier<br />

Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die<br />

räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

Einleitung<br />

Der Erhalt der globalen Biodiversität - der Vielfalt des Lebens auf der Erde - gehört angesichts des<br />

rasanten Konsum- und Bevölkerungswachstums zu den großen Herausforderungen der heutigen<br />

Zeit. Bedingt durch konkurrierende Landnutzungsansprüche und begrenzte finanzielle Ressourcen,<br />

aber auch durch die ungleiche räumliche Verteilung biologischer Vielfalt, konzentrieren sich<br />

Schutzmaßnahmen oft auf bestimmte, als besonders wertvoll eingestufte räumliche Einheiten.<br />

Zur Bemessung des biologischen Werts eines Gebiets lassen sich viele Qualitätskriterien heranziehen<br />

(vgl. u.a. Usher 1986, Barthlott et al. 1999). Zweien von ihnen wird jedoch in der Regel besondere<br />

Aufmerksamkeit zuteil: dem Anteil an endemischen (d.h. in ihrem Vorkommen auf ein bestimmtes<br />

Gebiet beschränkten) Arten und dem Artenreichtum (d.h. der Anzahl der dort vorkommenden<br />

Arten).<br />

Artenreichtum, Endemismus und andere Parameter von Ökosystemen unterliegen einem ständigen<br />

Wandel, der sowohl natürlich als auch durch menschliche Aktivitäten verursacht sein kann.<br />

Der menschliche Einfluß hat inzwischen ein erhebliches Ausmaß erreicht, das nicht zuletzt auch<br />

durch die spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend regionen-, länder- und kontinentübergreifenden<br />

Verkehrs- und Transportwege - kurz: durch die wachsende Globalisierung -<br />

schlagartig zugenommen hat.<br />

Doch wie haben sich hierdurch Vielfalt, insbesondere Artenreichtum, und Endemismus sowie im<br />

Allgemeinen der biologische Wert verschiedener räumlicher Einheiten aus globaler Sicht verändert?<br />

Im Folgenden soll diese Frage näher untersucht, zunächst aber Maße der Vielfalt, des Endemismus<br />

und des Beitrags von Gebieten zur globalen Vielfalt vorgestellt werden.<br />

Vielfalt und Artenreichtum<br />

Inventarisierungen der Flora oder Fauna eines Gebiets beinhalten stets die Untersuchung von Individuen,<br />

welche dann - soweit identifizierbar - Arten zugeordnet werden (andere taxonomische<br />

Niveaus werden hier der Einfachheit halber nicht angesprochen, spielen bei der primären Erfassung<br />

aber auch meist eine geringere Rolle als das Artniveau). Je nach Intensität und Zielsetzung<br />

der Erhebung kann hierbei das bloße Vorkommen einer Art oder aber - weitaus aufwendiger - die<br />

Biomasse oder Anzahl der Individuen (Abundanz) der Art erfaßt werden.<br />

Demzufolge stützen sich Maße der Vielfalt meist auf die Anzahl der Arten sowie gelegentlich auch<br />

zusätzlich auf die Verteilung der Individuen auf die Arten. Da sich die meisten Angaben jedoch,<br />

insbesondere bei großräumigen Erhebungen, auf das Vorkommen einzelner Arten beschränken,<br />

ist der Artenreichtum mit Abstand die meistverwendete Maßzahl für biologische Vielfalt.<br />

Hierbei ist zu beachten, daß er - ähnlich wie viele andere Merkmale - in hohem Grad vom räumlichen<br />

Maßstab abhängig ist. Auf einem Hektar im Tieflandregenwald Cuyabenos (Ecuador) finden<br />

sich beispielsweise über 800 Gefäßpflanzenarten (Valencia et al. 1994), während in einem 420mal<br />

so großen Bergregenwald-Schutzgebiet nur etwa 600 Gefäßpflanzenarten nachgewiesen werden<br />

konnten (Jens Mutke, pers. Mitt.). Auf großräumigem Maßstab fällt dieser Vergleich - bedingt durch<br />

die hohe Geodiversität, d.h. Vielfalt abiotischer Faktoren, in dieser Gegend - jedoch umgekehrt<br />

aus: in den ecuadorianischen Anden oberhalb 1000 m ü. NN wurden in einem Gebiet von ca.<br />

94 000 km² Größe bisher 9865 Gefäßpflanzenarten gefunden - mehr als doppelt so viele wie für<br />

das mit 71 100 km² nur etwas kleinere ecuadorianische Amazonastiefland (Oriente) nachgewiesen<br />

wurden (Jørgensen & León-Yánez 1999).<br />

Endemismus<br />

Der prozentuale Anteil der in ihrem Vorkommen auf ein Gebiet beschränkten Arten wird oft als<br />

Maß für den Endemismus verwendet. Dieser Index hat jedoch zwei Nachteile, die eng miteinander<br />

verknüpft sind. Zum einen enthält er keine Informationen über solche Arten, die auch außerhalb


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

des Gebiets vorkommen, und zweitens berücksichtigt er nicht die Flächengröße des betrachteten<br />

Gebiets.<br />

Letzterer Nachteil kann durch Verwendung des Bykov-Index (Bykov 1979, 1983) vermieden werden<br />

(für eine ausführliche Diskussion siehe Major 1988). Beide Nachteile können mit einer Methode<br />

vermieden werden, für deren Anwendung Rasterverbreitungskarten aller zu berücksichtigenden<br />

Arten vorliegen müssen. Hierbei wird zunächst für jede Art der Kehrwert der Arealgröße, d.h. der<br />

Anzahl der belegten Rasterfelder, berechnet (Usher 1986). Diese „inverse Arealgröße“ ist folglich<br />

um so größer, je kleiner das Verbreitungsgebiet, d.h. je „endemischer“ die Art ist. Für jedes Rasterfeld<br />

kann anschließend für alle darin vorkommenden Arten der Mittelwert der inversen Arealgrößen<br />

berechnet werden (Williams et al. 1996). Die hierbei entstehende Maßzahl für den Endemismus<br />

begegnet den beiden oben genannten Nachteilen der prozentualen Endemismuswerte, indem sie<br />

sich auf eine standardisierte Fläche (die Rasterfeldgröße) bezieht und alle vorkommenden Arten<br />

berücksichtigt.<br />

Anstatt den Mittelwert der inversen Arealgröße in jedem Rasterfeld kann man auch ihre Summe<br />

berechnen (Williams 1993). Der hierbei entstehende Index reflektiert sowohl den Artenreichtum als<br />

auch den Endemismus und kann folglich als Maß für den „Endemismus-Reichtum“ bezeichnet<br />

werden.<br />

Die oben beschriebene Methode der Berechnung inverser Arealgrößen und folglich auch des Endemismus-Reichtums<br />

setzt voraus, daß Rasterverbreitungskarten für alle relevanten Arten vorhanden<br />

sind. Die im Folgenden beschriebene Methode erlaubt eine Abschätzung dieser Werte in<br />

vielen Fällen, in denen eine solch ausführliche Datenbasis nicht vorliegt (für eine detaillierte Darstellung<br />

vgl. Kier & Barthlott, in Vorb.). Der Ausgangspunkt hierfür ist die Frage: Wie groß ist der<br />

Beitrag eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt?<br />

Beitrag zur globalen Artenvielfalt<br />

Man denke sich zwei Gebiete A und B mit jeweils genau 2 Arten, die beide jeweils endemisch für A<br />

bzw. B sind. Von beiden Gebieten kann gesagt werden, daß sie den gleichen Beitrag zur globalen<br />

Artenvielfalt leisten (im Folgenden vereinfacht als Beitrag oder C-Wert bezeichnet, von engl.<br />

contribution). Diese Aussage geht von der Überlegung aus, daß ein Gebiet einen Beitrag zur globalen<br />

Artenvielfalt leistet, indem es Arten einen Lebensraum zur Verfügung stellt. Jede Art wird<br />

folglich den Gebieten „gutgeschrieben“, in denen sie vorkommt, jedoch nur mit dem Anteil ihres<br />

Gesamtareals, der auf dieses Gebiet entfällt. Im oben genannten, sehr einfachen Beispiel beträgt<br />

der Beitrag (C-Wert) beider Gebiete demnach jeweils 2.<br />

Etwas aufwendiger wird die Rechnung für ein weiteres Gebiet (X). Von seinen zwei Arten ist eine<br />

endemisch. Die zweite kommt ansonsten nur noch in einem Gebiet Y vor, das die gleiche Fläche<br />

wie X hat. Art 2 hat also 50 % ihres Gesamtareals im Gebiet X und ergibt für dieses Gebiet folglich<br />

einen Beitrag von 0,5. Zuzüglich der einen endemischen Art beträgt der gesamte Beitrag von Gebiet<br />

X demnach 1,5.<br />

Die C-Werte einzelner Arten lassen sich folglich zum Gesamt-C-Wert addieren. Für ein Gebiet mit<br />

n Arten gilt demnach:<br />

C = C1 + C2 + ... + Cn<br />

(1)<br />

wobei der C-Wert einer Art i in einem Gebiet dem Quotient aus der internen Arealgröße Ii (d.h. der<br />

Arealgröße der Art in diesem Gebiet) und der Gesamtarealgröße Gi entspricht:<br />

Ii<br />

C = (2)<br />

i<br />

Gi<br />

Faßt man (1) und (2) zusammen, so ergibt sich für den Beitrag eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt<br />

n<br />

Ii<br />

C = ∑ (3)<br />

i = 1 Gi<br />

Wendet man diese Gleichung auf einen aus Rasterverbreitungskarten bestehenden Datensatz an<br />

und berechnet die C-Werte für jedes der Rasterfelder, mit denen die Artverbreitung erfaßt wurde,<br />

dann ergibt sich folgender Zusammenhang. Da Flächengrößen in diesem Fall naheliegenderweise<br />

als die Anzahl belegter Rasterfelder gemessen werden, ist die interne Arealgröße Ii einer Art in einem<br />

Rasterfeld gleich 1 und die globale Arealgröße gleich der gesamten Anzahl der von der Art<br />

belegten Rasterfelder:


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

C =<br />

n<br />

∑<br />

i= i G 1<br />

1 (4)<br />

In diesem Fall entspricht der C-Wert folglich der bereits oben erwähnten Summe der inversen Arealgrößen<br />

nach Williams et al. (1993).<br />

Bei der Berechnung des C-Werts wird die Fläche des entsprechenden Gebiets nicht berücksichtigt.<br />

Für den Vergleich verschiedener Gebiete kann es jedoch wichtig sein, daß sich der C-Wert auf eine<br />

einheitliche Flächengröße (d.h. eine Standardfläche) bezieht. Berechnet man die C-Werte für<br />

gleich große Rasterfelder, so beziehen sie sich automatisch auf eine Standardfläche, nämlich die<br />

Rasterfeldgröße. Berechnet man sie jedoch für unterschiedlich große Gebiete, muß für die Umrechnung<br />

auf eine Standardfläche die - im Folgenden erläuterte - mathematische Beziehung zwischen<br />

C-Werten und Flächengröße bekannt sein.<br />

Untergliedert man ein Gebiet in mehrere Teilgebiete, dann entspricht sein C-Wert der Summe der<br />

C-Werte dieser Teilgebiete. Dies ist darin begründet, daß zum einen die Gesamtarealgröße Gi<br />

auch bei der Betrachtung von Teilgebieten für jede Art gleich bleibt und daß zum anderen die von<br />

einer Art im Untersuchungsgebiet eingenommene Fläche gleich der Summe der von dieser Art in<br />

allen Teilgebieten eingenommenen Fläche sein muß. Folglich ergibt die lineare Umrechnung des<br />

C-Werts im arithmetischen Mittel den C-Wert einer Teilfläche. Der dabei entstehende flächenspezifische<br />

C-Wert, im Folgenden als Cs-Wert bezeichnet, berechnet sich demnach als<br />

C<br />

Cs = (5)<br />

A<br />

oder, gemäß Gleichung (3),<br />

n Ii<br />

∑<br />

i= Gi<br />

Cs = 1<br />

(6)<br />

A<br />

wobei A die Größe des Gebiets symbolisiert, für das der C-Wert berechnet wurde.<br />

Da der Cs-Wert im gleichen Maß wie die Summe der inversen Arealgrößen sowohl Endemismus<br />

als auch Artenreichtum reflektiert, kann er ebenfalls als Maß für den Endemismus-Reichtum bezeichnet<br />

werden.<br />

Zur Veranschaulichung sei im Folgenden ein Vergleich mit den Gesetzen der Physik genannt. Gibt<br />

man jeder Art das gleiche Gewicht, das sich gleichmäßig über ihr Verbreitungsgebiet verteilt, dann<br />

erzeugt jede Art einen unterschiedlichen „Druck“ auf ihr Areal: bei kleinräumig verbreiteten Arten<br />

ist er höher, da sich hier das Gewicht auf eine kleinere Fläche verteilt. Summiert man diese Gewichtsanteile<br />

nun für alle Arten, so entspricht das auf einem Gebiet lastende Gesamtgewicht dem<br />

C-Wert, während der auf einem Gebiet lastende Druck (= Gewichtskraft pro Flächeneinheit) dem<br />

Cs-Wert (Endemismus-Reichtum) gleichzusetzen ist.<br />

Exakte Werte des Endemismus-Reichtums zu berechnen, kann in der Praxis, insbesondere bei<br />

großen Untersuchungsgebieten und großen taxonomischen Gruppen, sehr schwierig sein, da meistens<br />

nicht die Gesamtareale aller Arten bekannt sind. Er kann jedoch abgeschätzt werden, wenn<br />

die Flora oder Fauna des Untersuchungsgebiets nach ihrem Verbreitungsspektrum in Gruppen<br />

eingeteilt wird. Die Einteilung erfolgt zu diesem Zweck in sogenannte chorologische Gruppen, d.h.<br />

Gruppen von Arten, die ein mehr oder weniger ähnliches Verbreitungsgebiet haben.<br />

Mit Hilfe dieses Verfahrens wurde eine Karte des Endemismus-Reichtums der Samenpflanzen Afrikas<br />

erstellt. Es wurde jeweils ein Wert für jede der 20 von White (1983) definierten Regionen berechnet,<br />

der als Durchschnittswert für die jeweilige Region zu verstehen ist und aus Gründen der<br />

schlechten Datenlage nicht weiter räumlich differenziert werden konnte. Im Folgenden ist beispielhaft<br />

die Berechnung für die mediterrane Zone Nordafrikas genannt.<br />

Die 4000 in dieser Region vorkommenden Arten wurden von White (1983) in sechs chorologische<br />

Gruppen unterteilt. Gemäß folgender Rechnung kann man nun zunächst einen C-Wert (C1 bis C6)<br />

für jede dieser sechs Gruppen berechnen, diese dann aufsummieren und den somit resultierenden<br />

Gesamt-C-Wert der Region anschließend auf eine Standardfläche umrechnen:<br />

1.) 800 Arten sind für diese Region endemisch, entfallen folglich mit ihrem vollen Gewicht hierauf<br />

(=> C1 = 800).<br />

2.) Die mediterrane Zone Nordafrikas bedeckt ca. 14,2 % der Fläche des gesamten Mittelmeergebiets<br />

(inklusive des europäischen und asiatischen Teils). Hierauf basierend wurde geschätzt, daß


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

die 2100 für das gesamte Mittelmeergebiet endemischen Arten (die 800 oben genannten Arten<br />

sind hier nicht enthalten) ungefähr 14,2 % ihres Verbreitungsgebiets in der mediterranen Zone<br />

Nordafrikas haben (=> C2 = 2100 x 14,2 % = 297,4).<br />

3.) Führt man diese Rechnung für alle Gruppen weiter und schätzt jeweils ab, welchen Anteil ihres<br />

Verbreitungsgebiets die Arten in der mediterranen Region Nordafrikas haben, so ergibt sich in der<br />

Summe ein C-Wert von ca. 1120 (vgl. Tab. 1).<br />

4.) Teilt man diesen C-Wert durch die Flächengröße der Region, so erhält man für den Endemismus-Reichtum<br />

einen Wert von rund 34 pro 10 000 km².<br />

Die Ergebnisse dieser Berechnungen für alle 20 Regionen Afrikas sind in Abb. 1 dargestellt. Die<br />

Daten wurden White (1983) und Davis et al. (1994) entnommen und wurden, soweit erforderlich,<br />

durch eigene Schätzungen ergänzt.<br />

Tab. 1: Berechnung des Endemismus-Reichtums der Samenpflanzen der mediterranen Zone Nordafrikas<br />

(Abgrenzung nach White 1983) als Beispiel für die Berechnung von Endemismus-Reichtum auf der Basis<br />

chorologischer Gruppen. Daten aus White (1983), ergänzt durch eigene Schätzungen. Nach Kier & Barthlott<br />

(in Druck).<br />

Chorologische Gruppe Anzahl der Arten Ii / Gi Ci<br />

Endemische Arten 800 1,000 800,0<br />

Mediterrane Endemiten 2100 0,142 297,4<br />

Boreale Arten 800 0,016 13,0<br />

Saharische Arten 120 0,043 5,1<br />

Irano-Turanische Arten 90 0,062 5,5<br />

Kosmopoliten 60 0,010 0,6<br />

C = 1121,6<br />

A = 330 000 km 2<br />

C/A = Cs = 34 / 10 000 km 2<br />

Abb. 1: Endemismus-Reichtum (Cs-Werte) der Regionen Afrikas in der Umgrenzung von White (1983). Man<br />

beachte, daß lediglich Mittelwerte für die Regionen dargestellt sind und eine weitere räumliche Differenzierung<br />

nicht vorgenommen werden konnte.


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

Biologische Globalisierung<br />

Die Verbreitungsgebiete von Tieren und Pflanzen unterliegen einem ständigen Wandel, der in vielen<br />

Fällen natürliche Ursachen haben kann. So hat sich beispielsweise auf den Hawaii-Inseln in<br />

der Zeit vor Ankunft des Menschen im Durchschnitt etwa alle 35 000 Jahre eine Pflanzen- oder<br />

Tierart erfolgreich angesiedelt (Westbrooks 1998: 53).<br />

Schon früh hat jedoch der Mensch im Zuge allmählicher Wanderungsbewegungen und durch seine<br />

Reise- und Transporttätigkeit Arten in einem Umfang verschleppt, der die natürliche Rate um Größenordnungen<br />

übersteigt. Dies geschah und geschieht sowohl absichtlich (z.B. bei Nahrungs- und<br />

Zierpflanzen) als auch unabsichtlich (z.B. durch das versehentliche Transportieren von Samen oder<br />

anderen Ausbreitungseinheiten). In jüngster Zeit stieg der Personen- und Güterverkehr in seiner<br />

Intensität schließlich explosionsartig an und wurde in zunehmendem Maße regionen-, länder-<br />

und kontinentübergreifend, wodurch sich die Rate der Einschleppung fremder Arten ebenso dramatisch<br />

erhöhte: auf Hawaii betrug sie nach der Ankunft der Polynesier im 4. Jahrhundert noch ca.<br />

drei bis vier Arten pro Jahrhundert und erreichte während der letzten zweihundert Jahre - alleine<br />

bezüglich der Pflanzenarten und -kultivare - schließlich eine Rate von rund 40 Einschleppungen<br />

pro Jahr (Westbrooks 1998: 53).<br />

Auch wenn seit Ankunft des Menschen auf Hawaii 106 Taxa (d.h. Arten, Unterarten und Varietäten)<br />

ausgestorben sind, so hat der dortige Artenreichtum doch netto enorm zugenommen: zu den<br />

ca. 1300 heimischen Taxa haben sich mittlerweile rund 8000 eingeschleppte hinzugesellt, von denen<br />

sich bereits 861 mit fortpflanzungsaktiven Populationen fest etabliert haben (Loope 1998).<br />

Während der lokale Artenreichtum auf Hawaii zugenommen hat, ist er auf globalem Maßstab jedoch<br />

in Folge der Aussterbeereignisse zurückgegangen. Ein Weg, um diesen weltweiten Verlust<br />

auch in einer lokalen Meßgröße auszudrücken, ist die Berechnung des oben erläuterten Beitrags<br />

eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt, sowohl in seiner absoluten (C-Wert) als auch in seiner flächenspezifischen<br />

Variante (Cs-Wert). Da Karten der globalen Verbreitung aller auf Hawaii vorkommenden<br />

Arten bzw. Taxa nicht in der notwendigen Form und Vollständigkeit vorliegen, kann<br />

eine exakte Rechnung an dieser Stelle nicht erfolgen. Eine grobe Abschätzung ist jedoch möglich<br />

und soll im Folgenden auf Grund der Datenlage nicht für Arten sondern für Taxa erfolgen.<br />

Wenn man davon ausgeht, daß es sich bei den 106 ausgestorbenen Taxa weitgehend um hawaiianische<br />

Endemiten handelt, so ist der C-Wert von Hawaii durch ihr Aussterben um rund 100 gesunken<br />

(siehe Gleichungen 2 und 3). Geht man weiterhin davon aus, daß die 861 etablierten eingeführten<br />

Taxa (die nicht Etablierten sollen hier nicht berücksichtigt werden) jetzt im Durchschnitt<br />

etwa ein Zehntel ihres Gesamtareals auf Hawaii haben, so beträgt der C-Wert dieser Gruppe insgesamt<br />

rund 86. Da jedoch der C-Wert, wie oben dargelegt, durch Aussterbeereignisse um rund<br />

100 gesunken ist, ergibt sich netto ein deutlicher Rückgang des C-Werts der Hawaii-Inseln. Da es<br />

sich bei den meisten eingeschleppten Arten vermutlich um sehr weitverbreitete Arten handelt, die<br />

deutlich weniger als 10 % ihres Verbreitungsgebiets auf diesem Archipel haben, ist der C-Wert von<br />

Hawaii vermutlich noch deutlich stärker gesunken. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß auf Grund<br />

der Vergrößerung des Verbreitungsgebiets der eingeführten Arten die C-Werte in ihrem ursprünglichen<br />

Verbreitungsgebiet gesunken sind.<br />

Angesichts der verheerenden Schäden, die manche eingeschleppte Arten anrichten können, mag<br />

es auf den ersten Blick abwegig erscheinen, diese überhaupt als einen Bestandteil des Beitrags<br />

eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt anzuerkennen. Denn viele von ihnen können durch ihre<br />

Konkurrenzstärke oder - bei eingeschleppten Krankheitserregern oder Tieren - durch Befall oder<br />

Fraß das Aussterben heimischer Arten verursachen. So wurden von Smith (1985) 86 der in Hawaii<br />

eingeschleppten Pflanzenarten als echte Bedrohung für die natürlichen Ökosysteme eingestuft.<br />

Dies muß sich nicht zwangsläufig und ausschließlich in der Verdrängung heimischer Arten äußern,<br />

sondern kann auch eine negative Beeinflussung von - nicht zuletzt auch für den Menschen oft sehr<br />

wertvollen - Ökosystemfunktionen zur Folge haben. Andererseits ist es in vielen Fällen auf Grund<br />

der unzureichenden Datenlage gar nicht möglich, eine Art eindeutig als heimisch oder eingeschleppt<br />

zu klassifizieren. Zudem verhält sich der größere Teil der Neuankömmlinge - zumindest<br />

vorerst - relativ unschädlich und gliedert sich sogar oftmals problemlos in das Ökosystem ein. In<br />

seltenen Fällen kann die Besiedlung des neuen Gebiets sogar essentiell für das Überleben der Art<br />

sein, wenn sie in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet ausstirbt.<br />

Letztlich kann es keinen Index geben, der alle Qualitätskriterien in objektiver Weise miteinander<br />

vereint und eine solche Vermischung ist auch in vielen Fällen für die Bewertung der in einem Ge-


Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />

biet vorhandenen Biodiversität nicht hilfreich. So reflektiert der hier vorgestellte C- bzw. Cs-Wert<br />

lediglich den - hier unabhängig vom Aufenthaltsort grundsätzlich positiv und für alle Arten gleich<br />

bemessenen - Wert der Existenz einer Art und enthält weder ein Maß für den ökosystemaren Wert<br />

der vorkommenden Arten noch für die potentiellen negativen Auswirkungen, die bestimmte Arten<br />

für den C-Wert selbst oder andere Maßzahlen für Qualitätskriterien beinhalten.<br />

Fazit<br />

Artenreichtum und Endemismus sind zwei wichtige Kriterien zur Bewertung der in einem Gebiet<br />

vorhandenen Biodiversität. Beide sind, für sich betrachtet, zur Charakterisierung des Beitrags eines<br />

Gebiets zur globalen Artenvielfalt nur eingeschränkt tauglich, und erst durch ihre Zusammenfassung<br />

in einem kombinierten Index wird dies in angemessener Weise möglich.<br />

Die heute in großem Umfang stattfindende Biologische Globalisierung, d.h. die weltweite, massenhafte<br />

Verschleppung von Arten, resultiert trotz einer hierdurch oftmals ausgelösten Ausrottung<br />

heimischer Arten in einer Nettosteigerung des lokalen Artenreichtums. Weltweit führt dies jedoch<br />

zu einer erheblichen Reduzierung der Artenvielfalt, was lokal durch den Beitrag eines Gebiets zur<br />

globalen Artenvielfalt gemessen werden kann. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Beitrag<br />

der betroffenen Gebiete zur globalen Artenvielfalt in den meisten Fällen bereits kurzfristig<br />

sinkt. Durch die oftmals erst verzögert eintretenden negativen Auswirkungen eingeschleppter Arten<br />

ist insbesondere langfristig mit einem erheblichen Rückgang dieser Werte zu rechnen. Es sind daher<br />

verstärkte Bemühungen notwendig, um das derzeitige Ausmaß der Verschleppung von Arten<br />

und ihre negativen Einflüsse auf die heimische Natur so weit wie möglich zu begrenzen.<br />

Danksagung<br />

Der Verfasser dankt Wolfgang Küper, Jens Mutke, Dan Perlman und Wilhelm Barthlott für wertvolle<br />

Anregungen zum Manuskript sowie dem Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft<br />

und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen für finanzielle Unterstützung.<br />

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Korea University, Seoul


Jens Mutke<br />

Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt –<br />

das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt<br />

– das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Einleitung<br />

Sowohl für biogeographische Analysen, als auch für Prioritätensetzung im Naturschutz ist die Erfassung<br />

und Analyse von räumlichen Mustern der Biodiversität eine wichtige Grundlage. In den<br />

letzten Jahren sind international verschiedene Forschungsprogramme und Projekte unter den<br />

Schlagwörtern „biodiversity mapping“ und „priority setting“ begonnen worden. Hier sind neben Arbeiten<br />

des Australischen Environmental Resource Information Network (ERIN, vgl. CHAPMAN &<br />

BUSBY 1994), sowie dem US-amerikanischen Gap Analysis Programme (Scott et al. 1993, Scott &<br />

Jennings 1998), vor allem die naturschutzorientierten Ansätze der verschiedenen internationalen<br />

NGOs (WWF, IUCN, Conservation International, BirdLife International u.a.) zu nennen.<br />

Auffallend ist dabei, daß es nur wenige Arbeiten auf kontinentalem bis globalem Maßstab gibt, die<br />

sich auf detaillierte Informationen für jede einzelne Sippe der betrachteten Organismengruppe<br />

stützen (taxonbasierte Ansätze, vgl. Barthlott et al. 1999b). Diese Herangehensweise wurde nur für<br />

gut erforschte Gruppen mit sehr überschaubaren Artenzahlen herangezogen. Beispiele sind hier<br />

die Analysen von BirdLife International zu den Endemic Bird Areas (Long et al. 1996) oder die African<br />

Mammals Database (vgl. www.gisbau.uniroma1.it/amd). Auch wenn beispielsweise mit den afrikanischen<br />

Säugetieren sicherlich für die entsprechenden Lebensräume einige wichtige Schlüsselarten<br />

erfaßt wurden, sind mit den durch die Datenbank abgedeckten 281 Arten nur 0,02 Promille<br />

(!) der geschätzten globalen Organismenvielfalt von vielleicht 14 Mio. Arten (Heywood 1995)<br />

vertreten. Durch moderne Informationstechnologie und zunehmende Digitalisierung und Vernetzung<br />

der weltweit zerstreuten Informationsquellen werden in diesem Feld zur Zeit rapide Fortschritte<br />

gemacht. Trotzdem sind wir für großräumige Analysen der Diversitätsmuster artenreicherer Organismengruppen<br />

vorläufig noch auf methodische Alternativen angewiesen.<br />

Hierfür werden schon lange summarische Daten zur Diversität kompletter Gebietseinheiten wie<br />

Länder, Provinzen, Gebirgszüge etc. genutzt (sogenannte inventarbasierte Diversitätsanalysen<br />

oder –kartierungen, vgl. Barthlott et al. 1999b). Diese Daten werden häufig ohne weitere Standardisierung<br />

der Werte tabellarisch aufgelistet (z.B. WRI 1997) oder auch direkt ohne konkreten Flächenbezug<br />

kartographisch dargestellt (z.B. WCMC 1992). Um die eingehenden Größen wie die Artenzahl<br />

vergleichbar zu machen, sollten sie jedoch flächenbezogen betrachtet werden (vgl.<br />

Barthlott et al. 1996, 1999a, Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>). Entsprechende Ansätze gehen auf die Arbeiten<br />

von Lebrun (1960) oder auch Malyshev (1975, 1991, 1993) und die Analysen zu Grundfragen<br />

der Artenzahl-Fläche-Beziehungen vor allem von Arrhenius (1920,1921) zurück. Will man diese<br />

Methodik auf kontinentalem bis globalem Maßstab anwenden, stellt sich das Problem der unterschiedlichen<br />

Datenqualität oder auch räumlicher Datenlücken (vgl. Abb. 2a). Dieses Problem ist<br />

bei inventarbasierten Ansätzen im Vergleich zu den sehr datenaufwendigen taxonbasierten Ansätzen<br />

abgeschwächt, da sich z.B. die Gesamtartenzahl eines Gebietes relativ zuverlässig abschätzen<br />

läßt, lange bevor die genauen Verbreitungsmuster aller beteiligten Sippen bekannt sind.<br />

Trotzdem bleibt vor allem für kontinentale bis globale Analysen der notwendige Schritt der Ableitung<br />

räumlich lückenloser Darstellungen der betrachteten Diversitätsgröße von den räumlich meist<br />

relativ heterogenen Rohdaten.<br />

Dieser Schritt wurde bei allen bisherigen Arbeiten (s.o.) unter Zuhilfenahme von Vegetations- und<br />

Klimakarten manuell durchgeführt. Dies hat den Vorteil, daß noch nicht mit gesicherten quantitativen<br />

Daten auszudrückende vegetationskundliche und biogeographische Kenntnisse der Bearbeiter<br />

mit in das Endergebnis eingehen können. Auf der anderen Seite sind die Ergebnisse damit nur bedingt<br />

reproduzierbar, da die Methodik nicht standardisiert und auch nur bedingt dokumentierbar ist.<br />

Auch können in diesem Schritt die unterschiedlichen geographischen Kenntnisse der Bearbeiter<br />

die Ergebnisse weiter beeinflussen.<br />

Aus diesem Grund wird derzeit im Rahmen des BIOMAPS-Projektes des Botanischen Institut der<br />

<strong>Universität</strong> Bonn in Kooperation mit der Abteilung Umweltsysteme des Deutschen Fernerkun-


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

dungsdatenzentrums daran gearbeitet, inventarbasierte Diversitätskartierungsansätze methodisch<br />

weiterzuentwickeln. Dabei geht es vor allem auch darum, den Schritt der Ableitung räumlich flächendeckender<br />

Karten der Artenvielfalt zu standardisieren und reproduzierbar zu machen. Einige<br />

dieser Analysen und Modelle sollen in diesem Artikel beispielhaft für Nordamerika demonstriert<br />

werden. Die Ergebnisse werden auch im Vergleich mit einem neuen Datensatz zum Artenreichtum<br />

der nordamerikanischen Ökoregionen (nach Ricketts et al. 1999) diskutiert.<br />

Methoden<br />

Datenbasis<br />

Grundlage der im weiteren vorgestellten Analysen ist eine Datenbasis mit Metadaten zur Biologischen<br />

Vielfalt unterschiedlichster Gebietseinheiten, deren Grundstock auf die Arbeiten von<br />

Barthlott et al. (1996) zurückgeht. Für die dort publizierte Weltkarte der Artenzahlen von Gefäßpflanzen<br />

wurden damals für Nordamerika 148 Angaben zu 98 Gebietseinheiten zusammengetragen.<br />

Nach den inzwischen verfeinerten strengeren Auswahlkriterien für die Brauchbarkeit der Daten<br />

werden für den aktuellen Diversitätskartierungsansatz nur etwas mehr als 20 davon in den Analysen<br />

verwendet. Die Datenbank wurde inzwischen auf 215 Datensätze zu 130 Gebietseinheiten<br />

ausgebaut, von denen insgesamt 80 als brauchbar eingestuft werden. Es wurden, soweit vorhanden,<br />

eine ganze Reihe von Parametern zu den Gebieten und ihren Floren erfaßt (vgl. Tab. 1).<br />

Tabelle 1: Liste der wichtigsten Datenfelder in der BIOMAPS-Inventar-Datenbank<br />

Feld Name Erläuterung<br />

ID Eindeutige Nummer für jede Gebietseinheit<br />

c1 Kontinent, auf dem das Gebiet liegt<br />

Land Name des Landes, in dem das Gebiet liegt<br />

Gebiet Name der Gebietseinheit (geographical unit, „GU“)<br />

Fläche Flächengröße [1000 km²]<br />

Fläche_Bem Bemerkungen/ Zusätze zur Flächengröße (optional)<br />

spp Artenzahl (bezieht sich normalerweise auf die Gesamtartenzahl vaskulärer Pflanzen, Ausnahmen<br />

sind im Feld „spp_voll“ angegeben; ist in der Literatur eine Schätzung der Artenzahl<br />

in einer Spanne angegeben (z.B. 500-600 spp.), wird das arithmetische Mittel benutzt<br />

spp_voll Vollständige Angabe der Artenzahl wie in der zugrundeliegenden Literaturstelle inklusive Zusätzen<br />

(>,


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Tab. 2: z-Werte nach Kier & Mutke (unveröff. Daten) zur Beschreibung von Artenzahl-Fläche-Beziehungen<br />

im Modell von Arrhenius (1921) für Vegetationstypen Nordamerikas<br />

Major Habitat Type nach Olson & Dinerstein 1998 z-Wert<br />

Deserts and xeric shrublands 0,109<br />

Temperate grasslands, savannas, and shrublands 0,116<br />

Tundra 0,128<br />

Temperate coniferous forests 0,139<br />

Boreal forest/taigas 0,160<br />

Temperate broadleaf and mixed forests 0,175<br />

Mediterranean scrub 0,202<br />

Die Lage und die Umgrenzungen der in der Datenbasis unter Microsoft Access 97 erfaßten Gebietseinheiten<br />

wurden in Geographischen Informationsystemen (IDRISI f. Win 2.010 und ArcView<br />

3.1 inkl. Spatial Analyst) auf globalem Maßstab mit einer Auflösung von 1 Längen-/Breitengrad digitalisiert.<br />

Für die weiteren Analysen und räumlichen Modelle wurden dazu zusätzliche räumliche<br />

Datensätze zu Vegetation, Klima und Indikatoren aus der Fernerkundung in das GIS integriert<br />

(Tab. 3). Für zukünftige Analysen wurde damit begonnen, die Daten in höherer räumlicher Auflösung<br />

zu erfassen.<br />

Tab. 3: Datensätze im GIS zu Umweltparametern und Indikatoren aus der Fernerkundung<br />

Datensatz Datenherkunft Bemerkung<br />

NDVI-Jahressumme G. Braun, DFD/DLR aus NDVI-Monatskompositen für das Jahr 1987 abgeleitet<br />

Digit. Höhenmodell, DHM International Satellite<br />

Land Surface Climatology<br />

Project (ISLSCP)<br />

Jahresniederschlags- based on data by Aus Monatssummen abgeleitet<br />

summe<br />

ISLSCP<br />

Jahresmitteltemperatur based<br />

ISLSCP<br />

on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />

Monate mit Mitteltempe- based on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />

ratur über 4°C<br />

ISLSCP<br />

Monate mit Mitteltempe- based on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />

ratur über 0°C<br />

Temperaturdifferenz der<br />

Monatsmittel des kältesten<br />

und des wärmsten<br />

Monats<br />

ISLSCP<br />

based on data by<br />

ISLSCP<br />

Aus Monatsmittelwerten abgeleitet; kann als Kontinentalitätsindex<br />

interpretiert werden<br />

Anzahl Trockenmonate Based on data by Aus Monatswerten abgeleitet, Monate pro Jahr, in denen Temp<br />

ISLSCP<br />

[°C] > (prec/2 [mm])<br />

Major Habitat Types ESRI basierend auf Daten<br />

des WWF-US<br />

Annual Potential Evapotranspiration<br />

(PET)<br />

vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />

UNEP-GRID, nach Ahn<br />

&Tateishi 1994<br />

Annual Actual Evapotranspiration<br />

(AET)<br />

vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />

UNEP-GRID, nach Ahn<br />

&Tateishi 1994<br />

Waterbalance<br />

vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />

UNEP-GRID, nach Ahn<br />

&Tateishi 1994<br />

Analysen<br />

Als Grundlage der Artenvielfaltskartierung nach inventarbasiertem Ansatz sind nach der Rohdatenerfassung<br />

verschiedene Verarbeitungsschritte notwendig, die an dieser Stelle nicht näher besprochen<br />

werden sollen (vgl. hierzu Barthlott et al. 1999b, in Vorb.). Dazu zählen nach Festlegung<br />

der Bezugsflächengröße (Standardfläche) die Bewertung der Brauchbarkeit der einzelnen Datensätze<br />

und die Standardisierung der Artenzahlen. Der wichtigste Parameter für die Auswahl der<br />

Gebietseinheiten ist neben der Vollständigkeit und Plausibilität der Daten die Flächengröße. Diese<br />

sollte nicht zu stark von der Bezugsfläche abweichen, um den Fehler bei der Standardisierung der<br />

Artenzahl gering zu halten. Ebenfalls wichtig für die Zuverlässigkeit der Standardisierung wie auch<br />

die sinnvolle kartographische Darstellung ist die teilweise mit der Flächengröße zusammenhän-


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

gende floristische Homogenität, die unter Zuhilfenahme von Vegetations-, Klima- und Reliefkarten<br />

abgeschätzt wird.<br />

Für die Ableitung flächendeckender Karten der Artendichte auf Basis der lückenhaften Rohdaten,<br />

wie sie in Abb. 2a dargestellt sind, ergeben sich zwei Probleme, die bewältigt werden müssen.<br />

Dies ist neben der Abschätzung von Werten für die Datenlücken die weitere Differenzierung der<br />

Werte innerhalb von größeren Gebietseinheiten, für die mit der standardisierten Artenzahl nur ein<br />

Durchschnittswert der Artendichte vorliegt. Es werden im weiteren verschiedene Ansätze zur Bewältigung<br />

dieser Probleme vergleichend dargestellt, die nur teilweise aufeinander aufbauen.<br />

Einfache Interpolation von Artenzahlen (moving weighted averages)<br />

Als einfachster Ansatz zur Erstellung einer flächendeckenden Karte ist eine simple räumliche Interpolation<br />

der Daten auf Basis gewichteter Mittelwerte der Umgebungsdaten denkbar. Für die<br />

Karte in Abb. 2c wurde die Artendichte Z eines Datenpunktes X0 durch das mit dem Kehrwert des<br />

Quadrates der Entfernung d0,i gewichtete Mittel der Artendichte der n = 3 nächsten Umgebungsdatenpunkte<br />

Xi mit bekannten Artenzahlen abgeschätzt (vgl. Formel [1]). Hierzu wurde die Interpolationsroutine<br />

IDW des Spatial Analyst von ESRI benutzt. Dabei ging jedes Gebiet einmal mit seinen<br />

Mittelpunktkoordinaten (Abb. 2b) in die Berechnung ein.<br />

n<br />

n 1 1<br />

[1] Z(<br />

X 0 ) = ∑[<br />

Z(<br />

X i ) * ] 2 ∑ 2<br />

d d<br />

i= 1<br />

0,<br />

i<br />

i= 1 0,<br />

i<br />

Trendflächenanalyse (Trend surface analysis)<br />

Um eventuelle großräumige Trends in den Artenzahlen herauszufinden, wurde eine multiple Regression<br />

der standardisierten Artenzahlen der Gebietseinheiten gegen die geographischen Koordinaten<br />

ihres Mittelpunktes (vgl. Abb. 2b) berechnet. Um nichtlineare Trends der Artenzahlen erfassen<br />

zu können, wurde versucht, mit Hilfe nichtlinearer Regressionsmodelle eine bessere Anpassungsgüte<br />

zu erreichen. Dafür wurde zum einen mit Hilfe des Programms Statistica (Version 1999)<br />

eine multiple Regressionsanalyse durchgeführt, in die die verschiedenen Potenzen der geographischen<br />

Koordinaten (lat², lat 3 , etc.) als unabhängige Parameter eingingen. In einem zweiten Ansatz<br />

wurde zuerst in einer univariaten Regressionsanalyse in MS Excel 97 eine polynomische Regressionsgleichung<br />

für den Zusammenhang von geographischer Länge und der standardisierten Artenzahl<br />

angepaßt. Diese wurde dann wieder als unabhängige Variable zusammen mit der geographischen<br />

Breite für eine multiple Regressionsanalyse in Statistica benutzt.<br />

Semivariogramm<br />

Da die Wahl der Parameter der Interpolation (s.o., quadratische reziproke Abhängigkeit des Gewichtes<br />

von der Entfernung, Wahl der drei nächsten Nachbarn) erhebliche Bedeutung für das<br />

Endergebnis hat, wurden in der Geographie Verfahren zur genaueren Analyse der sogenannten<br />

räumlichen Autokorrelation, also der Abhängigkeit des Wertes eines Datenpunktes von den Umgebungswerten,<br />

entwickelt (vgl. u.a. Gaile & Willmott 1984, Jongmann et al. 1987, Odland 1988).<br />

Die meisten der entsprechenden Maße sind dabei nur gültig unter der Bedingung der Stationarität,<br />

d.h., daß es keinen allgemeinen räumlichen Trend in den Werten gibt. Dies ist u.a. auf Grund latitudinaler<br />

Gradienten bei Artenzahlen (vgl. Abb. 3a) meist nicht der Fall. Um dieses Problem zu<br />

umgehen, wurden statt der Artenzahlen die Residuen aus dem Vergleich der durch die Trendflächenanalyse<br />

vorhergesagten Artenzahlen und der beobachteten Artenzahlen der Analyse unterzogen.<br />

In Abb. 1b wird das sogenannte empirische Semivariogramm dargestellt, das die durchschnittliche<br />

quadrierte Differenz γ(h) der Werte Z zweier Datenpunkte (si, sj) bei gegebener Entfernung<br />

h („lag“) berechnet nach Formel [2] zeigt. Abb. 1a zeigt ein Beispiel-Semivariogramm, an<br />

dem die wichtigsten Begriffe erklärt sind.<br />

n(<br />

h)<br />

1<br />

2<br />

[2] γ ( h)<br />

= ∑ [ Z(<br />

si<br />

) − Z(<br />

s j )]<br />

2n(<br />

h)<br />

=<br />

i 1<br />

Als Entfernungen der Gebietseinheiten sind in dieser Analyse die Entfernungen der geographischen<br />

Mittelpunkte der Gebiete (vgl. Abb. 2b) eingegangen. Diese sind aus Vereinfachungsgründen,<br />

wie in den anderen Analysen auch, als euklidische Distanz der Breiten- und Längengrade an-


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

gegeben. Die Berechnungen wurden mit Hilfe der "Kriging Interpolator 3.2"-Erweiterung von Marco<br />

Boeringa für das Programm ArcView 3.1 (inkl. Spatial Analyst) durchgeführt (vgl.<br />

http://gis.esri.com/arcscripts/scripts.cfm).<br />

Kriging<br />

Kriging (nach Krige, einem der Väter dieser Methode, vgl. Krige 1966) ist eine komplexe Interpolationsmethode<br />

zur Abschätzung von Oberflächen auf der Basis verstreuter Datenpunkte. Dabei<br />

werden die bekannten Datenwerte in der Umgebung des zu interpolierenden Punktes mit Hilfe der<br />

im Semivariogramm abgeschätzten Entfernungsfunktion gewichtet.<br />

Auch diese Analyse wurde mit Hilfe der "Kriging Interpolator 3.2"-Erweiterung von Marco Boeringa<br />

für den Spatial Analyst durchgeführt. Dabei wurde für die Interpolation die Variante des Universal<br />

Kriging gewählt. Diese Methode setzt im Gegensatz zum Ordinary Kriging keine Stationarität der<br />

Werte voraus. Statt dessen wird angenommen, daß sich die räumliche Variation der Größe Z aus<br />

drei Komponenten zusammensetzt: einer strukturellen Komponente (räumlicher Trend), einer zufälligen,<br />

aber räumlich korrelierten Komponente und einem nicht räumlich korrelierten Rauschen<br />

(c0 in Abb. 1a).<br />

Als Parameter in der Analyse wurden ein linearer Trend der Artenzahlen, ein lineares Modell des<br />

Semivariogramms mit „sill“ (vgl. Abb. 1a), eine maximale Interpolationsdistanz von dreißig Grad<br />

und eine Anzahl von 8 Nachbarwerten, aus denen das Ergebnis interpoliert werden soll, gewählt.<br />

Multiple Regressionen<br />

Die Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen wurden im GIS mit den verschiedenen räumlichen<br />

Datensätzen zu abiotischen Umweltfaktoren und Indikatoren aus der Fernerkundung überlagert<br />

und die Durchschnittswerte sowie Standardabweichungen der einzelnen Größen für die jeweilige<br />

Gebietseinheit abgefragt. Nach einigen Voruntersuchungen wurden zwei parallele Analysen<br />

durchgeführt. Zum einen wurde die bereits standardisierte Artenzahl pro 10.000 km² als abhängige<br />

Variable einer multiplen Regression mit verschiedenen in Tab. 3 aufgeführten unabhängigen Variablen<br />

unterzogen. Da der Schritt der Standardisierung der Artenzahlen schon mit gewissen Fehlern<br />

behaftet sein kann, wurde in einer zweiten Analyse die nicht standardisierte Gesamtartenzahl<br />

des Gebietes als abhängige Variable einer multiplen Regression mit den im GIS abgefragten Parametern<br />

(Tab. 3) und der Flächengröße der Gebietseinheit als unabhängige Variablen unterzogen.<br />

Entsprechend dem Artenzahl-Fläche-Modell von Arrhenius (1921) gingen bei dieser zweiten<br />

Analyse sowohl die Artenzahl, als auch die Flächengröße der Gebietseinheiten in logarithmierter<br />

Form in die Berechnung ein. Für beide Analysen wurde das Programm Statistica (Version 1999)<br />

der Firma Statsoft benutzt.<br />

Für die Auswahl des endgültigen Modells sind dabei zwei Kriterien entscheidend. Zum einen müssen<br />

alle Beta-Werte der unabhängigen Variablen signifikant sein. Außerdem darf die Redundanz<br />

zwischen den unabhängigen Variablen einen Toleranzwert nicht überschreiten.<br />

Räumliche Modellierung nach Miron (1984)<br />

Für die Erstellung der endgültigen Karte der Artendichte der Gefäßpflanzen sind sicherlich die Ansätze<br />

am vielversprechendsten, die sowohl die räumliche Lage der Gebiete, als auch die Abhängigkeit<br />

der Artenzahlen von den Umweltparametern mit einbeziehen. Dabei ist als Ansatz denkbar,<br />

einen gewichteten Mittelwert aus einer Interpolation (vorhergesagte Artenzahl nur abhängig von<br />

der Lage) und der multiplen Regression (vorhergesagte Artenzahl nur abhängig von Umweltfaktoren)<br />

zu berechnen (Kier & Mutke, unveröff. Daten). Dabei stellt sich aber die Frage der Gewichtung<br />

zwischen diesen beiden Komponenten. Zum anderen ergeben sich auch wieder Redundanzen<br />

zwischen der Lageinformation und den Umweltparametern, wodurch sich die Beta-Werte der einzelnen<br />

Variablen in einem echten räumlichen Modell von denen einer einfachen multiplen Regression<br />

unterscheiden können. Aus diesem Grund wurden basierend auf dem von Miron (1984) vorgestellten<br />

Algorithmus simultan der Parameter rho für die Gewichtung der Werte der benachbarten<br />

Datenpunkte sowie Beta-Werte für die in der multiplen Regression als wichtig erkannten Umweltfaktoren<br />

abgeleitet. Als abhängige Variable ging nach den Vorversuchen aus der multiplen Regression<br />

die bereits standardisierte Artenzahl pro 10.000 km² ein. Sowohl für die Ableitung des Modells<br />

wie auch für seine Umsetzung in die Fläche wurden vom Verfasser in VBA unter MS Excel 97<br />

programmierte Makros verwendet. Die Entfernung zwischen den Datenpunkten ging in der hier


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

vorgestellten Version der Analysen als Kehrwert des Quadrates der euklidischen Distanz der geographischen<br />

Koordinaten als Gewichtung in die Berechnung ein.<br />

Ergebnisse<br />

Einfache Interpolation (moving weighted averages)<br />

Die Interpolation der standardisierten Artenzahlen mit Hilfe der IDW-Methode („inverse distance<br />

weighted“) liefert im Süden der USA recht differenzierte Ergebnisse (Abb. 2c). In Kanada, bei geringerer<br />

Rohdatendichte, sind in Abb. 2c relativ grobe Trends dargestellt.<br />

Trend surface analysis<br />

Die lineare Trendanalyse der standardisierten Artenzahlen (spp / 10 000 km²) gegen die geographischen<br />

Mittelpunktkoordinaten der jeweiligen Gebietseinheit liefert für Nordamerika bereits ein<br />

hochsignifikantes Ergebnis mit einem Variationskoeffizienten von immerhin R² = 0,56.<br />

[3]<br />

spp = 2705,12 - 43,35 * lat - 6,21 * long<br />

n = 75 R= 0,75 R²= 0,57 Korr. R²= 0,56<br />

Bestimmend im Ergebnis ist vor allem der recht klar ausgeprägte latitudinale Gradient ansteigender<br />

Artendichte der Gefäßpflanzen mit abnehmender Breite in Nordamerika. Außerdem findet sich<br />

ein leichter Gradient abnehmender Artenzahlen von West nach Ost.<br />

Die multiple Regressionsanalyse, in die die verschiedenen Potenzen der geographischen Koordinaten<br />

(lat², lat 3 , etc.) als unabhängige Variablen eingingen, lieferte keine brauchbaren Ergebnisse.<br />

Dagegen zeigte die Berechnung, in die die geographische Länge nicht direkt sondern in Form einer<br />

polynomischen Funktion einging, eine im Vergleich zur linearen Trendanalyse noch einmal<br />

deutlich erhöhte Anpassungsgüte (vgl. Formel [4], Abb. 2d). Während für den latitudinalen Diversitätsgradienten<br />

das lineare Modell den Trend am besten beschreibt, zeigt sich ein longitudinaler<br />

Trend mit zwei Maxima, die höheren Artenzahlen entlang der Küsten und Gebirgszüge entsprechen.<br />

[4]<br />

spp = 2053,01 - 37,11 * lat - 0,000822 * long 4 - 0,315 * long 3 - 44,231 * long 2 - 2704,74 * long - 59828,373<br />

n = 75 R= 0,81 R²= 0,65 Korr. R²= 0,64<br />

Semivariogramm<br />

Das Semivariogramm der Residuen aus dem Vergleich der linearen Trendoberfläche und der<br />

standardisierten Artenzahlen der Gebietseinheiten (Abb. 1b) zeigt eine nur sehr schwache räumliche<br />

Autokorrelation. Die starke räumliche Autokorrelation, die sich bei der direkten Analyse der<br />

standardisierten Artenzahlen ergibt (hier nicht dargestellt), hat einen stark anisotropen Charakter<br />

und geht weitgehend auf die relativ ausgeprägten latitudinalen und longitudinalen Trends der Artenzahlen,<br />

also eine räumliche Instationarität, zurück.


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Abb. 1: Semivariogramm zur Beschreibung der räumlichen Autokorrelation der beobachteten Artenzahlen<br />

Kriging<br />

Entsprechend der Ergebnisse aus den beiden vorherigen Absätzen liefert die Methode des Universal<br />

Kriging (vgl. Abb. 2e) relativ ähnliche räumliche Muster der Gefäßpflanzenvielfalt, wie die in<br />

Abb. 2d dargestellte Trendoberfläche. Abweichend davon sind allerdings im südlichen Nordamerika<br />

wie bei der einfachen Interpolation (Abb. 2c) auch die geringeren Artenzahlen der Wüsten im<br />

Südwesten der USA, sowie die höheren Artenzahlen der südöstlichen Atlantikküste und Kaliforniens<br />

widergespiegelt.


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

a Überlagerung der Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen<br />

(standardisierte Rohdaten)<br />

c Einfache Interpolation (inverse distance weighted)<br />

basierend auf b)<br />

b Geographische Mittelpunkte der Gebietseinheiten<br />

bekannter Artenzahlen<br />

d Trendfläche (polynomisch)<br />

e Universal Kriging f Multiple Regression (standardisierte Artenzahlen<br />

als abhängige Variable)<br />

g Räumliches Modell (Algorithmus nach Miron<br />

1984)<br />

Abb. 2: Räumliche Muster nordamerikanischer Gefäßpflanzenvielfalt - Vergleich der Rohdaten mit verschiedenen<br />

Methoden zur Ableitung flächendeckender Karten


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Abb. 3: Korrelation der standardisierten Artenzahlen nordamerikanischer Gebietseinheiten mit verschiedenen<br />

Umweltparametern<br />

Multiple Regression<br />

In univariaten Regressionsanalysen zeigen die standardisierten Artenzahlen relativ klare Trends im<br />

Verhältnis zu verschiedenen Umweltparametern (Abb. 3). Dabei ist vor allem der latitudinale Gradient<br />

der Artenvielfalt mit einer engen Korrelation der Artenzahlen mit der geographischen Breite in<br />

Nordamerika stark ausgeprägt. Gute Korrelationen gibt es ebenfalls mit der Jahresmitteltemperatur,<br />

der potentiellen Evapotranspiration und verschiedenen Maßen für Saisonalität.<br />

Die multiple Regressionsanalyse der logarithmierten Gesamtartenzahlen der Gebietseinheiten gegen<br />

verschiedene unabhängige Variablen lieferte folgende Gleichung als Modell mit der besten<br />

Anpassungsgüte bei maximaler Korrelation zwischen den unabhängigen Variablen von R = 0,5.<br />

[5]<br />

Log10(spp)= 2,66 + 0,185 * Log10(Flächengröße der GU) + 0,038 * NDVI + 0,000268 * PET<br />

n= 80 R= 0,88 R²= 0,78 Korr. R²= 0,77 p


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

recht hohe Bestimmtheitsmaß von R² (Korr.) = 0,77 täuscht dabei etwas. Berechnet man basierend<br />

auf dieser Formel die nicht logarithmierten Artenzahlen pro 10.000 km² und führt eine Regressionsanalyse<br />

gegen die standardisierten Artenzahlen der einzelnen Gebietseinheiten durch, ergibt<br />

sich nur noch eine Korrelation von R² = 0,48. Im Gegensatz zu allen anderen vorgestellten<br />

Analysen ergibt das Modell auf die räumlichen Daten angewendet höchste Artenzahlen vor allem<br />

in der Region der teilweise immergrünen Laubwälder im Südosten der USA (nicht als Karte dargestellt).<br />

Die zweite multiple Regressionsanalyse, in die direkt die standardisierte Artenzahl als abhängige<br />

Variable einging, ergibt eine engere Korrelation mit einem R² = 0,58. Dabei sind die Umweltparameter,<br />

die in das am besten angepaßte Modell einfließen, andere als die in der oben dargestellten<br />

Analyse.<br />

spp / 10.000 km² = 758,27 + 124,35 * Trockenmonate + 0,252 * DHM + 53,68 * NDVI + 0,577 * AET<br />

n = 80 R = 0,78 R²= 0,603 Korr. R² = 0,582<br />

spp /10 000 km² = Artenzahl pro 10 000 km²<br />

Trockenmonate = Anzahl der Monate, in denen die Mitteltemperatur in °C größer als die<br />

halbe Niederschlagssumme in Millimetern ist.<br />

DHM = Höhe ü. NN<br />

NDVI = Jahressumme des NDVI (kann nach Malingreau 1989 als Indikator für<br />

die photosynthetisch aktive Phytomasse interpretiert werden)<br />

AET = jährliche aktuelle Evapotranspiration [mm]<br />

Räumliche Modellierung<br />

Das räumliche Modell (Abb. 2g) besitzt mit R² = 0,9 eine bessere Anpassungsgüte als beide Modelle<br />

aus der multiplen Regression. Auffallend ist, daß das Modell dabei zu 87 Prozent von der<br />

räumlichen Komponente, also einer Interpolation bestimmt wird. Bei den mit Hilfe des Algorithmus<br />

von Miron (1984) abgeleiteten Modellparametern weist die nicht-räumliche, auf den Umweltfaktoren<br />

basierende Komponente des Modells nur eine Korrelation von R² = 0,48 zu den beobachteten<br />

Werten auf. Der Interpolationsanteil des Modells korreliert dagegen eng mit den standardisierten<br />

Artenzahlen der Gebietseinheiten (R² = 0,91).<br />

spp<br />

n 1<br />

/ 10 000 km²<br />

= 0,<br />

129 * ( 1235,<br />

17 + 51,<br />

8*<br />

Trockenmonate<br />

+ 0,<br />

036 * DHM + 205,<br />

35*<br />

NDVI − 0,<br />

282 * AET)<br />

+ 0,<br />

871*<br />

[ Z(<br />

X ) * ]<br />

(Zur Erklärung der Parameter siehe Abschnitt Multiple Regression und Formel [1] )<br />

∑<br />

i 2<br />

i= 1 d0,<br />

i<br />

Diskussion<br />

Auffälligstes Charakteristikum der Gefäßpflanzenvielfalt Nordamerikas ist der ausgeprägte latitudinale<br />

Gradient ansteigender Artendichte mit abnehmender Breite. Neben den verschiedenen deutlichen<br />

Unterschieden ist dieser Trend das verbindende Element der Karten in Abb. 2. Auch die Ergebnisse<br />

in Abb. 3b-d zeigen durchgehend für Umweltparameter, die selber gut mit der geographischen<br />

Breite korrelieren, gute Korrelationen mit der Artenzahl. Das zweite auffallende Muster sind<br />

die relativ hohen Artenzahlen im trocken-kontinentalen Südwesten der USA. Im Gegensatz zu verschiedenen<br />

Modellen (multiple Regressionsanalyse mit log. Gesamtartenzahl (s.o.), Kleidon &<br />

Mooney <strong>2000</strong>) zeigt sich die höchste Artendichte nicht in den Laubwäldern mit ihrer positiven<br />

Wasserbilanz, höheren Biomasse und ausgeglichenem Klima. Ein wirklicher Erklärungsansatz ergibt<br />

sich hier aus den oben dargestellten Modellen nur bedingt. Daß die Anzahl der Trockenmonate<br />

im räumlichen Modell positiv mit der Artenzahl korreliert, ergibt für eine biologische Erklärung<br />

nur bedingt Sinn. Es ist wahrscheinlicher, daß dieser Parameter hier stellvertretend für einen gleich<br />

im Raum verteilten, in den Analysen nicht erfaßten Faktorenkomplex steht. Auch die positive Korrelation<br />

zur Höhe über dem Meeresspiegel muß differenziert betrachtet werden. Bei der sehr groben<br />

räumlichen Auflösung der Daten kann dieser Parameter in Nordamerika sicherlich eher als ein<br />

grobes Näherungsmaß für die Topodiversität (vgl. Barthlott et al., im Druck), also die räumliche Heterogenität<br />

des Reliefs interpretiert werden. Die Geodiversität, in die neben der Topo- noch die<br />

Klima- und Pedodiversität eingehen, scheint generell eine wichtige Rolle für die Biodiversität auf<br />

Landschaftsebene sowie die Skalenabhängigkeit von Diversitätsmustern zu spielen (Barthlott et<br />

al., 1996, 1999b, im Druck, Braun et al., in Vorber.). Im Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum<br />

n<br />

∑<br />

1<br />

d<br />

2<br />

i= 1 0,<br />

i


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

werden derzeit umfangreiche Analysen zur Quantifizierung von Geodiversität und ihrem Einfluß auf<br />

die biologische Vielfalt durchgeführt. Vorläufige Ergebnisse für Südamerika und Afrika zeigen einen<br />

hohen Erklärungswert v.a. der Klimadiversität (vgl. Barthlott et al., im Druck, Braun et al., in<br />

Vorb.). Dieser Faktor könnte auch im reich gegliederten Westen der Vereinigten Staaten eine wichtige<br />

Rolle spielen. Derzeit liegen hierzu aber noch keine verwertbaren Ergebnisse vor.<br />

Für die Erklärung der höheren Artenzahlen im trocken-kontinentalen Südwesten der USA scheinen<br />

aber auch noch weitere Umweltparameter oder historische Faktoren eine Rolle zu spielen, die bislang<br />

nicht in die Analyse eingegangen sind. Historisch wichtig für die Ausbildung der heutigen Flora<br />

im Südwesten war u.a. die Hebung der Sierra Nevada und Cascade Mountains im späten Miozän<br />

vor 5 bis 8 Millionen Jahren, die für einen stark kontinental geprägten Charakter des regionalen<br />

Klimas sorgte (DELCOURT & DELCOURT 1993 nach AXELROD 1979). Auch die Klimaschwankungen<br />

im Holozän waren im Westen der Vereinigten Staaten, der bis dahin stärker bewaldet war,<br />

wesentlich ausgeprägter als in den Wäldern des Südostens (DELCOURT & DELCOURT 1993). Dies<br />

führte zu einer Verarmung der Flora auf höherer taxonomischer Ebene, wie in Abb. 5a deutlich<br />

wird. Trotzdem finden sich höhere Artenzahlen und auch ein höherer Anteil endemischer Arten im<br />

Südwesten Nordamerikas (vgl. auch Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>).<br />

Abb. 4: Vergleich verschiedener qualitativer Aspekte der nordamerikanischen Phytodiversität (verändert<br />

nach Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>)<br />

Solche historischen Faktoren in räumliche Modelle der Artenvielfalt mit einfließen zu lassen ist allerdings<br />

schwierig. Dies mag einer der Gründe sein, daß für manche Regionen selbst einfache Interpolationsansätze<br />

multiplen Regressionen überlegen sind. Über solche Interpolationen kann der<br />

Faktor des jeweils vorhandenen - teilweise historisch bedingten - Artenpools, der nicht rein über<br />

rezente Umweltfaktoren zu erklären ist, besser erfaßt werden. Daß die verschiedenen Interpolationsansätze<br />

für Nordamerika recht gute Ergebnisse liefern, hängt aber auch mit verschiedenen<br />

weiteren Faktoren zusammen. Zum einen ist die Ausgangsdatenlage im Vergleich zu anderen<br />

Kontinenten v.a. durch die Arbeiten an der noch recht neuen Flora of North America (Flora of North<br />

America Editorial Committee 1993-) und im Rahmen des BIOTA of North America Program<br />

(www.bonap.org) trotz kleinerer Inkonsistenzen sicherlich sehr gut. Es gibt relativ flächendeckend


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

in gleichmäßiger räumlicher Verteilung brauchbare Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen. Zum<br />

anderen spielt aber auch der ausgeprägte latitudinale Gradient, der nur leicht entlang der Küsten<br />

und der größeren Gebirgszüge modifiziert wird, eine wichtige Rolle. Andere Kontinente, in denen<br />

keine so klaren räumlichen Trends vorherrschen oder starke Sprünge in den Artenzahlen zu finden<br />

sind, sind für die Ableitung einer flächendeckenden Diversitätskarte problematischer. Beispielsweise<br />

finden sich in Südamerika Diversitätszentren vor allem entlang der Andenabhänge, im Nordwesten<br />

Amazoniens, im Guayana-Hochland und in Südostbrasilien. Sowohl Trendflächenanalysen<br />

als auch das Semivariogramm lieferten nur schwache Hinweise auf räumliche Effekte in den Daten<br />

– wahrscheinlich auch bedingt durch eine extrem heterogen verteilte Datenlage. Für Südamerika<br />

zeigen die Ergebnisse aus der multiplen Regression bessere Übereinstimmungen mit den beobachteten<br />

Artenzahlen als die verschiedenen Interpolationsmethoden (IDW, Kriging, Trendflächenanalyse)<br />

(Mutke et al., unveröff. Analysen).<br />

Die bisherigen, noch vorläufigen Ergebnisse zeigen also, daß die verschiedenen Methoden je nach<br />

Datenlage unterschiedliche Probleme aufweisen. Bei einer Nachbearbeitung von Hand, wie sie in<br />

den bisherigen Diversitätskarten nach inventarbasiertem Ansatz genutzt wurde (Lebrun 1960, Malyshev<br />

1975, Barthlott et al. 1996), können diese Probleme zum Teil ausgeglichen werden. Will<br />

man aber rein über automatisierbare und damit standardisierbare und nachvollziehbare Ansätze zu<br />

einem Ergebnis kommen, wird sicherlich nur eine Kombination unterschiedlicher Methoden zu<br />

brauchbaren Ergebnissen führen. Bei den Interpolationsansätzen zeigt sich, daß die Definition und<br />

Einbeziehung der Entfernung entscheidenden Einfluß hat. Zum einen weisen Ansätze, in die die<br />

Entfernung linear oder als Quadrat mit in die Gewichtung eingeht, schon erhebliche Unterschiede<br />

auf. Zum anderen legen Vorversuche nahe, die Entfernung nicht rein räumlich, sondern auch über<br />

die Unterschiede bezüglich der Umweltparameter zu definieren. Auch eine weitere Gewichtung, in<br />

der unzuverlässigere Daten (hier vor allem Daten von Gebietseinheiten, deren Größe stark von der<br />

Standardfläche abweicht) automatisch abgewertet werden, scheint vielversprechend zu sein. Die<br />

Ergebnisse einer solchen differenzierten Interpolation müssen dann gewichtet mit Ergebnissen aus<br />

Regressionsanalysen der Artenzahlen gegen rezente Umweltfaktoren verrechnet werden. Dabei ist<br />

es natürlich am sinnvollsten, die beste Gewichtung dieser unterschiedlichen Ergebnisse direkt bei<br />

der Ableitung des Modells durch Algorithmen wie dem hier benutzen von Miron (1984) berechnen<br />

zu lassen. Allerdings zeigen weitere Vorversuche, daß eine räumlich differenzierte Gewichtung der<br />

Interpolation, je nach Rohdatendichte in unterschiedlichen Regionen, zu einer weiteren Verbesserung<br />

der Ergebnisse führt. Ein solcher Ansatz spielt vor allem in Regionen mit sehr heterogener<br />

Datenlage, wie z.B. in Südamerika, eine wichtige Rolle.<br />

Die Bewertung der Ergebnisse aus den unterschiedlichen Ansätzen ist allerdings auf Grund der<br />

Datenstruktur (vgl. Abb. 2a,b) schwierig. Ganz generell spielt bei allen Kartierungen von Biodiversität<br />

- auch wenn ein regelmäßiges Raster von Kartierungsflächen gewählt wird - die Skalenabhängigkeit<br />

eine wesentliche Rolle. Wenn in einer Region kleinräumig artenreiche Vegetationstypen<br />

einheitlich über große Flächen ausgeprägt sind, in einer zweiten Region aber eine enge Verzahnung<br />

einer Vielzahl sehr unterschiedlicher artenarmer Lebensräume vorherrscht, werden sich Diversitätskarten<br />

einer solchen Landschaft bei unterschiedlichen Auflösungen klar unterscheiden.<br />

Hier besteht ein enger Zusammenhang zu der oben bereits angesprochenen Geodiversität von<br />

Landschaften. Auf Grund der Struktur der hier genutzten Daten müssen solche Faktoren aber noch<br />

verstärkt beachtet werden. Auch wenn bei der Auswahl der für den gewählten Ansatz und die gewählte<br />

Standardfläche brauchbaren Gebietseinheiten schon relativ strenge Kriterien angewandt<br />

wurden (s.o.), gehen in die Analysen doch noch Gebiete recht verschiedener Flächengröße ein.<br />

Zwar wird die unterschiedliche floristische Heterogenität innerhalb der Gebiete durch differenzierte<br />

Parameter (vgl. Tab. 2) im Arten-Fläche-Modell bei der Berechnung der standardisierten Artenzahlen<br />

berücksichtigt. Für all diese Gebiete ergibt diese Standardisierung aber nur einen Durchschnittswert<br />

der Artendichte. Die in Abb. 2a zu findenden diskreten Grenzen der Zonen unterschiedlicher<br />

Artendichte sind größtenteils politischer Natur. Die verschiedenen Interpolations- und<br />

Modellierungsansätze (Abb. 2c-g) helfen zwar die höher aufgelösten tatsächlichen Muster der Artendichte<br />

vorherzusagen. Will man aber die Anpassungsgüte der verschiedenen Modelle bewerten,<br />

kann man jeweils nur Mittelwerte für die verschiedenen in die Analysen eingegangenen Gebietseinheiten<br />

zur Validierung verwenden. Dies ist sicherlich noch einmal kritischer für die Ansätze,<br />

die aus methodischen Gründen nicht von den flächigen (Abb.2a) sondern auf die Mittelpunkte bezogenen<br />

Rohdaten ausgehen (z.B. Kriging, Abb. 2e).


a<br />

b<br />

Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

Artenzahlen pro 100.000 km² in<br />

den Bundesstaaten der USA<br />

(verändert nach Mutke &<br />

Barthlott <strong>2000</strong>, basierend auf<br />

Artenzahlen einheimischer Gefäßpflanzen<br />

pro Bundesstaat<br />

von Kartezs in Maina & Villa-Lobos<br />

1997)<br />

Artenzahlen pro 10.000 km² in<br />

den 116 Nordamerikanischen<br />

Ökoregionen nach Einteilung<br />

des WWF (Artenzahlen pro Ökoregion<br />

von Kartezs u.a. in Ricketts<br />

et al. 1999, Standardisierung<br />

mit Hilfe der z-Werte in<br />

Tab.2)<br />

Abb. 5: Vergleich der Muster nordamerikanischer Gefäßpflanzenvielfalt bei unterschiedlicher räumlicher Auflösung<br />

der Ausgangsdaten<br />

Deutlich wird der mögliche Einfluß der unterschiedlichen räumlichen Heterogenität auch beim Vergleich<br />

der in Karten in Abb. 5. Kalifornien und Texas weisen als Ganzes betrachtet (Abb. 5a, Abb.<br />

2) auf Grund der engen Verzahnung unterschiedlicher Klimatypen und Vegetationseinheiten die<br />

höchste Artendichte Nordamerikas auf. Betrachtet man die Artendichte der einzelnen Vegetationszonen<br />

aber getrennt, wird ein erheblicher Teil der räumlichen Heterogenität und der damit verbundenen<br />

Betadiversität eliminiert. Die einzelnen Vegetationseinheiten Kaliforniens treten dann bezüglich<br />

ihrer Artendichte hinter das Great Basin und die angrenzenden Gebirge zurück (Abb. 5b). Hier<br />

zeigt sich deutlich, daß die Ergebnisse jeder Biodiversitätskartierung immer auch erheblich vom<br />

betrachteten Maßstab und der jeweiligen Auflösung abhängen. Erschwert wird die Interpretation<br />

der Ergebnisse aber auch durch die Tatsache, daß die Datenbanken, die den Abbildungen 2, 5a<br />

und 5b zu Grunde liegen, teilweise einander widersprechende Daten enthalten, obwohl sie alle zu<br />

erheblichen Teilen auf Daten des BIOTA of North America Program (BONAP, vgl. www.bonap.org)<br />

zurückgehen. Außerdem mußte auf Grund der unterschiedlichen durchschnittlichen Größe der<br />

Gebietseinheiten in den Datensätzen eine unterschiedliche Standardfläche gewählt werden.<br />

Trotzdem stellt sich bei der Erstellung solcher Diversitätskarten die prinzipielle Frage, inwieweit die<br />

durch diese unterschiedliche räumliche Heterogenität geprägten Landschaften auch in der Karte<br />

entsprechend bewertet werden sollen. Im Falle von Rasterkartierungen, bei denen die Kartierungseinheiten<br />

und die Standardfläche üblicherweise identisch sind, können solche Fragen rein<br />

über die Wahl der entsprechenden Bezugsfläche gelöst werden. Bei inventarbasierten Ansätzen,<br />

die auf Grund der Datenlage bisher für große Regionen noch die einzige Möglichkeit einer Diversitätskartierung<br />

darstellen, ist die Problematik wegen der unterschiedlichen räumlichen Auflösung


Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />

Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />

der Ausgangsdaten dagegen nicht immer klar aufzulösen. Dies muß bei der Interpretation der Ergebnisse<br />

im Hinterkopf behalten werden.<br />

Trotz solcher Probleme haben inventarbasierte Diversitätsanalysen und -kartierungsansätze unser<br />

Verständnis räumlicher Muster Biologischer Vielfalt bereits erheblich verbessert. Wie schon erwähnt,<br />

sind wir für die meisten Organismengruppen noch weit davon entfernt, für jede Sippe flächendeckende<br />

Verbreitungsdaten zu haben, die für einen taxonbasierten Diversitätskartierungsansatz<br />

die Grundlage bilden. In den Fällen, in denen detaillierte Daten zu einzelnen Taxa bereits für<br />

taxonbasierte Diversitätskartierungen genutzt wurden (z.B. Lovett et al. <strong>2000</strong>), zeigen sich meist<br />

gute Übereinstimmungen mit den großräumigen Mustern unserer inventarbasierten Diversitätsanalysen<br />

(Barthlott et al. 1996, 1999a,b, Abb.2). Auch die engen Korrelationen der hier genutzten Daten<br />

mit verschiedenen Umweltparametern (Abb. 3) zeigen ebenfalls gute Übereinstimmungen zu<br />

taxonbasierten Analysen (z.B. Currie 1991) und sprechen für die gefundenen Muster. In einer Zeit<br />

massiver Bedrohung Biologischer Vielfalt ist es unrealistisch, Maßnahmen zum Schutz von Biodiversität<br />

zu verschieben, bis irgendwann einmal "vollständige" Information für jedes Taxon vorliegt.<br />

Hier kommt es darauf an, die bereits vorhandene Information bestmöglich zu nutzen. Der hier vorgestellte<br />

Ansatz kann dazu einen erheblichen Teil beitragen - wenn man sich der Probleme und<br />

Grenzen der Methode bewußt ist.<br />

Danksagung<br />

Für wertvolle Anregungen zum Manuskript möchte ich Gerold Kier, Marlies von den Driesch und<br />

Gerald Braun danken. Viele der vorgestellten Analysen wurden in enger Zusammenarbeit mit Gerold<br />

Kier durchgeführt. Arbeiten vor allem zur Geodiversität und Skalenabhängigkeit von Biodiversität<br />

werden in Kooperation mit Gerald Braun am Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum durchgeführt.<br />

Für die Unterstützung unserer Arbeiten gebührt Wilhelm Barthlott dank, der die Grundlagen<br />

für das Projekt geschaffen hat. Die hier vorgestellten GIS-Auswertungen wären nicht möglich<br />

gewesen ohne die Förderung des Ministeriums für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen zur Einrichtung von GIS-Arbeitsplätzen an unserem Institut.<br />

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Thomas Wagner<br />

Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität<br />

und Höhenlage<br />

Die "Entdeckung" der tropischen Artenvielfalt<br />

Seit sich die ersten Biologen in die Inneren Tropen aufmachten, ist der unüberschaubare Artenreichtum<br />

von Pflanzen und Tieren bekannt, der vor allem die tropischen Regenwälder so grundlegend<br />

von den Wäldern der Gemässigten Breiten unterscheidet. In der Mitte des Neunzehnten<br />

Jahrhunderts lebten Henry W. Bates, Fritz Müller und Alfred R. Wallace viele Jahre in Brasilien,<br />

Wallace später auch noch in Südost-Asien. Die Erkenntnisse, die sie während ihrer langjährigen<br />

Schaffenszeit in den Tropen gewannen, hatten grossen Einfluss auf verschiedene biologische Disziplinen.<br />

Die von Bates und Müller entwickelte Theorie der Mimikry, die angesichts der ungeheuren<br />

Vielfalt tropischer Insekten "auf der Hand lag", hat z.B. entscheidend zur Akzeptanz von Darwins<br />

Selektionstheorie beigetragen (Mayr 1984, Lewinsohn et al. 1991). Eine erschöpfende Erklärung,<br />

warum die Tropen so ungleich artenreicher als die Gemässigten Breiten sind, ist jedoch auch 140<br />

Jahre nach den "Pionieren der Tropenökologie" nicht viel deutlicher erkennbar, als es damals der<br />

Fall war. Bates‘ (1863) Verwunderung darüber, dass "within an hour's walk" 700 Tagfalterarten in<br />

der Stadt Belém (Brasilien) zu finden waren und demgegenüber aus Grossbritannien nur 66 und<br />

aus ganz Europa 321 Arten bekannt waren, kann auch heute noch jeder Entomologe nachvollziehen,<br />

der, zumal aus einer Region nacheiszeitlicher Faunenverarmung, in die Tropen reist und die<br />

dortige Artenvielfalt erlebt.<br />

Die Zusammensetzung tropischer Lebensgemeinschaften, ihre räumliche und zeitliche Entwicklung,<br />

der Einfluss von biotischen und abiotischen Faktoren und der intensive Vergleich mit Tiergemeinschaften<br />

ausserhalb der Tropen rückten erst ab der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ins<br />

Blickfeld der Ökologen (Richards 1952, Elton 1973). Dieser Trend hat sich weiter fortgesetzt, so<br />

dass heutzutage eine grosse Zahl ökologisch ausgerichteter Untersuchungen einer spärlichen,<br />

wenn auch in den letzten Jahren deutlich zunehmenden Zahl von taxonomischen Arbeiten gegenübersteht.<br />

Dass die taxonomische Erfassung jedoch noch keineswegs abgeschlossen ist, verdeutlichen die<br />

derzeitigen Schätzwerte der auf der Erde lebender Organismenarten. Ging man noch vor 20 Jahren<br />

von etwa 1,5 bis 2 Millionen rezenten Arten aus, so schwanken die heutigen Annahmen zwischen<br />

5 und 80 Millionen Arten (Erwin 1982 und 1991, Stork 1988, Wilson 1988). Der Paradigmenwechsel<br />

ging von einer Arbeit über baumkronenbewohnende Käfer in Panama aus. Terry Erwin<br />

(1982) extrapolierte die Käferarten, die er von einer Baumart in Panama gesammelt hatte, auf<br />

30 Millionen Insektenarten, die allein in den tropischen Wäldern der Erde leben sollten. Dementsprechend<br />

schrieb er damals "I was shocked by my conclusion." Einige Parameter, die den Schätzungen<br />

zu grunde lagen, so z.B. der Anteil von spezialisierten phytophagen Insekten, sind dabei<br />

nahezu willkürlich gewählt worden. Mittlerweile zeigt sich zwar, dass einige der frühen "Berechnungen"<br />

weit überzogen waren und es möglicherweise weniger als 10 Millionen Arten sein dürften<br />

(May 1986, 1990, Thomas 1990, Gaston 1991a und 1991b, Hodkinson 1992, Simon 1996), nichtsdestotrotz<br />

hat aber gerade diese Diskussion dazu beigetragen, dass die Tropenforschung in das<br />

Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit gerückt ist.<br />

Was steuert die Entwicklung und Erhaltung der tropischen Artenvielfalt?<br />

Mit der Frage nach den Ursachen tropischer Biodiversität ist die nach den Prozessen, welche die<br />

Erhaltung der Vielfalt steuern, eng verbunden. Zwei Szenarien können dabei als Extrema gegenüber<br />

gestellt werden, wobei sich real existierende Gemeinschaften auf dem Kontinuum irgendwo<br />

dazwischen finden dürften (Feinsinger et al.1981, Cornell & Lawton 1992, Grossman et al. 1982,<br />

Huston 1994).


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

Auf der einen Seite steht das klassische Deterministische Gleichgewichtsmodell (MacArthur & Wilson<br />

1967). Demnach führt interspezifische Konkurrenz zu einer zunehmenden Spezialisierung der<br />

Arten, da im Laufe der Zeit die Ressourcen immer exclusiver genutzt werden. Eine Verringerung<br />

von Nischenbreite und -überlappung ist die Folge. "Löcher", die in einem solchen System zum Beispiel<br />

durch Prädation entstehen können, werden schnell wieder durch bestimmte Arten ersetzt. Eine<br />

solche Biozönose ist hinsichtlich der Arten- und Individuenzahl abgesättigt, bleibt trotz gelegentlicher<br />

Zu- und Abwanderungen weitgehend konstant und erreicht über definierte Sukzessionsschritte<br />

einen vorhersagbaren Klimax-Zustand.<br />

Dem steht das Stochastische Fluktuationsmodell gegenüber, wonach die Zusammensetzung einer<br />

Biozönose im wesentlichen von Zufallsprozessen abhängt (Caswell 1976, Huston 1979). Viele Lizenzen<br />

des Lebensraumes sind nicht dauerhaft als Nischen realisiert, da durch laufende Störeinflüsse<br />

Arten lokal und zeitlich aussterben (Sale 1977, Connell 1979, Price 1991). Die lokale Tiergemeinschaft<br />

ist daher nicht abgesättigt, erreicht keinen Klimax-Zustand und kann sich von einer<br />

benachbarten Biozönose stark unterscheiden (Caswell 1978, Conner & Simberloff 1979). Da die<br />

Arten selten hohe Abundanzen erreichen, steht mehr "Lebensraum" zur Verfügung, weshalb die<br />

Artendichte in einem solchen System viel höher sein kann (Elton 1973, Lawton 1991). Der lokale<br />

Artenpool ist oft nicht vollständig zu erfassen, da mit jeder weiteren Aufsammlung oder neuen Methode<br />

ein Quantum an bisher nicht nachgewiesenen Arten hinzukommt, was ein typisches Phänomen<br />

tropischer Lebensgemeinschaften ist (z.B. Erwin 1988, Wagner <strong>2000</strong>b; Abb. 1). Das Fluktuationsmodell<br />

impliziert auch, dass die Arten grössere Nischenüberlappungen und geringe Spezialisierungen<br />

aufweisen. Wenngleich das auf den ersten Blick vielleicht nicht naheliegend erscheint,<br />

gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass der Anteil der Generalisten in den Tropen grösser als in<br />

den Gemässigten Breiten ist (Beaver 1979a und b, Gauld 1986, Price 1991, Wagner 1999a).<br />

Die Untersuchungen zur Arthropodenfauna in Zentral- und Ostafrika<br />

Die Frage nach den Ursachen und dem Erhalt der Artenvielfalt in tropischen Tiergemeinschaften<br />

steht im Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Dabei haben wir uns auf die baumkronenbewohnenden<br />

Arthropodengemeinschaften, als die artenreichsten terrestrischen Biozönosen konzentriert.<br />

Mit dem Beginn unserer Untersuchungen im September/Oktober 1993 in Rwanda und der<br />

angrenzenden Kivu-Provinz im damaligen Zaire begannen, handelte es sich um die ersten dieser<br />

Art in Afrika. Zunächst galt es, einen Überblick über die Zusammensetzung der Arthropodenfauna<br />

in verschiedenen Waldtypen zu bekommen (Wagner 1997; Abb. 2). Rwanda und die angrenzenden<br />

Länder eignen sich hierzu hervorragend, da aufgrund der stark heterogenen Höhenzonierung<br />

eine Vielzahl von Waldtypen auf engstem Raum existieren. Während dieser ersten Untersuchung<br />

wurden Bäume im Nebel- und Tieflandregenwald entlang des Grabenbruchs, und in einem Galeriewald<br />

am Akagera, dem Grenzfluss zwischen Rwanda und Tanzania untersucht. Um Zufallseffekte<br />

möglichst zu reduzieren und die Vergleichbarkeit der Daten untereinander zu gewährleisten,<br />

haben wir uns damals auf einen methodischen Ansatz konzentriert, der bis heute fast unverändert<br />

beibehalten wurde. Spätere Untersuchungen in Uganda galten dem Einfluss von Baumart, Waldtyp,<br />

Waldnutzung und der Saisonalität auf die Arthropodengemeinschaften und insbesondere der<br />

Frage nach dem Spezialisierungsgrad der Käfer in tropischen Systemen (Wagner 1998, 1999a,<br />

<strong>2000</strong>b). Im Mittelpunkt der aktuellen Untersuchungen steht die Frage nach den Veränderungen der<br />

Fauna entlang eines Höhgengradienten in Kenia.<br />

Wie erfasse ich die Kronenfauna?<br />

Schon früh wurde deutlich, das ein Grossteil der Artenfülle in tropischen Regenwäldern nicht in<br />

den bodennahen Schichten, sondern vielmehr im sonnendurchfluteten Kronenraum der Bäume zu<br />

finden sein dürfte. So vermutete schon zu Beginn des jüngst vergangenen Jahrhunderts der Biologe<br />

William Beebe dort eine Artenvielfalt, die in anderen Lebensräumen ihresgleichen sucht. Das<br />

was damals aus dieser Region in bis zu 60 m Höhe über dem dämmrigen Waldboden bekannt<br />

war, beschränkte sich auf wenige Miscellen, denn, wie er schrieb „Up to now gravitation and treetrunks<br />

swarming with terrible ants have kept us at bay, and of the tree-top life we have obtained<br />

only unconnected facts and specimens" (Beebe 1917).


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

Das sollte bis in die sechziger Jahre auch so bleiben. Erst dann begannen einige, die Risiken der<br />

Gravitation wenig scheuende Wissenschaftler damit, sich diesem Lebensraum mit Türmen, ausgeklügelten<br />

Seilsystemen oder „Canopy walk ways", Hängebrücken, die sich von Krone zu Krone<br />

hangelten, zu nähern. Diese Methoden erlaubten intensive botanische Studien, z.B. Einblicke in<br />

den ungeheueren Epiphytenreichtum besonders der mittel- und südamerikanischen Regenwälder.<br />

Wer genügend Sitzfleisch besaß, dem gelangen schliesslich faszinierende Beobachtungen zur Bestäubung<br />

der epiphytischen Bromelien oder Orchideen durch Insekten und Vögel. Es wurde aber<br />

auch deutlich, dass über solche Tier-Pflanze-Interaktionen hinaus, die Vielfalt der artenreichsten<br />

Tiergruppe, der Insekten, weiterhin kaum zu erfassen war. Viele Arten erwiesen sich als so selten,<br />

dass man ihnen nur zufällig begegnete, andere suchten auch vor dem am Seil hängenden Forscher<br />

das Weite und liessen sich, eine „Fluchtstrategie„ vieler Käfer, einfach fallen oder flogen davon.<br />

Dadurch waren auch mit diesen Methoden letztlich punktuelle Einblicke in die Insektengemeinschaften<br />

der Baumkronen möglich.<br />

Zu deren Erfassung bediente man sich zunächst noch Insektizid-Sprühverfahren (Southwood et al.<br />

1982a und b). Seit den sechziger Jahren, mit "Entdeckung" der Baumkroneneinnebelung für die<br />

Freilandökologie, sind solche Untersuchungen besonders effektiv durchführbar (Martin 1966, Erwin<br />

& Scott 1980, Adis et al. 1984). Damit stand nun erstmals eine Methode zur Verfügung, die auf den<br />

ersten Blick brachial erscheinen mag, mit der aber für viele Gruppen von Insekten und Spinnentieren<br />

eine vollständige Erfassung möglich wurde. Dabei wird ein Insektizid mit einem sogenannten<br />

Schwingfeuergerät als Nebel ausgebracht. Diese Geräte wurden ursprünglich zur Schädlingsbekämpfung<br />

in Gewächshäusern entwickelt und haben gegenüber Druck-Spritzverfahren den grossen<br />

Vorteil, dass der Wirkstoff um den Faktor 100 effizienter ausgebracht werden kann. Für den<br />

Einsatz im Freiland ist wesentlich, dass der Nebel etwa 60°C heiss ist und daher schnell aufteigt,<br />

so dass kleinere Bäume relativ problemlos vom Boden aus eingenebelt werden können. Bei Wind<br />

wird die Benebelung mit der Baumhöhe allerdings zunehmend uneffektiver, zumal in den hohen<br />

Baumkronen oftmals stärkere Luftbewegungen auftreten als am Boden. Daher beschränken wir<br />

uns in unseren Untersuchungen üblicherweise auf 7 - 12 m hohe Bäume, wenngleich unter extrem<br />

windstillen Bedingungen auch schon bis zu 33 m hohe Bäume eingenebelt werden konnten.<br />

Vor der Einnebelung des Baumes müssen Vorkehrungen getroffen werden, die eine selektive Aufsammlung<br />

der Kronenfauna ermöglichen. In ersten Untersuchungen dieser Art wurde der Waldboden<br />

unter den zu untersuchenden Bäumen mit Plastikplanen ausgelegt, was zunächst eine aufwendige<br />

"Planierung" erforderlich macht. Auch wird das Ergebnis durch bodenlebende Arthropoden<br />

verfälscht, die auf die Planen "zuwandern". Wie eigene erste Versuche dieser Art zeigten,<br />

nehmen besonders Ameisen die auf den Planen liegenden betäubten Arthropoden als leichte Beute<br />

gerne an. Daher wurde ein Auffangsystem entwickelt, mit dem die Arthropoden aus der Baumkrone<br />

eines Baumes exclusiv zu erfassen sind. Vor der Einnebelung wird unter der Krone eine<br />

Fläche von 16 m 2 , mit je ein m 2 grossen Nylontrichtern an Leinen aufgespannt. Dabei werden solche<br />

Bäume gewählt, die sich horizontal nicht mit anderen überlappen und vertikal mindestens 5 m<br />

von Kronen anderer Bäume entfernt sind. Die Einnebelung dauert nur drei bis vier Minuten. Als Insektizid<br />

wird eine einprozentige Lösung natürlicher Pyrethrum-Extrakte verwendet, die sehr schnell<br />

wirken, aber schon nach kurzer Zeit im Sonnenlicht in nichttoxische Komponenten zerfallen. Noch<br />

während der Einnebelung fallen insbesondere die kleinen Arthropoden gleich einem Regen herab,<br />

während sich grosse Tiere noch länger auf dem Baum halten können. Daher warten wir stets anderthalb<br />

Stunden, bis das gesamte Material aus den Trichtern zusammengefügt und konserviert<br />

wird. Um eine möglichst hohe Reproduzierbarkeit und statistische Auswertung der Ergebnisse zu<br />

gewährleisten, werden in der Regel acht Einzelbäume pro Baumart und Standort untersucht.<br />

Was erfasst man mit der Nebelmethode?<br />

Diese Methode erlaubt es nun, die auf Blättern, Ästen und Stämmen lebenden und im Kronenraum<br />

fliegenden Arthropoden quantitativ zu erfassen. Sie unterscheidet sich darin wesentlich von anderen<br />

Methoden, mit denen, seien es auch noch so ausgeklügelte Fallensysteme, nur die Aktivität,<br />

nicht aber die reale Häufigkeit (Abundanz) der Arten zu erfassen ist (Basset et al. 1997). Insbesondere<br />

die auf den Blättern des Kronenraumes lebenden Blatt- und Rüsselkäfer sind mit Ausnahme<br />

der Nebelmethode kaum quantitativ zu erfassen. Bei entsprechender Dosierung des Insek-


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

tizids werden die Arthropoden nur betäubt und stehen nach einer Erholungsphase z.B. für autökologische<br />

Experimente zur Verfügung (Paarmann & Stork 1987, Paarmann 1994).<br />

Pyrethrum ist ein äusserst wirksames Kontaktgift, das eine koordinierte Bewegung der betroffenen<br />

Tiere schnell unterbindet (Elliott et al. 1978). Selbst Insekten mit exzellenten Anpassungen zum<br />

Leben auf glatten Blattoberflächen, wie viele Blatt- und Rüsselkäfer, die spezielle Hafthaarpolster<br />

an den Tarsen tragen, sind nicht mehr in der Lage, sich auf dem Untergrund zu halten. Direkte<br />

Nachsuche oder Schütteln des Baumes nach der Benebelung erbringt nur wenig zusätzliches Material.<br />

Die wenigen Daten, die bisher zur Effizienzkontrolle vorliegen, unterstreichen die Effektivität<br />

der Methode. Bei einer Untersuchung im Tieflandregenwald auf Borneo konnte z.B. durch mehrmaliges<br />

Schütteln des Baumes die Ausbeute um nur etwa 5 % erhöht werden, wobei die Hälfte der<br />

zusätzlich erfassten Arthropoden Ameisen waren, die nachträglich aus ihren Nestern herausgelaufen<br />

waren. Erneutes Benebeln drei Stunden nach Beendigung des ersten Versuchs ergab weitere<br />

16 % Arthropoden, im wesentlichen hochmobile Insekten wie Dipteren und Hymenopteren (Floren<br />

& Linsenmaier 1994). Auf ein Schütteln der Bäume wurde bei dieser Untersuchung verzichtet.<br />

Stichproben erbrachten ebenfalls nur wenige zusätzliche Arthropoden, dafür fielen aber Blätter und<br />

anderes pflanzliches Material in die Auffangtrichter, die das Aussortieren sehr erschwerten.<br />

Die Nebelmethode hat natürlich ihre Grenzen. So können z.B. Schild- und Blattläuse kaum erfasst<br />

werden, da sie ihre dünnen Saugrüssel nicht aus den Pflanzen herausziehen und so am Baum<br />

"hängenbleiben". In den Tropen spielen diese Pflanzensauger allerdings nur eine untergeordnete<br />

Rolle, da sie viel artenärmer und seltener als in den Gemässigten Breiten sind (Price 1991). Auch<br />

im Holz und unter der Rinde verborgen lebende Arthropoden werden mit der Nebelmethode nur<br />

zufällig erfasst, wenn sie sich gerade ausserhalb ihres Substrates aufhalten. Trotz dieser Einschränkungen<br />

ist festzuhalten, dass mit der Nebelmethode eine aktuelle und für viele Taxa quantitative<br />

Erfassung möglich ist, was keine andere Methode zu leisten vermag.<br />

Neben der Erreichbarkeit der Arthropoden, stellt die Grösse der Bäume eine weitere Grenze dar.<br />

Dass wir uns im wesentlichen auf häufige, in den jeweiligen Waldtypen in Zentral- und Ostafrika<br />

weit verbreitete und kleinwüchsige Baumarten bzw. auf Jungwuchs beschränken, hat nicht nur logistische,<br />

sondern auch methodische Gründe. In vielen anderen Untersuchungen (Erwin & Scott<br />

1980, Erwin 1983, Adis et al. 1984, Stork 1987, Morse et al. 1988, Hammond 1990, Stork & Brendell<br />

1990, Basset & Kitching 1991, Allison et al. 1993, Kitching et al. 1993, Floren & Linsenmair<br />

1994), wurden fast nur hohe Bäume (bis 70 m, Stork 1988) benebelt. Um in dieser Höhe effektiv zu<br />

arbeiten, muss das Nebelgerät über ein Seilsystem in die Baumkrone gezogen und dort bewegt<br />

werden können. Der austretende Nebel wird durch den Wind leicht verdriftet, der bei solchen Höhen<br />

kaum auszuschliessen ist. Gleiches gilt aber auch für die herab"schwebenden" Insekten und<br />

es ist zu fragen, ob nicht kleine bzw. leichte Insekten in solchen Aufsammlungen unterrepräsentiert<br />

sind, da sie stärker verdriftet werden. So liegt z.B. die mittlere Körpergrösse der mit der Nebelmethode<br />

erfassten Käfer bei extrem hohen Bäumen bei 3,5 mm (Stork & Blackburn 1993), während<br />

der Wert in unseren Untersuchungen z.B. aus dem Budongo Forest bei 2,45 mm liegt. Da unter<br />

den kleinen Käfern üblicherweise die häufigsten Arten zu finden sind, während grosse Käfer oft nur<br />

als Einzelstücke vorkommen, sind beim "Driftverlust" hoher Bäume eher Fehleinschätzungen der<br />

Zusammensetzung und Diversität der Fauna zu erwarten.<br />

Die Arthropodenfauna der Baumkronen in Zentral- und Ostafrika<br />

Mit der von uns angewandten Methode werden pro Baum und Gebiet durchschnittlich 1500-3000<br />

Arthropoden erfasst, die zunächst nach Grossgruppen sortiert und ausgezählt werden können<br />

(Abb. 2, 3, 4). Während das eine zeitaufwendige, aber relativ einfach durchzuführende Fleissarbeit<br />

ist, stellt die Ermittlung der Artenzahlen, die entscheidende Grösse für Untersuchugen zur Biodiversität,<br />

ein grosses Problem dar. Eine Bestimmung des Materials im herkömmlichen Sinne ist<br />

kaum möglich und nur für wenige Gruppen stehen Spezialisten zur Verfügung, die diese Arbeit<br />

durchführen könnten. Darüberhinaus wurden durch unsere Untersuchungen viele Arten erstmals<br />

der wissenschaftlichen Erfassung zugänglich gemacht und wurden, bzw. werden derzeit beschrieben.<br />

Die Vernachlässigung, die so grundlegende biologische Teildisziplinen wie Taxonomie und<br />

Systematik in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, wirkt sich bei der Bearbeitung tropischer<br />

Insekten besonders stark aus, da es für viele Taxa weltweit keine Bearbeiter mehr gibt. In der Zwi-


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

schenzeit konnte zwar ein Netzwerk von etwa 60 Taxonomen aufgebaut werden, dennoch konnte<br />

für nicht einmal 20 % der in Frage kommenden Taxa ein Bearbeiter gefunden werden. Eine dergestalt<br />

"verwaiste" Gruppe sind Blattkäfer aus der Verwandschaft um die Gattung Monolepta, die in<br />

den Nebelproben stets zahl- und artenreich vertreten waren und deren Taxonomie und Phylogenie<br />

derzeit von uns bearbeitet wird (z.B. Hasenkamp & Wagner <strong>2000</strong>, Wagner 1999b, <strong>2000</strong>a). Grundsätzlich<br />

stellen Blattkäfer nicht nur in unseren (Abb. 5), sondern auch in vergleichbaren Untersuchungen<br />

aus Südamerika und Südost-Asien, einen herausragenden Anteil an der Baumkronenfauna.<br />

Zumindest in den Tieflandregenwäldern sind sie die arten- und indivuenreichste Käfergruppe,<br />

meist gefolgt von den Rüsselkäfern und Kurzflüglern. In tropischen Montanwäldern sind jedoch<br />

die Rüsselkäfer wesentlich abundanter, ähnlich wie in temperaten Wäldern, wo die Rüsselkäfer<br />

weit vor den Blattkäfern rangieren (z.B. Wagner <strong>2000</strong>c).<br />

Um ökologische Fragestellungen auf Basis der Artenzahlen bearbeiten zu können, lassen sich diese<br />

auch nährungsweise ermitteln, indem die Insekten nach "Morphospecies" sortiert werden. Dazu<br />

sind umfassende Vorkenntnisse unabdingbar, weshalb wir uns bei der weiteren Auswertung auf<br />

die Käfer als eine ökologische Schlüsselgruppe beschränken. Dass die Anzahl der Morphospecies<br />

in guter Näherung der Anzahl "taxonomischer" Arten entspricht, wie sie von Spezialisten ermittelt<br />

werden, zeigten bereits die Ergebnisse unserer ersten Untersuchungen aus Rwanda. Etwa 4500<br />

Käfer aus verschiedenen Gruppen wurden damals von uns 180 Morphospecies zugeordnet und in<br />

der anschliessenden taxonomischen Bearbeitung als 188 Arten bestimmt (cf. Wagner 1996).<br />

Unsere ersten Untersuchungen in Rwanda und Kivu zeigten extreme Unterschiede in der Zusammensetzung<br />

der Arthropodenfauna in verschiedenen Waldtypen (Abb. 1). Im Galeriewald waren<br />

Käfer, insbesondere Blatt- und Rüsselkäfer die dominierende Insektengruppe. Einige Arten waren<br />

hochabundant, die Artenanzahl insgesamt aber relativ gering. Eine wesentlich höhere Diversität<br />

der Käfer konnte im Nebelwald festgestellt werden, während im Tieflandregenwald nur wenige, zufallsverteilte<br />

Käferfunde möglich waren, was vermutlich auf den starken Prädationsdruck der Ameisen<br />

in diesem Lebensraum zurückzuführen ist.<br />

Die Untersuchungen sollten in Rwanda fortgesetzt werden, ein Vorhaben, das durch den Bürgerkrieg<br />

1994 jäh gestoppt wurde. Es fanden sich aber neue Kooperationspartner in Uganda, wo zunächst<br />

der Budongo Forest im Nordwesten des Landes im Mittelpunkt des Interesses stand. Dort<br />

finden sich noch Parzellen alten Primärwaldes neben Sekundärwaldflächen, in denen teils intensiver<br />

Holzeinschlag stattfand. Hier haben wir gleiche Baumarten in verschiedenen Waldtypen untersucht,<br />

um den Einfluss der Habitatstruktur und die Spezifität der Baumart auf die Käferfauna zu<br />

ermitteln. Dabei zeigte sich, dass der Anteil an Spezialisten selbst unter den Pflanzenfressern wesentlich<br />

geringer ist als z.B. Erwin in seiner oben erwähnten Arbeit angenommen hatte. So waren<br />

nur 3 % der häufigeren Blattkäferarten exclusiv auf einer Baumart, aber 12 % ausschliesslich in einem<br />

der untersuchten Waldtypen zu finden (Abb. 6). Auch fand sich im Sumpfwald entlang eines<br />

Flusses im Budongo Forest eine deutlich andere und wesentlich artenreichere Käferfauna, als in<br />

höhergelegenen Waldparzellen, was ebenfalls auf einen grossen Einfluss der Habitatstrukturen<br />

und der abiotischen Parameter auf die Besiedlung hinweist.<br />

Im Budongo Forest wurden Untersuchungen zur Trocken- und Regenzeit durchgeführt, um den<br />

Einfluss der Saisonalität auf die Baumkronenfauna zu erfassen (Abb. 3, 7). Insgesamt haben wir<br />

dort nunmehr fast 100 Bäume untersucht, wobei ca. 200.000 Arthropoden, darunter ca. 50.000 Käfer<br />

erfasst wurden. Diese konnten etwa 1600 Arten zugeordnet werden, von denen 40 % nur mit<br />

einem Individuum, und über 95 % mit weniger als 10 Individuen nachgewiesen werden konnten.<br />

Vergegenwärtigt man sich das dabei eingenebelte Kronenvolumen von etwa 12.000 m 3 , wird die<br />

extreme Seltenheit vieler Arten überdeutlich, auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann,<br />

dass die Fauna komplett erfasst wurde. Möglicherweise ist auch hier der Prädationsdruck der Ameisen<br />

ein ganz wesentlicher Faktor bei der Entstehung solcher Verteilungsmuster. In den feuchtheissen<br />

Tieflandregenwäldern, die wir im Kivu (bei 950 m NN) und im Semliki Forest (650 m NN)<br />

untersucht haben, stellen Ameisen im Mittel zwischen 50 und 60 % der baumbewohnenden<br />

Arthropodenfauna (Abb. 8). Sie dürften als weitgehend generalistische Prädatoren, oder einfach<br />

nur durch ihren Störeinfluss in Form permanenter Anwesenheit, die Abundanz anderer Arthropo-


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

den gering halten und teilweise den "Überhang" gewissermaßen laufend abschöpfen. Den starken<br />

Einfluss der Ameisen zeigen auch Untersuchungen, welche jüngst in Montanwäldern in Kenia<br />

durchgeführt wurden.<br />

Die dort herrschenden geringen Nachttemperaturen erlauben den Ameisen keine permanente Besiedlung<br />

der Bäume. Die Dichte der kronenbewohnenden Arthropoden war dort wesentlich höher<br />

als in Tieflandregenwäldern (Abb. 4), wobei der Anteil der Webspinnen und Milben besonders<br />

stark mit der Höhe zunimmt (Abb. 8). Neben besser besiedelbaren Habitatstrukturen durch die umfangreichen<br />

Moss- und Flechtenpolster in den Montanwäldern, ist möglicherweise auch hier der<br />

fehlende Prädationsdruck der Ameisen bedeutsam für die hohe Abundanz von Arachniden. Auch<br />

viele Käferarten weisen in den Baumkronen der Montanwälder viel höhere Abundanzen als in den<br />

Tieflandregenwäldern auf. Die Diversität dieser Montanwaldfauna ist dementsprechend deutlich<br />

geringer und liegt in etwa 2500 m NN im Grössenbereich dessen, was aus Wäldern der Gemässigten<br />

Breiten bekannt ist. Rarefaction-Kurven für Käfer vom Mt. Kenya oder in den Aberdare Mountains<br />

zeigen den gleichen Verlauf wie solche der Käferfauna von Eichen in Deutschland, die mit<br />

der gleichen Methode erfasst worden sind (Abb. 9). Wenngleich die Genese dieser Faunen unter<br />

historisch-geographischen Gesichtspunkten sehr verschieden verlaufen sein dürfte, sind es doch<br />

in tropischen Gebirgen wie in den Gemässigten Breiten hauptsächlich abiotische Faktoren, die wesentlich<br />

für eine Limitierung der Artenvielfalt sein dürften. An erster Stelle sind hier die starken diurnalen<br />

bzw. annualen Temperaturschwankungen zu nennen, die spezifische Adaptationen der Arten<br />

notwendig machen.<br />

Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die konstant hohen Temperaturen der Tieflandtropen<br />

eine wesentliche Grundlage für die hohe Artenvielfalt dieses Lebensraumes ist. Dazu ist die permanente<br />

Humidität von besonderer Bedeutung, da die Fauna in Trockengebieten, selbst in Galeriewäldern<br />

entlang der Flüsse, wesentlich artenärmer ist. Kurze Trockenzeiten, wie etwa im Budongo<br />

Forest, bedingen zwar deutliche Änderungen in der Zusammensetzung der Fauna, haben<br />

aber keinen erkennbar negativen Einfluss auf die Diversität. Vielmehr sind hier biotische Faktoren,<br />

insbesondere die Präsenz bzw. Prädation der Ameisen ein für die Zusammensetzung der Arthropodenfauna<br />

der Baumkronen ein offenbar wesentlicher Faktor. Möglicherweise ist es der Prädationsdruck<br />

der dazu führt, dass die Arten keine hohen Abundanzen erreichen können.<br />

Damit scheidet auch das zu Beginn erläuterte klassische Deterministische Gleichgewichtsmodell<br />

als Modell zur Beschreibung tropischer Arthropodenzönosen weitgehend aus. Die extreme Seltenheit<br />

der meisten Arten dürfte kaum zu interspezifischer Konkurrenz führen. Auch ist die damit verbundene<br />

zunehmende Spezialisierung der Arten nicht nachzuweisen, sondern es mehren sich im<br />

Gegenteil die Erkenntnisse, dass in den Tropen die Generalisten überwiegen. Sind z.B. in Mitteleuropa<br />

etwa 80 % der Blattkäferarten mono- oder oligophag (also bis auf max. eine Pflanzenfamilie<br />

spezialisiert; Schöller 1996), konnten wir demgegenüber z.B. im Budongo Forest nur ca. 3 % der<br />

häufigeren (mit mehr als einem Individuum vertretenen) Blattkäferarten spezifisch auf einer Baumart<br />

finden. Obwohl die Nahrungspflanzenbeziehungen dieser Blattkäfer unbekannt sind, muss<br />

selbst in dieser Gruppe von einer geringen Spezialisierung in den Tropen ausgegangen werden.<br />

Der grosse Einfluss von Prädation und die damit verbundene geringe Abundanz der meisten Arten,<br />

sowie der geringe Spezialiserungsgrad der Arthropodenfauna insgesamt sind vielmehr Faktoren,<br />

die mit dem Stochastischen Fluktuationsmodell gut zu erklären sind. Zufälligkeit, Unvorhersagbarkeit<br />

und Chaos bestimmen die zeitliche und räumliche Verteilung der Arthropoden in den tropischen<br />

Regenwäldern vermutlich in einem viel höheren Maße, als bisher angenommen wurde. Die<br />

extreme Seltenheit vieler Arten bedingt auch, dass selbst die bisher umfangreichsten Erfassungen<br />

tropischer Arthropodenzönosen zu keiner Sättigung der Artenzahlen geführt, sondern vielmehr die<br />

gesamte Artenfülle nur angekratzt haben. Da wir uns derzeit im Bereich des linearen, durch das<br />

langsame Wiedererwachen der lange so vernachlässigten Taxonomie, sogar im leicht exponentiellen<br />

Bereich der Kurve wissenschaftlich erfasster Arten befinden, ist auch eine Aussage über die<br />

tatsächliche Anzahl der Organismenarten der Erde weiterhin höchst spekulativ.


Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />

Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

Danksagung<br />

Im Hinblick auf die bisher im Rahmen dieses Projektes erfasste Menge von etwa 600.000 Arthropoden,<br />

von denen ein Grossteil der etwa 80.000 Käfer zudem präpariert wurde, wird klar, dass<br />

diese Arbeit nur in Zusammenarbeit vieler geleistet werden konnte. Mein besonderer Dank geht an<br />

die Diplomanden/-innen, Staatsexamens-Kandidaten/-innen, sowie an eine Vielzahl von Studierenden,<br />

die sich im Rahmen von Praktika für die Faszination tropischer Artenfülle begeistern konnten.<br />

Dabei standen teils ökologische, teils taxonomische Fragestellungen im Vordergrund. Ohne<br />

deren Engagement, Interesse und Fleiss wäre diese Arbeit ein Torso geblieben. Weiterhin haben<br />

sich viele Kooperationspartner der Bearbeitung des Materials teils unter Hintanstellung anderer<br />

Aufgaben hingegeben, so dass bisher eine Vielzahl neuer Taxa beschrieben werden konnte. Neben<br />

Neubeschreibungen vieler Arten aus verschiedenen Insektengruppen, erlaube ich mir eine<br />

neu beschriebene Gattung der Schienenkäfer (Eucnemidae) herauszunehmen, der Wilhelm Lucht<br />

(1998) den Namen "Nebulatorpidus" gegeben hat. „Der vom Nebel Betäubte„, so die Übersetzung,<br />

wird für immer mit der Methode verbunden sein, mit der die ersten Käfer dieser Gruppe der Wissenschaft<br />

zugeführt wurden.<br />

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Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />

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• Wilson, E. O. (1988): (Hrsg.) Biodiversity. - National Academy Press, Washington D.C.<br />

Abbildungstitel:<br />

• Abb. 1: Artensummenkurve für Käfer während einer zwei-monatigen Erfassung im Budongo Forest.<br />

Auch nach 64 untersuchten Bäumen und nahezu 30.000 Käfern ist die Artenvielfalt nicht komplett erfasst.<br />

• Abb. 2: Verteilungsmuster der Arthropoden in verschiedenen Waldtypen in Rwanda und Kivu (Mittelwerte<br />

pro Waldtyp; n = 5-9 Bäume). Zu beachten ist die starke Dominanz der Ameisen (Formicidae) im Trockenwald<br />

und Tiefland-Regenwald.<br />

• Abb. 3: Verteilungsmuster der Arthropoden auf Rinorea beniensis (Mittelwerte aus je 8 Bäumen) in unterschiedlichen<br />

lokalen Waldtypen im Budongo Forest (Uganda); Vergleich zwischen Trocken- und Regenzeit.<br />

Im Sumpfwald fanden sich keine saisonalen Unterschiede, im Primärwald und insbesondere im<br />

Sekundärwald sind die Arthropodendichten während der Trockenzeit signifikant höher.<br />

• Abb. 4: Verteilungsmuster der Arthropoden verschiedener Baumarten in ugandischen und kenianischen<br />

Montanwäldern (Mittelwerte aus je 8 Bäumen).<br />

• Abb. 5: Die artenreichsten und häufigsten Käfergruppen aus Wäldern verschiedener Höhenlage (Mittelwerte<br />

aus je 8 Bäumen). Blattkäfer (Chrysomelidae) sind jeweils die artenreichste, mit Ausnahme der<br />

Stichprobe vom Mt. Kenya, auch die individuenreichste Käfergruppe.<br />

• Abb. 6: Spezifität der Blattkäfer (Chrysomelidae) im Vergleich zwischen Waldtypen und Baumarten im<br />

Budongo Forest, Uganda. Durchschnittlich sind nur ca. 3 % der mit mehr als einem Individuum nachgewiesenen<br />

Blattkäferarten nur auf einer Baumart, aber ca. 12 % nur in einem Waldtyp gefunden worden.<br />

• Abb. 7: Prozentuale Unterschiede der Individuenzahlen auf Rinorea beniensis (Mittelwerte aus je 8<br />

Bäumen) zwischen Trocken- und Regenzeit im Budongo Forest, Uganda. Die Gruppen zeigen in den<br />

drei untersuchten lokalen Waldtypen meist die gleiche Tendenz, wobei die Unterschiede vom Sumpf-<br />

über Primär- zum Sekundärwald zunehmen.<br />

• Abb. 8: Prozentualer Anteil der Individuen einiger Arthropodengruppen entlang eines Höhengradienten<br />

vom Tieflandregenwäldern (Irangi; Semliki) über einen saisonalen Regenwald (Budongo) zu Montanwäldern<br />

unterschiedlicher Höhe in Rwanda (Cyamudongo), Kenia (Kikuyu, Mt. Kenya) und Uganda (Mt. Elgon).<br />

• Abb. 9: Rarefaction-Kurven für Käfer einzelner Bäume im saisonalen Regenwald (Teclea, Uganda) im<br />

Vergleich zuDaten aus dem Montanwald (Podocarpus, Kenia) und von mitteleuropäischen Eichen<br />

(Quercus; mit Kreissignatur). Aus dem Kurvenverlauf lässt sich die zu erwartende Artenzahl bei einheitlicher<br />

Stichprobengrösse ermitteln. Für 200 Käfer sind für Podocarpus und Quercus aufgrund der ähnlichen<br />

Dominanzstruktur der Käferfauna gleichermassen zwischen 21 und 41 Arten zu erwarten. Der Wert<br />

für Teclea liegt mit 71 bis 93 Arten signifikant darüber, da hier die meisten Arten nur selten zu finden waren.


2. Ausgewählte Konfliktbereiche<br />

2.1 Agrobiodiversität


Thomas Gladis<br />

Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

Agrobiodiversität – Kulturen zwischen Tradition, Integration<br />

und Resignation<br />

„Die Konflikte werden uns vorerst nicht<br />

loslassen. Multikulturalität ist das Schicksal<br />

aller wohlhabenden modernen Länder.“<br />

Dieter Grimm<br />

Wo immer unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, bauen sich Konfliktpotentiale auf. Kulturelle<br />

Konflikte sind aus allen geschichtlichen Epochen belegt. Wir kennen sie aus allen Teilen der<br />

Welt, aus allen gesellschaftlichen Schichten, bedingt durch die Altersstruktur auch zwischen den<br />

Generationen und selbst innerhalb der Familien.<br />

Um Lösungen herbeizuführen, bedarf es nicht zwangsläufig der Gewaltanwendung. Es ist im Gegenteil<br />

eher festzustellen, dass sich abgesehen von leider immer wieder zu beobachtenden Rückschlägen<br />

bei steigender Frequenz und zunehmender Intensität interkultureller Kontakte tendenziell<br />

eine Entwicklung zu mehr Toleranz abzeichnet, zu mehr Diskussionsbereitschaft und Weltoffenheit.<br />

Gewandelt hat sich also der Umgang mit fremden Kulturelementen und mit den Trägern dieser<br />

Kulturen. Worauf ist dies zurückzuführen?<br />

Kontakte zu anderen Kulturen waren früher vor allem Eroberern, Forschern und einigen Geschäftsleuten<br />

vorbehalten. Heute werden sie nicht mehr nur durch die aus allen gesellschaftlichen Schichten<br />

stammenden Fernreisenden wahrgenommen. Es sind neben den entlegene Reiseziele bevorzugenden<br />

Urlaubern immer zahlreicher werdende Arbeitsuchende, Gastarbeiter, die eine mindestens<br />

zeitweilige Integration in andersartige Kulturen anstreben. Dies fällt in großen Städten leichter<br />

als auf dem Lande. Städte tolerieren bzw. integrieren Fremde und deren Kulturen leichter als dörfliche<br />

Gemeinden in dünn besiedelten Regionen. Die Intensität der Migration und damit die gegenseitige<br />

Beeinflussung ist zwischen Metropolen weit größer als sie es zwischen Stadt und Land oder<br />

zwischen benachbarten ländlichen Gemeinden ist. Dies führt zu einer Nivellierung der Unterschiede<br />

zwischen miteinander kommunizierenden großen Kulturstädten, desgleichen ist eine kulturelle<br />

Kompartimentierung des Lebensraumes Stadt zu beobachten, unabhängig vom Bezug zu einem<br />

bestimmten Staat.<br />

Tradition, Kultur, Sprache bzw. Dialekt, selbst Wertvorstellungen bleiben in ländlichen Siedlungsräumen<br />

in der Regel besser erhalten. Sie werden dort gepflegt und gewissermaßen in situ konserviert.<br />

Die Mobilität ist auf dem Lande historisch und berufsbedingt geringer als in der Stadt. Flexibilität<br />

bringt hier im Vergleich mit Kontinuität und Stabilität zunächst keine wirtschaftlichen Vorteile.<br />

Bei der ländlichen Bevölkerung ist daher das Realitätsbewusstsein im Hinblick auf die Abhängigkeit<br />

der Produktion von Klima, Boden, Einhaltung agronomischer Termine etc. zur landwirtschaftlichen<br />

Produktion und mithin zum Überleben viel ausgeprägter als bei den von der Industrie, Handel<br />

und Gewerbe lebenden Städtern. Der im voll klimatisierten Büroalltag fast bedeutungslose und im<br />

Supermarktbummel kaum mehr wahrnehmbare Wechsel von Witterung und Jahreszeiten bleibt natürlich<br />

nicht ohne persönliche Folgen für den einzelnen Menschen, für sein Umfeld, für die Gesellschaft.<br />

Die subjektive Wahrnehmung veränderter Grundbedürfnisse spiegelt sich nicht zuletzt im<br />

Konsumverhalten, in der Freizeitgestaltung und in der Bewertung ererbter Güter wider. Diese Veränderungen<br />

sind nicht auf die Städte beschränkt, sie finden hier jedoch wesentlich schneller statt<br />

und sind tiefgreifender.<br />

Vor der Industrialisierung wurde in bäuerlichen Familien neben dem Land mit Haus und Hof, Stallungen<br />

und Vieh auch das Saat- und Pflanzgut vererbt. In „Entwicklungsländern“ ist das aus gutem<br />

Grunde heute noch der Fall (vgl. TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Experimente wurden und werden<br />

von Bauern – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig unternommen: Ein kompletter Saatgutwechsel<br />

birgt mehr Risiken als das schrittweise Verschneiden und Mischen der Hofsorten mit anderen,


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

mutmaßlich besseren, ertragreicheren, krankheitsresistenten Züchtungen. Für die Umstellung auf<br />

andere Haustierrassen mit anderen Verhaltensweisen, spezifischen Charaktereigenschaften und<br />

anderen Ansprüchen z.B. an Lebensraum und Fütterung muss es triftige Gründe geben. Am ehesten<br />

werden noch Einzeltiere zur „Blutauffrischung“ in den Bestand eingekreuzt, ob bei Geflügel,<br />

Hund, Rind, Schaf oder Schwein, ja selbst bei der Honigbiene. Bei dieser ist der allmähliche Übergang<br />

von der Schwarmimkerei mit der dafür typischen Apis mellifera ssp. mellifera (die stech-,<br />

sammel- und schwarmfreudige dunkle Honig- oder Heidebiene) zu den „friedlicheren“ kärntner oder<br />

den italischen Rassen für Deutschland gut dokumentiert, einschließlich der damit verbundenen<br />

grundsätzlichen kulturellen Veränderungen. Hier schließt sich der Kreis, denn das Resultat der<br />

Entwicklung ist bei Kulturpflanzen und Haustieren sehr ähnlich: Kenntnisse gehen verloren, die Existenz<br />

von Sorten und Rassen ist gefährdet. Viele von ihnen sterben aus, gelegentlich sogar Arten.<br />

Gerätschaften werden nutzlos, Methoden verlieren an Bedeutung.<br />

Erst seit rund 100 Jahren hat es sich bei Landwirten in den Industrieländern eingebürgert, Saat-<br />

und Pflanzgut käuflich zu erwerben. Immer weniger Bauern halten seither an ihren traditionellen<br />

Hofsorten und deren erhaltungszüchterischer Bearbeitung fest. Am leichtesten fällt es ihnen offenbar,<br />

sich von den einjährigen Feldfrüchten zu trennen, allen voran vom Getreide. Es folgen die Öl-<br />

und Faserpflanzen, Gemüsearten und -sorten, Kartoffeln, schließlich Obst. Eine Kompensation<br />

dieser weltweit flächendeckend stattfindenden Generosion durch die im Gegenzug entwickelten<br />

neuen Zuchtsorten und verbesserten Rassen sowie durch die inzwischen etablierten nationalen<br />

oder regionalen Genbanken bzw. Zuchtverbände ist nur bedingt möglich, da die einst weit verbreitete<br />

Vielfalt der Kulturpflanzen und Haustiere nur mehr den Mitarbeitern jener „ihr“ Material auf<br />

kleinen Parzellen vermehrenden ex-situ-Sammlungen und den auf einige Arten bzw. Sortengruppen<br />

oder Rassen spezialisierten Züchtern bekannt ist. Selbst von den agrarhistorischen<br />

und Freilichtmuseen verfügen die wenigsten über repräsentative Freiflächen und ausreichende<br />

Kapazitäten, selten gewordene Rassen und Sorten regionaler Besonderheiten lebend zu zeigen –<br />

von einer Nutzung dieses Kulturgutes ganz zu schweigen.<br />

Gegenwärtig erscheint nur noch das Management riesiger Feldflächen mit einer an die Dimensionen<br />

der Äcker angepassten Technik rentabel, die Maximierung von Erträgen durch den Einsatz<br />

von ertragreichen Handelssorten, Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln. Hat diese Entwicklung<br />

die wirtschaftliche Lage moderner Landwirte nachhaltig verbessern können? Arbeitstage und –<br />

wochen ohne Enden, Präsenzpflicht auf dem Hof bzw. dem landwirtschaftlichen Betrieb, drängende<br />

Saat-, Ernte-, Fütterungs- und Liefertermine, witterungsbedingte Unsicherheiten, durch Saisonarbeiter<br />

notdürftig abgepufferte Arbeitsspitzen und nicht zuletzt dem Preiskampf geschuldete vergleichsweise<br />

niedrige Gehälter lassen modernen Bauern und Landwirten immer weniger Spielraum.<br />

Unter ähnlichen Bedingungen leben nur noch private Fischer und Waldarbeiter. Andere als<br />

die beschriebenen, überall auf dem Lande ähnlichen Arbeitsmöglichkeiten bestehen im Dorf kaum.<br />

Defizite im kulturellen und im Informationsangebot tun ein übriges, die Landflucht zu fördern. Wer<br />

jung ist und wem von der Familie gestattet bzw. wer von ihr gar dazu aufgefordert wird, wandert ab<br />

in eine der Städte und versucht dort sein Glück. Kaum jemand kommt zurück. In Krisengebieten,<br />

weniger industrialisierten und Ländern, die von Kriegen heimgesucht werden, erfordert die wirtschaftliche<br />

Lage der Großfamilien in Analogie, dass ein Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung<br />

das Land verlässt, um in den großen Städten oder als Gastarbeiter in anderen Staaten ein Auskommen<br />

zu finden.<br />

Migration ist gesellschaftsfähig geworden. Emigranten- und Immigrantenströme folgen eigenen<br />

Gesetzen. Sie sind mit bestehendem Recht nicht immer in Einklang zu bringen, denn sie perforieren<br />

Grenzen, weichen sie auf und machen sie schließlich sogar überflüssig, führen zur Novellierung<br />

von Gesetzen oder gar zu deren Abschaffung. Regelmäßige Migration einschließlich der<br />

Permigration (z.B. dank internationaler Reise- und Transitabkommen oder auch innerhalb der Europäischen<br />

Union) kennzeichnet heute das tägliche, wöchentliche oder auf den Urlaub gerichtete<br />

Verhalten sehr vieler Menschen. Zwischen Erst-, Zweit- und sonstigen Wohnorten, Arbeitsstätten<br />

und Urlaubsplätzen liegen Distanzen, die mit eigener oder mit Muskelkraft von Pferden im gleichen<br />

Zeitraum nicht mehr überbrückt werden könnten. Doch nicht nur die Menschen selbst wandern,<br />

auch die von ihnen und für sie produzierten Gebrauchsgüter einschließlich leicht verderblicher<br />

Nahrungs- und Genussmittel sind unterwegs. Migration und Gütertransfer sind ganz normale, keineswegs<br />

neue Erscheinungen menschlicher Kultur. Es ist vielmehr die Intensität, die uns erstau-


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

nen oder mitunter auch erschrecken lässt. Der Prozess der Verfremdung, der Verlust langfristiger<br />

gesellschaftlicher und regionaler, spezifischer Bindungen, die Dimension allgegenwärtiger fremder<br />

Kulturelemente.<br />

Am Beispiel emigrierender Flüchtlinge und immigrierender Gastarbeiter aus ländlichen Regionen<br />

soll auf ein scheinbar unbedeutendes kulturelles Detail eingegangen werden, das bei Problemanalysen<br />

bisher übersehen wurde. Gemeint ist das lebende kulturelle Erbe, das die unterschiedlichsten<br />

Nationalitäten angehörenden Wanderer mit sich führen, das sie ihr eigen nennen, ohne damit<br />

jedoch „Eigentum“ oder „Besitz“ im juristischen Sinne zu meinen.<br />

„Wie es schon lange Tradition war, gehörte die Pflege des Gartens zum Aufgabenfeld der Burgherrin,<br />

die ihn zusammen mit ihren Töchtern und Mägden bearbeitete. ... Dieser meist rechtwinklig<br />

angeordnete, ordentlich in Beete geteilte Wurzgarten lieferte Gemüsepflanzen für die Küche. Aber<br />

auch viele Heilkräuter wurden, nach Anweisung der Mönche, hier gezogen. ... Gewaltige neue<br />

Eindrücke stürmten ... auf die Kreuzfahrer ein. Im fernen Morgenland entfaltete sich vor ihnen die<br />

Pracht der Kalifengärten. Einige der orientalischen Gewächse, vor allem Gewürzpflanzen wie<br />

Schwarzkümmel und Ysop, nahmen die Ritter mit in ihre Heimat. Und von den Burggärten aus<br />

fanden die Pflanzen dann schließlich auch ihren Weg in die umliegenden Bauerngärten.“ An anderer<br />

Stelle schreibt WIDMAYR-FALCONI (1994) in ihrem historischen Exkurs: „Es ist auffällig, wie sehr<br />

der Pflanzenbestand in den Bauerngärten, zumindest innerhalb Mitteleuropas, bis hinauf in den<br />

Norden, übereinstimmt. Sicher ist dies auch auf den Einfluss der Mönche zurückzuführen, die mit<br />

der Verbreitung des Christentums auch im Gartenbau für neuen Aufschwung sorgten.“ Diese Aussage<br />

kann sich natürlich nur auf die Artenebene beziehen, denn wie sonst wäre die Rassen- und<br />

Sortenvielfalt zu erklären, die uns auf historischen Landschaftsbildern überliefert ist, die uns in<br />

Darstellungen von Marktszenen aus den unterschiedlichen Regionen Europas nahegebracht und<br />

auf Stilleben aus vergangenen Epochen originalgetreu wiedergegeben wird? Die Klöster, Kaiser<br />

und Könige konnten Empfehlungen geben, mehr oder minder detaillierte Land-Verordnungen erlassen<br />

und deren Nicht-Befolgung mit Geld- und Prügelstrafen belegen. Langfristig durchsetzen<br />

ließ und lässt sich nur, was Akzeptanz bei den Bauern findet, sich in ihre Kultur und Tradition integrieren<br />

lässt, notfalls via Förderung und Schulung. Es wäre höchst erstaunlich, hätten Pflanzen<br />

und Tiere aus dem täglichen Umgang mit ihnen keinen Eingang in bäuerliche Riten und Bräuche<br />

gefunden oder gäbe es keine verbindlichen rechtlichen Regelungen zum Umgang mit diesen Gütern.<br />

Aus gegenwärtiger Sicht teils unverständlich gewordenes aber beibehaltenes Brauchtum,<br />

Gast- oder Brautgeschenke und selbst Opfer bis hin zum Erntedank zeugen vielmehr sogar in der<br />

modernen Alltagskultur davon, wie stabil ursprünglich rein bäuerliche Verhaltensweisen beibehalten<br />

werden (vgl. HELLER 1995).<br />

Wenn Bauern – gleich wo auf der Welt – gewaltsam vertrieben werden, die Flucht ergreifen und<br />

befürchten müssen, Zeit ihres Lebens den heimischen Hof nicht wiederzusehen, nehmen sie<br />

Saatgut mit auf die Reise. Beispielsweise wurde dies für die Zeit der Eroberung Albaniens durch<br />

die Türken im 15. – 18. Jahrhundert von LAGHETTI et al. (1998) in Italien nachgewiesen und in diesem<br />

Jahrhundert für Familien österreichischen Ursprungs in Australien festgestellt (M. RIGLER<br />

1997, pers. Mitt.). Doch auch „harmlose“ Urlauber, Besucher, nehmen Saatgut oder Pflanzen, nicht<br />

selten auch Tiere aus fernen Ländern mit – als lebende oder präparierte Souvenirs, die nationalen<br />

Ein- und Ausfuhrbestimmungen häufig ignorierend, von der Nichtbeachtung oder Unkenntnis erlassener<br />

Artenschutzbestimmungen ganz zu schweigen. Nicht wenige lassen sich dieses Material<br />

sogar nachschicken oder von anderen transferieren, um das Risiko der Entdeckung bei Zollkontrollen<br />

zu umgehen. Doch dies soll hier nicht näher erörtert werden, obwohl es ein allgemein<br />

verbreitetes menschliches Verhalten beschreibt.<br />

Auf dem Lande, um auf die Gastarbeiter zurückzukommen, gibt es auch in den Industriestaaten<br />

meist nur kurze Verträge z.B. für die Erdbeerernte, in der Spargelsaison oder zur Weinlese. Beginn<br />

und Ende der Tätigkeit liegen zeitlich so dicht beieinander, dass der Versuch kaum lohnt, sprachliche<br />

Barrieren abzubauen. Wem es jedoch gelingt, in einer Stadt Fuß zu fassen, die auch noch in<br />

einem der wohlhabenden Länder dieser Erde liegt, dem bieten sich ganz andere Möglichkeiten.<br />

Geregelte Arbeits- und Freizeiten sowie ein allen offenstehender Zugang zu preiswerten Kommunikationsmöglichkeiten<br />

erlauben es, einen engen Kontakt zu den Familien zu unterhalten und Teile<br />

des Verdienstes zur Unterstützung der Verwandten nach Hause zu schicken. Briefwechsel mit<br />

Freunden und Verwandten (heute Telefonate oder der Austausch von E-Mails), neue Bekannt-


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

schaften mit Landsleuten, die einen ähnlichen Hintergrund besitzen, mit denen man zusammenarbeitet<br />

oder die man nach Feierabend trifft, sind neben der Beibehaltung von Kultur und Tradition<br />

dann zwischen den Urlaubsaufenthalten wichtige Brücken in die Heimat. Die meisten Immigranten<br />

sind jedoch bestrebt, die engsten Familienmitglieder nachzuholen, Ehefrauen und Kinder.<br />

Menschlich verständlich, verhindert dies jedoch eine gesellschaftliche Integration. Das Nebeneinanderherleben<br />

reduziert sich auf eine langsame Assimilation einander fremd bleibender Kulturelemente.<br />

Da die Verbindung zur Heimat nicht abreißt, kommt es zu wiederholten Besuchen und Gegenbesuchen<br />

selbst der Großfamilien. Informationen über frei werdende oder bei Bekannten neu<br />

geschaffene Arbeitsplätze werden vermittelt und regen Verwandte, Freunde und ehemalige Kollegen<br />

an, es den Vorbildern gleich zu tun. Wie oben angedeutet, werden neben unbelebten Kulturträgern<br />

(Andenken, Bücher, Zeitschriften, Musik) häufig auch lebende (Saatgut, Pflanzen, Tiere) in<br />

beide Richtungen ausgetauscht. Sie dominieren hier wie dort nicht, aber sie sind präsent: So kann<br />

man – um bei dem Beispiel der Hausgärten abgelegener albanischer Bergdörfer zu bleiben – neben<br />

den traditionellen plötzlich auch holländische und deutsche, auf den Inlands-Märkten und im<br />

Handel als Saatgut oder Jungpflanzen nicht erhältliche Hybridsorten antreffen (GLADIS et al. 1995),<br />

so u.a. von Mais und Tomaten. Vielleicht sind es Erinnerungen an den Besuch eines Sohnes vor<br />

etlichen Jahren. Bei einem Züchter oder auf Versuchsflächen würde man dies als Vergleichsanbau,<br />

als Materialsichtung im Hinblick auf die Eignung an dem betreffenden Standort bezeichnen,<br />

als Vorarbeit für eine spätere Evaluierung und züchterische Nutzung werten.<br />

Gastarbeiter verhalten sich grundsätzlich nicht viel anders als Besucher, Urlauber oder Flüchtlinge.<br />

Sie agieren aber aus sehr konkreten und nachvollziehbaren Beweggründen: Insbesondere wenn<br />

sie sich mit ihren Familien im Ausland ansiedeln versuchen sie, an ihre heimatliche Kultur anzuknüpfen.<br />

Lebens-wichtige Bestandteile dieser Kultur waren dort und sind in der neuen Umgebung<br />

zunächst einmal Landwirtschaft und Gartenbau. Wo in den Randlagen der Städte das Land für Ackerbau<br />

und Viehzucht nicht ausreicht – und das ist zumeist der Fall – da wird gegärtnert, gegebenenfalls<br />

Land urbar gemacht und bewirtschaftet, da werden Kleintiere gehalten. Nicht selten sind<br />

es sogar mehrere Gärten, die in Abhängigkeit von der Nähe zur Wohnung der Familie mit ganz unterschiedlichen<br />

Pflanzen bestellt werden. Fast ausnahmslos stammen alle Mais- und Bohnen-<br />

„Sorten“, die unterschiedlichen Obst-, Gemüse, Gewürz-, Heil- und Zierpflanzen nicht aus den einschlägigen<br />

Fachgeschäften, die Saatgut „weit besserer Qualität“ preiswert feilbieten sondern aus<br />

den vertrauten heimatlichen Gärten und Kulturkreisen, in denen die strikte Trennung zwischen Ernte-<br />

und Saatgut noch nicht vollzogen ist. Unter einfachsten Bedingungen, meist ohne Wasseranschluss,<br />

nur mit der Handhacke als Werkzeug ausgestattet, wird wenn es sein muss mitten in Europa<br />

in ausgefeilten intercropping-Systemen eine fast tropisch anmutende üppige Vielfalt angebaut,<br />

genutzt – und erhalten: Hunderte unterschiedliche Busch- und Stangenbohnen, Dutzende<br />

Salate, Tomaten und Paprika, primitiv anmutende – aber äusserst robuste und ertragsstabile Mais-<br />

und Perlporree-Varianten sowie vergleichsweise frostharte Mangoldsippen und Pflückrüben kann<br />

man allein im Bonner Raum finden (GLADIS 1999). In (West-)Berlin wurden grenznahe Nischen als<br />

Gärten genutzt (GÜNGÖR <strong>2000</strong>). Nicht selten werden Mischungen unterschiedlichster Sorten sogar<br />

auf dem gleichen Beet angesät oder gepflanzt: „The common management practise of mixing several<br />

genotypes ... explains why many cultivars rather than few are used. When combined they<br />

can, in isolation or in association, develop a defensive versatility against climate changes, blights<br />

and various environmental conditions ...“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Fast in jedem Garten<br />

steht Melde (Atriplex hortensis) – nicht als Unkraut, nicht zur Zierde, nicht als „Kulturpflanze des<br />

Jahres <strong>2000</strong>“ sondern als Gemüse. Und es ist nicht „eine“ Melde, es sind mosaikartig verzahnt – je<br />

nach Herkunft der Gärtner – Melden aus den unterschiedlichsten Regionen und Anbaugebieten<br />

z.B. des Irak und Iran, Palästinas, Rumäniens, Syriens, der Türkei. Nicht anders als in typischen<br />

ländlichen Gebieten Europas, Asiens und Afrikas gehen die indigenen Gemeinschaften angehörenden<br />

Bauern mit ihren traditionellen „pflanzengenetischen Ressourcen“ in Australien und in den<br />

beiden Amerika um: „The methods of farming practised for centuries are still used by farmers and<br />

local cultivar seeds are part of this tradition. Seeds are one of the most precious resources a<br />

farmer has and great care is taken in conserving them. This respect and care for seeds has been<br />

passed down through generations ...“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Und nicht anders als in Europa,<br />

Asien und Afrika verfahren Aussiedler mit ihren tradierten „pflanzengenetischen Ressourcen“<br />

in Australien und den beiden Amerika.


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

Fundamental entgegengesetzt ist der Umgang mit Saatgut, Pflanzen und wohl auch mit Tieren bei<br />

sekundären Gärtnern und Landwirten, beispielsweise in Österreich und in Deutschland. Bis auf<br />

wenige beschriebene Ausnahmen (vgl. ARROWSMITH et al. 1998; GLADIS 1996, HELLER 1997/98),<br />

das Obst und den Hobby-Bereich (Privatinitiativen, Vereine) werden Saatgut und vorgezogene<br />

Jungpflanzen aller landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kulturpflanzen einschließlich der Zier-<br />

und Forstpflanzen mittelbar bei Züchtern gekauft. Ein Rückgang des Absatzes ist mit Sicherheit<br />

nicht auf die Aktivität der genannten Initiativen und Vereine sondern vielmehr darauf zurückzuführen,<br />

dass Gartenarbeit in diesen Ländern keineswegs mehr zu den präferierten Freizeitbeschäftigungen<br />

gehört. Gärten müssen dort in erster Linie pflegeleicht und in zweiter repräsentativ<br />

sein. Selbstversorgung aus eigenem Anbau spielt fünfundfünfzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg<br />

nur mehr eine untergeordnete Rolle. Dessen ungeachtet bewahrt die Gesetzgebung formal<br />

auch die aus Altersgründen mittlerweile beinahe zu vernachlässigende Verbrauchergruppe der<br />

Selbstversorger, die Hunger am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat, ebenso wie die weit<br />

größere der Zierpflanzenfreunde vor dem Erwerb möglicherweise minderwertiger Pflanzen: Sortenschutz<br />

und Saatgutverkehrsgesetz regeln den Markt und den Konsum inländisch erzeugter<br />

pflanzlicher Nahrungsmittel nahezu perfekt. In den Handel gelangt nur, was auf Sortenechtheit und<br />

Vitalität, Homogenität, Keimfähigkeit, Pflanzengesundheit und Fremdbesatz amtlich geprüft und für<br />

gut befunden wurde und was mithin für den Verbrauch im Lande oder für den Export zugelassen<br />

ist. Abgesehen von wenigen Sonderregelungen (z.B. für den Nachbau und für die Nachbarschaftshilfe<br />

bzw. die kostenfreie Abgabe kleinster Saatgutmuster durch Genbanken, Botanische oder<br />

Schulgärten) und den „grauen“ Hobby-Bereich gibt es also keine offiziell anerkannten Quellen für<br />

den Bezug von Saat- und Pflanzgut, die nicht von der privaten (Gemüse, Zierpflanzen) oder staatlichen<br />

(Forst, Obst) Pflanzenzüchtung legitimiert worden sind. Die weiterverarbeitende Industrie<br />

gibt den Landwirten in Verbindung mit Abnahmegarantien sogar vor, welche Sorten sie in welchem<br />

Umfang anbauen dürfen.<br />

Es ist als ein Zeugnis erstaunlicher Anpassungsfähigkeit, dass der Artenrückgang nicht dramatischer<br />

verläuft, dass die Generosion bei Kulturpflanzen und Haustieren noch immer stattfinden<br />

kann, dass die Zerstörbarkeit der Biosphäre bis heute nicht bewiesen worden ist. Abgesehen davon,<br />

dass sich das niemand ernsthaft wünscht noch überhaupt vorstellen kann, dass wohl auch<br />

niemand absichtlich und bewusst darauf hinarbeitet, ist es vermutlich auch gar nicht möglich. Denn<br />

nicht nur menschliche Gesellschaften, auch die Natur ist an Grundgesetze gebunden. Und wie in<br />

der Gesellschaft, werden auch in der Natur Grenzen und Gesetze meist erst dann bewusst wahrgenommen,<br />

wenn sie erreicht sind bzw. wenn gegen sie verstoßen wird. Wir Menschen sind und<br />

bleiben Teil der Natur, solange sie unser Tun toleriert und unsere fortwährenden Provokationen ihre<br />

Existenz nicht ernsthaft gefährden – ein sehr zuverlässiges, sich selbst schützendes, stabiles<br />

und abgepuffertes System.<br />

Gesellschaftliche Grundgesetze sind dann am wirkungsvollsten, wenn sie sich an Naturgesetze<br />

anlehnen: Angenommen, neue Elemente (fremdländische Arten, klimatisch überlebensfähige Exoten)<br />

treten hinzu, dominieren bald und nehmen gar überhand, ändert sich das Arteninventar und<br />

die soziologische Struktur der natürlichen Lebensgemeinschaften durch jene Neophyten und Neozoen,<br />

nicht aber die naturgesetzliche Grundlage (vgl. GLADIS et al. 1997). Treten neue Sorten oder<br />

Arten in Erscheinung, verdrängen sie alte, müssen jene aber nicht zwangsläufig tilgen. Durchaus<br />

ähnliches ist auf den Obst- und Gemüsemärkten zu beobachten: exotische Lebensmittel wie Bananen,<br />

Erdnüsse, Litchi, Nashi-Birnen, und Süßkartoffeln haben sich auf mitteleuropäischen Märkten<br />

etabliert. Andere, herkömmliche Obst- und Gemüsearten, sind dadurch aber nicht verdrängt<br />

worden. Automobile, Reisezüge und Flugzeuge haben Fahrräder und Fußgänger nicht abgeschafft,<br />

Online-Zeitschriften nicht die Bücher, Gazetten und Journale, Halogenleuchten nicht die<br />

Wachslichter. Das ist in allen Systemen recht ähnlich, natürlichen wie gesellschaftlichen. Das<br />

Spektrum ist erweitert worden, bunter – und mithin gibt es mehrere Optionen. Auszusterben ist nur<br />

eine davon.<br />

Jedes Lebewesen, d.h. jedes Individuum, altert und stirbt einmal – aus. Auch Sorten und Rassen,<br />

Varietäten, Arten, ganze Gattungen sind nicht dagegen gefeit. Die Dinosaurier sind das bekannteste<br />

Beispiel, in der Evolution waren sie schließlich kleineren Reptilien und den Säugern unterlegen.<br />

Auch von der Dronte (Raphus cucullatus) und vom Deutsche Bertram (Anacyclus officinarum) existieren<br />

nur mehr Abbildungen und Präparate in Museen. Auch diese Arten sind ausgestorben bzw.


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

in diesen Fällen genauer: von Menschen in historischer Zeit bewußt ausgerottet, nicht erhalten<br />

bzw. nicht rechtzeitig als erhaltenswert eingeschätzt worden. Heute bedauern wir dies, doch wir<br />

können diese Wesen (noch?) nicht zu neuem Leben erwecken. Unzählige Individuen, Tiere, Pflanzen,<br />

aber auch Menschen sterben täglich, sind vom ersten Tag ihres Lebens an in ihrer Existenz<br />

bedroht. Und je nach Häufigkeit, Lebensweise, Reproduktionsvermögen, Konkurrenz- und Anpassungsfähigkeit<br />

mit ihnen – jeweils spezifisch und unterschiedlich stark auch grundsätzlich alle wildlebenden<br />

und domestizierten Arten wie auch die höheren taxonomischen Einheiten. Ethnischen<br />

Gruppen ergeht es nicht besser. Bei Kulturpflanzen und Haustieren kommt als zusätzliches Selektionskriterium<br />

für ein Überleben der Nutzen für „den“ Menschen hinzu. Auch Sprachen, Kunstschätze<br />

und andere Kulturgüter altern, erodieren, gehen unwiederbringlich verloren. Kulturlandschaft<br />

gehört gleichfalls dazu. Dies alles findet permanent statt – ungeachtet intensiver Forschungstätigkeit,<br />

trotz des erklärten Willens und größter Anstrengungen zur Erhaltung. Die Naturgüter<br />

sollen ebenso wie Kulturgüter für die Ewigkeit möglichst unverändert bewahrt werden. Auf<br />

dieser erklärten menschlichen Absicht basieren alle ausgewiesenen Schutzgebiete, die Arbeit aller<br />

Museen. Dies zu wollen erscheint ganz unterschiedlichen Gesellschaften auch vernünftig obwohl<br />

wir nicht erst seit heute wissen, dass es gänzlich unmöglich ist. Wir leben mit diesem Schisma,<br />

haben uns mit der Unabänderlichkeit von Werden und Vergehen abgefunden, trauern darum, freuen<br />

uns darauf, können es kaum beeinflussen und sollten gerade dies vielleicht auch so wenig wie<br />

möglich tun. Denn wo sollen die von ehrgeizigen Forschern vielleicht irgendwann einmal tatsächlich<br />

rekonstruierten Riesenhirsch-, Mammut- und Wollnashornherden einmal leben – nur in speziellen<br />

Zoologischen Gärten, in realisierten „Jurassic Parks“? Die blinde Fortschrittsgläubigkeit, vereint<br />

mit der Annahme, dass sich jede einmal ins Auge gefasste Idee irgendwann auch realisieren lässt<br />

und dies dann auch werden muss, entbindet uns nicht von der Verantwortung für unser Tun.<br />

Wie am Beispiel von Pflanzen und Tieren sowie der „Eigentumsrechte“ an ihnen deutlich wird, sind<br />

alte und neue Wertesysteme durcheinandergeraten. Bis zur Unterzeichnung der Biodiversitätskonvention<br />

durch die Mehrheit der Staaten dieser Erde wurden – und werden wie eingangs geschildert<br />

teils noch heute – (Kultur-)Pflanzen und (Haus-)Tiere ebenso wie Boden, Wasser und Luft als öffentliche<br />

Güter behandelt (OETMANN-MENNEN und BEGEMANN 1998). Sie sind Ressourcen im besten<br />

Sinne des Wortes. Die neuen Wertesysteme sind damit gänzlich inkompatibel, wie Genpiraterie<br />

und Patentierung von Lebewesen erkennen lassen. Dessen ist man sich wohl bewusst, setzt aber<br />

weiterhin auf juristisch unanfechtbare internationale Vereinbarungen, diskutiert über staatliche<br />

Souveränität und die Realisierung deren globaler Akzeptanz (BORRING <strong>2000</strong>). Nationale und regionale<br />

Umsetzungsbemühungen des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt (CBD) müssen<br />

an der Eigentumsfrage und deren Auslegung scheitern: „Bis zuletzt war umstritten, wie der Grundsatz<br />

nationaler Souveränität Eingang in den Vertragstext finden sollte. Der letzte Entwurf sah eine<br />

Liste von Grundprinzipien und allgemeinen Verpflichtungen vor. Die Entwicklungsländer befürworteten<br />

eine derartige Liste, die von den Industrieländern abgelehnt wurde. Um zu einem Kompromiss<br />

zu gelangen, wurden im letzten informellen Entwurf alle entsprechenden Vorschläge gestrichen<br />

und kurzerhand durch Prinzip 21 der Erklärung von Stockholm ersetzt, dessen Wortlaut<br />

zum Art. 3 der Konvention wurde in Abs. 1 des Art. 15, der Kernvorschrift über die Regelung genetischer<br />

Ressourcen, das souveräne Recht der Staaten wiederholt und aus ihm die Befugnis der<br />

Regierungen abgeleitet, den Zugang zu genetischen Ressourcen zu bestimmen. Er unterliegt den<br />

innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Wie wichtig der Grundsatz der nationalen Souveränität den<br />

Staaten ist, wird daran deutlich, dass auch die Präambel ihn nochmals bekräftigt (4. Erwägung) ...<br />

Ein „gemeinsames Erbe“ für biologische Vielfalt hätte, wäre es nicht für nur einen kleinen Teil wildlebender<br />

Vielfalt im Staatseigentum angenommen worden, die Eigentumsregelungen in Frage gestellt<br />

und größte Durch- und Ausführungsprobleme aufgeworfen.“ (HENNE 1998, p. 121). Wie wichtig<br />

deutschen Hilfsorganisationen die Saatgutversorgung der Bauern in Katastrophengebieten ist<br />

erkennt man daran, dass hierfür überhaupt keine Planung existiert. Hilfssendungen erschöpfen<br />

sich in der Bereitstellung von Lebensmitteln, Trinkwasser, Medikamenten, Kleidung und Wohnraum.<br />

Darüber hinausgehende sind keine Grundbedürfnisse mehr, Aufbauhilfe wird über die Entwicklungszusammenarbeit<br />

gewährt. Was tun, wenn einem Land seine nationalen Genressourcen<br />

durch Umweltkatastrophen wie Stürme oder Hochwasser komplett zerstört worden sind und regional<br />

angepasstes Saatgut nur von feindlich gesinnten, weniger betroffenen Nachbarstaaten bereitgestellt<br />

werden könnte, die sich jedoch auf ihre nationale Souveränität berufen und keine ressourcenbezogenen<br />

material transfer agreements (MTA) eingehen? Es wurde und wird noch immer


Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />

einfach nicht wahr-, nicht zur Kenntnis genommen, welche fundamentalen Gesetze und unbezahlbaren<br />

Güter durch die CBD verletzt werden und dass diese ökonomisch nicht bewertbaren, unveräußerlichen<br />

Grundrechte schlicht durch individuelle Prinzipientreue weltweit ungeschmälert wahrgenommen<br />

wurden, immer noch werden und weiterhin wahrgenommen werden wollen, von Bauern,<br />

von Landwirten, von Migranten.<br />

Ausnahmeregelungen und juristische Spitzfindigkeiten helfen hier nicht weiter. Die einzig vernünftige,<br />

realisierbare Alternative wird von „Entwicklungsländern“ propagiert: „A dynamic system therefore<br />

requires that seed is transferred on a regular basis from place to place. Where seed is lost<br />

then the variety can be restored by obtaining seed from another farmer´s germplasm. This in its<br />

turn generates intercommunal and intracommunal seed flow“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Dem<br />

ist nur hinzuzufügen, dass die moderne Gemeinde in der Regel nicht mehr an einen bestimmten<br />

Ort auf diesem Globus oder gar an einen definierten Staat gebunden ist. Und man möge die Stabilität<br />

menschlicher Gemeinschaften auch in dieser mobilitätsbewussten Epoche nicht unterschätzen:<br />

Die oben erwähnten albanischen Flüchtlinge sind aus der süditalienischen Region Basilicata<br />

nicht nach Albanien heimgekehrt, als die Türken sich aus ihrem Mutterland zurückzogen. Bis heute<br />

ist ihr Einfluss allein dort in 94 Städten und Siedlungen nachweisbar: in der Zweisprachigkeit, in ihrer<br />

Kultur, den Traditionen und eben auch in den von ihnen gepflegten und erhaltenen Sorten.<br />

Literatur<br />

• ARROWSMITH, N., TH. GLADIS and A. KANZLER 1998: Collecting in northeastern Austria, 1997. PGR Newsletter<br />

113, 35-37.<br />

• BORRING, J. <strong>2000</strong>: The International Undertaking on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture:<br />

is it now or never? IPGRI newsletter for Europe 17, pp. 1+7.<br />

• GLADIS, TH. 1996: Vorkommen und potentielle Nutzung von seltenen Gemüsearten und -sorten. Schriften<br />

zu genetischen Ressourcen Band 2, 72-82.<br />

• --, 1999: Kulturelle Vielfalt und Biodiversität – hier, in Deutschland und anderswo. VEN- Sonderheft vom<br />

2. Tag der Kulturpflanze in Mainz-Bretzenheim. Samensurium, 10, 22-36.<br />

• --, K. HAMMER, P. PERRINO, W. PODYMA and L. XHUVELI 1995: Report of the third collecting mission in Albania,<br />

autumn 1994. PGR Newsletter 104, 21-23.<br />

• --, M. SPAHILLARI und W. HILBIG 1997: Bemerkungen zur Introduktion und Reintroduktion von Nutzorganismen<br />

in Kulturlandschaften. Berichte des LUA Sachsen-Anhalt. Sonderh. 3, 29-33.<br />

• GRIMM, D. <strong>2000</strong>: Das Andere darf anders bleiben. Wie viel Toleranz gegenüber fremder Lebensart verlangt<br />

das Grundgesetz? Die Zeit Nr. 8, 17. Februar, S. 12-13.<br />

• GÜNGÖR, D. <strong>2000</strong>: Der geduldete Garten. Berliner Zeitung Nr. 59 (10. März) S. 25.<br />

• HELLER, R. 1995: Obst in der Altmark. Entstehung, Verbreitung und Verdrängung von Lokalsorten. Verein<br />

Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V., 106 S.<br />

• --, 1997/98: Napp vull Kohl mütt sin. – Zur einstigen Bedeutung des Braunkohls (Brassica oleracea convar.<br />

acephala var. sabellica L.) in der Ernährung der Landbevölkerung der Altmark und benachbarter Gebiete.<br />

Altmark-Blätter (Heimatbeilage der Altmark-Zeitung) vom 13.12.97 S.195-197, 03.01.98 S. 1-4 und 10.01.98<br />

S. 7-8.<br />

• HENNE, G.1998: Genetische Vielfalt als Ressource: Die Regelung ihrer Nutzung. – 1. Aufl. Baden-Baden,<br />

Nomos Verlagsges. (Völkerrecht und Außenpolitik; Bd. 54), Diss. FU Berlin, 386 S.<br />

• LAGHETTI, G., L. XHUVELI, P. PERRINO, G. OLITA and K. HAMMER 1998: Collecting crop genetic resources<br />

in Italian towns of Albanian origin: Basilicata region. PGR Newsletter 114, 29-34.<br />

• OETMANN-MENNEN, A. und F. BEGEMANN 1998: Genetische Vielfalt und pflanzengenetische Ressourcen<br />

– Gefährdungsursachen und Handlungsbedarf. Schriftenreihe für Vegetationskunde des BfN, Heft 29,<br />

35-46.<br />

• TERRAZAS, F. and G. VALDIVIA 1998: Spatial dynamics of in situ conservation: handling the genetic diversity<br />

of Andean tubers in mosaic systems. PGR Newsletter 114, 9-15.<br />

• WIDMAYR-FALCONI, CHR. 1994: Bauerngärten neu entdeckt. 6. Aufl., BLV-Verlagsges. München, Wien,<br />

Zürich, 143 S.


Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />

Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Jürgen Pohlan<br />

Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau<br />

als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut –<br />

Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Gliederung<br />

1. Problemstellung<br />

2. Nachhaltigkeit im Kontext von Anbau- und Nutzungssystemen des<br />

tropischen Klimabereiches in Lateinamerika<br />

2.1 Traditionelle Anbausysteme<br />

2.2 Die moderne Entwicklung und heutige Praktiken<br />

2.3 Die Agricultura Sostenible<br />

2.4 Kuba: Ein Beispiel<br />

3. Anbausysteme mit Kakao (Theobroma cacao L.) als Hauptkultur<br />

3.1 Kurze historische Betrachtung<br />

3.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />

3.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kakaoanbau<br />

4. Anbausysteme mit Kaffee (Coffea arabica L.) als Hauptkultur<br />

4.1 Kaffeeanbau mit oder ohne Beschattung<br />

4.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />

4.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kaffeeanbau<br />

5. Ausblick<br />

6. Literatur<br />

1. Problemstellung<br />

Die nachhaltige Transformation konventioneller landwirtschaftlicher Systeme ist eine der wichtigsten<br />

Aufgaben für die tropische Landwirtschaft im neuen Jahrtausend, um die durch übermäßigen,<br />

einseitigen Einsatz von Inputs und von unverantwortlichen Praktiken und Methoden zur Ertragssteigerung<br />

geprägte Epoche der letzten 40 Jahre ablösen zu können.<br />

Viel diskutiert und publiziert wurde in den vergangenen 15 Jahren über die nachhaltige Entwicklung<br />

landwirtschaftlicher Anbau- und Nutzungssysteme in den Tropen (INIFAT, 1996; BRAUN und<br />

PETERS, 1995; DSE, 1992 ). Trotzdem gilt es festzustellen, die Mehrzahl dieser Beispiele und Visionen<br />

blieb bisher theoretischer Natur (POHLAN 1999 b; MAYER-RIES, 1998).<br />

Erfreuliche Beispiele entwickelten sich im Kaffeeanbau verschiedener mittel- und südamerikanischer<br />

Staaten, die besonders durch den Fair-Trade Handel organischen Kaffees befördert und unterstützt<br />

wurden. Auch in Regionen mit Kakaoanbau sind Initiativen für ökologisch produzierten<br />

Kakao entwickelt worden. Die positiven Ergebnisse beschränken sich bisher auf nur kleinere Flächen<br />

in Bolivien, Kostarika, Ecuador, Nikaragua, der Dominikanischen Republik, Venezuela, Ghana,<br />

Kamerun, Sri Lanka oder die Philippinen (GEPA, 1999).<br />

Eine schnelle, drastische Änderung der konventionellen Anbausysteme ist in den tropischen Regionen<br />

aufgrund der existierenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedingungen nicht<br />

empfehlenswert. Erfolgversprechender dürfte die gut vorbereitete, partizipative Umgestaltung dieser<br />

oft nur auf Subsistenz ausgerichteten Wirtschaftsweise zu nachhaltigen Nutzungssystemen<br />

sein, die zwingend auch Praktiken und Erkenntnisse aus dem wissenschaftlichen und technologischen<br />

Fortschritt angepaßt umsetzen.<br />

Wie sieht die Realität zur Nutzung nachhaltiger Systeme in den Tropen aus? Auf der einen Seite<br />

gibt es eine ungezählte Vielfalt von Chancen, aber gleichzeitig existieren Hemmnisse, die schnell<br />

gelöst werden müssen, um einer ökonomischen Globalisierung echte Alternativen bieten, um bäuerliche<br />

Traditionen bewahren, um stabile ökologische Bedingungen erhalten oder rehabilitieren<br />

und um gerechte soziale Verhältnisse schaffen zu können (FAO, <strong>2000</strong>; GUGEL und JÄGER, 1999;<br />

POHLAN et al., 1996; BRAUN und PETERS, 1995).


Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />

Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Dieses Szenario benötigt einen generellen Wechsel in der ruralen Welt der Tropen. Es werden<br />

junge, gut ausgebildete Landwirte benötigt, die offen sind für die Einführung von wissenschaftlichtechnischen<br />

Neuheiten, ohne die Erkenntnisse und Traditionen ihrer Eltern und Großeltern zu negieren,<br />

und die selbst über ein hohes Maß an Kreativität verfügen (POHLAN, 1999 b).<br />

2. Nachhaltigkeit im Kontext von Anbau- und Nutzungssystemen des tropischen<br />

Klimabereiches in Lateinamerika<br />

Die Landwirtschaft in Lateinamerika ist traditionell seit dem 17. Jahrhundert mit Praktiken konfrontiert,<br />

die ausgedehnte Landstriche ungehemmt in Besitz nahmen und nutzen, Exportansprüche<br />

und Exportmöglichkeiten befriedigen, die billige Arbeitskraft ausbeuten und den agrotechnischen<br />

Entwicklungsstand industrialisierter Staaten kopieren (POHLAN, 1999 a; DARY et al., 1998;<br />

CASTELLANOS CAMBRANES, 1996; REYNOSO, 1963). Davon zeugen die starke ökonomische<br />

Abhängigkeit zahlreicher Länder von einem einzigen landwirtschaftlichen Wirtschaftszweig. Der<br />

Zuckerrohranbau trägt in der Dominikanischen Republik zu 54 % und in Kuba zu 40 % der Exporterlöse<br />

bei. El Salvador realisiert 58 % der Deviseneinnahmen mit Kaffee. Der Bananenexport erbringt<br />

Honduras 31 % und Panama 26 % der harten Währung. Mit Baumwolle erwirtschaftet Paraguay<br />

rund 40 % seiner Devisen und Uruguay deckt seine Dollareinnahmen zu mehr als 20 Prozent<br />

aus dem Rindfleischexport.<br />

Die nachhaltige Gestaltung von Anbau- und Nutzungssystemen wird durch die seit Jahrzehnten in<br />

der Mehrzahl lateinamerikanischer Länder bestehende strikte Trennung von Pflanzenbau (sector<br />

agrícola) und Tierhaltung (ganadería) gehemmt. Vielmehr bot die Monokultur einzelner Nutzpflanzenarten<br />

wie Zuckerrohr, Banane, Baumwolle oder Kaffee, die zumeist Exportbedürfnisse befriedigen,<br />

beste Möglichkeiten für eine schnelle Technisierung und Chemisierung des Anbaus. Eine generell<br />

verbesserte sozial - ökonomische Lage der ländlichen Bevölkerung trat damit nicht ein. Das<br />

Überstülpen fortgeschrittener Technologien in Einheit mit Monokultur, überhöhter Mineraldüngung,<br />

ständig unkontrolliert zunehmender Ausbringung von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden sowie<br />

regional hohe Tierkonzentrationen provozierten jedoch unübersehbare Probleme für die Umwelt.<br />

Die in Europa seit zwei Jahrzehnten heiß diskutierten Probleme wie der übermäßige Eintrag von<br />

Stickstoff und Phosphaten in das Grundwasser und die Kontaminierung von Boden, Wasser und<br />

landwirtschaftlichen Produkten mit Pflanzenschutzmitteln sind heute auch in Lateinamerika allgegenwärtig.<br />

Eine öffentliche Auseinandersetzung zu Fragen des Umweltschutzes ist dank des Verantwortungsbewußtseins<br />

von sehr unterschiedlichen nationalen und internationalen Organisationen<br />

und von Einzelpersonen in Gang gebracht worden. Vielen mittleren, aber auch kleinen Landwirten<br />

ist längst bewußt geworden, daß sie Nahrungsmittel nicht nur in ausreichender Menge und<br />

gewinnbringend produzieren, sondern auch ihren Bodenbesitz vor umweltschädigenden Einflüssen<br />

schützen müssen. Hiermit bieten sich Chancen und Notwendigkeiten, traditionelle nachhaltige<br />

Produktionssysteme mit neuen Erkenntnissen zugunsten einer dauerhaft nachhaltigen Landwirtschaft<br />

zu verknüpfen.<br />

Das katastrophale Image der heutigen Landwirtschaft in der Öffentlichkeit, ein ständiges Hineinreden<br />

nichtkompetenter Verbraucher und die tatsächliche Situation der Landwirtschaft als unproduktiver,<br />

nichtprofitabler, unattraktiver und keinesfalls nachhaltig produzierender Wirtschaftszweig<br />

schaffen unzählige Zweifel und Widersprüche, die alles andere alles fördernd auf eine zukünftig<br />

vorherrschende nachhaltige Landwirtschaft (Agricultura Sostenible) wirken. Daran hat bisher auch<br />

die immer wieder in die Diskussion gebrachte nachhaltig zu gestaltende volkswirtschaftliche Entwicklung<br />

wenig verändert. Als Komponenten werden dafür die ökonomische, ökologische und soziale<br />

Nachhaltigkeit angeführt. Die Wichtung eines jeden einzelnen Gliedes erfolgt natürlich entsprechend<br />

den Interessen und den Möglichkeiten des jeweiligen Staates. Und hier scheiden sich<br />

seit Jahrzehnten die Geister. Die Marktwirtschaft priorisiert den kurzzeitig sicheren ökonomischen<br />

Gewinn, die extreme Ökologie - Szene möchte die Natur über alles stellen und die kostenfreie soziale<br />

Sicherheit bleibt Utopie des Kommunismus.<br />

Globale und lokale Interessen gilt es deshalb zu verknüpfen. Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens<br />

spiegeln sich in den bisher recht bescheidenen Ergebnissen der AGENDA 21 wider, die auf<br />

dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahr 1992 beschlossen wurden. Nationale ökonomische<br />

Interessen torpedieren noch immer die detailliert erarbeiteten wissenschaftlichen Aussagen zur Situation<br />

und die vorgeschlagenen Lösungswege.


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Auch wenn es generell positiv ist, dass miteinander geredet wird, darf es nicht bei der selbstkritischen<br />

Einschätzung der Industrienationen bleiben, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung<br />

weltweit politisch einzuleiten, wissenschaftlich zu fördern und ökonomisch abzusichern. Diese<br />

Selbstverpflichtung, zukünftig beispielhaft umweltschützend und ressourcensparend vorangehen<br />

zu wollen, hätte schon längst in die Tat umgesetzt werden können und müssen.<br />

Ökonomische<br />

Nachhaltigkeit<br />

Boden<br />

Tier<br />

soziale<br />

Nachhaltigkeit<br />

Ökologische<br />

Nachhaltigkeit<br />

Pflanze<br />

Abb. 1: Dreieck der Nachhaltigkeit für landwirtschaftliche Anbausysteme (POHLAN et al., 1995)


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Die Zielgrößen und Prinzipien der Nachhaltigkeit für land- und forstwirtschaftliche Systeme haben<br />

wir in zwei sich einander beeinflussende Dreiecke eingefügt (Abb. 1). Besonders geht es darum,<br />

dass die wirtschaftliche Effizienz in tropischen Nutzungs- und Anbausystemen erhöht und dynamisch<br />

und kreativ für einen wirksamen Schutz der natürlichen Ressourcen und für eine gerechte<br />

Gestaltung sozialer Grundbedürfnisse eingesetzt wird. Einen bedeutsamen Anteil am Gelingen hat<br />

die Umsetzung von Beziehungen, Abhängigkeiten und Stimulierungen im Dreieck Boden – Pflanze<br />

– Tier.<br />

In Lateinamerika besteht selbst in kleinbäuerlichen Betrieben nur selten diese Grundvoraussetzung.<br />

Entsprechend schwierig gestalten sich Prozesse einer integrierten Bewirtschaftungsweise.<br />

Die große Herausforderung besteht deshalb darin, arten- und nutzungsreiche Systeme zu etablieren,<br />

die traditionellen und neuen Kenntnisse für eine tragfähige, umweltverträgliche Landnutzung<br />

dieser Agroökosysteme zu nutzen und den Erhalt der noch verbliebenen natürlichen Ökosysteme<br />

innerhalb der verschiedenen tropischen Regionen zu manifestieren.<br />

2.1 Traditionelle Anbausysteme<br />

Die Palette an traditionellen Anbausystemen in Lateinamerika ist ebenso reichhaltig wie das Füllhorn<br />

an Pflanzen- und Tierarten im tropischen Regenwald. Die Anbausysteme entwickelten sich<br />

entsprechend den ethnobotanischen Gegebenheiten, den sozial - ökonomischen Bedingungen der<br />

jeweiligen Region und den natürlichen Standortsverhältnissen über eine Vielzahl von Generationen<br />

hinweg. Typisch für die vorkoloniale Epoche war in jedem Fall die nachhaltige Nutzung der vorhandenen<br />

natürlichen Ressourcen.<br />

Das Kayapo - System im Amazonasbecken nutzte die reiche Artenvielfalt für einen Mischanbau<br />

von einjährigen und mehrjährigen Pflanzenarten (ALTIERI, 1983). Auf den gerodeten Flächen<br />

wurden die abgeschlagenen Gräser, Kräuter und kleineren Zweige als bodenbedeckende Mulchschicht<br />

aufgelegt, um so den Boden zu schützen. Die Düngung erfolgte mit Asche und organischen<br />

Materialien. Eine der mehrjährigen Anbauperiode nachfolgende fünf bis zehnjährige Brache<br />

wirkte der Bodenmüdigkeit entgegen. Entstehende Lücken in den Baumbeständen wurden periodisch<br />

bepflanzt. So konnten entsprechend des Vegetationsverlaufes mehrere Pflanzenarten<br />

gleichzeitig fruchten und reifen. Reis, Knollen- und Wurzelfrüchte sowie Obst und Gemüse standen<br />

ganzjährig auf dem Speisezettel. Viehhaltung war unter den feuchten Verhältnissen des Regenwaldes<br />

schwer möglich. Dafür spielten der Fischfang und die Jagd eine große Rolle.<br />

In Mittelamerika zählt das Milpa - System zu den Bekanntesten. Die ortsansässigen Mayas von<br />

Nordmexiko bis Guatemala prägten ungezählte lokale Varianten (ZAPATA ALONSO, 1994). Charakteristisch<br />

ist hier der Mischanbau von Mais mit teilweise bis zu 40 anderen Pflanzenarten. Gemüse-<br />

und Obstanbau typisieren dieses nachhaltige Anbausystem ebenso wie Baumarten zur<br />

Feuer- und Bauholzgewinnung. Es wurde Vieh gehalten und Wildtiere gejagt. Entsprechend den<br />

klimatischen Verhältnissen lassen sich in feuchteren Zonen Mittel- und Südamerikas ähnlich gestaltete<br />

Anbausysteme finden, die aber als Hauptkultur die Knollenfrucht Maniok oder das Zuckerrohr<br />

haben. Bedeutsam für all diese Nutzungssysteme ist die durch den Menschen geförderte<br />

Dreieinigkeit von Boden - Pflanze – Tier (Abb. 1). Auf diese Weise konnte sich der Mensch seine<br />

Bedürfnisse nach ausreichend Nahrung und erträglichen Lebensbedingungen erfüllen und sich die<br />

Natur in schonender Weise als nachhaltig wirkenden Lebensquell nutzbar machen.<br />

2.2 Die moderne Entwicklung und heutige Praktiken<br />

Auf diese stabilen und umweltverträglichen Verhältnisse wurde mit Einführung der frühkapitalistischen<br />

landwirtschaftlichen Nutzung in Lateinamerika bewußt verzichtet. Die Monokultur mit Zuckerrohr,<br />

Kaffee, Banane oder Baumwolle wurde als modernes Mittel propagiert und umgesetzt<br />

und die extensive Weidewirtschaft mit Rindern angekurbelt.<br />

Seitdem Mineraldünger, chemische Pflanzenschutzmittel und veterinärmedizinische Produkte uneingeschränkt<br />

kostengünstig eingesetzt werden konnten, erhöhte sich das Leistungspotential für<br />

die landwirtschaftliche Produktion erheblich. Die Exportmengen stiegen besonders durch größere<br />

Transportkapazitäten und höhere Transportgeschwindigkeiten. Die Ansprüche Nordamerikas, Japans<br />

und der westeuropäischen Staaten nach einem ganzjährigen Angebot von exotischen Obst-<br />

und Gemüsearten in ihren Supermärkten mußten und konnten zunehmend besser befriedigt werden.<br />

Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas wurde damit fast völlig ausgeschlossen,<br />

denn die internationale Verflechtung von Kapital, Transportmittel produzierender Indust-


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rie und Nahrungsmittelindustrie ließ den nationalen Produzenten nur Brosamen. Vielmehr setzte<br />

sich der Teufelskreis fort, daß nur diejenigen landwirtschaftlichen Betriebe ökonomisch überleben,<br />

welche engagiert und rücksichtslos neue Exportchancen ausnutzen. Das es dabei nicht nur um<br />

Nahrungs- und Genussmittel oder industrielle Rohstoffe geht, zeigt das Beispiel der Provinz Cauca<br />

in Kolumbien, wo der jahrzehntelang existierende Anbau von hochwertigem Kaffee (Coffea arabica<br />

L.) durch Koka (Erythroxylum coca Lam.) verdrängt wurde.<br />

Zu den typischen Praktiken in der heutigen Landwirtschaft Lateinamerikas gehört weiterhin das<br />

traditionelle System zur Brandrodung von Wäldern und das Brennen zur Aussaatvorbereitung von<br />

Nahrungskulturen wie Mais, Bohnen, Maniok oder auch Trockenreis (Abb. 2). Hierbei wird jeglicher<br />

Pflanzenwuchs mit der Machete abgeschlagen, zum Trocknen auf der Fläche belassen und verbrannt.<br />

Ein Wanderfeldbau ist jedoch, wie noch vor Jahrhunderten üblich, nicht mehr möglich. Innerhalb<br />

weniger Jahrzehnte sind dieser Praxis Hunderttausende Hektar von Wäldern geopfert<br />

worden. Die direkten Konsequenzen wie Verlust von organischer Substanz und damit Bodenfruchtbarkeit,<br />

Belastung der Atmosphäre mit Ruß, Förderung von Wasser- und Winderosion sowie<br />

temporär sich abwechselnde starke Trockenheit und Überschwemmungen und das Versiegen<br />

kleiner Quellen belasten ganz besonders auch die Regionen mit Kakao- und Kaffeeanbau.<br />

Kontaminierung<br />

Einschlag Brennen<br />

Roza / Tala Tumba Quema<br />

System Milpa Estacionario<br />

Bohnen<br />

Subsistenzwirtschaft<br />

© POHLAN, 1999<br />

Erosion<br />

Abb. 2: Traditionelles System für den Anbau von Grundnahrungsmitteln in Lateinamerika<br />

Die moderne landwirtschaftliche Entwicklung darf aber nicht grundsätzlich mit dem Makel versehen<br />

werden, umweltzerstörend und ressourcenvergeudend zu sein. Die in vielen Ländern Lateinamerikas<br />

gegründeten Assoziationen von Kaffeebauern mit nachhaltiger, standortgerechter Produktionsweise<br />

verzichten keineswegs auf wissenschaftliche Erkenntnisse und den technischen Fortschritt.<br />

Auch die mittels organischer Landwirtschaft kultivierten Obst- und Gemüsearten sowie andere<br />

Kulturen wie Kakao oder Baumwolle sind hier einzubeziehen (RESTREPO RIVERA, 1996;<br />

NUŇEZ, 1994). Bewusst werden umweltzerstörende Maßnahmen in deren Anbau- und Vermarktungsprozessen<br />

vermieden. Belanglos ist es dabei, ob kleinbäuerlich oder großflächig produziert<br />

wird. Entscheidend ist die möglichst vielfältige Gestaltung und standortgerechte Nutzung der entsprechenden<br />

ländlichen Räume und eine klar favorisierte sozial-ökonomische Stellung von Anbausystemen<br />

für die nationale Eigenversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten.


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2.2 Die Agricultura Sostenible<br />

Die Agricultura Sostenible könnte mit dazu beitragen, einen Ausweg aus der umweltzerstörenden,<br />

ressourcenvernichtenden Sackgasse der einseitigen Anbau-, Nutzungs- und Vermarktungsweise<br />

vieler landwirtschaftlicher Kulturen in Lateinamerika zu finden (POHLAN et al., 1995). Es geht dabei<br />

keineswegs darum, ein zurück zur Natur zu fordern und sich dem enormen naturwissenschaftlich<br />

- technischen Wissen zu verweigern. Die Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen<br />

für alle Menschen als globale Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung und poli<br />

tische Stabilität auf der Erde kann so nicht erreicht werden.<br />

Nutzungs- und Anbausysteme<br />

energetisch<br />

ethnologisch<br />

ökonomisch<br />

sozial<br />

ästhetisch<br />

ökologisch<br />

© POHLAN <strong>2000</strong><br />

stabil<br />

dynamisch<br />

Abb. 3: Komponenten und ihre Interaktionen für eine Agricultura Sostenible<br />

Die Agricultura Sostenible muss Spiegelbild nachhaltiger, umwelterhaltender, traditioneller Nutzungssysteme<br />

sein, deren Produktivität durch innovative Lösungen so zu verbessern ist, dass bis<br />

zum Jahr 2030 eine Nahrungsmittelverdopplung garantiert werden kann, ohne die Umwelt zu<br />

schädigen(Abb. 3). Deshalb ist der Kreislauf Boden - Pflanze - Tier so zu steuern, dass die Bodenfruchtbarkeit<br />

erhalten bleibt und keine Kontamination von Boden, Wasser und Luft erfolgt. Die<br />

neuen Anbausysteme müssen mit wenig Energie auskommen können. Das Brennen wird für immer<br />

der Vergangenheit angehören und die Müllentsorgung dürfte auch im ländlichen Raum nach<br />

umweltgerechten Standards erfolgen. Entsprechende Maßnahmen wie die standortgerechte Nutzung<br />

mit ausdauernden land- und forstwirtschaftlichen Kulturen, die Direktsaat und die Minimalbodenbearbeitung<br />

für annuelle Nutzpflanzenarten, die derzeitig in Lateinamerika nur eine Fläche von<br />

etwa 500.000 ha betreffen, werden verstärkt Anwendung finden. Neue Sorten für eine Vielzahl von<br />

Kulturpflanzen und Standorte, die ertragreich und ertragsstabil sind, hat die Züchtung ebenso parat<br />

wie leistungs- und widerstandsfähige Tierrassen. Die Düngung kann über ein harmonisches Miteinander<br />

von organischen Materialien wie Gründung, Stalldung, Kompost und Mulch, stickstoffbindenden<br />

Leguminosen, biotechnologisch erzeugten Produkten und auch Mineraldüngern realisiert<br />

werden. Integrierte Lösungen eines vorwiegend vorbeugend ausgerichteten Pflanzenschutzes<br />

beinhalten einen verantwortungsvollen Umgang mit allen Pflanzenschutzmitteln.<br />

Die Agricultura Sostenible wird den Artenschutz gewährleisten, die Biodiversität des Standortes<br />

erhalten und zunehmend die Landschaftsgestaltung übernehmen. Der naturverbundene Tourismus<br />

findet dann auch unter tropischen Verhältnissen einen reichen Anschauungs- und Erholungsquell<br />

und fördert gleichzeitig das Einkommen der ländlichen Bevölkerung.<br />

Die Agricultura Sostenible kann neue Impulse für den Sektor der alternativen Energiequellen geben.<br />

Biogas, Wind-, Wasser- oder Sonnenenergie müssen auch in kleineren Einheiten an schwer<br />

zugänglichen Standorten zukünftig ökonomisch erzeugt werden können. Sauberes Trinkwasser, in


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den städtischen Ballungszentren wie Ciudad de México oder Sao Paulo eine kostbare Rarität, und<br />

Energie dürften dann in den ländlichen Räumen zu erschwinglichen Kosten verfügbar sein. Eine so<br />

geschaffene stabile Einheit von ökonomischem Einkommen und ökologischem Gleichgewicht wird<br />

eine soziale Absicherung ermöglichen, die ein menschenwürdiges Leben auch auf dem Land garantiert.<br />

Die Landflucht in die Städte wird unter solchen Bedingungen stark abnehmen.<br />

2.4 Kuba: Ein Beispiel<br />

Warum steht gerade Kuba als ein viel zitiertes Beispiel für die Agricultura Sostenible?<br />

Die kubanische Landwirtschaft wurde durch den Zusammenbruch des RGW und dem damit verbundenen<br />

plötzlichen Wegfall stabiler wirtschaftlicher Austauschbeziehungen in eine außergewöhnliche<br />

Lage gepreßt. Gleichzeitig verschlechterte sich die energetische Lage des Landes in einem<br />

solch drastischen Maß, daß für unsere heutige Zeit inakzeptable Lebens- und Produktionsverhältnisse<br />

eintraten. Zudem fehlten fortan für die devisenträchtige Monokultur Zuckerrohr die Mineraldünger<br />

und Pflanzenschutzmittel. Das Ertragsniveau nahm daraufhin rasch ab und sank in<br />

den Jahren 1996-98 unter 40 t Rohr je Hektar. Inzwischen haben die Maßnahmen der Agricultura<br />

Sostenible zu einer Ertragsstabilisierung geführt und es konnten wieder mehr als 70 t/ha in der<br />

letzten Kampagne geerntet werden.<br />

Die fatale wirtschaftliche Situation des Landes benötigte ein drastisches Einsparen von und Auskommen<br />

mit wenig Energie. Ein Neubesinnen auf traditionelle Praktiken der Landwirtschaft sowohl<br />

in den Staatsgütern als auch in den kleinbäuerlichen und genossenschaftlichen Betrieben galt dabei<br />

als mögliche Alternative und ebnete vehement den Weg für die Agricultura Sostenible. Das hohe<br />

akademische und praktische Ausbildungsniveau der Kubaner muß als entscheidender Punkt für<br />

die schnelle Umsetzung von wissenschaftlich modifizierten praktischen Erfahrungen angesehen<br />

werden. Alternative Energiequellen wurden gesucht und gefunden. Die Wiedereinführung des lokalen<br />

Anbaues von Grundnahrungskulturen, Obst, Gemüse und Blumen und der individuellen Viehhaltung<br />

wurde durch die Eröffnung freier Agrarmärkte stimuliert. Durch Gaben von Kompost, den<br />

Anbau von Leguminosen und die Einführung von Bio - Düngermitteln auf der Basis von Azotobacter,<br />

Azospirillum und Mycorrhiza wurde ein Teil der fehlenden Mineraldünger umweltgerecht ersetzt.<br />

Die Schädlings- und Krankheitsbekämpfung basiert nun nicht mehr auf chemischen Produkten,<br />

sondern wird vorwiegend vorbeugend oder biologisch vorgenommen. Die sehr vielfältigen standörtlichen<br />

Gegebenheiten Kubas dienen erneut den vorübergehend sehr vernachlässigten Nutzungsformen<br />

wie der Binnenfischerei und der Imkerei als Produktionsbasis. Nicht zuletzt erinnerte<br />

man sich schon längst als überflüssig angesehener Methoden der Haltbarmachung landwirtschaftlicher<br />

Produkte nach Großmutters Art und es belebten sich das kleinhandwerkliche Gewerbe und<br />

traditionelle künstlerische Zweige.<br />

3. Anbausysteme mit Kakao (Theobroma cacao L.) als Hauptkultur<br />

3.1 Kurze historische Betrachtung<br />

Der Kakaoanbau in Mittelamerika und in der Karibik ist seit Jahrhunderten geprägt durch Spannungen<br />

zwischen einer Gier nach möglichst hohen Erträgen und dem verantwortungsbewussten,<br />

nachhaltigen Streben für eine standortgerechte, vielseitige Nutzung.<br />

Die große Herausforderung besteht deshalb darin, endgültig artenreiche Systeme mit gepflegten<br />

Schattenbäumen zu etablieren und damit den schattenlosen Anbau von Kakao in Reinkultur abzuschaffen.<br />

Traditionelle und neue Kenntnisse und Erfahrungen sind für eine tragfähige, umweltverträgliche<br />

Landnutzung dieser Agroökosysteme zu nutzen. Der Erhalt noch verbliebener natürlicher<br />

Ökosysteme mit Kakao als autochthonem Bestandteil sollte besondere Beachtung und Förderung<br />

erfahren.<br />

Historische Betrachtungen zu sozio-ökonomischen und ethnobotanischen Einflüssen auf die agronomische<br />

Gestaltung und Entwicklung von Regionen mit Kakao als Hauptkultur sind in Lateinamerika<br />

bisher nicht in komplexer Art ausgeführt worden. Entsprechend lückenhaft und teilweise auch<br />

spekulativ sind Darstellungen über die statt gefundenen Produktionsepochen mit ihren Hoch und<br />

Tiefs in Produktionsvolumen und Weltmarktpreisen. Im 16. und 17. Jahrhundert spielte die Nut-


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

zung des Kakaobaumes in den Einzugsgebieten der Mayas eine herausragende Rolle (DARY et<br />

al., 1998). Auf die Einhaltung der Reinheit von Flüssen und den Bodenschutz in den fruchtbaren<br />

Tallagen wurde seitens der religiös-politischen Führungskaste akribisch geachtet (METZ, 1995).<br />

Negative Auswirkungen der flächenmäßigen Erweiterung und auch der intensiveren Bewirtschaftung<br />

von Kakaoarealen in Chipas, Mexiko, auf den Bodenschutz und die Bodenfruchtbarkeit werden<br />

von HELBIG (1964) beschrieben.<br />

Die Geschichte des Kakao in Mittelamerika lässt sich grob vereinfacht als eine über Jahrhunderte<br />

währende Nutzung von Kakaobäumen in Regenwäldern darstellen, die erst am Ende des 19.<br />

Jahrhunderts dem Anbau schrittweise wich. Die zunehmende Ortsansässigkeit etablierte das stationäre<br />

Milpa-System (Mais- und Bohnenanbau) und die Brandrodung zerstörte weite Teile der küstennahe<br />

Regenwälder in der Pazifikregion zugunsten annueller Kulturen oder der extensiven Weidewirtschaft<br />

(Abb. 4).<br />

Kakaoanbau plus annuelle Nahrungskulturen<br />

Regenwald<br />

Kakaonutzung<br />

Mais/<br />

Bohnen<br />

Sorghum<br />

Soja<br />

Brache<br />

Erbfolge<br />

Weide<br />

© POHLAN <strong>2000</strong><br />

Subsistenz<br />

Abb. 4: Verlauf der traditionellen Nutzung und des Anbaues von Kakao<br />

Der naturbelassene Kakaoanbau ging auf diese Weise zum größten Teil verloren. Ersatzpflanzungen<br />

mit neuen, ertragreichen Sorten und geringer Beschattung oder unter ungehinderter Sonneneinstrahlung<br />

hatten in den traditionellen Kakaoanbaugebieten Mittelamerikas nur in den 60er und<br />

70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine kurze Blütezeit. Eine nachhaltige Entwicklung konnte in<br />

diesen Regionen nicht eingeleitet werden, denn die kurzfristigen ökonomischen Gewinne wurden<br />

weder in ökologische noch in soziale Belange investiert.<br />

3.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />

Der Kakaoanbau ist in den letzten drei Jahrzehnten von 4 Mio. Hektar auf 6,5 Mio. Hektar ausgedehnt<br />

worden. Seit 1995 ist die Flächenerweiterung fast ausschließlich auf Afrika beschränkt. Im<br />

Herkunftsgebiet des ehemals schwarzen Goldes, in Mittelamerika, ist der Anbau sogar rückläufig.<br />

Wesentliche Ursache sind die geringen Weltmarktpreise und der hohe Bevölkerungszuwachs in<br />

diesen Gebieten, so dass dem Anbau von Grundnahrungskulturen verbunden mit der Rodung der<br />

nun unattraktiven Kakaopflanzungen die entscheidende Bedeutung zukommt.<br />

Die Kakaoproduktion stagniert seit mehr als fünf Jahren im Weltmaßstab (Abb. 5). In Mittelamerika<br />

und der Karibik schwankte die Produktion zwischen 1985 und 1999 von 109386 bis 138356 Tonnen.<br />

Damit ist die ehemals herausragende Bedeutung für diese Kultur verloren gegangen.<br />

Das Ertragsniveau hat sich seit 1961 von knapp 3000 kg Fruchtertrag/ha auf fast 5000 kg/ha erhöht<br />

(Abb. 6). Die Erntemengen von Rohkakao erreichen damit ein Niveau von 600 bis 1000


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

kg/ha. In den letzten 10 Jahren ist jedoch eine Tendenz zu beobachten, dass keine Höchsterträge<br />

mehr angestrebt werden. Ursache dafür sind die geringen Weltmarktpreise, die keine oder nur geringe<br />

Inputs ermöglichen. Darin liegt auch das Desinteresse von Kleinproduzenten in Mittelamerika<br />

an einer ordnungsgemäßen agronomischen Betreuung dieser Kultur begründet.<br />

3500<br />

3000<br />

2500<br />

<strong>2000</strong><br />

1500<br />

1000<br />

500<br />

0<br />

Kakaoproduktion (in Tausend t)<br />

1961 1970 1980 1990 1995 1999<br />

Welt<br />

Afrika<br />

Lateinamerika<br />

FAO, 1999<br />

Abb. 5: Kakaoproduktion in den wichtigsten Regionen der Welt<br />

Das Haupterzeugerland Elfenbeinküste ist auch Spitzenreiter im Ertrag. Die hochintensiven Kakaopflanzungen<br />

dieses Landes sind jedoch kein Aushängeschild für eine nachhaltige Bewirtschaftung.<br />

Die biologische Vielfalt ist aus den Plantagen verdrängt worden und die Inputs in Form von<br />

Mineraldüngern und Agrochemikalien belasten erheblich Böden und Grundwasser.<br />

7000<br />

6000<br />

5000<br />

4000<br />

3000<br />

<strong>2000</strong><br />

1000<br />

0<br />

Ertragsentwicklung Kakao<br />

(kg Frucht/ha)<br />

1961 1980 1990 1999<br />

Welt<br />

Elfenbeinküste<br />

Ghana<br />

Brasilien<br />

Dom. Republik<br />

FAO, 1999<br />

Abb. 6: Ertragsentwicklung von Kakao in bedeutsamen Anbauländern


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3.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kakaoanbau<br />

Die Nutzungssysteme in Regionen mit Kakaoanbau sind besonders in den letzten 30 Jahren zunehmend<br />

dem Verfall preis gegeben. Neben den schon aufgeführten ökonomischen Ursachen<br />

muss die Ausrichtung auf nur eine Nutzpflanzenart und damit alleinige Einnahmequelle genannt<br />

werden.<br />

Im kleinbäuerlichen Kakaoanbau dienten seit jeher unterschiedliche Baumarten als Beschattung.<br />

Besonders beliebt sind obst- oder stärkeliefernde Arten, die zum Eigenverbrauch und auch zur<br />

Brennholzbereitstellung dienen können. Als generelles Problem muss dabei angesehen werden,<br />

dass diese meist ohne direkten Einfluss auf die ökonomische Situation der Familien bleiben.<br />

Ein Beispiel für eine marktorientierte Transformation von Kakaopflanzungen ist nachfolgend dargestellt<br />

(Abb. 7). Ursprünglich dienten die Bäume vom Großen Breiapfel (Pouteria sapota (Jacquin)<br />

H. E. Moore & Stearn) als Schattenbäume und Obstlieferanten für die Familie. Einige Bauern<br />

erkannten die Marktchance und widmeten fortan dieser Art mehr Aufmerksamkeit als dem Kakao<br />

(Tab. 1). Es werden 80 bis 100 Pouteria-Bäume je Hektar genutzt. Die Erträge variieren nach<br />

Baumalter und Standortgüte. In den untersuchten Betrieben lagen sie bei 300 bis 900 kg Frucht je<br />

Baum und Jahr. Zusätzlich kultiviert man 300 bis 400 Stauden von Koch- oder kleinfrüchtiger<br />

Obstbanane. Neben dem Eigenverbrauch ist damit eine zusätzliche ökonomische Wertschöpfung<br />

möglich.<br />

Tabelle 1: Ökonomische Bewertung von Kakaopflanzungen im Soconusco (Mexiko) und Baracoa<br />

(Kuba) mit Mehrnutzungscharakter (US $/ha)<br />

Nutzpflanzenart Ertrag (kg/ha) Verkaufspreis<br />

(US $/kg)<br />

Bruttoeinkommen<br />

(US $/ha)<br />

Soconusco<br />

Kakao 400 0,76 304<br />

Breiapfel 19200 0,40 7680<br />

Banane 3000 0,10 300<br />

Gesamt 8284<br />

Baracoa<br />

Kakao 500 0,76 380<br />

Kokosnüsse 1000 0,10 100<br />

Banane 1500 0,10 150<br />

Apfelsine 1500 0,12 180<br />

Gesamt 810<br />

Auch die inzwischen selten anzutreffende Pacaya-Palme (Chameadora spp.) wird noch in den Kakaopflanzungen<br />

kultiviert. Deren Früchte gelten als Leckerbissen in der einheimischen Küche und<br />

werden als grüne Medizin gegen Diabetes genutzt. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass der Markt<br />

für Pouteria-Früchte recht eng ist und somit dieses Beispiel nicht uneingeschränkt auf den gesamten<br />

Kakaoanbau in Mexiko oder sogar in Mittelamerika ausgedehnt werden kann. Andererseits<br />

verdeutlicht die zielstrebige Marktarbeit der beteiligten Bauern wie dem Preisdruck auf eine Monokultur<br />

bewusst begegnet werden kann. Marktwirtschaftlich interessante Mischkulturen im Kakao<br />

sind des weiteren Früchte von Avocado (Persea americana L.) und verschiedenen Zitrusarten sowie<br />

die Anzucht von Schnittblumen wie Heliconia spp., Alpinia spp. oder Hawaiana spp.


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Technikeinsatz<br />

+<br />

Handarbeit<br />

+ +<br />

Agrochemikalien<br />

+<br />

Zapote Mamey<br />

Avocado<br />

System Kakao<br />

Hauptkultur: Kakao<br />

Ertrag: 350 bis 600 kg/ha<br />

Biomasse: 25 a 60 t/ha/a<br />

Umweltbelastung: sehr gering<br />

Erosion: sehr gering<br />

Kochbanane Pacaya Schnittblumen<br />

Energie<br />

Sauerstoff<br />

Abb. 7: Beispiel für ein artenreiches, variables Kakao-Nutzungssystem im Soconusco, Chiapas,<br />

Mexiko (nach POHLAN et al., <strong>2000</strong> b)<br />

Im Kakaoanbau der Region Baracoa, Kuba, existieren ebenfalls Varianten einer Mehrfachnutzung.<br />

Die Kokospalme (Cocos nucifera L.) dient in diesem System als wichtiges Kompartment für ein gesichertes<br />

Zweiteinkommen. Die seit mehr als 50 Jahren bestehende Schokoladenproduktion vor<br />

Ort nutzt die Kokosflocken für eine begehrte Süßtafel und mit Schokolade überzogene Süßigkeiten.<br />

Weitere Einkunftsquellen der Kakaobauern waren und sind hier Banane und Apfelsine (Tab.<br />

1).<br />

Gemeinsam ist beiden aufgeführten Beispielen, dass die erhöhte pflanzliche Diversität nicht nur<br />

das ökonomische Einkommen der Bauern stärkt, sondern wesentlich dazu beigetragen hat, das<br />

wertvolle Ökosystem Kakaowald im humiden tropischen Umfeld zu erhalten. Mineraldünger werden<br />

nicht oder in nur sehr geringer Menge verabreicht. Die Applikation von Pflanzenschutzmittel<br />

beschränkt sich auf die sporadische Bekämpfung von Phytophthora palmivora Butl. Diese sehr geringen<br />

externen Inputs, der bodenbedeckende Blattmulch während des gesamten Jahres und eine<br />

ausgewogene Beschattung beherbergen eine reiche Mikroflora und Mikrofauna. Die Bodenfruchtbarkeit<br />

bleibt stabil und Erosion ist praktisch ausgeschlossen. Die agronomischen Aktivitäten sind<br />

ohne größere Schwankungen über das gesamte Jahr verteilt.<br />

Als Konfliktfelder müssen für den Kakaoanbau das durchschnittlich sehr geringe ökonomische Einkommen<br />

je Flächeneinheit und daraus resultierende soziale Benachteiligungen betrachtet werden.<br />

Der Mindestlohn für einen mexikanischen Landarbeiter (60,- US $ / Monat) kann mit der Hauptkultur<br />

Kakao erst bei mehr als 2 ha Anbaufläche erwirtschaftet werden. Aufgrund der Besitzverhältnisse<br />

von 1 bis 4 ha je Familie sind viele kleinbäuerliche Betriebe nicht einmal in der Lage, dieses<br />

Limit zu erreichen.<br />

Ein stabiles ökonomisches Einkommen ist deshalb nur durch marktwirksame Mehrnutzungssysteme,<br />

höhere Kakaoerträge sowie größeren Flächenbesitz möglich. Damit ist der Zukauf nicht selbst<br />

produzierter Lebensmittel gegeben und eine sozial verträgliche Lebensweise erreichbar. Die Ansprüche<br />

an den Kakaobauern in diesen nachhaltigen Systemen sind aber weitaus höher als im<br />

traditionellen Subsistenzsystem. Ohne detaillierte Fachkenntnisse zu den einzelnen Kulturen, ohne<br />

vorausschauend geplante agronomische und marktpolitische Aktivitäten und ohne eine geschickte<br />

vertragliche Absicherung des Verkaufs der einzelnen Produkte ist eine nachhaltige Gestaltung<br />

nicht möglich. Zukünftig gilt es deshalb die Bauern besonders in unternehmerischen Belangen zu


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

schulen und sie für Entscheidungsprozesse in Marktfragen zu qualifizieren. Dem lokalen und regionalen<br />

Markt ist dabei besondere Priorität einzuräumen.<br />

Energie- oder Ökobilanzen für tropische Nutzungssysteme sind bisher rar. Für das System Kakaoanbau<br />

mit Hauptnutzung von Breiapfel (Zapote Mamey) wurde eine entsprechende Berechnung<br />

vorgenommen, die eine positive energetische Bilanz erbrachte (BORGMAN et al., <strong>2000</strong>). Die geringen<br />

Inputs resultieren aus einer fast ausschließlich auf die Ernte ausgerichteten Anbaustrategie<br />

(Abb. 8). Zum Erhalt der ökologischen Stabilität werden zukünftig Schnittmaßnahmen zur Rehabilitation<br />

von Breiapfel und Kakao nötig sein. An der positiven Input – Output : ratio wird sich dabei<br />

nichts ändern. Ein Übergang zur ausschließlichen Nutzung von Breiapfel ist unbedingt zu verhindern.<br />

Kraftstoffe<br />

0.72 GJ/ha<br />

Arbeitskraft<br />

0,24 GJ/ha<br />

Agrochemikalien<br />

nicht eingesetzt<br />

Kakao:<br />

Ertrag


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

für die notwendig gewordenen Aufwendungen zur Stabilisierung der Hochertragskonzeption. Registriert<br />

wurden auch die negativen ökologischen Begleiterscheiningen aufgrund der geringen Diversität<br />

an ausdauernden Baum- und Straucharten und die mit dem offen gehaltenen Boden<br />

eintretende Erosion und Austrocknung der Böden. Eine starke Zunahme von Unkrautbesatz sowie<br />

von Krankheits- und Schaderregerpopulationen bewirkte nicht nur erheblich höhere Aufwendungen<br />

im Pflanzenschutzmitteleinsatz, sondern führte auch zu Ertragsverlusten und teilweise negativen<br />

Betriebsergebnissen. Die Kontaminierung von Boden, Grundwasser und Wasserläufen spielte<br />

meist nur eine nebensächliche Rolle bei dieser Entscheidung.<br />

Biodiversität in Kaffee<br />

Beschattungsbäume<br />

Wege und Raine andere Kulturen<br />

© POHLAN <strong>2000</strong><br />

Unkrautflora<br />

toleriert<br />

Anbau mit Beschattung<br />

Bodenleben<br />

reich<br />

nackter Boden<br />

ohne<br />

Beschattung<br />

Bodenleben<br />

verarmt<br />

Abb. 9: Gegenüberstellung von Grundprinzipien im Kaffeeanbau mit und ohne Beschattung<br />

Die erfreuliche Tendenz, Kaffee wieder standortgerecht unter Beschattung zu kultivieren, schafft<br />

erneut artenreiche Nutzungssysteme, dämmt die Erosion ein und restauriert schrittweise das ökologische<br />

Gleichgewicht in den fragilen Hügel- und Berglandschaften der mittelamerikanischen Anbaugebiete.<br />

Allein die generelle Sicht auf den schattenlosen und den beschatteten Kaffeeanbau<br />

verdeutlicht die Unterschiede in der Biodiversität beider Systeme (Abb. 9). Die schattenlosen intensiven<br />

Anbausysteme bewirken eine immense Verarmung der Biodiversität. Diese Pflanzungen<br />

werden ständig frei von Unkraut gehalten, mit hohen Gaben von Mineraldüngern versorgt und sollen<br />

durch dichte Intervalle mit Applikationen von Nematiziden, Insektiziden und Fungiziden schaderregerfrei<br />

gehalten werden. Eine multidisziplinäre, holistische Studie wäre wünschenswert, um die<br />

tatsächlichen Dimensionen in der biologischen Vielfalt, der langfristigen Einflüsse auf Bodengesundheit<br />

und Wasserqualität sowie nicht zuletzt auf den Lebenszyklus und die Ertragsfähigkeit der<br />

Hauptkultur Kaffee in den verschiedenen Systemen bestimmen zu können.<br />

4.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />

Die Anbaufläche von Kaffee ist seit 1970 von 8,885 Mio. Hektar auf 11,379 Mio. Hektar ausgedehnt<br />

worden (FAO, 1999). Die Flächenerweiterung fand besonders in asiatischen Ländern mit<br />

Robusta (Coffea canephora) statt. Im genannten Zeitraum verdreifachte sich dort die Anbaufläche<br />

von 560065 ha (1970) auf 1682467 ha (1999). In Mittelamerika und der Karibik variiert die Anbaufläche<br />

seit 1980 (1669950 ha) bis heute (1843566 ha) nur wenig. Detaillierte Angaben für den Anbau<br />

unter Beschattung und unter schattenlosen Bedingungen (Sonnenkaffee) sind statistisch nicht<br />

erfasst. Die Daten für die Flächenausdehnung des konventionellen und ökologischen Anbaus sind<br />

lückenhaft. In Mexiko beträgt die derzeitige Anbaufläche für ökologischen Kaffee ca. 15000 ha. Es


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

wird angenommen, dass mehr als 100000 Bauern in diesem System involviert sind (MEJÍA<br />

GUTIÉRREZ, 1999).<br />

7000<br />

6000<br />

5000<br />

4000<br />

3000<br />

<strong>2000</strong><br />

1000<br />

0<br />

Kaffeeproduktion (in Tausend t)<br />

1961 1970 1980 1990 1995 1999<br />

Welt<br />

Afrika<br />

Lateinamerika<br />

Mittelamerika<br />

Asien<br />

FAO, 1999<br />

Abb. 10: Kaffeeproduktion in ausgewählten Regionen<br />

Die Kaffeeproduktion überschritt im Jahre 1990 erstmals die 6 Millionen Grenze (Abb. 10). Marktstudien<br />

gehen davon aus, dass in den nächsten 10 Jahren keine wesentlichen Verbrauchssteigerungen<br />

eintreten werden. In Mittelamerika und der Karibik schwankte die Produktion zwischen<br />

1980 und 1999 von 957306 bis 1219562 Tonnen. Eine detaillierte Aufschlüsselung des Produktionsvolumens<br />

im ökologischen Kaffeeanbau ist noch nicht verfügbar.<br />

Das Ertragsniveau von Kaffee ist schwierig zu bewerten, denn statistisch werden selten Coffea arabica<br />

und Coffea canephora getrennt geführt. Gleiches gilt auch für die Produktionsbedingungen<br />

wie beschatteter und Sonnenkaffee. Vietnam ist in den letzten 10 Jahren zu einem der wichtigsten<br />

Kaffeeproduzenten aufgestiegen. Der Robusta – Kaffee (C. canephora) wird ohne Beschattung,<br />

mit Bewässerung und hohen Mineraldüngergaben kultiviert. Aufgrund dieser einseitigen Anbaustrategie<br />

ist die Artenvielfalt in der gesamten Region gering und der Einsatz von Agrochemikalien<br />

gegen vermehrt auftretende hohe Schaderregerpopulationen nötig.<br />

Die Preislabilität des Kaffees auf dem Weltmarkt hat in den mittelamerikanischen Erzeugerländern<br />

zu einer verstärkt praktizierten low-Input Strategie unter Beschattungsverhältnissen geführt. Der<br />

Anbau von ökologischem Kaffee, d.h. der Verzicht auf Mineraldünger und synthetische Pflanzenschutzmittel,<br />

ist besonders unter kleinbäuerlichen Verhältnissen zu einer Alternative geworden.<br />

Im Weltmaßstab liegen die Erträge unter 600 kg Rohkaffee je Hektar (1000 kg Fruchtertrag entsprechen<br />

200 bis 250 kg Rohkaffee). Eine starke Ertragsdifferenzierung besteht demzufolge zwischen<br />

einer überwiegenden Anzahl von Niedrigertragsländern und wenigen Ländern mit Spitzenerträgen<br />

(Abb. 11). Die Erträge in Sierra Leone, Vietnam, Kostarika oder Indien von mehr als 4000<br />

kg Rohkaffee/ha sind dem bedingungslosen Höchstertragskonzept mit den darin enthaltenen ökologischen<br />

Gefahren geschuldet.


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

16000<br />

14000<br />

1<strong>2000</strong><br />

10000<br />

8000<br />

6000<br />

4000<br />

<strong>2000</strong><br />

0<br />

Ertragsentwicklung Kaffee<br />

(kg Frucht/ha)<br />

1961 1980 1990 1999<br />

Welt<br />

Brasilien<br />

Kolumbien<br />

Vietnam<br />

Elfenbeinküste<br />

FAO, 1999<br />

Abb. 11: Ertragsentwicklung in ausgewählten Ländern mit Kaffeeanbau<br />

4.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kaffeeanbau<br />

Der Anbau von Kaffee steckt weltweit in einer anhaltenden Krise. Besonders der Preisverfall dieser<br />

typischen tropischen Exportkultur und die unzureichende finanzielle Basis kleiner und mittlerer<br />

Produzenten führten in Mittelamerika und der Karibik in den letzten zwei Jahrzehnten zur Vernachlässigung<br />

oder sogar zur teilweisen Rodung von Kaffeeflächen zugunsten des Anbaus von Mais,<br />

Bohnen und Maniok als Überlebenskulturen dieser Bauern. Andererseits bewirkten intensive Anbausysteme<br />

eine immense Verarmung der Biodiversität. Damit ist die ökonomische und ökologische<br />

Stabilität ganzer Regionen gefährdet.<br />

Besondere Beachtung muss der inneren Struktur von Kaffee-Fincas eingeräumt werden. Die anbaustrategische<br />

Gestaltung unterliegt wesentlich den Hauptzielen des Kaffeeproduzenten. Dies<br />

kann einerseits die Subsistenzwirtschaft sein, um der eigenen Familie den Lebensunterhalt zu sichern.<br />

Andererseits besteht bei entsprechendem unternehmerischen Geschick auch unter geringem<br />

Flächenbesitz die Möglichkeit, nachhaltig zu wirtschaften (Abb. 12). Wichtig sind dabei die<br />

Standortsbedingungen. Auf marginalen Standorten wird Kaffee meist durch die aus besseren Regionen<br />

verdrängten und verarmten Kleinbauern kultiviert. Ihr Hauptziel ist die Selbstversorgung mit<br />

Nahrungsmitteln. Der Kaffeeanbau dient lediglich zur monetären Abdeckung ihrer Lebensgrundlagen<br />

(Kleidung, Energie, Transport, weitere Lebensmittel, Schulbildung der Kinder, Arztbesuche).<br />

Aufgrund der rustikalen Kaffeetrocknung auf dem Erdboden und einer fehlenden direkten Integration<br />

in Vermarktungsorganisationen bleiben die Verkaufserlöse auf das Niedrigpreissegment beschränkt.<br />

Böden mit vorzüglichen Standortsbedingungen sind vorwiegend in Besitz von Mittel- und<br />

Großbauern. Die Philosophie des Anbaus beruht hier auf einer nachhaltigen Entwicklung der<br />

Hauptkultur Kaffee. Diese Kaffeebauern haben sich frühzeitig in Erzeugergemeinschaften zusammen<br />

geschlossen, verfügen über qualitätsgerechte Aufbereitungseinrichtungen und sind direkt an<br />

der Vermarktung ihres Exportproduktes beteiligt (ÁLVAREZ SIMÁN, 1996; CASTELLANOS<br />

CAMBRANES, 1996).


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Struktur Struktur von von Fincas Fincas<br />

Vorzügliche Standortsbedingungen<br />

Unternehmergeist<br />

Marginale Standortsbedingungen<br />

Individuelle Entwicklung Regionale Entwicklung<br />

Hilfe von<br />

aussen<br />

© POHLAN 1999<br />

Abb. 12: Hauptkomponenten und Wechselbeziehungen in Kaffee-Fincas<br />

Als Konfliktbereiche für einen nachhaltigen Kaffeeanbau sind vor allem die dynamisch sich verändernden<br />

Marktbedingungen, die artenreich zu gestaltenden Kaffe-Ökosysteme und die flexibel einzusetzenden<br />

Arbeitskräfte anzusehen (Abb. 13). Aus der Vielzahl von Konfliktfeldern, die eine<br />

nachhaltige Gestaltung des Kaffeeanbaus erschweren, seien einige besonders heraus gestellt:<br />

� Die jährliche Erntemenge bestimmt im wesentlichen die Aufbereitungsmethode. Bei weniger<br />

als 5000 kg Kirschenertrag (ca. 2 ha) ist die qualitätsmindernde Bodentrocknung üblich.<br />

Damit sind Betriebe mit weniger als zwei Hektar Anbaufläche schon im Strukturansatz ökonomisch<br />

stark benachteiligt. Einen Interessenausgleich zwischen den ökonomischen, ökologischen<br />

und sozialen Komponenten kann die Einbeziehung auch kleiner Kaffeemengen in<br />

die Direktvermarktung schaffen. Dies ist mit dem ökologischen Kaffee (café orgánico) eingeleitet<br />

worden. Wichtig ist bei diesem Segment die gewinnträchtige Chance, wenn die Anbau-,<br />

Qualitäts- und Aufbereitungsstandards eingehalten werden.<br />

� Parallel dazu etablieren sich biologisch vielfältige, nachhaltige Nutzungssysteme, der Boden<br />

ist ganzjährig mit Pflanzenwuchs bedeckt, die Erosion wird auf ein geringes Maß herab<br />

gesetzt, die wasserspeichernde Funktion dieser Regionen regeneriert sich und die Wasserqualität<br />

erreicht natürliche Werte.<br />

� Die Aus- und Weiterbildung der Kaffeebauern ermöglicht marktwirtschaftlich attraktive Nebennutzungen<br />

anderer Kulturen, der Viehwirtschaft oder auch des Tourismus. Die ganzjährige<br />

Beschäftigung im landwirtschaftlich produzierenden Bereich und in unterschiedlichen<br />

Serviceeinrichtungen wird verbessert. Dadurch kann sich eine sozial verträgliche ländliche<br />

Struktur nachhaltig entwickeln und die Landflucht wird abgeschwächt.


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Konfliktbereiche im Kaffeeanbau<br />

© POHLAN <strong>2000</strong><br />

Abb. 13: Wechselwirkungen einzelner Konfliktbereiche im Kaffeeanbau<br />

Die Beispiele in Tabelle 2 aus nachhaltig bewirtschafteten Systemen in Mexiko, Guatemala, Nikaragua,<br />

Kostarika und Kuba belegen Alternativen zugunsten einer ökonomisch erfolgreichen, ökologisch<br />

stabilen und sozial verträglichen Landwirtschaft unter Beibehaltung der Hauptkultur Kaffee.<br />

Unsere Feldstudien konzentrierten sich auf die artenmäßige Zusammensetzung und den agronomischen<br />

Zustand dieser Nutzungssysteme (POHLAN 1999 b; POHLAN et al.,1996;<br />

FRIESSLEBEN et al., 1991; RELOVA et al., 1987). Eine Erfassung und Bewertung der faunistischen<br />

Artenvielfalt konnte leider nicht vorgenommen werden. Die drastische Reduzierung in Flora<br />

und Fauna bei regional großflächigem Anbau von Kaffee ohne Beschattung geht aus der tabellarischen<br />

Zusammenstellung hervor.


Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />

Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Tabelle 2: Beispiele für die biologische Vielfalt im Kaffeeanbau (Coffea arabica L.) Mittelamerikas<br />

und der Karibik<br />

Marktwirtschaftlich nutzbar<br />

Ökosystem - Kaffee<br />

Eigenversorgung Gesamtfläche<br />

Hauptkultur Nebenkultur /<br />

Direkter<br />

Indirekter<br />

Nebennutzung<br />

Bestandteil Bestandteil<br />

System Kaffeeanbau mit geregelter Beschattung<br />

Arabica - Kaffee<br />

Zitrus<br />

(Citrus spp.)<br />

Phaseolus-Bohnen<br />

(Phaseolus vulgaris,<br />

P. lunatus)<br />

Mais<br />

Beschattungsbäume<br />

Waldbau auf Nischenflächen<br />

10-15 Arten<br />

Natürliche Zäune<br />

3-8 Sorten Guave (Psidium<br />

5-12 Arten<br />

Unkräuter<br />

guayava) (Zea mays) 25-60 Arten 3-10 Arten<br />

Papaya<br />

Reis<br />

Epiphyten auf Be- Epiphyten auf<br />

(Carica papaya) (Oryza sativa) schattungsbäumen<br />

Forstbäumen<br />

5-15 Arten 15-30 Arten<br />

Maracuja Maniok<br />

Bäume und Sträu-<br />

(Passiflora molli- (Manihot esculencher<br />

als Bienenweisima)tum)de<br />

10-15 Arten<br />

Ananas<br />

Yam<br />

Vegetation an und<br />

(Ananas comosus) (Dioscorea spp.)<br />

in Bächen<br />

10-40 Arten<br />

Chontaduro (Gu- Arracha (Arracha Fauna ???? Fauna ????<br />

lieima gassipaes) xanthorriza)<br />

Schnittblumen Cocoyam<br />

z. B. Anthuria spp. (Colocasia esculen-<br />

Heliconia spp., Alta, Xanthosomas<br />

pinia spp. oder sagittifolium)<br />

Hawaiana spp.<br />

Forstwirtschaft Balu (Erythrina edu-<br />

Bau- und Möbelholz<br />

Imkerei<br />

Fischwirtschaft<br />

Geflügelhaltung<br />

lis)<br />

System Kaffeeanbau ohne Beschattung<br />

Arabica - Kaffee<br />

Keine Sehr selten Unkräuter<br />

10-20 Arten<br />

Waldbau auf Nischenflächen<br />

10-15 Arten<br />

1-3 Sorten Vegetation an und<br />

in Bächen<br />

10-20 Arten<br />

Fauna ???? Fauna ????<br />

Die regelmäßigen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt und die damit einhergehende ökonomische<br />

Unsicherheit veranlassten einige Kaffeeproduzenten im Soconusco, marktwirtschaftlich attraktive<br />

Nebennutzungen zu erproben (Abb. 14).<br />

Erfolgreich erwiesen sich die Fischwirtschaft und die Anzucht von Schnittblumen. Beide Nebenzweige<br />

sind jedoch kapitalintensiv. Ein vorteilhafter Nebeneffekt ist bei der Aufzucht von Fischarten


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

wie Forelle, Karpfen, Tilapia oder Cachama die Selbstkontrolle für rein zu haltendes Wasser. Die<br />

Hauptquellen für eine Wasserverseuchung in Kaffeeregionen, Abwasser mit ungeklärter Kaffee-<br />

Pulpe und Agrochemikalien, werden auf diese Weise ausgeschlossen. Die ökologische Teichwirtschaft<br />

ermöglicht auch bei geringer Zufütterung eine jährliche Fischproduktion von 3 bis 7 kg Edelfisch<br />

je Quadratmeter Wasserfläche.<br />

Der kommerzielle Anbau von Schnittblumen (Anthuria spp.) erfordert neben der fachlichen Ausbildung<br />

von Gärtnern eine Investition von ca. 60 US $ je m². Ökonomisch rentabel erwiesen sich Anlagen<br />

mit über <strong>2000</strong> m² Anbaufläche. Diese Arbeit kann besonders Frauen eine sozialökonomische<br />

Verbesserung bieten.<br />

Technikeinsatz<br />

+<br />

Handarbeit<br />

+ + +<br />

Agrochemikalien<br />

+ +<br />

Jagd und<br />

Ökotourismus<br />

System Kaffee<br />

Hauptkultur: Kaffee<br />

Ertrag: 600 bis 1000kg/ha<br />

Biomasse: 12 bis20 t/ha/a<br />

Holz /<br />

Möbel<br />

Energie<br />

Honig Fischwirt - Blumen<br />

schaft<br />

Schattenbäume sind Pollenspender<br />

Umweltbelastung: Abwässer von Kaffeeaufbereitung<br />

Erosion: schattenloser Anbau, Pflanzung in Hangneigung<br />

Sauerstoff<br />

Abb. 14: Anbausystem Kaffee mit Beschattung im Soconusco, Chiapas, Mexiko<br />

(nach POHLAN et al., <strong>2000</strong> b)<br />

Eine Energiebilanz im Kaffeeanbau ist sicherlich uninteressant, denn was wir an Energie im Kaffee<br />

ernten, interessiert niemanden. Eine gute Möglichkeit zur Bewertung wäre eine ökologische Bilanz.<br />

Doch dazu müssen einige Modellverfahren erstellt und ausgewertet werden. Diese sollten sich auf<br />

die verschiedenen Intensitäten im Kaffeeanbau beziehen, die Nebennutzungen bewerten und die<br />

zusätzlichen direkten und indirekten Komponenten des gesamten Nutzungssystems erfassen.<br />

5. Ausblick<br />

Die Regionen Mittelamerikas und der Karibik bieten eine Vielfalt an ökologischen und soziethnologischen<br />

Gegebenheiten, die durch neu gestaltete und von Abwechslung und nachhaltiger<br />

Produktion geprägte Kakao- und Kaffee-Ökosysteme genutzt werden können.<br />

Anhand von Beispielen nachhaltig bewirtschafteter Systeme in Mexiko, Guatemala, Nikaragua,<br />

Kostarika und Kuba wurden Alternativen zugunsten einer ökonomisch erfolgreichen, ökologisch<br />

stabilen und sozial verträglichen Landwirtschaft unter Beibehaltung der Hauptkultur Kakao oder<br />

Kaffee vorgestellt.<br />

Ergebnisse aus langjährigen Feldstudien in Mexiko, Guatemala, Nikaragua, Kostarika, Kuba und<br />

Venezuela belegen die sozioökonomische und ökologische Lebensfähigkeit von Gebieten mit Kakao-<br />

oder Kaffeeanbau als Hauptkultur, wenn uneingeschränkt nachhaltig produziert wird. In diesen<br />

Untersuchungen wurde auch deutlich, dass für eine erfolgreiche Transformation des konventionellen<br />

Anbaus zu nachhaltigen Anbausystemen die Kenntnisse und das Einfühlungsvermögen<br />

der Bauern in agronomische, ökologische und ökonomische Belange ihrer Kulturen von entscheidender<br />

Bedeutung sind.<br />

Besonders nötig sind die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Landwirten, Umweltexperten und<br />

dem Tourismusmanagement sowie die ökonomische Absicherung des Anbaus von Kaffee oder


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

Kakao durch eine refinanzierbare Kreditpolitik seitens staatlicher oder internationaler Institutionen.<br />

Eine Neubestimmung für die Nutzung und den Erhalt der Ökosysteme Kaffee und Kakao sollte<br />

nachfolgende Schwerpunkte beinhalten:<br />

o Ökonomische Vielfalt bestimmen und nutzen<br />

o Anbauprobleme analysieren und lösen<br />

o Ökologische Vielfalt erhalten oder wiederherstellen<br />

o Vermarktungschancen ermitteln und Handel organisieren<br />

Eine zukunftsweisende Gestaltung der beiden Anbausysteme hängt dabei nicht primär, wie vielfach<br />

angenommen und betont, von den politischen Rahmenbedingungen ab, sondern liegt in der<br />

dynamischen, kreativen Zusammenarbeit aller lokal, regional oder auch global sich beteiligen Wollender.<br />

Der Lebenszyklus von Kakao- und Kaffeepflanzungen kann standort- und umweltgerecht gesteuert<br />

sowie stabil gestaltet werden. Dafür ist eine beispielhafte Verknüpfung bereits existierender und<br />

neu zu kreierender Anbau- und Nutzungssysteme zu entwickeln (Abb. 15). Kostenoptimierung und<br />

kostendeckende Preisbildung sind ebenso wichtig wie eine nachhaltige Wertschöpfungskette und<br />

die Sicherung der ökologischen Glaubwürdigkeit im Anbau- und Vermarktungsprozess. Die biologische<br />

Vielfalt der einzelnen Systeme ist mit möglichst geringen Stoffströmen zu formen. Die Profilierung<br />

im Marketing dürfte ein bedeutungsvolles Glied in der Kette zwischen Produzent und Konsument<br />

bilden. Minimierte Transportwege sowie Aufbereitungs- und Verarbeitungsprozesse sind<br />

dabei unumgänglich. Ohne entsprechende vertikale und horizontale Kooperationen werden die<br />

aufgeführten Formen einer nachhaltigen Entwicklung nur stockend und stückweise voran kommen.<br />

Diese Zukunftsvision kann und muss mit einer nachhaltigen Lebenskultur erfüllt, mit praktischem<br />

Können und theoretischem Wissen gestaltet und ohne Zaghaftigkeit schwungvoll umgesetzt werden.<br />

Die neuen Bedingungen und Grenzen für ihre Konstanz sind so zu gestalten, dass Strukturveränderungen<br />

innerhalb dieser Agroökosysteme ohne Rodung, ohne Abbrennen der dabei anfallenden<br />

organischen Materialien und ohne den bisher praktizierten Anbausystemen mit offen gehaltenem<br />

Boden vorgenommen werden.<br />

Zukunftsvision<br />

Hohe Biodiversität<br />

Naturbelassene<br />

Bedingungen<br />

Kleinb au ern in Subsistenz<br />

Anbausystem<br />

1<br />

Spezialisierung<br />

Anba usystem<br />

4<br />

Anba usystem<br />

2<br />

Siglo XXI<br />

Anba usystem<br />

5<br />

1 Spezialkultur<br />

Anbausystem<br />

3<br />

Intensive Produktion<br />

© POHLAN und BORGMAN 1999<br />

Abb. 15: Entwicklungsmöglichkeiten für eine nachhaltige Landwirtschaft


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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

6. Literaturverzeichnis<br />

• ALTIERI, M. (1983): Agroecología, Bases Científicas de la Agricultura Alternativa. División de Control<br />

Biológico, Universidad de California, Estados Unidos.<br />

• ÁLVAREZ SIMÀN, F. (1996): Capitalismo, el estado y el campesino en México. Universidad Autónoma<br />

de Chiapas, Tuxtla Gutiérrez, Chiapas, 359 pp.<br />

• BORGMAN, J.; GEHRKE VELEZ, M.R.; POHLAN, J. (<strong>2000</strong>): Energy balances in the tropical fruit production<br />

of the Soconusco Region, Chiapas, Mexico. Acta Horticulturae, Number 531, 57-64<br />

• BORGMAN, J.; POHLAN, J. (1995): Agricultura Sostenible - eine Perspektive? Quetzal, Heft Nr. 11,<br />

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• BRAUN von, J.; PETERS, K.J.(1995): Strategie für eine Allianz der international ausgerichteten deutschen<br />

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• CARVAJAL, J. F. (1984): Cafeto - Cultivo y Fertilización. Instituto Internacional de la Potasa, Berna, Suiza,<br />

254 paginas<br />

• CASTELLANOS CAMBRANES, J. (1996): Café y campesinos. Editorial Catriel S.L. Madrid, 318 pp.<br />

• COAGRES - Comisión de Agricultura Ecológica de El Salvador (1994): Plan estratégico de desarrollo<br />

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• DARY, C.; ELÌAS, S.; REYNA, V. (1998): Estratégias de sobrevivencia campesina en ecosistemas frágiles.<br />

FLACSO Guatemala, Impreso en Ed. Serviprensa C.A., 353 pp.<br />

• DSE - Fundación Alemana para el Desarrollo Internacional (1992): Agri-Cultura Ecológicamente<br />

Apropiada. Zentralstelle für Ernährung und Landwirtschaft Feldafing, R.F.Alemania,184 pp.<br />

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• FAO (1999): Statistical Yearbook. www.fao.org<br />

• FRANKE, G. (1994): Nutzpflanzen der Tropen und Subtropen. Bd. 2: Spezieller Pflanzenbau. UTB<br />

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• GEPA (1999): Süßigkeiten und Knabbereien. Gepa Fair Handelshaus 1999, 28 Seiten<br />

• GUGEL, G.; JÄGER, U. (1999): Welt...Sichten. Die Vielfalt des Globalen Lernerns. Tübingen 1999, 266<br />

Seiten plus CD-ROM<br />

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• IFOAM - Federación Internacional de Movimientos de Agricultura Biológica (1992): Normas básicas para<br />

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• INIFAT (1996): Curso Taller de Gestión Medio Ambiental de Desarrollo Rural. Instituto de<br />

Investigaciones Fundamentales en Agricultura Tropical “Alejandro de Humboldt”, CIDA Agosto 1996,<br />

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• MEJÍA GUTIÉRREZ, M. (1999): Expansión de la agricultura orgánica en algunos países. Abeja, año 1,<br />

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• METZ, B. E. (1995): Experiencing conquist: the political and economic roots and cultural expression of<br />

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• NÚÑEZ, M. A. (1994): Fruticultura ecológica y sustentable en el trópico. I.P.I.A.T., Venezuela, 24<br />

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• POHLAN, J.(<strong>2000</strong>): Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen<br />

soziale und biodiversitive Armut - Fallbeispiele aus Mittelamerika. 3. Symposium KONFLIKTFELD<br />

BIODIVERSITÄT, <strong>Darmstadt</strong> 17./18. Februar <strong>2000</strong><br />

• POHLAN, J.; BORGMAN, J.; GEHRKE VELEZ, M.R. (<strong>2000</strong> b): Perspectives of Sapotaceae species for<br />

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Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />

Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />

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Ali Hensel<br />

Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

Vorbemerkung<br />

Der Werkhof e.V. unterstützt seit über 15 Jahren in Lateinamerika und Afrika Projekte im<br />

berufsbildenden Bereich und fördert kleinindustrielle Strukturen und Handwerksbetriebe. In den<br />

letzten Jahren ist zu dieser Arbeit ein neuer Schwerpunkt hinzugekommen: die Förderung<br />

ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft. Zwei von der Europäsichen Union mitfinanzierte Projekte<br />

befassen sich mit dem Anbau von organischem Kaffee und Bio-Baumwolle in Nicaragua. In einem<br />

weiteren von der Europ. Union finanzierten Großprojekt wird der Anbau, die Verarbeitung und<br />

Vermarktung von tropischen Bio-Früchten in Kolumbien gefördert.<br />

In diesen drei Projekten ebenso wie in vielen Kleinprojekten ist es das Anliegen des Werkhofs,<br />

ökonomisch günstige Rahmenbedingungen für das Erreichen der ökologischen Projektziele zu<br />

schaffen und damit zugleich die jeweilige Fauna und Flora vor Ort zu erhalten. Dabei kommt es<br />

immer wieder zu Konflikten im Spannungsfeld zwischen der Natur-Nutzung durch den Menschen<br />

einerseits und den Bestrebungen, die Biodiversität einer Region zumindest zu erhalten,<br />

andererseits.<br />

Wir gehen von der These aus, dass letztlich nur Ökologieprojekte, die auch ökonomisch nachhaltig<br />

sind, also den Bauern und Bäuerinnen ein gesichertes Einkommen oberhalb des<br />

Existenzminimums bieten, einen schonenden Umgang mit der Natur sicherstellen können. Vor<br />

diesem Hintergrund liegt uns die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Bauern und Bäuerinnen<br />

besonders<br />

am Herzen.<br />

Exportfähigkeit ist Existenzsicherung<br />

Oft hängt die Überlebensfähigkeit der vom Werkhof e.V. unterstützten landwirtschaftlichen Projekte<br />

zugleich von deren Exportfähigkeit 1 und Exportmöglichkeiten ab. Eine Konzentration der wirtschaftlichen<br />

Aktivitäten allein auf die lokalen Märkte reicht in der Regel gerade für ökologisch orientierte<br />

Vorhaben nicht aus, um die erhöhten Kosten der Produktion zu finanzieren und darüber<br />

hinaus den beteiligten Akteuren ein ausreichend hohes Einkommen zu sichern.<br />

Neue Sicherheitskriterien für Früchte und Gemüse:<br />

Schutz der VerbraucherInnen oder Mittel zur Importrestriktion?<br />

Vor dem Hintergrund der Exportorientierung vieler ökologisch orientierter Landwirtschaftsprojekte<br />

möchten wir das Augenmerk auf den Entwurf einer Richtlinie aus den USA richten, die für die Bio-<br />

Bauern speziell in Lateinamerika von großer Bedeutung werden wird. Es wird erwartet, dass der<br />

vorliegende Entwurf nach den Präsidentenwahlen in den USA (Herbst <strong>2000</strong>) zur verbindlichen<br />

Richtlinie wird und dann weitreichende Konsequenzen für den Export von Früchten und Gemüse in<br />

die USA hat.<br />

Es handelt sich um eine Richtlinie zur “Minimierung von mikrobiologischen Sicherheitsrisiken für<br />

frisches Obst und Gemüse” 2 . Der Entwurf liegt zur Zeit in spanischer und englischer Fassung vor<br />

1<br />

dazu gehören u.a. Einhaltung von hygienischen Standards, regelmäßige Kontrolle der<br />

Produktqualität, Analysen der Belastung mit Pestiziden, Schwermetallen, Pilzen usw.,<br />

Zertifizierung des<br />

Öko-Anbaues<br />

2<br />

Guide to minimize microbial food safety hazards for fresh fruits and vegetables, Herausgeber:<br />

U.S. Department of Health and Human Services, Food and Drug, Administration, Center for Food<br />

Safety and Applied Nutrition (CFSAN), April 13, 1998


Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

und kann bei Bedarf (ca. 70 Seiten incl. Anlagen) über e-mail 3 bei uns angefordert werden. Er wird<br />

in Lateinamerika, insbesondere in Mexico und Kolumbien, bereits heftig diskutiert.<br />

- Good management practices als Richtlinien für die Produzenten<br />

In der Richtlinie werden acht Prinzipien 4 entwickelt, welche die Produzenten zur Beachtung von<br />

bestimmten Standards bei Anbau und Verarbeitung verpflichten sollen. Durch die Einhaltung dieser<br />

Prinzipien soll der Gefahr einer mikrobiologischen Kontaminierung ihrer Produkte entgegengewirkt<br />

werden.<br />

Das mit dem Entwurf angestrebte Ziel, nämlich die Unbedenklichkeit bzw. Unschädlichkeit von<br />

landwirtschaftlichen Produkten zu garantieren, scheint durchaus akzeptabel. Die USA haben ebenso<br />

wie die EU das gute Recht, sich mit Importvorschriften für landwirtschaftliche Produkte zu<br />

befassen und einen Nachweis der gesundheitlichen Unbedenklichkeit zu fordern.<br />

Nach einem Bericht des „Council for Agricultural Science and Technology“ aus dem Jahr 1994<br />

sterben in den USA jährlich über 9.000 Menschen durch verdorbene und verseuchte Nahrungsmittel.<br />

6,5 bis 33 Millionen Erkrankungen werden in Zusammenhang mit verdorbenen oder verseuchten<br />

Nahrungsmitteln gebracht.<br />

- Machen Importe krank?<br />

Wie Untersuchungen zeigen, glauben die VerbraucherInnen in den USA, dass in erster Linie importierte<br />

Lebensmittel diese Schäden verursachen.<br />

Diese in der Öffentlichkeit vorhandene (Fehl)Einschätzung war sicherlich einer der Gründe, weshalb<br />

Präsident Clinton am 25. Januar 1997 eine Initiative ankündigte, welche die Versorgung der<br />

Nation mit sicheren Lebensmitteln garantieren soll. Insgesamt sollten bereits im Haushaltsjahr<br />

1998 ca. 43 Millionen USD zur Verfügung gestellt werden.<br />

Aus der Sicht der VerbraucherInnen machen die geplanten Vorschriften Sinn, denn sie befassen<br />

sich mit:<br />

a) der Erzeugung der landwirtschaftlichen Produkte selbst (Anbau und Ernte)<br />

b) der Verpackung der Produkte und ihrem Weg bis zu den EndverbraucherInnen<br />

- Abschottung durch Nachweispflicht<br />

Problematisch wird es aber für die ErzeugerInnen von Bio-Produkten in Lateinamerika, wenn sie in<br />

Zukunft gezwungen sein werden, die Nachweispflicht für die Unschädlichkeit der Produkte zu führen.<br />

Lassen Sie mich nur einige Beispiele aus dem Entwurf der Richtlinie herausgreifen, die auf dem<br />

Papier als nachvollziehbar oder gar wünschenswert erscheinen, in der Realität aber vielen Bio-<br />

Bauern die Exportmöglichkeiten ihrer Produkte zunichte machen:<br />

1. Nachweis der Unbedenklichkeit des zur Bewässerung verwendeten Wassers: Hier sind sowohl<br />

chemische als auch biologische Risiken auszuschliessen<br />

2. Ausschluss von Verseuchungen durch organische Düngemittel, Tierdung und Kompost<br />

3. Nachweis von ausreichenden Hygieneeinrichtungen für die Arbeiter während der Ernte<br />

4. Verhinderung der Beschäftigung von erkrankten Arbeitern.<br />

Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den zu erwartenden Vorschriften für die Erzeugung landwirtschaftlicher<br />

Produkte. Die Bestimmungen für die Verpackung und Verarbeitung gehen erheblich<br />

weiter und erfordern zum Teil einen hohen Kapitaleinsatz, um z.B. die Abpackanlagen den geplanten<br />

Hygiene-Standards anzupassen.<br />

3 e-mail: whd@compuserve.com<br />

4 Good management practices (GMP´s)


Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

Allein die Punkte 1 bis 4 machen aber klar, dass Bio-Produkte besonders dann, wenn sie innerhalb<br />

kleinbäuerlicher Strukturen erzeugt werden, bei den neuen Anforderungen auf dem USamerikanischen<br />

Markt kaum eine Chance auf Zulassung haben werden.<br />

- Ökologie in der ökonomischen Zange<br />

Durch die Verknüpfung von weitreichenden Hygiene-Standards (z.B. Wasseruntersuchungen, detaillierte<br />

Vorschriften zu Gesundheitsuntersuchungen bei dem beschäftigten Personal) mit dem<br />

Ausschluss von Tierzucht in den Plantagen werden die Bauern von zwei Seiten in eine ökonomische<br />

Zange genommen:<br />

1. Die Nachweise und Untersuchungen können nach den bisherigen Erfahrungen nur über ausländische<br />

Institute erbracht werden und werden im Vergleich unangemessen teuer sein (bisher<br />

werden z.B. alle Zertifizierungen im Bereich des Exportes von Kaffee, Baumwolle und Bio-<br />

Tropenfrüchten ausschließlich durch ausländische Experten oder Organisationen erbracht, das<br />

Gesetz würde diese Nachweispflicht aber auf zusätzliche Bereiche ausdehnen).<br />

2. Die in immer mehr landwirtschaftlichen Projekten praktizierte Tierhaltung wird kaum noch<br />

möglich sein. Dies kann so weit gehen, dass letztlich für die Produktion von landwirtschaftlichen<br />

Produkten im kleinbäuerlichen Umfeld keinerlei Raum mehr bleibt, da die Haustiere nicht<br />

mit Sicherheit von den Plantagen ferngehalten werden können.<br />

Damit wird das gerade durch den Einsatz von Schafen erzielbare Zusatzeinkommen unmöglich<br />

(die Schafe pflegen die Plantagen, wodurch gleichzeitig der Einsatz von Herbiziden unnötig<br />

wird).<br />

Punkt 1 führt zu einer Verteuerung der Produktion, die nach unserer Ansicht dazu führen wird,<br />

dass der zu erzielende Preis nicht mehr die Kosten deckt, da schon heute die Agrarkonzerne zu<br />

günstigeren Preisen anbieten.<br />

Punkt 2 schmälert das zu erzielende Zusatzeinkommen, welches in Kombination mit dem meist<br />

geringen Gewinn aus der Produktion bisher die ökonomische Überlebensfähigkeit sichert.<br />

Ohne diese ökonomische Überlebensfähigkeit wird die Ökologie über kurz oder lang auf der Strecke<br />

bleiben.<br />

Wir möchten es bei diesen beiden Beispielen bewenden lassen. Sie zeigen aber bereits, dass es<br />

notwendig ist, rechtzeitig auf die Gesetzesvorlage einzuwirken, um auch den Bio-Produkten, die<br />

nicht aus den Plantagen von Agrar-Konzernen kommen, auf dem amerikanischen Markt eine<br />

Chance zu geben.<br />

Es müssen Regelungen gefordert und formuliert werden, die sicherstellen, dass über die neue<br />

Richtlinie nicht die unliebsamen Konkurrenten der Agrar-Konzerne, die ja nur allzu oft auch in amerikanischem<br />

Besitz sind, ganz vom Markt verdrängt werden.<br />

Fazit<br />

Es besteht tendenziell die Gefahr, dass die Richtlinie als Importblockade gegen Exporteure in aller<br />

Welt verwendet wird, die je nach Marktlage und Belieben (das heißt, je nach Angebotssituation auf<br />

dem heimischen Markt) ein- bzw. ausgeschaltet wird. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen,<br />

dass solche Richtlinien immer zugleich als willkommene Waffe zum Schutz des eigenen Marktes<br />

eingesetzt wurden.<br />

Der Werkhof versucht in Zusammenarbeit mit anderen betroffenen NGO´s in Deutschland und Lateinamerika<br />

sowie mit den Produzenten, auf die Gesetzesvorlage Einfluss zu nehmen.<br />

Dazu allerdings brauchen wir Unterstützung nicht nur durch die Politik, sondern auch durch die<br />

Wissenschaft.


Anlage:<br />

GMP`s:<br />

Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />

Principle 1<br />

Prevention of microbial contamination of fresh produce is favored over reliance on corrective actions<br />

once contamination has occurred.<br />

Principle 2<br />

To minimize microbial food safety hazards in fresh produce, growers or packers should use good<br />

agricultural practices in those areas over which they have some degree of control<br />

while not increasing other risks to the food supply or the environment.<br />

Principle 3<br />

Anything that comes in contact with fresh produce has the potential of contaminating it.<br />

For most foodborne pathogens associated with produce, the major source of contamination is associated<br />

with human or animal feces.<br />

Principle 4<br />

Whenever water comes in contact with produce, its source and quality dictate the potential for contamination.<br />

Good agricultural and manufacturing practices<br />

must be considered to minimize the risk of contamination from water used for agricultural and<br />

processing purposes.<br />

Principle 5<br />

Practices using manure or municipal biosolids should be closely managed to minimize the potential<br />

for contamination.<br />

Principle 6<br />

Worker hygiene and sanitation practices along the production cycle play a critical role in minimizing<br />

the potential for microbial contamination of fresh produce.<br />

Principle 7<br />

It is important to understand and follow all local, State, and Federal government regulations relative<br />

to established agricultural practices Principle 8<br />

Principle 8<br />

Establish a system for accountability at all levels of your agricultural environment (farm, packing<br />

facility, distribution center, and transport operation). A successful food safety program should include<br />

provisions for qualified personnel and effective monitoring and maintenance to ensure that all<br />

elements of the program are functioning correctly and to help track produce back through the distribution<br />

channels to the producer.


2.2 Ex-Situ-Sammlungen


Stefan Schneckenburger<br />

Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Kurzfassung: Etwa 270.000 Arten Höherer Pflanzen sind derzeit bekannt – rund 80.000 Arten<br />

werden in den etwa 1.775 Botanischen Gärten weltweit kultiviert – in <strong>Darmstadt</strong> sind es zwischen<br />

8000 und 9000. Während die natürliche Artenvielfalt ihre Maxima in den Tropen und Subtropen<br />

zeigt, konzentrieren sich diese Einrichtungen nicht in diesen ‚Megadiversitätsländern‘, sondern in<br />

den hochentwickelten Industrieländern. Mit seinen etwa 100 Gärten beherbergt Deutschland eine<br />

größere Anzahl dieser Institutionen als der gesamte afrikanische Kontinent! So ist der Reichtum<br />

der Gärten an Biodiversität zugleich eine große Verpflichtung.<br />

Konflikte ergeben sich nun einerseits durch den Wunsch potentieller kommerzieller Nutzer auf ungehinderten<br />

Zugriff auf die Sammlungen und andererseits wegen der berechtigten Ansprüche der<br />

Ursprungsländer auf Grund der Biodiversitätskonvention und der sich daraus ergebenden Verpflichtungen.<br />

Zum einen sollen die Potentiale der Botanischen Gärten zur Erforschung, Erhaltung und Nutzung<br />

biologischer Vielfalt – auch in Verbindung mit Lehre und Bewußtseinsbildung in einer breiten Öffentlichkeit<br />

- vorgestellt werden, zum anderen soll auf das entstandene Konfliktfeld im Dreieck zwischen<br />

Herkunftsländern, Gärten und Nutzern hingewiesen werden.<br />

Inhalt:<br />

Vorbemerkungen und Dank<br />

1. Botanische Gärten und Phytodiversität<br />

Exkurs 1: Kurzer Abriss der Geschichte Botanischer Gärten<br />

Exkurs 2: Was macht einen modernen Botanischen Garten aus?<br />

2. Die Botanischen Gärten Deutschlands und ihre Sammlungen<br />

Exkurs 3: Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten<br />

3. Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten<br />

Exkurs 4: CITES – die erste für Botanische Gärten folgenreiche internationale Konvention<br />

Vorbemerkungen und Dank:<br />

Ein besonderer Dank geht nach Bonn an die Mitarbeiter des F + E – Vorhabens ‚Beitrag der deutschen<br />

Botanischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Vielfalt und Genetischer Ressourcen“<br />

für die Benutzung ihrer Ergebnisse (vgl. RAUER et al. <strong>2000</strong>).<br />

Deshalb gilt mein besonderer Dank am Anfang Herrn Professor Dr. W. BARTHLOTT, Herrn Dr.<br />

LOBIN, Herrn Dr. P. IBISCH und Herrn Dipl.Biol. G. RAUER. Besonders herzlich möchte ich mich bei<br />

Frau Dipl.Biologin MARLIES VON DEN DRIESCH für zahlreiche Informationen und konstruktive Gespräche<br />

bedanken.<br />

1. Botanische Gärten und Phytodiversität<br />

Etwa 270.000 Arten an Blütenpflanzen und Farnen und Farnartigen – also Gefäßpflanzen (= Höhere<br />

Pflanzen) sind derzeit bekannt – dies im Sinne von wissenschaftlich beschrieben. Realistische<br />

Schätzungen gehen von einer Gesamtanzahl von etwa 320.000 Arten aus, so dass die Botaniker,<br />

die sich mit Höheren Pflanzen beschäftigen, in der glücklichen Lage sind, knapp 85 % der Arten<br />

zumindest potentiell kennen zu können. Hier sind sie in einer deutlich besseren Lage als viele Zoologen<br />

– bei den Arthropoden sind derzeit nur etwa 6% der geschätzten 15 Mio. Arten bekannt!<br />

Dieser Grad an Bekanntheit kann eigentlich nur noch mit dem der Säugetiere konkurrieren, wo<br />

man von etwa 83% an beschriebenen Arten ausgeht.<br />

Über die unterschiedliche Verteilung der Biodiversität auf der Erde wird in den Beiträgen von KIER<br />

und von MUTKE in dieser Publikation berichtet; man vergleiche auch BARTHLOTT et al. 1999b.


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Sammlungsschwerpunkte Botanischer Gärten sind nun die Höheren Pflanzen. Zu den bereits angesprochenen<br />

Blütenpflanzen gesellen sich hierbei noch die Farne und ihre Verwandten. Hier sind<br />

etwa 10.500 - 11.300 Arten (80% in den Tropen, also auf etwa 15% der Landfläche) bekannt, geschätzt<br />

wird die Gesamtartenzahl auf 12.000 – 15.000. Damit ergibt sich für die Pteridophyten ein<br />

Bekanntheitsgrad von etwa 74% (Tropen) bis 90% (temperierte Gebiete) (ROOS 1996).<br />

Von den übrigen Pflanzengruppen unserer Erde sind gelegentlich einige Moose und Lebermoose<br />

(beschrieben sind weltweit insgesamt ca. 14.000 Arten) bzw. Armleuchteralgen (bekannt etwa 500<br />

Arten) in gezielter Kultur. Vertreter anderer Pflanzengruppen (insgesamt etwa 400.000 Algenarten,<br />

etwa 1,5 Mio. Pilzarten) sind in Botanischen Gärten in der Regel nur vorübergehende Gäste, werden<br />

also mit ganz wenigen Ausnahmen nicht gezielt gepflegt, erhalten und vermehrt.<br />

Wenn wir nun etwas mehr ins Detail gehen, stellt sich die Frage, wie viele Arten denn nun tatsächlich<br />

in Kultur sind.<br />

Man schätzt, dass weltweit etwa 80.000 Pflanzenarten (HEYWOOD & WATSON 1995) in Botanischen<br />

Gärten und vergleichbaren Einrichtungen kultiviert werden – mithin knapp 30% der bisher bekannten<br />

Spezies. In den Gärten innerhalb der Staaten der EU sind es etwa 50.000 Species (CHENEY et<br />

al. <strong>2000</strong>). Über die genetische Diversität in den Botanischen Gärten wird noch zu sprechen sein.<br />

Sehr viele Gärten sind Bestandteile von Forschungseinrichtungen mit systematisch-taxonomischen<br />

Schwerpunkten, die in der Regel über umfangreiche Herbarien verfügen. Der Umfang der Lebend-<br />

bzw. Herbarsammlungen gibt einen Hinweis auf die Fülle des für Forschung und Wissenschaft verfügbaren<br />

Materials. Einige Zahlen mögen aber zunächst die schiere Vielfalt verdeutlichen:<br />

Institution Taxa im Garten Herbarbelege<br />

(inkl. der jeweiligen Bot.<br />

Institute)<br />

Royal Bot. Gardens, Kew 34.000 6.000.000<br />

Bot. Garten Berlin-Dahlem 20.000 Taxa 2.500.000<br />

Royal Bot. Gardens Edinburgh 17.000 Taxa 2.000.000<br />

New York Botanical Garden 15.000 Taxa 5.300.000<br />

Bot. Garten München 13.000 Taxa 2.300.000<br />

...<br />

Bot. Garten <strong>Darmstadt</strong> 8 - 9.000 Taxa 23.000<br />

(Zahlen nach BARTHLOTT et al. 1999a, HOLMGREN et al. 1990)<br />

Insgesamt zählt man weltweit etwa 1.775 Botanische Gärten in 148 Ländern, eine Zahl, die von<br />

dem Royal Botanic Gardens, Kew und dem Botanic Gardens Conservation International ermittelt<br />

wurde. Allein in den Staaten der EU sind es 424 (CHENEY et al. <strong>2000</strong>). Allerdings schließt diese<br />

Angabe sicherlich weltweit eine Reihe von kleinen bzw. kaum nach elementaren Standards unterhaltenen<br />

Gärten ein, die in vielen Fällen die Bezeichnung als Botanische Gärten kaum verdienen.<br />

Trotzdem müssen wir uns in diesem Zusammenhang einmal die weltweite Verteilung der Botanischen<br />

Gärten vor Augen halten (vgl. Abb. 7 in BARTHLOTT et al. 1999a). Die Gärten sind nämlich<br />

sehr ungleich verteilt. Sie häufen sich in beeindruckender Weise in den temperierten Gebieten der<br />

Nordhalbkugel, mithin in den an Biodiversität armen Ländern der Erde. Betrachtet man dagegen<br />

die an Biodiversität reichen Länder, so erkennt man, dass hier nur sehr wenige Botanische Gärten<br />

zu finden sind. So weist Bolivien als ausgesprochenes ‚Megadiversitätsland‘ (IBISCH 1998) gerade<br />

einmal zwei Einrichtungen auf, die aber die Charakterisierung als Botanische Gärten nur mit Einschränkungen<br />

verdienen. Vergleichbares gilt für Borneo oder Neuguinea. Deutlich wird der Reichtum<br />

der temperierten Gebiete und die Armut der Tropen an Botanischen Gärten – Phytodiversität<br />

und Botanische Gärten sind also invers verteilt.<br />

Dies gibt Gelegenheit, in einem ersten Exkurs einen kurzen Überblick über die Geschichte der Botanischen<br />

Gärten zu geben.<br />

Exkurs 1: Kurzer Abriss der Geschichte Botanischer Gärten:<br />

Die ersten Botanischen Gärten westlicher Tradition entstanden in Anlehnung an die mittelalterlichen<br />

Klostergärten im Italien der Renaissance (Pisa 1543 und Padua 1545) und hatten zunächst<br />

die Aufgabe, Arzneipflanzen für die akademische Lehre heranzuziehen. Recht bald schon folgten


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

weiteren italienischen Gründungen Gärten nördlich der Alpen (Leipzig 1580, Jena 1586, Leiden<br />

1587). Sie gingen mir einer Erweiterung der Aufgaben im Hinblick auf die Kultur natürlich vorkommender<br />

Pflanzen der Region wie auch der neu entdeckten Kontinente einher. Dabei spielte allerdings<br />

von Anfang an die wissenschaftliche Untersuchung und Dokumentation (z.B. in Form von<br />

Herbarien) eine wichtige Rolle, so dass wir heute über den Pflanzenbestand dieser frühen Gründungen<br />

recht gut informiert sind. Nur etwa hundert Jahre später verfügten viele bedeutende <strong>Universität</strong>en<br />

über große, z. T. noch immer an derselben Stelle bestehende Gärten. Die botanischen<br />

Institute und die mit ihnen verbundenen Gärten sind bis heute Zentren der botanischen Forschung<br />

auf allen Gebieten dieser Wissenschaft. So sind ein Teil der Gärten mit den weltweit größten Lebendsammlungen<br />

mit sehr umfangreichen Herbarien – ebenfalls unter den weltweit größten - verknüpft<br />

(s. o.). Große Gärten leisten als (Mit-)Herausgeber bedeutender Gebietsfloren unverzichtbare<br />

Arbeit für die Erfassung der pflanzlichen Vielfalt und ihrer Dynamik (München: Flora de Chile,<br />

RBG Edinburgh: Flora of Bhutan, Madrid: Flora Iberica, RGB Kew: u.a. Flora of Tropical East Africa,<br />

New York: Flora Neotropica etc.).<br />

Zahlreiche Neugründungen kamen dann im 18. und 19. Jahrhundert in den Kolonialgebieten hinzu.<br />

Diese dienten zunächst der Versorgung der Schiffsbesatzungen mit frischem Obst und Gemüse<br />

(z.B. der ehemalig Königliche Botanische Garten von Pamplemousses (Mauritius; heute Sir Seewoosagur<br />

Ramgoolam Botanic Garden; vgl. SCHÖLLER 1992), später jedoch bevorzugt als Prüfungs-<br />

und Sichtungsgärten für die Verbreitung tropischer Nutzpflanzen im jeweiligen Kolonialreich.<br />

Hier sind Gärten auf Sumatra, Ceylon, in Singapur und auch in Lateinamerika zu nennen. Ein spätes<br />

Beispiel mag dies veranschaulichen: der gesamte wirtschaftlich für die Region überaus bedeutsame<br />

Anbau der Ölpalme in Zentralamerika geht auf die Aktivitäten des von der USamerikanischen<br />

‚United Fruit Company‘ gegründeten und bis in die 60er Jahre geführten und dann<br />

aufgegebenen Botanischen Gartens von Lancetilla/Tela in Honduras zurück (vgl.<br />

SCHNECKENBURGER 1995). Ein anderes Beispiel ist die Verbringung des Kautschukbaumes (Hevea<br />

brasiliensis) aus Brasilien mit Zwischenstationen in den Royal Botanic Gardens, Kew (England)<br />

und den Botanischen Garten von Singapur in die Plantagenwirtschaft im tropischen SO-Asien.<br />

In den letzten Jahrzehnten wandelten sich wiederum die Aufgaben: Angesichts der erschreckend<br />

schnell um sich greifenden Naturzerstörung in und außerhalb der Tropen gelten die Botanischen<br />

Gärten immer mehr auch als Zentren einerseits der Bemühungen um die Erhaltung einzelner Arten,<br />

andererseits als Lernstätten für interessierte Kreise innerhalb und außerhalb der <strong>Universität</strong>en<br />

im Hinblick auf Fragestellungen der Ökologie der Pflanzen in ihren Lebensräumen und ihrer Bedrohung<br />

durch den Menschen. Durch das reiche Spektrum lebender Objekte und ihre Präsentation<br />

in einer sich den natürlichen Verhältnissen annähernden Form lassen sich sowohl einzelne Arten,<br />

das Zusammenleben von Pflanzen untereinander als auch Wechselwirkungen zwischen Tieren<br />

und Pflanzen Studierenden und Besuchern nahebringen. So sind neben der Anzucht von Pflanzen<br />

für die Lehre (z. B. für Kurse, Praktika und Vorlesungen) sowie der Kultur von Versuchspflanzen<br />

für Forschungszwecke auch Führungen für Studenten der Hochschule sowie für interessierte Laien<br />

eine wichtige Aufgabe eines Gartens. Hierzu zählen Gruppen aus Kindergärten, Schulklassen jeder<br />

Altersstufe und allgemein an der Botanik und an Gärten interessierten Personen. Europaweit<br />

können die Botanischen Gärten etwa 50 Millionen Besucher jährlich vorweisen (CHENEY et al.<br />

<strong>2000</strong>). Allein in Deutschland schätzen die Gärten ihr jährliches Besucheraufkommen auf etwa 14<br />

Mio. Personen (BARTHLOTT et al. 1999a). Nicht vergessen sollte man darüber hinaus ihre kulturhistorische<br />

Bedeutung mit ihren Gebäuden, Gewächshäusern (z. T. architektonische Kostbarkeiten),<br />

Bibliotheken (z. B. Jardím Botánico Coimbra mit etwa 125.000 Titeln botanischen und gärtnerischen<br />

Inhalts; CHENEY et al. <strong>2000</strong>) und Herbarien. Als ‚lebendige Museen‘ stellen sie ein wichtiges<br />

Glied im Kulturerbe der Menschheit dar.<br />

Dies gibt Anlass, in einem zweiten Exkurs kurz die Charakteristika eines modernen Botanischen<br />

Gartens vorzustellen:<br />

Exkurs 2: Was macht einen modernen Botanischen Garten aus?<br />

Die internationale Dachorganisation BGCI (Botanic Gardens Conservation International) hat 1989<br />

folgende Charakteristika und Anforderungen aufgestellt:<br />

Kontinuität der Sammlungen<br />

Wissenschaftliche Basis und Betreuung der Sammlungen<br />

Dokumentation (Herkunft, Sammeldaten etc.)


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Monitoring<br />

Etikettierung und Beschilderung<br />

Zugang für die Öffentlichkeit<br />

Informationsaustausch mit anderen Gärten, wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Institutionen<br />

Samen- und Materialaustausch mit Gärten, Arboreten und wissenschaftlichen Institutionen (z. B.<br />

durch die Bereitsellung eines ‚Index Seminum‘)<br />

Wissenschaftliche und technische Forschung<br />

Auf dieser Basis haben RAUER et al. <strong>2000</strong> in Anlehnung an eine Formulierung von BCGI 1999 folgende<br />

Kurzdefinition vorgeschlagen:<br />

Botanische Gärten sind Institutionen, welche dokumentierte lebende Sammlungen von Pflanzen<br />

kultivieren, um insbesondere Aufgaben in den Bereichen wissenschaftliche Forschung und Lehre,<br />

der Bildung sowie des Arten- und Naturschutzes zu erfüllen.<br />

Einen Überblick über die verschiedenen Typen – immerhin werden 11 notiert - Botanischer Gärten<br />

in der Europäischen Union geben CHENEY et al. <strong>2000</strong>.<br />

2. Die Botanischen Gärten Deutschlands und ihre Sammlungen<br />

In Deutschland gibt es etwa 95 Botanische Gärten, wobei hier mit Leipzig (1580), Jena (1586) und<br />

Heidelberg (1593) Gärten der ‚ersten Generation‘ zu finden sind. Einen attraktiven Überblick gibt<br />

das Buch von Frau Prof. h.c. LOKI SCHMIDT (1997), einer unermüdlichen Fürsprecherin der Belange<br />

des Naturschutzes und der Botanischen Gärten. Im Vergleich zur Fläche ist Deutschland weltweit<br />

das Land mit der höchsten Dichte Botanischer Gärten. Mehr als die Hälfte der Gärten (51)<br />

sind dabei <strong>Universität</strong>sgärten. In Länderzuständigkeit ohne <strong>Universität</strong>sanbindung fallen 9 Gärten,<br />

24 sind städtische und 10 private Einrichtungen. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Größen der<br />

Botanischen Gärten in Deutschland zwischen maximal 40 ha (Bremen, Berlin-Dahlem, Insel Mainau)<br />

und knapp unter 1 ha schwanken. Die Mehrzahl der Botanischen Gärten weist eine Fläche<br />

von unter 6 ha auf (Daten nach RAUER et al. <strong>2000</strong>).<br />

Neben den fünf Botanischen Gärten Deutschlands, die den Umfang ihrer Sammlungen mit mehr<br />

als 10.000 Taxa angeben (Berlin, München, Tübingen, Frankfurt Palmengarten und Bochum), beherbergen<br />

deutsche Gärten in der Regel deutlich weniger als 10.000 Arten; ihre Zahl liegt im<br />

Durchschnitt zwischen 3.000 und 8.000 (LOBIN et al. 1996).<br />

Insgesamt sind in Deutschland etwa 50.000 verschiedene Taxa in den Lebendsammlungen der<br />

Gärten vorhanden und damit – das sei betont – auch ständig verfügbar.<br />

Es ist nun nötig, sich diese Zahlen noch einmal unter pflanzensystematischen Aspekten im im Detail<br />

anzusehen (Angaben nach BARTHLOTT et al. 1999a):<br />

Beschriebene Taxa davon in Kultur<br />

454 Familien 380 (ca. 85%)<br />

13.700 Gattungen 5.000 (ca. 40%)<br />

270.000 Arten 80.000 (ca. 30%)<br />

Verschiedene Probleme und Asymmetrien verbergen sich hinter diesen beeindruckenden Zahlen:<br />

1. Die einzelnen Pflanzenfamilien sind sehr ungleich in den Botanischen Gärten repräsentiert:<br />

So verfügt praktisch jeder Garten über eine mehr oder weniger große Orchideen- oder Sukkulentensammlung,<br />

während tropische Holzgewächse wie Vertreter der Rubiaceae oder Tiliaceae kaum<br />

vertreten sind. Mycotrophe und parasitische Sippen der verschiedensten Familien entziehen sich<br />

oft der Kultur in Botanischen Gärten (z.B. Balanophoraceae, Rafflesiaceae).<br />

Auch hier sollen wieder einige konkrete Zahlen diese Aussage ergänzen (nach BARTHLOTT et al.<br />

1999a):<br />

Familie Artenanzahl davon in Kultur<br />

Orchidaceae ca. 30.000 mehr als 25%<br />

Asteraceae – Korbblütler ca. 25.000 weniger als 10%<br />

(‚Sonnenblumenverwandtschaft‘)<br />

Rubiaceae – Rötegwächse mehr als 10.000 5 - 10%<br />

(‚Kaffeeverwandtschaft‘)


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Euphorbiaceae – ca. 8.000 5 – 10%<br />

Wolfsmilchgewächse<br />

Bromeliaceae 2.700 ca. 70%<br />

Cactaceae 1.000 mehr als 90%<br />

Didiereaceae<br />

(endem. Fam. Madagaskars) 11 100%<br />

Besonders eindrucksvoll wird die Asymmetrie bei den Bäumen: wahrend von den Bäumen der<br />

temperierten Gebiete etwa 90 % der Arten kultiviert werden, sind es von größeren tropischen<br />

Holzgewächsen dagegen weniger als 10%! Grund hierfür ist keinesfalls nur die Tatsache, dass<br />

Bäume eher als langweilig empfunden werden, sondern dass eine Gewächshauskultur tropischer<br />

Bäume nicht nur wegen der Größenverhältnisse zu keinen befriedigenden Ergebnissen führt, sondern<br />

dass auch der Lichtmangel in unseren Breiten die Entwicklung einer Baumgestalt in der Regel<br />

einfach verhindert. Die schlechte Repräsentanz tropischer Bäume liegt letztendlich wieder an<br />

der geringen Anzahl Botanischer Gärten in den Tropen überhaupt.<br />

Aus der Gartenrealität seien willkürlich zwei umfangreiche und in den temperierten Gebieten bzw.<br />

den Tropen bedeutsame Familien herausgegriffen und ihre Repräsentanz im Botanischen Garten<br />

<strong>Darmstadt</strong> (Fettdruck der entsprechenden Taxa) sichtbar gemacht.<br />

BU: Melastomataceae - Schwarzmundgewächse, eine überwiegend tropisch verbreitete Familie:<br />

Fam. Melastomataceae JUSS. (166 Gtg./4200 - 4500 Arten)<br />

UFam. Kibessioideae<br />

§ Kibessieae (1/15)<br />

UFam. Melastomoideae<br />

§ Astronieae (4/150)<br />

§ Sonerileae (42/580-660; Bertolonia (18), Centradenia (4),<br />

Sonerila (100-175))<br />

§ Merianieae (16/230)<br />

§ Rhexieae (1/13)<br />

§ Microlicieae (11/215)<br />

§ Melastomeae (47/890; Heterocentron (27),<br />

Tibouchina (240))<br />

§ Miconieae (42/<strong>2000</strong>-2200; Medinilla (200-400),<br />

Miconia (ca. 1000!), Clidemia (120), Tococa (54))<br />

§ Blakeeae (2/162)<br />

(nach RENNER 1993)<br />

BU: Rosaceae – Rosengewächse, eine vorwiegend in den temperierten Gegenden verbreitete<br />

Familie mit überaus wichtigen Nutz- (Stein-, Kern- und Beerenobst) und Zierpflanzen.<br />

Familie Rosaceae (110 Gtg./3.500 A.)<br />

UFam. I: Spiraeoideae<br />

I.1 Neillieae: Physocarpus, Neillia, Stephanandra<br />

I.2 Spiraeeae: Spiraea, Pentactina, Sibiraea, Petrophytum, Kelseya, Luetkea,<br />

Aruncus<br />

I.3 Gillenieae: Gillenia, Spiraeanthus<br />

I.4 Holodisceae: Holodiscus<br />

I.5 Sorbarieae: Sorbaria, Chamaebatiaria<br />

I.6 Adenostomateae: Adenostoma<br />

UFam. II: Lyonothamnoideae: Lyonothamnus<br />

UFam. III: Quillajoideae:Quillaja – möglicherweise keine Rosaceae (MORGAN e.a.<br />

1994)


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

UFam. IV: Filipenduloideae: Filipendula<br />

UFam. V: Kerrioideae<br />

V.1 Rhodotypeae: Rhodotypos<br />

V.2 Kerrieae: Kerria, Neviusia<br />

UFam. VI: Coleogynoideae: Coleogyne<br />

UFam. VII: Ruboideae: Rubus<br />

UFam VIII: Rosoideae: Rosa, Hulthemia<br />

UFam. IX: Potentilloideae<br />

IX.1 Dryadeae: Dryas, Fallugia<br />

IX.2 Purshieae: Chamaebatia, Cowania, Purshia<br />

IX.2 Geeae: Geum, Orthurus, Taihangia, Novosieversia, Sieversia, Waldsteinia,<br />

Coluria<br />

IX.3 Cercocarpeae: Cercocarpus<br />

IX.4 Potentilleae: Potentilla, Comarum, Chamaerhodos, Duchesnea, Fragaria,<br />

Horkelia, Horkeliella, Ivesia, Sibbaldia<br />

IX.5 Alchemilleae: Alchemilla, Aphanes<br />

IX.6 Sanguisorbeae: Agrimonia, Aremonia, Spenceria, Hagenia, Leucosidea,<br />

Sanguisorba, Sarcopterium, Margyricarpus, Tetraglochin, Acaena, Polylepis,<br />

Cliffortia, Bencomia<br />

IX.7 Potaninieae: Potaninia<br />

UFam. X: Dichotomanthoideae: Dichotomanthes<br />

UFam. XI: Pyroideae (Maloideae)<br />

XI.1 Kageneckieae: Kageneckia<br />

XI.2 Lindleyieae: Vanquelinia, Lindleya<br />

XI.3 Maleae: Photinia (incl. Stranvaesia), Heteromeles, Eriobotrya,<br />

Rhaphiolepis, Sorbus, Chamaemespilus, Cormus, Torminalis, Aronia,<br />

Amelanchier, Pyrus, Malus, Docynopsis, Eriolobus, Peraphyllum, Docynia,<br />

Cydonia, Pseudocydonia, Chaenomeles<br />

XI.4 Crategeae: Cotoneaster, Malacomeles, Chamaemeles, Pyracantha,<br />

Crataegus, Mespilus, Hesperomeles, Osteomeles<br />

UFam. XII: Amygdaloideae (Prunoideae)<br />

XII.1 Osmaronieae: Oemleria<br />

XII.2 Exochordeae: Exochorda<br />

XII.3 Amygdaleae: Maddenia, Pygeum, Laurocerasus, Padus, Cerasus,<br />

Prunus, Armeniaca, Amygdalus<br />

XII.4 Prinsepieae: Prinsepia<br />

2. Mag das Arteninventar des einzelnen Gartens sehr hoch sein (der Artenbestand des Botanischen<br />

Gartens <strong>Darmstadt</strong> auf seinen knapp über 5 ha Fläche umfasst ein Mehrfaches der in<br />

Deutschland natürlich vorkommenden Arten!), wiederholen sich die Arten im Vergleich der Gärten<br />

untereinander – die Artenturnoverrate und mithin die Beta-Diversität ist verhältnismäßig gering.<br />

Das F+E Projekt hat festgestellt, dass sich hinter den 70.000 Akzessionen der ersten 10 untersuchten<br />

Gärten nur rund 27.000 verschiedenen Taxa verbergen (RAUER et al. <strong>2000</strong>). Nicht nur das<br />

- die genetische Diversität der Sammlungen ist teilweise gering, da von einigen Sippen nur identische<br />

Klone kultiviert werden. So ist der morphologisch interessante epiphytische Kaktus Rhipsalis<br />

pentaptera zwar in über 100 Gärten in Kultur, allerdings handelt es sich hierbei immer um den gleichen<br />

Klon (BARTHLOTT et al. 1999a). Diese geringe genetische Diversität steigt natürlich mit der<br />

Möglichkeit bzw. der ausschließlichen vegetativen Vermehrung sehr stark an. Bei Pflanzen, die nur<br />

durch Samen – bestenfalls noch selbststerile Arten – vermehrt werden können, ist die genetische<br />

Vielfalt naturgemäß größer als bei Pflanzen, die leicht vegetativ (z.B. über Stecklinge) vermehrt<br />

werden und von denen entsprechendes Material zwischen den Gärten kursiert.<br />

Ein besonders eindrucksvoller Fall mag das illustrieren: Encephalartos woodii, eine südafrikanische<br />

Cycadee wurde nur ein einziges Mal als mehrstämmiges Exemplar wild gefunden und zwar<br />

als männliche Pflanze. Diese wurde zwischen 1903 und 1913 regelrecht aufgeteilt und an verschiedene<br />

Gärten und Gärtnereien in Südafrika und England gegeben. Heute ist Encephalartos


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

woodii in zahlreichen Sammlungen vertreten, allerdings nur in Form genetisch identischer Abkömmlinge<br />

eben dieser einen staminaten (männlichen) Pflanze (NORSTOG & NICHOLLS 1997). Allen<br />

Anstrengungen zum Trotz wurden bisher keine ‚weiblichen‘ (karpellaten) Pflanzen gefunden.<br />

Die Art ist also sicherlich nicht vom Aussterben bedroht, wobei allerdings wegen der fehlenden und<br />

nicht mehr wiederherstellbaren genetischen Diversität die Art – etwas salopp gesprochen - biologisch<br />

nahezu tot ist. Dieses Beispiel zeigt auch ganz deutlich einer der Grenzen einer Ex–situ-<br />

Erhaltung auf.<br />

Der in den letzten Jahren sehr umfangreich gewordene Diskussion über Ex-situ- versus In-situ-<br />

Erhaltung kann hier nur ganz am Rande erwähnt werden. Eine prägnante Übersicht aus dem<br />

Blickwinkel eines Botanischen Gartens gibt HENRY 1997 (vgl. auch HAMANN 1992). Die vor einigen<br />

Jahren sehr stark überschätzten Möglichkeiten der Botanischen Gärten der Ex-situ-Erhaltung<br />

scheitern schon der schieren Masse der gefährdeten Arten, wie der folgende Exkurs zeigt:<br />

Exkurs 3: Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten<br />

Das neueste IUCN Red Data Book (1998) listet etwa 34.000 Arten auf und weist ihnen einen Gefährdungsstatus<br />

zu. Würden sich alle Botanischen Gärten weltweit an Ex-situ-Erhaltungskulturen<br />

beteiligen, hätte jeder Garten etwa 20 Arten zu betreuen. Angesichts der Anforderungen an ein<br />

auch die genetische Diversität und Reinerhaltung verschiedener Herkünfte berücksichtigendes Erhaltungsprogramm<br />

kann ein solches Ansinnen nur als illusorisch betrachtet werden. Nach neuen<br />

Einschätzungen sind kleine Gärten kaum in der Lage, mehr als zwei bis im Höchstfall fünf Arten<br />

unter diesen Voraussetzungen zu betreuen. Deshalb ist man schon seit geraumer Zeit von früher<br />

stark propagierten und mit großen Hoffnungen ‚vorbelasteten‘ Vorstellung einer gewissermaßen<br />

großflächigen Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten abgekommen. Um so wichtiger erscheint<br />

der Aspekt der Unterstützung von In-situ-Programmen durch Botanische Gärten – sei es nun im<br />

Zusammenhang mit Vermehrungsmaßnahmen zur Wiederausbringung, Standortsicherung, wissenschaftlicher<br />

Begleitung oder durch Bewusstseinsbildung in Form einer breiten Öffentlichkeitsarbeit<br />

(vgl. auch CHENEY et al. <strong>2000</strong>).<br />

3. Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten<br />

Bevor näher auf die ‚Convention on Biological Diversity‘ (kurz CBD) eingegangen wird, soll in einem<br />

weiteren Exkurs das ‚Washingtoner Artenschutzübereinkommen‘ (kurz CITES) gewürdigt<br />

werden.<br />

Exkurs 4: CITES – die erste für Botanische Gärten folgenreiche internationale Konvention<br />

Die erste internationale Konvention, die massiv die Arbeit der Gärten beeinflusste, war das Washingtoner<br />

Artenschutzübereinkommen (CITES – Convention on International Trade in Endangered<br />

Species; verabschiedet 1973 in Washington, in Deutschland seit 1976 in Kraft). Zum einen<br />

wurde der Export von Pflanzen geschützter Arten auch für Botanische Gärten, die ja keinerlei<br />

kommerzielle Interessen verfolgen, erschwert. Zwar gab und gibt es im Hinblick auf ein vereinfachtes<br />

Verfahren für wissenschaftlichen Austausch (Label-Verfahren) gewisse Erleichterungen im Materialtransfer<br />

zwischen entsprechend zertifizierten Einrichtungen, doch war und ist der Umgang mit<br />

CITES gerade für kleinere Gärten oft schwer und – auf der Verwaltungsebene – schwer durchschaubar.<br />

Zum anderen brachte CITES den Gärten zusätzliche Verpflichtungen: Einerseits rekrutieren<br />

sich im Pflanzenbereich die vom Zoll bzw. anderen damit befassten Behörden herangezogenen<br />

Gutachter überwiegend aus Botanischen Gärten (vgl. die Liste der anerkannten Sachverständigen;<br />

BAnz. Nr. 83 v. 5.5.1992), andererseits müssen bei illegalen Einfuhren oder bei Betriebskontrollen<br />

beschlagnahmte Pflanzen irgendwo untergebracht werden – und dafür sind sie<br />

ebenfalls bevorzugt gefragt. Der Umfang solcher Beschlagnahmen darf nicht unterschätzt werden<br />

– zwar kommt es natürlich immer wieder vor, dass Reisende einige Kulturorchideen ohne CITES-<br />

Dokumentation mitbringen, bei Händlern bzw. halbkommerziellen (damit Reisen finanzierenden)<br />

Liebhabern kann es schnell um Hunderte von Pflanzen verschiedenster Arten und damit verschiedenster<br />

Ansprüche gehen. Allein die gärtnerische ‚Erstversorgung‘ einer solchen Sendung kann<br />

einen Aufwand von mehreren Tagen für mehrere Gärtner bedeuten – alles das angesichts personeller<br />

Engpässe, großen Platzmangels in den eigenen Gewächshäusern, einer ungewissen gerichtlichen<br />

Entscheidung und drohender Schadensersatzansprüche im Fall von Verlusten. Letztere


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

sind überdies bei frisch gesammeltem Wildmaterial fast unvermeidlich; die Preise für Einzelpflanzen<br />

können u. U. mehrere tausend DM betragen! Die Verfahren ziehen sich dann u. U. über mehrere<br />

Jahre hin – keine guten Aussichten für die Gärten.<br />

Während CITES den internationalen Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten regelt, schreibt<br />

die Konvention den Vertragsstaaten nicht vor, auf den jeweiligen Staatsgebieten Natur-, Arten- und<br />

Biodiversitätsschutz zu betreiben. Oftmals hat man den Eindruck, dass bei guten Kontakten der<br />

Händler in den Herkunftsländern viel mehr Handel als förderlich möglich ist. Es gibt augenscheinlich<br />

eine Reihe von Staaten, die gegenüber einheimischen Exporteuren sehr freigiebig mit entsprechenden<br />

Ausfuhrdokumenten sind. Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Diskussionen<br />

um die Elfenbeinproblematik, die vor einigen Jahren seitens der afrikanischen Staaten mit<br />

dem Schutz der Heringsbestände der Nordsee verbunden wurde bzw. die Tragikomödie um den<br />

japanischen ‚wissenschaftlichen‘ Walfang.<br />

Andererseits wurden in den Vergangenheit gerade aus botanischer Sicht die Grenzen von CITES<br />

überaus deutlich sichtbar: die Aufnahme von Tropenhölzern (Dipterocarpaceae – Meranti, Swietenia,<br />

Khaya – Mahagoni etc.) scheiterte weitgehend bzw. gestaltete sich bereits im nationalen Vorfeld<br />

wegen des Widerstands anderer, am wirtschaftlichen Erfolg interessierter Fachministerien als<br />

außerordentlich schwierig<br />

Die Biodiversitätskonvention (CBD) wurde auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 verabschiedet<br />

und von der Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1993 ratifiziert. Bisher haben<br />

nach Angaben des deutschen ‚Clearing House Mechanism‘ zur CBD etwa 176 Staaten die Konvention<br />

ratifiziert (nähere und aktuellste Informationen auf der homepage des Clearing House Mechanism,<br />

einer ‚Informationsdrehscheibe‘, unter www.dainet.de/bmu-cbd/homepage.htm).<br />

Es ist festzustellen, dass die Bestimmungen der CBD noch nicht in konkretes nationales bzw. EU-<br />

Recht gegossen wurden, so dass man sich momentan noch auf sehr schwankendem Boden bewegt.<br />

Daneben soll daran erinnert werden, dass die USA der Konvention bisher nicht beigetreten<br />

sind und dies wohl auch nicht beabsichtigen. Die CBD greift in die Arbeit und Abläufe der Botanischer<br />

Gärten noch massiver als CITES ein. Nur drei Aspekte sollen genannt werden: Zum einen<br />

wird das Sammeln, auch kommuner und nicht gefährdeter Arten, in den Ursprungsländern – ein<br />

unverzichtbares Element für einen Garten – sehr erschwert bzw. fast unmöglich. Zum anderen<br />

wird der Austausch zwischen Gärten erschwert und – ein letztes - die in der Konvention verankerte<br />

Verpflichtung zum Benefit-sharing (also der Vorteilsbeteiligung der Ursprungsländer) ist von Botanischen<br />

Gärten nur sehr schwer einzulösen. An allen den genannten Konfliktpunkten tritt wieder<br />

eine tiefe Kluft zwischen kleinen und großen Gärten zu Tage – während sich die großen Institutionen<br />

eigene Mitarbeiter nur für den Umgang mit den Bestimmungen der CBD ‚leisten‘ können und<br />

durch ihre Etats und Möglichkeiten auch im Hinblick auf das Benefit-sharing beweglicher und flexibler<br />

sind, stehen gerade die kleineren Gärten vor immensen Schwierigkeiten. Die drei genannten<br />

Problemfelder sollen im folgenden etwas ausführlicher erläutert werden.<br />

Um ihre Sammlungen und deren biologische und genetische Vielfalt zu erhalten und auszubauen,<br />

sind alle Gärten darauf angewiesen, regelmäßig (jeweils allerdings in geringen Mengen!) von<br />

Pflanzen unmittelbar vom Naturstandort oder mittelbar vergleichbares Material über andere Botanische<br />

Gärten zu erhalten. Dabei ist darauf zu achten, dass nach Möglichkeit keine Gartenklone<br />

weitergegeben werden, sondern Wildmaterial bekannter und definierter Herkunft verwendet wird.<br />

Nur so ist es möglich, die genetische Vielfalt in den Sammlungen sicherzustellen und zu vergrößern.<br />

Dazu kommt noch – Ausnahmen wie die über 200 Jahre alte Fockea im Botanischen Garten<br />

Wien (gesammelt 1785 in der Regierungszeit Josephs II) oder die hundertjährige Idria in <strong>Darmstadt</strong><br />

(gesammelt 1899 durch C..A. PURPUS) gibt es durchaus, – dass die durchschnittliche Verweildauer<br />

von Pflanzen in Botanischen Gärten nur etwa 10 Jahre beträgt (RAUER et al. <strong>2000</strong>). Ein<br />

hoher Standard kann also nur durch Neuakzession von Wildmaterial (unmittelbar oder mittelbar)<br />

gewährleistet werden. Man darf auch nicht außer acht lassen, dass neue Forschungsrichtungen<br />

oder aktuelle Fragestellungen auf den verschiedensten Gebieten die Inkulturnahme neuer Arten<br />

erforderlich machen können. Um die Diversität der Sammlungen lokal wie global zu erhöhen, sind<br />

in den letzten Jahren die Botanischen Gärten vermehrt dazu übergegangen, Schritt für Schritt das<br />

seit langem kultivierte Gartenmaterial durch Wildherkünfte der gleichen Arten mit dokumentierter<br />

Herkunft zu ersetzen und die entsprechenden Daten auch sicher zu erfassen und eineindeutig die-


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

sen Pflanzen zuzuordnen. Die sind aufwendige Maßnahmen, die auch ein gehöriges Umdenken<br />

des gärtnerischen Personals erfordern.<br />

Hier versagt auch kläglich der einmal von einem ehemaligen Zukunftsminister formulierte Ansatz,<br />

die Aufgaben Botanischer Gärten könnten auch durch den Erwerbsgartenbau erfüllt werden. Gerade<br />

das Vorhalten nicht attraktiver Pflanzenarten in einem breiten systematischen und geographischen<br />

Spektrum und bekannter Herkunft kann nur von Botanischen Gärten geleistet werden. So<br />

sind in der Regel die ‚Allerweltsgartenklone‘ für viele Fragestellungen in der Grundlagenforschung<br />

nicht brauchbar. Von diesem Vorhalten profitieren natürlich nicht nur <strong>Universität</strong>en, sondern u.U.<br />

auch kommerzielle Forschungseinrichtungen im Life-Science-Bereich. So waren die seit den fünfziger<br />

Jahren auf verschiedenen Wirtsbäumen lebenden Misteln des Darmstädter Gartens im Hinblick<br />

auf ihre vom Wirt abhängige Wirkstoffzusammensetzung von Interesse – in einer kommerziellen<br />

Baumschule wären sie schon längst entfernt worden. Und auch hier – nicht nur beim Erwerb –<br />

greifen die Bestimmungen der CBD.<br />

Analysiert man einmal – neben der bisher ganz neuen Rechtsauffassung, dass die genetischen<br />

Ressourcen nicht mehr als ‚gemeinsames Erbe der Menschheit‘ betrachtet werden, sondern dass<br />

sie dem souveränen Nutzungsrecht der Ursprungsländer unterliegen - die Hintergründe der CBD,<br />

stellt sich heraus, dass eines der wichtigsten Motive für das Zustandekommen dieser Konvention<br />

nicht zuletzt die – berechtigte - Angst der Herkunftsländer in den Tropen war, mit Wildpflanzen,<br />

Tieren oder sogar menschlichen Blutproben (Neuguinea) kostenlos den Rohstoff für biotechnologische<br />

Neuerungen zu liefern und hinterher teuer für patentierte Produkte, Medikamente, Pflanzen/Nutzpflanzensorten<br />

bezahlen zu müssen. Man denke hierbei an die ‚Terminator-Technik‘, die<br />

mit Hilfe sogenannter Overkill-Gene zu einem Absterben der zweiten Generation von Nutzpflanzen<br />

führt und die Bauern dazu zwingt, Saatgut immer wieder von den großen Firmen zu beziehen.<br />

Was gerechtfertigt ist und schnell zu Papier gebracht ist, zieht allerdings auch erhebliche Schwierigkeiten<br />

nach sich. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass auf diesem Feld besonders die kleineren<br />

Botanischen Gärten – also die überwiegende Mehrzahl – kaum eine ‚Gefahr‘ darstellen. Vor<br />

diesem Hintergrund fällt es vielen Institutionen bzw. – um den tatsächlichen Sachverhalt nicht zu<br />

verschleiern – vielen Kolleginnen und Kollegen auf allen Ebenen der Botanischem Gärten schwer,<br />

die CBD vorbehaltlos zu akzeptieren. Dies umso mehr, als das Prinzip der vorbehaltlosen Verfügbarmachung<br />

des Materials zu einem Grundprinzip der Gärten seit ihren Anfangszeiten gehört. So<br />

funktionierte der Samentausch zwischen den Gärten nicht nur unmittelbar nach den Kriegen unseres<br />

Jahrhunderts sondern auch in den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ in beiden Richtungen über den<br />

‚Eisernen Vorhang‘ hinweg. Auch heute wird dieses Instrument des Austauschs innerhalb der ‚garden<br />

community‘ stets überaus großzügig gehandhabt - z.B. bei Neugründungen/Neuanlagen werden<br />

oftmals sehr umfangreiche Anforderungen bedient. Insofern fällt es schwer, die Beschränkungen<br />

des Zugangs bzw. der Weitergabe nachzuvollziehen.<br />

Wie sich insgesamt das Klima in diesen Fragen geändert hat, mögen folgende Beispiele illustrieren:<br />

In den vierziger Jahren wurde mit Metasequoia glyptostroboides (Urweltmammutbaum) eine<br />

nur wenige Jahre zuvor fossil bekannt gewordene Conifere in China wildlebend gefunden. Samen<br />

wurden innerhalb kurzer Zeit weltweit Botanischen Gärten und wohl auch Handelsgärtnereien kostenfrei<br />

zur Verfügung gestellt. So verfügt der BG <strong>Darmstadt</strong> mit etwa zehn anderen Gärten in<br />

Deutschland über Pflanzen dieser ‚ersten Generation‘ des Urweltmammutbaums außerhalb Chinas<br />

(SCHNECKENBURGER <strong>2000</strong>). 1994 wurde in einer Schlucht der Blue Mountains nahe Sydney (Australien)<br />

die bis heute einzige bekannte Population von Wollemia nobilis (Wollemi Pine) gefunden.<br />

Es handelte sich um den einzigen Vertreter einer bisher noch unbekannten Gattung der Araucariaceae<br />

(Araukariengewächse). Einem australischen Mitglied der weltweit um den Schutz der Coniferen<br />

bemühten Conifer Specialist Group der IUCN wurde bedeutet, dass vor der Klärung zukünftiger<br />

Vermehrungs- und Vermarktungsrechte keinerlei Material erhältlich sei. Über die Höhe der<br />

Entgelte für die Vermarktungsrechte für diese in unseren Klimaten mit Sicherheit nicht winterharten<br />

Conifere wurden Summen von 2 Mio. Austr. $ genannt (WATT 1999).<br />

Zum anderen ist gerade auch die Weitergabe bzw. Annahme von Material an bzw. von fremden<br />

Gärten wegen der Bestimmungen der CBD nicht mehr ohne entsprechende Formalien und Verpflichtungen<br />

möglich. Die Unterscheidung von Prä- und Post-CBD-Material (wie dies z.B. bei<br />

CITES sinnvoll ist – man denke z.B. an einen Konzertflügel mit einer Tastenauflage aus Elfenbein,<br />

Baujahr 1930) ist in diesem Zusammenhang – nicht zuletzt auch aus Glaubwürdigkeitsgründen –<br />

wenig angebracht und wird von den Gärten überwiegend abgelehnt. Insofern wird alles Material


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

gleich behandelt. Eine Arbeitsgruppe unter Federführung der großen Botanischen Gärten (u.a.<br />

RBG Kew, New York BG, Missouri BG) hat im vergangenen Jahr umfangreiche ‚Common Policy<br />

Guidelines for Participating Gardens on Access to Genetic Ressources and Benefit Sharing‘ vorgelegt,<br />

die zwar noch nicht endgültig verabschiedet sind, aber hierfür recht gute Chancen haben. Die<br />

administrativen Voraussetzung zu einer konsequenten Umsetzung dieser Guidelines sind vielfach<br />

sicher nicht vorhanden. Die deutschen Botanischen Gärten sind derzeit in der Diskussion darüber,<br />

ob sie sich dem internationalen Modell anschließen, oder ob sie ihre Rolle eigenständig definieren<br />

wollen. Viele Gärten sind jetzt dazu übergegangen, schon jetzt bei der Weitergabe von Material eine<br />

Anerkennung der Grundlagen und Ziele der CBD zu verlangen. Nach meinen Beobachtungen<br />

wird diesem Ansinnen in der Regel auch gefolgt. Unterschiedlich allerdings ist die Handhabung –<br />

während einige Gärten Material nur gegen Unterschrift weitergeben, ist bei anderen die CBD quasi<br />

als Präambel der Samenkatalogs vorangestellt und gefordert, dass ein etwaiger Besteller die Konvention<br />

mit der Bestellung anerkennt.<br />

Grundaussagen dieser Weitergaberichtlinien sind:<br />

Material wird ausschließlich für Zwecke des Gemeinwohls (Wissenschaft, Bildung, Naturschutz)<br />

zur Verfügung gestellt.<br />

Eine kommerzielle Nutzung wird hiervon nicht erfaßt. Diese erfordert einen separaten Vertrag mit<br />

den Ursprungsländern.<br />

Bei Übernahme verpflichtet sich der Empfänger zur sorgsamen Handhabung, Dokumentation, Vertraulichkeit.<br />

Unterrichtung des Gebers über wissenschaftliche Ergebnisse, Publikationen etc., die mit Hilfe des<br />

Materials gewonnen wurden.<br />

Der Verband Botanischer Gärten hofft, dass – nicht zuletzt auch im Rahmen eines durchgeführten<br />

F+E-Vorhabens - bald eine zumindest für die deutschen Gärten praktikable Regelung gefunden<br />

werden kann, der sich dann alle anschließen können und werden. Ein solcher Entwurf liegt jetzt<br />

(August <strong>2000</strong>) vor und soll diskutiert und noch in diesem Jahr verabschiedet werden.<br />

Die Probleme bei der Weitergabe pflanzlichen Materials fokussieren sich für die Botanischen Gärten<br />

nicht zuletzt durch die Vorgabe des Benefit-Sharing (Art. 15 CBD). In der Regel sind die Botanischen<br />

Gärten und <strong>Universität</strong>en nicht an Patenten beteiligt (Auch hier gibt es Ausnahmen – Patente<br />

der US-Amerikanischen University of Wisconsin für Thaumatin (ein aus dem westafrikanischen<br />

Pfeilwurzgewächs Thaumatococcus danielii (Marantaceae) gewonnener Süßstoff) oder der<br />

Versuch der University of Colorado, für alle Sorten von der andinen Quinoa (Reismelde; Chenopodium<br />

quinoa (Chenopodiaceae) ein Patent zu erhalten. In diesem Fall ist die Lizenzfreiheit der Ursprungsländer<br />

Bolivien und Peru nicht mehr gewährleistet). Desgleichen entwickeln Botanische<br />

Gärten nicht die profitablen Produkte (so liegen die Entwicklungskosten eines neuen Medikaments<br />

zwischen 100 und 200 Mio. US $) bzw. sind noch weniger an ihrer Vermarktung beteiligt), sondern<br />

haben im besten Fall über eine Weitergabe von Pflanzen zum zeitlich u. U. stark verspätet eingetretenen<br />

kommerziellen Erfolg beigetragen. Bei Entwicklungszeiten von 10-15 Jahren sind die Wege<br />

für Botanischen Gärten nicht mehr nachvollziehbar. Ihnen kann also unmöglich die Bürde der<br />

Kontrolle des Benefit-sharing auferlegt werden – dafür sind sie nicht in der Lage.<br />

Dennoch bieten sich einige Formen des Benefit-sharing auf nicht unmittelbar pekuniärer Ebene für<br />

die Botanischen Gärten an und können von ihnen geleistet werden. Obwohl einige dieser Dinge<br />

bereits viele Jahrzehnte auf freiwillig-kollegialer Basis durchgeführten Praktiken entsprechen, sollen<br />

sie noch einmal kurz aufgeführt werden:<br />

Wissenstransfer, Austausch<br />

Forschungskooperationen<br />

Zugriff auf Sammlungen, Datenbanken,<br />

Technologietransfer: Hardware, Software<br />

Biodiversitätserhaltende Projekte<br />

Ausbildung Training: Capacity Building<br />

Internationaler Gärtner- und Kustodentausch (initiiert von Frau Prof. Dr. h.c. LOKI SCHMIDT)


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

Es soll abschließend die Frage nach den Chancen gestellt werden, die sich aus der CBD für die<br />

Botanischen Gärten ergeben (vgl. RAUER et al. 1999).<br />

Durch die Jahrhunderte lange Aktivität und Kompetenz in der Bewahrung der weltweiten Biodiversität<br />

können – und sollen - Botanische Gärten im Zusammenhang mit der CBD eine wichtige Rolle<br />

übernehmen und dafür auch zusätzliche Mittel einfordern. Dies betrifft zum Beispiel konkrete Maßnahmen<br />

auf dem Gebiet der Erhaltung der Flora – unabhängig davon, ob lokal, regional oder national<br />

-, wobei auf eine Verzahnung zwischen In - situ und Ex - situ – Projekten zu achten ist.<br />

In diesem Zusammenhang ist auch eine Koordinierung der Schutzmaßnahmen zwischen den Gärten<br />

unabdingbar. Dies erfordert die gegenseitige Abstimmung der Sammlungen sowie in Folge<br />

dann auch deren Spezialisierung. Die Überlegungen, derartige Spezialsammlungen als ‚Nationale<br />

Schutzsammlungen‘ zu zertifizieren, wird die Effektivität der Bemühungen der Gärten und ihre Attraktivität<br />

erhöhen. Nicht zuletzt ergeben sich hier sicherlich auch Möglichkeiten, in den Genuss von<br />

Fördermitteln zu kommen.<br />

Auch in den an Biodiversität reichen Ländern ergeben sich große Chancen in der Mitarbeit bei der<br />

Erforschung der Vielfalt. Eine wichtige Rolle werden hier sicherlich Technologie- und Informationstransfer,<br />

Ausbildung auf den verschiedensten Ebenen und Strukturaufbau in diesen Ländern spielen.<br />

In diesem Zusammenhang muss auch auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausbildung<br />

in Deutschland hingewiesen werden und dringend auch deren Verbesserung eingefordert<br />

werden. Ohne grundlegende Kenntnis der systematisch-taxonomischen Grundlagen und eine Forcierung<br />

entsprechender Ausbildungsinhalte bei uns – nicht zuletzt auch in den Botanischen Gärten-<br />

(hier den US-Amerikanern folgend, die dies in den letzten Jahren entsprechend vorangetrieben<br />

haben) wird dies allerdings nicht möglich sein.<br />

Nicht zuletzt durch die Vermittlung der Inhalte an die breite Öffentlichkeit können die Gärten eine<br />

wichtige Rolle bei der Steigerung der Akzeptanz des Biodiversitätsschutzes übernehmen. Mit attraktiven,<br />

gut präsentierten und informativ aufgearbeiteten Sammlungen wird dies gelingen und<br />

zum Erfolg der weltweiten Bemühungen zum Erhalt der lebendigen Vielfalt beitragen.<br />

Literatur:<br />

• BARTHLOTT, W., VON DEN DRIESCH, M., IBISCH, P., LOBIN, W., RAUER, G. (1999a): Biodiversität und Botanische<br />

Gärten.- In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.): Botanische Gärten und Biodiversität. Erhaltung<br />

Biologischer Vielfalt durch Botanische Gärten und die Rolle des Übereinkommens über die Bologische<br />

Vielfalt (Rio de Janeiro, 1992): 1-24.- Landwirtschaftsverlag GmbH, Münster.<br />

• BARTHLOTT, W., KIER, G., MUTKE, J. (1999b): Globale Artenvielfalt und ihre ungleiche Verteilung.- Cour.<br />

Forsch.-Inst. Senckenberg 215: 7-22.<br />

• BGCI (1999): The international transfer format for botanic garden plant records.- 2. Aufl., BGCI, Richmond.<br />

• CHENEY, J, NAVARRO, J.N. & WYSE JACKSON, P. (<strong>2000</strong>): Action plan for botanic gardens in the European<br />

Union.- BGCI/IABG European Gardens Consortium, Kew.<br />

• HENRY, J.-P. (1997): Integrating in situ and ex situ conservation.- Plant Talk 8: 23-25.<br />

• HEYWOOD, V.H. & WATSON, R.T., (Eds) (1995): Global biodiversity assessment. Edited by (UNEP),<br />

U.N.E.P. Cambrigde.<br />

• IBISCH, P.L. (1998): Bolivia is a megadiversity country and a developing country.- In: BARTHLOTT, W.,<br />

WINIGER, M. (Eds.): Biodiversity. A challenge for development research and policy, p. 213-241.-<br />

Springer.<br />

• HAMANN, O. (1992): Ex xitu conservation in botanical gardens.- Opera Botanica 113.<br />

• HOLMGREN, P.K., HOLMGREN, N.H., BARNETT, L.C. (1990): Index Herbariorum. Part I: The herbaria of the<br />

world.- New York Botanical Garden, Bronx, New York.<br />

• LOBIN, W., SCHNECKENBURGER, S., ZIZKA, G. (1996): Botanische Gärten in Deutschland und ihre Sammlungsschwerpunkte<br />

12: 41-45.<br />

• NORSTOG, K.J. & NICHOLLS, T.J. (1997): The biology of cycads.- Cornell University Press.<br />

• RAUER, G., IBISCH, P., VON DEN DRIESCH, M., LOBIN, W., BARTHLOTT, W. (1999): Die Biodiversitätskonvention<br />

und Botanische Gärten.- In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.): Botanische Gärten und Biodiversität.<br />

Erhaltung Biologischer Vielfalt durch Botanische Gärten und die Rolle des Übereinkommens über die<br />

Bologische Vielfalt (Rio de Janeiro, 1992): 25-70.- Landwirtschaftsverlag GmbH, Münster.<br />

• RAUER, G., VON DEN DRIESCH, M., IBISCH, P., LOBIN, W., BARTHLOTT, W. (<strong>2000</strong>): Beitrag der deutschen<br />

Botanischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Vielfalt und<br />

Genetischer Ressourcen. – Bestandsaufnahmen und Entwicklungskonzept. Abschlussbericht des gleichlautenden<br />

F + E – Vorhabens 808 05 070 des Bundesamts für Naturschutz. – Bonn.


Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />

• RENNER, S.S. (1993): Phylogeny and classification of the Melastomataceae.- Nord. J. Bot. 13: 519-540.<br />

• ROOS, M. (1996): Mapping the world’s pteridophyte diversity – systematics and floras. In: CAMUS, J.M.,<br />

GIBBY, M. & JOHNS (eds.): Pteridology in perspective, pp. 29-42.- Royal Botanic Gardens, Kew.<br />

• SCHMIDT, L. (1997): Die Botanischen Gärten Deutschlands.- Hoffmann & Campe, Hamburg.<br />

• SCHNECKENBURGER, S. (1995): Das Gartenportait VIII: Der Botanische Garten von Lancetilla (Tela/Honduras).<br />

- Der Palmengarten 2/1995: 127-139.<br />

- (<strong>2000</strong>): Vom Urweltmammutbaum zur Parfümorchidee. 141 Informationsblätter aus dem Botanischen<br />

Garten der TU <strong>Darmstadt</strong>.- <strong>Darmstadt</strong>.<br />

• SCHÖLLER, M. (1992): Zur Geschichte tropischer botanischer Gärten am Beispiel des ehemalig Königlichen<br />

Botanischen Gartens von Pamplemousses (Mauritius).- Der Palmengarten 2/1992: 92-96<br />

• WATT, A. (1999): The Wollemi Pine. A novel approach to conservation.- Fitzroya 3 (February 1999): 5-6.


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

Dietrich v. Knorre<br />

Die 2. „Biodiversitätskrise“:<br />

Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung<br />

naturkundlicher Sammlungen<br />

Wer heute wachen Auges die Landschaft sieht, erahnt die schleichende Vernichtung der Mannigfaltigkeit<br />

- Mannigfaltigkeit an Lebensräumen, Strukturen und damit auch an Arten. Doch es entspricht<br />

der Natur von uns Menschen, erzogen im Denken des abendländischen Kulturkreises, dass<br />

wir diese subjektiven Eindrücke nicht wahrhaben wollen, stets in Zweifel ziehen und angeblich objektive<br />

Zahlenangaben als Belege für diese Aussage fordern. Erinnert sei hier nur an die nicht endenden<br />

Diskussionen um die Tatsache und die auslösenden Faktoren des Waldsterbens bis hin<br />

zur völligen Negierung dieser Erscheinung. Solange die "Klimakatastrophe" nicht bewiesen, also<br />

nicht eingetreten ist, gilt ein umfassendes Einlenken als eine vermeidbare bzw. zur Zeit nicht zumutbare<br />

ökonomische Belastung und Eingrenzung der persönlichen Freiheit. Geglaubt werden nur<br />

exakte Meßdaten, möglichst auf zwei Kommastellen genau und mit der nötigen statistischen Sicherung.<br />

Doch welchen Wert hat eine derartige Statistik, wenn schon die Ausgangsdaten einer<br />

groben Kritik nicht standhalten?<br />

Es ist daher eine sehr verdienstvolle Aufgabe, der sich die „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft,<br />

Technik und Sicherheit“ [<strong>IANUS</strong>] angenommen hat. Nur durch den interdisziplinären<br />

Dialog kann ein umfassendes Verständnis für die vielseitigen Problemfelder - oder vielfach auch<br />

besser als Konfliktfelder bezeichnet - der Biodiversität geweckt werden. Denn erst aus diesem gegenseitigen<br />

Verstehen erwächst die Möglichkeit einer zukunftsweisenden Konfliktlösung - gemeint<br />

sind hiermit Konflikte, die durch den technischen Fortschritt bedingt sind.<br />

Diese Aufgabenstellung wurde sehr treffend in der Einleitung zum Arbeitsbericht <strong>IANUS</strong> 7/1999<br />

wie folgt formuliert:<br />

„Das besondere Anliegen von <strong>IANUS</strong> ist die problemorientierte, wissenschaftlich fundierte und<br />

nicht zuletzt interdisziplinäre Bearbeitung technikbedingter gesellschaftlicher Konflikte, die die<br />

grundlegenden Daseinsbedingungen von Menschen bedrohen.“<br />

Das Leben auf der Erde hat sich über Millionen von Jahren aus relativ einfachen zu äußerst komplexen<br />

Strukturen entwickelt. Leben und Tod, Mutation und Selektion sind dabei die entscheidenden<br />

Triebkräfte gewesen. Maß aller Dinge war und ist immer die Frage, wie kann sich eine Form in<br />

ihrer Umwelt behaupten, wer besser angepaßt ist überlebt. Damit ist der Artentod eine durchaus<br />

natürliche Erscheinung, worin liegt also die heutige neue, uns so beunruhigende Dimension und ist<br />

sie wirklich so neu ?<br />

Bereits 1818 vermerkt im hohen Alter der als Vogelkundler bekannte JOHANN ANDREAS NAUMANN<br />

(1744 - 1826) in einem Manuskript über „selbst erfundene Fallen und Fänge zum Vogelstellen“<br />

(Köthen 1989):<br />

"Die Zeiten haben sich zwar binnen meiner Laufbahn sehr verändert, die Menschen haben sich<br />

vermehret, die Vögel vermindert; ich sehe jetzt von manchen Vögelarten den ganzen Herbst nicht<br />

so viele ziehen wie vor 50 Jahren an einem Tage. Wie dieses zugehet, lässet sich schwerlich erklären,<br />

da sie doch in unserer Gegend weit weniger nachgestellt werden. Denn vor 80 Jahren zählete<br />

man hier in einem Umkreise von 3/4 Stunden an die 20 gangbare Vogelherde, jetzt ist der<br />

meinige noch der einzige, der gestellt wird."<br />

Arten- oder besser Individuenrückgang ist somit bereits vor 200 Jahren beobachtet worden. Doch<br />

erst aus dem Erkennen der globalen Zerstörung der Biodiversität durch den technischen Fortschritt<br />

erwuchs innerhalb der letzten Jahrzehnte die politische Einsicht für unsere gemeinsame Verantwortung<br />

zum Erhalt dieser Mannigfaltigkeit. Somit fördert die Biodiversitätskrise zugleich die Erkenntnis,<br />

dass ein umfassendes Verständnis der Artenmannigfaltigkeit nicht ein Hobby von völlig<br />

unmodernen, weltfremden - vielfach als „Borstenzähler“ verspotteten - Taxonomen, sondern eine<br />

zentrale Frage der weiteren Entwicklung der Menschheit ist. Damit ist der Begriff Biodiversität, wie


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

SCHEU (1999) feststellt, „zum Schlagwort geworden, das immer häufiger in der Presse auftaucht“<br />

und mit entsprechendem Zahlenmaterial ausgerüstet, die Dramatik der Naturzerstörung verdeutlichen<br />

soll. So schreibt LIEDTKE (<strong>2000</strong>) im „National Geographic Deutschland“: „Es ist eine Realität,<br />

in der pro Tag 30 Tier- und Pflanzenarten sterben“. Doch auf welcher Datengrundlage basiert diese<br />

Aussage ? Derartige in angesehenen Zeitschriften publizierte Angaben müssen dem unvoreingenommenen<br />

Leser suggerieren, dass hierzu fundiertes Zahlenmaterial zu Grunde liegt. Dies ist<br />

jedoch durchaus nicht gegeben. Ja es bedeutet indes nicht einmal, dass die Begriffsinhalte immer<br />

identisch sind. Die babylonische Sprachverwirrung scheint sich auch hier zu wiederholen.<br />

Für die nachfolgenden Betrachtungen sei auf die Ausführungen vorangegangener Symposien, insbesondere<br />

auf die Beiträge von SIMON (1998) und SCHEU (1999) sowie das Buch von GLEICH<br />

u.a. (<strong>2000</strong>) verweisen, um nur einige der zahlreichen diesbezüglichen neueren Publikationen zu<br />

erwähnen. Allen Zahlenangaben gemein ist die Tatsache, dass es sich um Schätzwerte handelt,<br />

nur wird dies nicht immer klar genug betont. Darunter leidet aber vielfach die Glaubwürdigkeit der<br />

Aussage und schwächt die angestrebte Wirkung erheblich ab. Aus dieser Aussage resultiert<br />

zugleich der berechtigte Appell von GLEICH u.a. (<strong>2000</strong>):<br />

„Deshalb tun wir gut daran, die Vielfalt der Arten zu erforschen. Wir sollten so rasch wie möglich in<br />

Erfahrung bringen, wieviele Arten es überhaupt gibt, die noch mit uns auf dem Planeten Erde leben.<br />

Dann wissen wir auch die Verluste besser einzuschätzen.“<br />

So berechtigt diese Forderung erscheint, sie nützt uns nur dann etwas, wenn wir zugleich auch Informationen<br />

darüber sammeln, wo im geographischen Sinn und in welchen Biozönosen die einzelnen<br />

Arten vorkommen, wie sie leben und was zu ihrem Schutz erforderlich ist. Hier können wir<br />

nahtlos auf das Schlußwort in DE LATTINS „Grundriss der Zoogeographie" aus dem Jahr 1967 anknüpfen:<br />

"Ich möchte diese Ausführungen nicht schließen, ohne noch einen Hinweis, ja einen sehr eindringlichen<br />

Appell an die Gemeinschaft aller interessierten und verantwortungsbewußten Menschen zu<br />

richten.<br />

Daß es in der Zoogeographie noch vieles, sehr vieles zu tun gibt, bevor sie ihrem Forschungsziel<br />

auch nur in etwa nahegekommen ist, geht - so hoffe ich - aus dem Voraufgegangenen hervor....<br />

Darüber hinaus aber - und darum geht es wirklich - besitzt die Zoogeographie (und mit ihr die gesamte<br />

Biogeographie) derzeit innerhalb der Naturwissenschaften einen einmaligen Sonderstatus<br />

mit ausgesprochen negativem Aspekt für ihre weitere Entwicklung. Hat schon die weiträumige<br />

Vernichtung der ursprünglichen Tier- und Pflanzengesellschaften Europas, Ostasiens und Nordamerikas<br />

durch den Menschen genug Schwierigkeiten, vor allem auch für den kausal arbeitenden<br />

Forscher, geschaffen, so droht sich dieses Geschehen jetzt auf die gesamte Erde auszudehnen.....Naturschutzmaßnahmen,<br />

so nützlich und nötig sie auch aus anderen Gründen sind, helfen<br />

hier nicht weiter. Sie können die bedrohten Lebensräume und deren Arten nur schwerpunktmäßig<br />

in kleinen Reservaten erhalten. Das Grundelement der Zoogeographie, das natürliche Areal, würde<br />

aber trotzdem - sei es durch Biotopvernichtung, sei es durch Verschleppung - in seiner ursprünglichen<br />

Gestalt unkenntlich gemacht. Hier gibt es nur eine Lösung - die, zugegebenermaßen,<br />

eine Notlösung bleiben muß. Es gilt möglichst schnell in allen bedrohten Gebieten an den verschiedensten<br />

Orten und möglichst dichtmaschig Bestandsaufnahmen der dort vorkommenden Arten<br />

zu machen, damit späterhin brauchbare Arealkarten (möglichst in einem zentralen Archiv) für<br />

alle über die reine Chorologie hinausführenden biogeographischen Arbeiten zur Verfügung stehen.<br />

Es ist das eine Aufgabe, bei der es keine spektakulären wissenschaftlichen Lorbeeren zu erringen<br />

gibt, die aber getan werden muß, damit nicht einem ganzen naturwissenschaftlichen Forschungszweig<br />

die Grundlagen entzogen werden.“<br />

Mit der Zerstörung der Biodiversität wird jedoch nicht nur, wie DE LATTIN im Jahr 1967 bescheiden<br />

formulierte, der Biogeographie die Grundlage entzogen. Ihre Folgen greifen - wie an wenigen Beispielen<br />

in der kleinen Schrift „Agenda Systematik <strong>2000</strong>" (STEININGER 1996 (Hrsg.)) überzeugend<br />

gezeigt werden konnte - in fast alle Bereiche unseres Lebens und der möglichen Lösung künftiger,<br />

nicht nur wissenschaftlicher sondern ebenso auch ökonomischer Probleme ein.<br />

Eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der Biodiversität-Dikussion besteht in der möglichst umfassenden<br />

Erfassung der Arten und ihrer Verbreitungsgebiete. Hierbei fasziniert schon seit langem<br />

die Artenzahl die Wissenschaftler sowie die interessierte Öffentlichkeit und wird „als Faktum für die


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

„Höherentwicklung“ der Kultur und Wissenschaft und demnach als Fortschrittssignal interpretiert“<br />

(SIMON 1998). Diese Betrachtung setzt jedoch stillschweigend voraus, dass es Spezialisten gibt,<br />

die die Arten kennen und Sammlungen, in denen entsprechendes Belegmaterial sicher und für die<br />

weitere wissenschaftliche Forschung frei verfügbar verwahrt wird. Beide Voraussetzungen sind jedoch<br />

nur sehr bedingt erfüllt, bezüglich der Sammlungsbelege drohen sie sogar ebenso vernichtet<br />

zu werden wie die lebenden Arten in der freien Natur. Denn neben dem Biodiversitätsverlust beobachten<br />

wir einen ebenso erschreckenden Verlust an biologischem Sammlungsmaterial. Zum geringen<br />

Teil ist er im unvermeidbaren Verschleiß bedingt, vielfach jedoch durch fehlende Betreuung,<br />

unzureichende Unterbringung und nachlässigen Umgang mit den Präparaten. Dieser<br />

Verlust beträgt, je nach Museumsgröße schätzungsweise 1 bis 5 % pro Jahr. Diese Zahl kann<br />

nach eigenen Untersuchungen z.B. anhand der Ankäufe von etwas über 150 Vogelpräparaten von<br />

CH.L.BREHM (1787 - 1864) durch Einrichtungen der <strong>Universität</strong> Jena in den Jahren 1849 bis 1864<br />

belegt werden, von denen heute lediglich noch zwei Präparate nachweisbar sind (KNORRE,V.<br />

1987). Ähnlich verlief eine Erhebung über vorhandene Belege an in Thüringen gesammelten<br />

Steinsperlingen (Petronia petronia) in allen potentiell möglichen Museen Deutschlands und des<br />

Auslands (BÄTHE 1999). Die Art ist in den 30er Jahren des 20.Jh. in Deutschland ausgestorben.<br />

Insgesamt konnten lediglich noch 54 Präparate (15 Standpräparate, 39 Bälge und 4 Eier) aufgefunden<br />

werden. Diese Zahl überrascht insofern, da in Veröffentlichungen um die Jahrhundertwende<br />

19./20.Jh. mehrfach auf die Gefahren für diese Art durch die zahlreichen Übergriffe von Sammlern<br />

hingewiesen wurde. Weitere Beispiele ließen sich beliebig aus den unterschiedlichsten<br />

Sammlungen ergänzen.<br />

Eine gewisse Ausnahme bilden die rein der wissenschaftlichen Arbeit dienenden Sammlungen der<br />

wenigen großen Forschungsmuseen in unserem Land. Doch auch dort müssen mitunter erhebliche<br />

Verluste registriert werden, die Erschließung entspricht ebenfalls keineswegs den derzeitigen<br />

technischen Möglichkeiten. So berichtet PAEPKE (1999) über die Revision der BLOCH´schen Fischsammlung<br />

im Museum für Naturkunde in Berlin. M.E.BLOCH (1723 -1799), einer der bedeutendsten<br />

europäischen Ichthyologen, hinterließ bei seinem Tod 1799 die größte wissenschaftliche<br />

Fischsammlung (etwa 1400 Exemplare) seiner Zeit, die bei der Gründung des Zoologischen Museums<br />

in Berlin für dieses einen wesentlichen Anfangsbestand darstellte. Anläßlich des 200. Todestages<br />

von BLOCH 1999 wurde diese Sammlung kritisch revidiert und dabei konnten nur noch<br />

etwas über 800 Exemplare (= knapp 60 %) ermittelt werden, der Rest ist verschollen. Ähnliche Lücken<br />

lassen sich in vielen Sammlungen feststellen, wobei nicht geleugnet werden darf, daß auch<br />

nicht selten bereits die Bearbeiter/Sammler bei der Konservierung ihrer Belege sehr nachlässig<br />

gehandelt haben oder selbst Typen nicht als solche gekennzeichnet wurden. Diese Aussage gilt<br />

leider auch für fast alle von E.HAECKEL (1834 - 1919) beschriebenen Schwämme und Medusen,<br />

die eigentlich in den Sammlungen im Phyletischen Museum in Jena vorhandensein müßten. Man<br />

stelle sich einmal die Entrüstung der Öffentlichkeit vor, falls ein derartiger Schwund aus einer Gemäldegalerie<br />

oder einer Handschriftensammlung bekannt würde.<br />

Bei ruhigerer Betrachtung erweisen sich jedoch gerade die oben angesprochenen Punkte - Artabgrenzung,<br />

eindeutig datiertes Belegmaterial - als höchst problematisch. Schon die Frage der Artdefinition<br />

stößt auf erhebliche Schwierigkeiten und bedingt den Tatbestand, dass es faktisch unmöglich<br />

ist, genaue Artenzahlen anzugeben. Erinnert sei an die erst in jüngster Zeit wieder verstärkt<br />

in den Mittelpunkt systematisch-taxonomischer Diskussionen gerückte Gruppe der Silbermöwen<br />

(Larus argentatus - canchinnans Komplex) (KLEIN & GRUBER 1997; KLEIN & BUCHHEIM<br />

1997; LIEBERS & HELBIG 1999). Damit gewinnen alte Belege, sofern noch vorhanden, sehr an Bedeutung,<br />

da sie erneut einer kritischen Bearbeitung, unter Einbeziehung moderner molekularbiologischer<br />

Untersuchungstechniken, unterzogen werden können und müssen. Hierin liegt u.a. auch<br />

ein entscheidender Grund, weshalb die genaue Artenzahl einer Gruppe bzw. eines geographischen<br />

Gebiets maximal für einen begrenzten Zeitraum angegeben werden kann. SIMON (1998)<br />

versucht eine diesbezügliche Angabe und schreibt:<br />

„Die Artenzahl bekannter, d.h.mit einem Binomen belegten, publizierten Formen liegt 1996 bei<br />

1.700.000 (max.Schätzung, ohne Berücksichtigung der Synonymie). Diese kann bis zu 40 %<br />

betragen, so daß evtl. nur 1,4 bis 1,5 Mio.Arten bekannt sind“.<br />

Doch gerade die zahlreichen Synonyme sind es, die eine Verständigung und Zählung so sehr erschweren.<br />

Unter dieser Prämisse erscheinen dann natürlich die eingangs zitierten Angaben und


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

Berechnungen über den Artenschwund, ohne dass er damit geleugnet werden soll, recht problematisch<br />

- nach LIEDTKE (<strong>2000</strong>): 30 Arten am Tag, dies entspricht 10.950 im Jahr und 1.095.000 in<br />

100 Jahren, damit mehr als der Hälfte der heute bekannten Arten.<br />

Für die dringend erforderlichen Revisionen einzelner Organismengruppen zur Klärung möglicher<br />

Synonyme oder aber der Frage, welche Arten wirklich in einem zu bearbeitenden Gebiet nachgewiesen<br />

wurden, reichen oftmals die vorliegenden Beschreibungen und Angaben nur sehr bedingt<br />

aus. Hierfür sind die in den Museen verfügbaren Belegmaterialien (Typen und Sammlungen) die<br />

entscheidende Arbeitsgrundlage. Der hohe Stellenwert, den Typen einnehmen, hat dazu geführt,<br />

dass vielfach ihre Anzahl als Maß für die Bedeutung einer Sammlung, eines Museums, betrachtet<br />

wird. In steigendem Maß gewinnt aber auch alles weitere, exakt datierte Sammlungsmaterial an<br />

Bedeutung, da die betreffenden Arten entweder inzwischen ausgerottet wurden, ausgestorben oder<br />

so selten geworden sind, dass sich jegliche weitere Entnahme aus der Natur verbietet. Ferner<br />

wird die Materialzufuhr durch restriktive Maßnahmen bei der Erteilung von Sammelerlaubnissen<br />

eingeschränkt, die immer häufiger gerade aus außereuropäischen Ländern (u.a. Australien, Südamerika,<br />

einzelne Staaten in Afrika, aber auch selbst in unserem eigenen Land) bekannt werden.<br />

Damit stehen uns oftmals nur noch die alten Sammlungsbestände für die künftige Forschung zur<br />

Verfügung, und diese schmelzen wie der Schnee in der Sonne durch Unverständnis dahin.<br />

Über Jahrzehnte, teilweise bis auf den heutigen Tag, galten und gelten biologische Sammlungsobjekte<br />

als jederzeit ersetzbar, und nicht wenige Museumsdirektoren begannen und beginnen ihren<br />

Dienstantritt mit einer gründlichen „Säuberung“ der vorhandenen Schausammlung bzw. beauftragen<br />

ungeschulte ABM-Kräfte mit der Sortierung von Sammlungsmaterial. Selbst heute noch kann<br />

man Präparate seltenster oder gar ausgestorbener Arten in Dauerausstellungen von Museen sehen,<br />

in denen sie der zerstörenden Einwirkung des Tageslichtes und damit einem unverantwortlichen<br />

Verschleiß ausgesetzt sind. Da auch mit Typen mitunter ähnlich verfahren wurde, bestehen<br />

heute erhebliche Lücken in den Beständen, die dann zu entsprechenden Fehldeutungen Anlaß<br />

geben. Selbst für die von LINNÉ aufgestellten Arten fehlen vielfach die Belege, die Beschreibungen<br />

sind umstritten und sind die Ursache dafür, dass bei der Benutzung älterer oder auch fremdsprachiger<br />

Literatur sogar Angaben über eigentlich allgemein bekannte Arten falsch zugeordnet wurden<br />

und werden. Als Beispiel seien die Singdrossel (Turdus philomelos C.L.BREHM) und die Rotdrossel<br />

(Turdus iliacus L.) genannt.<br />

BECHSTEIN (1807) vermerkt dazu in der zweiten Auflage seiner Naturgeschichte:<br />

„In den naturhistorischen Büchern wurde gewöhnlich diese (gemeint ist die Singdrossel, Verf.) und<br />

die Rothdrossel mit einander verwechselt, wenigstens ihre Eigenschaften unter einander gemischt“.<br />

Autor<br />

BECHSTEIN,J.M. (1807)<br />

NAUMANN, J.F. (1905)<br />

KLEINSCHMIDT, O. (1934)<br />

NIETHAMMER,G. u.a. (1964)<br />

FLINT,V.E. u.a. (1968)<br />

IVANOV,A.I. (1976)<br />

GLUTZ V.BLOTZHEIM, U.(1988)<br />

Singdrossel<br />

Turdus musicus<br />

Turdus musicus<br />

Turdus philomelos<br />

Turdus philomelos<br />

Turdus philomelos<br />

Turdus philomelos<br />

Turdus philomelos<br />

Rotdrossel<br />

Turdus iliacus<br />

Turdus iliacus<br />

Turdus musicus<br />

Turdus iliacus<br />

Turdus musicus<br />

Turdus iliacus<br />

Turdus iliacus<br />

In der älteren deutschsprachigen Literatur wird zeitweilig die Sing-, dann aber auch wiederum die<br />

Rotdrossel als Turdus musicus - so auch im weit verbreiteten Buch "Singvögel der Heimat" von<br />

O.KLEINSCHMIDT (1934) - bezeichnet. Eine eindeutige Artzuordnung bei schriftlichen Quellen erscheint<br />

mitunter nur möglich, wenn Angaben für beide Arten enthalten sind oder aber das Belegmaterial<br />

noch vorhanden ist.


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

Ein ähnliches Beispiel läßt sich für die beiden einheimischen Sumpfdeckelschneckenarten anführen.<br />

Während unter Viviparus viviparus L. in älteren Bestimmungsbüchern und faunistischen Untersuchungen<br />

die Spitze Sumpfdeckelschnecke mit deutlich vertiefter Naht verstanden wurde, wird<br />

diese nunmehr als Viviparus contectus (MILLET) bezeichnet - die Stumpfe Sumpfdeckelschnecke<br />

mit flacher Naht dagegen als Viviparus viviparus L. (früher Viviparus fasciatus (O.F.Müller)). Wenn<br />

nun in einer älteren Publikation der wissenschaftliche Name Paludina vivipara oder Viviparus viviparus<br />

publiziert wurde, kann nicht mit der nötigen Sicherheit diese Angabe verwendet werden.<br />

Die seit praktisch 100 Jahren gültigen, seit 1999 in der fünften überarbeiteten Fassung vorliegenden<br />

„Internationalen Regeln der Zoologischen Nomenklatur“ sollen Stabilität und Klarheit bringen.<br />

Die Bemühungen, die Prioritätsregel exakt einzuhalten, haben jedoch wegen des Verlustes zahlreicher<br />

Typen aber auch durch erforderliche Änderungen leider zu erheblichen Umdeutungen beigetragen.<br />

Daraus resultieren Fehler, die leicht bei Vorliegen von entsprechendem Belegmaterial<br />

hätten vermieden werden können.<br />

Vielfach ist die Ansicht verbreitet, dass die mitteleuropäische Säugetier-Fauna gründlich erforscht<br />

sei. Doch selbst hier gibt es durch verfeinerte Untersuchungsmethoden Neufunde, die dann viele<br />

Fragen nach der Herkunft und genauen Verbreitung dieser Arten aufwerfen. So wurde im Jahr<br />

1907 fast zeitgleich durch CABRERA (1907) die Sumpfspitzmaus als Neomys anomalus aus Spanien<br />

sowie von MOTTAZ (1907) unter dem Namen Neomys milleri aus den Schweizer Alpen beschrieben.<br />

Unbeachtet blieb jedoch dabei, dass CHRISTIAN LUDWIG BREHM bereits 1826 bei seiner<br />

Beschreibung von vier einheimischen Wasserspitzmausarten aus Renthendorf/Ostthüringen<br />

(BREHM 1826) ganz offensichtlich auch diese Art vorgelegen hat. Während es sich bei drei der von<br />

ihm behandelten Formen eindeutig um Altersgruppen der verbreiteten Wasserspitzmaus (Neomys<br />

fodiens) handelte, fällt die vierte Art wegen ihrer Kurzschwänzigkeit deutlich heraus. NATHUSIUS<br />

(1838), der sich eingehend mit den bislang bekannten europäischen Spitzmäusen beschäftigte,<br />

und dem die BREHM´schen Bälge zur Untersuchung vorlagen, vermerkt:<br />

"Diese Art hat mich sehr lange im Zweifel gelassen, ich habe sie in großer Anzahl beobachtet, und<br />

halte jetzt dafür, daß mit diesem Namen keine eigenthümliche Form, sondern der Jugendzustand<br />

der gemeinen Wasserspitzmaus bezeichnet ist; doch sind die Untersuchungen hierüber noch keineswegs<br />

als geschlossen anzusehen, wie ich im zweiten Theil dieser Abhandlung weiter ausführen<br />

werde."<br />

Leider ist dieser zweite Teil seiner Bearbeitung niemals erschienen, und alle Suche nach den<br />

BREHM´schen Spitzmausbälgen verlief erfolglos. Nach eigenen Untersuchungen verläuft die heutige<br />

nördliche Verbreitungsgrenze der Sumpfspitzmaus entlang der Orlasenke (Ostthüringen) nur<br />

wenig südlich von Renthendorf. Diese Tatsache legt die Vermutung nah, dass diese Art in der ersten<br />

Hälfte des 19.Jh. vor den umfangreichen Trockenlegungsarbeiten der Talauen auch weiter<br />

nördlich verbreitet war und von CH.L.BREHM als eine andere Form richtig erkannt wurde. Doch<br />

kann ihm weder Gerechtigkeit bezüglich der von ihm entdeckten und beschriebenen neuen Art zuerkannt,<br />

noch können letzte Zweifel an seiner Artbeschreibung abschließend behoben werden. Wir<br />

müssen feststellen, dass durch den Verlust von Sammlungsmaterial wertvollste wissenschaftshistorische<br />

und zoogeographische Informationen unwiederbringlich verloren sind.<br />

Ein weiteres Beispiel stellt das erst in jüngster Zeit nach morphologischen Merkmalen eindeutig zu<br />

trennende Artenpaar - Wald- und Schabrackenspitzmaus (Sorex araneus und Sorex coronatus)<br />

dar. Während die Waldspitzmaus (Sorex araneus) durch ganz West- und Mitteleuropa in allen geeigneten<br />

Lebensräumem verbreitet ist, beschränkt sich das Areal der Schabrackenspitzmaus auf<br />

Frankreich und die südwestlichen deutschen Bundesländer (HAUSSER 1990). Die Art erreicht in der<br />

Thüringischen Rhön die Ostgrenze ihrer Verbreitung (ERFURT 1986; Erfurt & STUBBE 1986;<br />

KNORRE,V. 1996). Zur Untersuchung der Verbreitung standen nun aber praktisch nur Neuaufsammlungen<br />

aus Fängen, Zufallsfunden und Gewöllanalysen zur Verfügung. Somit können keine<br />

Aussagen getroffen werden, ob und wie sich die Verbreitungsgebiete dieser beiden Arten in den<br />

letzten 150 Jahren verändert haben könnten. Der Verlust älterer Sammlungsbestände, deren Existenz<br />

sich z.B. für Thüringen (s.NATHUSIUS 1838) eindeutig belegen läßt, läßt auch in diesem Fall<br />

viele Fragen offen.<br />

Neben einer dramatischen globalen Umweltzerstörung und der damit ausgelösten 1. Biodiversitätskrise<br />

bedingt die Vernichtung von Sammlungsmaterial durch fehlende Betreuung und sorglo-


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

sen, um nicht zu sagen verantwortungslosen Umgang mit diesen Kulturgütern einen weiteren hohen<br />

Informationsverlust. Hieraus resultiert die 2. Biodiversitätskrise, denn bald werden viele Arten<br />

mehr oder weniger unbekannt sein, da das heute vielleicht noch verfügbare Belegmaterial der<br />

Vernichtung anheimgefallen ist. Bedingt durch die historische Entwicklung der vergangenen 250<br />

Jahre gelangte viel Sammlungsgut aus der ganzen Welt nach Europa. Sammlungsgut, das es in<br />

vielen der Herkunftsländer nicht gibt. Bekanntlich kann man Entdeckungen in der Natur, aber ebenso<br />

auch in den Museen machen. Manche Art mag inzwischen in der freien Natur ausgestorben<br />

sein, Belege könnten aber noch unerkannt in Sammlungen ruhen. Die uns damit auferlegte Verantwortung<br />

zum Erhalt, der Pflege und der Erschließung dieses Kulturerbes der gesamten<br />

Menschheit ist eine große Herausforderung, der wir uns mit der gleichen Konsequenz zu stellen<br />

haben wie dem Erhalt vom Kunstwerken.<br />

Naturwissenschaftliches Sammlungsgut ist Kulturgut im besten Sinne seiner Bedeutung (BARTHEL<br />

1983, V.KNORRE 1990). Neben den rein naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die daran gewonnen<br />

werden können, erlaubt es uns auch Aussagen und Untersuchungen zum Verständnis des<br />

geistig-kulturellen Umfeldes früherer Epochen sowie zum Entwicklungsstand der Präparationstechnik<br />

vergangener Zeiten. Ist dies Kulturgut zerstört, so ist es, da die Arten inzwischen ausgestorben<br />

bzw. ausgerottet sein könnten, in vielen Fällen heute nicht wieder beschaffbar.<br />

„Schönheit und Geist eines Kunstwerkes können nachgebildet werden, auch wenn es zerstört ist;<br />

eine verschwundene Harmonie vermag den Komponisten von neuem zu inspirieren; doch wenn<br />

eine Gattung von Lebenwesen dahin ist, müssen Himmel und Erde vergehen, bevor es sie wieder<br />

geben kann.“ - C.WILLIAM BEEBE „Der Vogel, Form und Funktion „ - zitiert n. F.BRODWORTH: Der<br />

letzte Eskimobrachvogel.<br />

Zum Abschluß möchte ich nochmals zusammenfassen:<br />

Als 1. Biodiversitätskrise müssen wir die Abnahme des Strukturreichtums und daraus folgend eine<br />

Abnahme der Artenvielfalt, eingeschlossen eine Abnahme der genetischen Vielfalt innerhalb der<br />

einzelnen Spezies bezeichnen.<br />

Die 2. Biodiversitätskrise beinhaltet den Verlust des Informationsgehaltes der wissenschaftlichen<br />

Dokumentation durch den unmittelbaren Verlust an Sammlungsgut und damit der Möglichkeit der<br />

Überprüfung früherer Aussagen. Mit anderen Worten - die Artenzahl kann vielfach überhaupt nicht<br />

mehr ermittelt werden, da bedingt durch den Verlust von Typen und Sammlungsbelegen die Synonymie<br />

und einstige Verbreitung nicht mit der nötigen Sicherheit überprüft werden kann.<br />

Der Verlust an naturwissenschaftlichem Sammlungsgut innerhalb der letzten 50 Jahre übertrifft<br />

weit die Verluste, die durch Kriegseinwirkung zu beklagen sind. Auch bei den Museen beobachten<br />

wir einen Prozeß der Konzentration von Sammlungen in wenigen großen Häusern, damit geht jedoch<br />

ein erheblicher Verlust an Neuzugängen und Diversität im engeren Sinn des Wortes verloren.<br />

Auf den Wert und die Bedeutung biologischer Sammlungen ist in jüngster Zeit wiederholt hingewiesen<br />

worden (KULL 1992; SCHMINKE 1996). Es ist unsere Pflicht, die Öffentlichkeit auf diese Gefahren<br />

hinzuweisen, die sich aus einer weiteren Vernachlässigung der naturkundlichen Sammlungen<br />

ergeben, damit ihnen endlich der Stellenwert zuerkannt wird, den sie aufgrund der in ihnen ruhenden<br />

Werte für die Zukunft besitzen.<br />

Als Hauptursache für die 2. Biodiversitätskrise im obigen Sinn betrachte ich die egozentrische<br />

Selbstüberschätzung des Menschen bei der Bewertung von Kunst - und was dafür gehalten wird -<br />

bei gleichzeitiger Mißachtung der ihn umgebenden, von ihm genutzten aber nicht geschaffenen<br />

biologischen Vielfalt. Man vergleiche als Beleg für diese Aussage nur den zahlenmäßigen Rückgang<br />

der naturkundlichen Museen/Abteilungen sowie die sehr unterschiedlichen Höhen im Etat<br />

der einzelnen Museen für Personal, Ankauf und Pflege. Auf konkrete Beispiele darf ich hier verzichten,<br />

jeder wird sie kennen. Unsere Zukunftsverantwortung ist heute, da wir um die Komplexität<br />

der Biodiversität, auch mit all ihren Folgen für die weitere ökonomische Entwicklung der Völker,<br />

wissen, größer als früher, zumal die Neben- und Spätfolgen der technischen Zivilisation allgegenwärtig<br />

sind, zugleich aber auch immer weiter in die Zukunft reichen.<br />

Literatur<br />

• BARTHEL, M. (1983): Pflanzenfossilien als Kulturgut. - Neue Museumskunde 26: 4 - 13<br />

• BÄTHE, R. (1999): Der Steinsperling, Petronia petronia (L.), in Thüringen - Dokumentation über eine in<br />

Mitteleuropa ausgestorbene Vogelart. - Thüring. Ornithol. Mitt. 48: 16 -37


Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />

• BECHSTEIN, J. M. (1807): Gemeinnützige Naturgeschichte Deutschlands nach allen drey Reichen.<br />

Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Bd. 3 , Leipzig.<br />

• BREHM, CH. L. (1826): Die einheimischen Wasserspitzmäuse. - Ornis (Hrsg.C.L.Brehm). Heft 2: 25 - 56<br />

• BODSWORTH, F. (1977): Der letzte Eskimobrachvogel. Berlin - Weimar<br />

• CABRERA, A. (1907): Three new Spanish insectivores. - Ann. Mag. Nat. Hist. (7) 20: 214<br />

• DE LATTIN, G. (1967): Grundriss der Zoogeographie. Jena<br />

• ERFURT, J. (1986): Nachweis der Schabrackenspitzmaus (Sorex coronatus MILLET, 1828) für die DDR.<br />

- Säugetierkdl. Inf. (Jena) 10: 337 - 339<br />

• ERFURT, J. & STUBBE, M. (1986): Die Areale ausgewählter Kleinsäugerarten in der DDR. - Hercynia<br />

N.F. 23: 257 - 304<br />

• FLINT, V. I., BEME, R. L., KOSTIN, Ju, V. & KUZNECOV, A. A. (1968): Die Vögel der UdSSR. Moskau<br />

(russisch)<br />

• GLEICH, A. M., MAXEINER, D., MIERSCH, M. & NICOLAY, F. (<strong>2000</strong>): Life Counts - Eine globale Bilanz<br />

des Lebens. - Berlin<br />

• GLUTZ von BLOTZHEIM, U. & BAUER, K. M. (1988): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 11/II Passeriformes<br />

(2.Teil). Wiesbaden<br />

• HAUSSER, J. (1990): Sorex coronatus MILLET, 1882 - Schabrackenspitzmaus. In: NIETHAMMER, J. &<br />

KRAPP, F. Handbuch der Säugetiere Europas. Bd. 3/1 Insektenfresser - Insectivora, Herrentiere - Primates.<br />

Wiesbaden<br />

• INTERNATIONAL TRUST FOR ZOOLOGICAL NOMENCLATURE (Hrsg.) (1999): International Code of<br />

Zoological Nomenclature. Fourt Edition, London<br />

• IVANOV, A. I. (1976): Katalog der Vögel der UdSSR. Leningrad (russisch)<br />

• KLEIN, R. & BUCHHEIM, A. (1997): Die westliche Schwarzmeerküste als Kontaktgebiet zweier Großmöwenformen<br />

der Larus cachinnans-Gruppe. - Vogelwelt 118: 61 - 70<br />

• KLEINSCHMIDT, O. (1934): Die Singvögel der Heimat. 7.Aufl. Leipzig<br />

• KNORRE, D.V. (1987): C.L.Brehms Verkäufe von Vogelpräparaten an zoologische Sammlungen der Universitärtsstadt<br />

Jena. - Brehm-Blätter 2: 18 - 25<br />

• KNORRE, D. V. (1990): Die Bedeutung zoologischer Präparate als Kulturgut. - Inform.Museen in der<br />

DDR. Jg. 22(3/4): 100 - 104<br />

• KNORRE, D.V. (1998): Wie sicher können Wald- (Sorex araneus) und Schabrackenspitzmaus (Sorex<br />

coronatus) bei Gewöllanalysen erkannt werden? - Naturschutz u.Landschaftspflege in Brandenburg 7<br />

(1): 55 -57<br />

• KULL, U. (1992): Wert von biologischen Sammlungen in Museen. - Naturwiss. Rundschau 45: 453<br />

• LIEBERS, D. & HELBIG, A. J. (1999): Phänotypische Charakterisierung und systematische Stellung der<br />

Armenienmöwe, Larus armenicus. - Limicola 13: 281 - 321<br />

• LIEDTKE, K. (<strong>2000</strong>): Schönheit, die wir schützen müssen. - National Geographic Deutschland. Januar<br />

<strong>2000</strong>, S. 194<br />

• MOTTAZ, C. (1907): Préliminaires a nos "Etudes de Micromammalogie". Description du Neomys milleri,<br />

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• NATHUSIUS, H. (1838): Beiträge zur Kenntnis der europäischen Spitzmäuse. Erster, historischer Teil. -<br />

Archiv Naturgeschichte 4: 19 - 47<br />

• NAUMANN, J. A. (1989): Johann Andreas Naumanns meistens selbst erfundene Fallen und Fänge zum<br />

Vogelstellen. - Nach dem Originalmanuskript von 1818 erstmals heraus- gegeben von L.Baege &<br />

J.Neumann. Köthen.<br />

• NAUMANN, J. F. (1905): Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas. Hrsg. C.R.HENNICKE. Bd. 1. Gera<br />

• NIETHAMMER, G., KRAMER, H. & WOLTERS, H. E. (1964): Die Vögel Deutschlands - Artenliste.<br />

Frankfurt/M. 138 S.<br />

• PAEPKE, H.-J. (1999) (Mskr.): Kustodie Fische (Ichthyologische Sammlung). In: Jahresbericht 1997/98 -<br />

Museum für Naturkunde - Humboldt-<strong>Universität</strong> Berlin.<br />

• SCHEU, S. (1999): Biologische Vielfalt und Ökosystemfunktionen. <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht 7/1999: S.3 -13<br />

• SCHMINKE, H. K. (1996): Naturkundliche Sammlungen - das vernachlässigte Erbe ? - Spektrum der<br />

Wissenschaft. Mai 1996 S. 116 - 119<br />

• SIMON, H.-R. (1998): Artenzahl und Biodiversität: Ausgewählte Beispiele zu Artenzalen im Tierreich (mit<br />

Anmerkungen zum Pflanzenreich). - <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht 2/1998: S.1 - 114<br />

• STEININGER, F.F. (Hrsg.) (1996): Agenda Systematik <strong>2000</strong> - Erschließung der Biosphäre. - Kleine Senckenberg-Reihe<br />

22, Frankfurt/M.


2.3 Genetische Sicherheit


Hartmut Meyer<br />

Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

1 Überblick<br />

Eher selten feierten NGOs aus aller Welt den Abschluß eines internationales Abkommens mit einem<br />

Schluck Rum – so geschehen am 30.1.<strong>2000</strong> morgens um sechs in einem Zelt im winterlichen,<br />

verschneiten Montreal. Das Zelt bot in den letzten Tagen der Biosafety-Verhandlungen einigen<br />

Dutzend junger Menschen aus ganz Kanada Schutz während ihrer mehrtägigen Mahnwache vor<br />

dem Verhandlungsgebäude. Sie appellierten vor allem an ihre eigene Delegation, sich für die Erarbeitung<br />

eines starken Biosafety-Protokolls einzusetzen und diese entscheidenen Tage im Rio-<br />

Folgeprozeß nicht zur Farce verkommen zu lassen.<br />

Zwei Stunden vorher wurde das Cartagena Protocol on Biosafety – diese Sitzung in Montreal war<br />

ja nur eine Wiederaufnahme der unterbrochenen Sitzung im Februar 1999 in Cartagena/Kolumbien<br />

– als Protokoll des 1992 in Rio beschlossenen Übereinkommens über die biologische Vielfalt<br />

(Convention on Biological Diversity, CBD) verabschiedet. Der Entwurf aus Cartagena galt als akzeptabler<br />

Kompromiß bis auf drei zentrale Streitpunkte:<br />

� Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips,<br />

� Bestimmungen für den Transfer von gentechnisch veränderten Organismen, die als Nahrungs-<br />

und Futtermittel oder zur Verarbeitung bestimmt sind,<br />

� Verhältnis dieses Protokolls als Umweltabkommen der UN zu den Freihandelsabkommen der<br />

WTO.<br />

In einer dramatischen Nacht gelang es den Entwicklungsländern und der EU unterstützt von Gruppe<br />

der mittel- und osteuropäischen Staaten sowie der sogenannten Kompromiß-Gruppe (mit<br />

bündnisfreien Staaten wie Norwegen, Schweiz, Südkorea) die Serie von Erpressungsversuchen<br />

seitens der Miami-Gruppe (USA, Kanada, Argentinien (die 1999 99% aller Gensaaten anbauten),<br />

Australien, Chile, Uruguay) im wesentlichen abzuwehren. Nach den Verhandlungen hinter verschlossenen<br />

Türen rief der ethiopische Verhandlungsleiter der Entwicklungsländer kurz vor der<br />

Schlußsitzung deren Delegationen im Saal in aller Öffentlichkeit zusammen und bat sie eindringlich<br />

und erfolgreich, dem erzielten Kompromiß zuzustimmen. So zäh und langwierig die Verhandlungen<br />

waren, so überraschend schnell wurde das Protokoll verabschiedet. Nur einen winzigen<br />

Augenblick wartete der kolumbianische Umweltminister Juan Mayr Maldonado, bis er nach seiner<br />

abschließenden Frage: ”Irgendwelche Gegenstimmen?” mit seinem Hammerschlag den Vertragstext<br />

verabschiedete.


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

Kurze Geschichte des Biosafety-Protokolls<br />

Die Rio-Dokumente befassen sich auch mit dem Thema Gentechnologie und Patentierung genetischer<br />

Ressourcen. Sowohl die Agenda 21 als auch die CBD enthalten Abschnitte über die Vermeidung<br />

oder Verringerung der Risiken, die von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) ausgehen.<br />

Die zum Teil widersprüchlichen Vorgaben der Riodokumente über den Umgang mit den Risiken<br />

der Gentechnologie begründen sich in den unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben in Europa<br />

und den USA. Die CBD - und die Rio-Deklaration - berufen sich in Übereinstimmung mit der europäischen<br />

Umwelt- und Gesundheitsschutzpolitik auf die weitgehende Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips.<br />

Dieser Grundsatz wird jedoch im Kapitel 16 der Agenda 21 durchbrochen. Dieses Kapitel<br />

preist die Gentechnologie zur Verbesserung der Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln sowie<br />

nachwachsende Rohstoffen, als Mittel zum Umweltschutz und zur Verbesserung der menschlichen<br />

Gesundheit. In Analogie zur US-Gesetzgebung wird das Prinzip der Vertrautheit - die Akzeptanz<br />

der bestehenden Risiken bis zum wissenschaftlichen Nachweis eines Schadens - als einzig konkrete<br />

Leitlinie zur Risikoanalyse benannt. Zukünftige Vereinbarungen im Bereich Biosafety sollen<br />

direkt zwischen den betroffenen Staaten oder eventuell durch unverbindliche, freiwillige Leitlinien<br />

getroffen werden (Absatz 16.34). Als Gegengewicht zum Kapitel 16 der Agenda 21 wurde auf Initiative<br />

der G77-Staatengruppe der Artikel 19.3 ”Umgang mit Biotechnologie und Verteilung der daraus<br />

entstehenden Vorteile” in die CBD aufgenommen. Artikel 19.3 eröffnet die Chance, ein internationales<br />

rechtsverbindliches Protokoll zur biologischen Sicherheit (Biosafety-Protokoll), das Regeln über<br />

den sicheren Umgang mit sowie den Transfer von gentechnisch modifizierten Organismen festlegen<br />

soll, zu verhandeln. Das Biosafety-Protokoll soll neben dem Vorsorgegedanken ein ”Advance Informed<br />

Agreement”-Verfahren verwirklichen: Der Import eines GVO unterliegt einem Genehmigungsverfahren,<br />

welches verbindlich eine Information des Importlandes durch den Exporteur und<br />

eine anschließende Risikoanalyse vorsieht. Die Aufnahme der Verhandlungen wurden auf Druck einiger<br />

Entwicklungsländer mit der Unterstützung von NGOs aus dem Süden und Norden 1995 beschlossen,<br />

jedoch ein erfolgreicher Abschluß bislang durch die drei Hauptexportstaaten für gentechnisch<br />

veränderte Agrarprodukte USA, Kanada, Argentinien verhindert.<br />

1.1 Bedeutung des Protokolls<br />

Der erfolgreiche Abschluß des Cartagena Protocol on Biosafety wird von Umwelt– und Entwicklungsverbänden<br />

als ein bedeutender und begrüßenswerter Fortschritt im Rio-Prozeß betrachtet.<br />

Das Biosafety-Protokoll der Vereinten Nationen (UN) setzt völkerrechtliche Maßstäbe für weitere<br />

internationale Umweltabkommen, da es in weltweit debatierten Fragen deutliche Aussagen trifft:<br />

� es schreibt verbindlich den Vorsorgegrundsatz als Leitlinie im politischen Entscheidungsprozeß<br />

über den Import von GVO fest,<br />

� es definiert als erstes internationales Umweltabkommen das Vorsorgeprinzip, indem es die<br />

Umstände beschreibt, unter denen Staaten Schutzmaßnahmen treffen dürfen, ohne auf einen<br />

endgültigen wissenschaftlichen Beweis der Ursachen und Wirkungsketten warten zu müssen,<br />

� es stellt sich auf die gleiche Stufe wie die Freihandelsabkommen der Welthandelsorganisation<br />

(WTO).<br />

Neben diesen positiven Aspekten enthält der Text eine Reihe von Punkten, die weit hinter den<br />

Forderungen der Verbände zurückbleiben und nach einer ersten Einschätzung den tatsächlichen<br />

Einfluß des Protokolls deutlich abschwächen können. Eine Zwischenbilanz in der weltumspannenden<br />

Auseinandersetzung über den Einsatz der Gentechnik in Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion<br />

kann lauten:<br />

� das Biosafety-Protokoll setzt entscheidende Maßstäbe für Schutzbemühungen im Bereich<br />

Umwelt- und (eingeschränkt) Gesundheitsschutz,<br />

� es trifft aber in etlichen Fragen – besonders im Forschungs- und Nahrungsmittelbereich –<br />

(noch) keine Entscheidungen,


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

� es kann gut von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihren Interessensvertretungen benutzt werden,<br />

um ihre Forderungen nach Schaffung bzw. Revision von nationalen Gesetzen zum vorsorglichen<br />

Schutz vor den Gefahren der Gentechnologie zu stützen.<br />

Wer die mühsame Geschichte des Biosafety-Protokolls verfolgt hat, wird zustimmen, daß im Grunde<br />

schon die Tatsache, daß es nun ein völkerrechtlich verbindliches Regelwerk gibt, ein gewaltiger<br />

Erfolg ist. Die jetzt erzielten positiven Ergebnisse erschienen bis 1998 vielen Beobachtern als nicht<br />

erreichbar. Es können vier Gründe für den Erfolg ausgemacht werden:<br />

Verabschiedung des Biosafety-Protkoll:<br />

Anzahl anwesender Staaten – Organisationen – Teilnehmer a<br />

Gruppen / Untergruppen Anzahl Teilnehmer<br />

Mitgliedsstaaten b 128 481<br />

Nicht-Mitgliedsstaaten c 4 35<br />

Miami-Gruppe 6 86<br />

EU/EC 16 148<br />

Internationale Organisationen 10 18<br />

Nicht-<br />

106 199<br />

Regierungsorganisationen<br />

”Grüne” NRO ca. 50 ca. 100<br />

NRO der Industrie 6 8<br />

Industrie 32 45<br />

a) laut offizieller Teilnehmerliste (UNEP/CBD/ExCOP/1/Inf.4)<br />

b) Die CBD hat derzeit 175 Mitgliedsstaaten.<br />

c) Zehn Staaten haben die CBD nur unterschrieben, aber nicht ratifiziert, davon waren in Montreal die<br />

USA und Thailand anwesend. Als Nichtunterzeichner nahmen Saudi Arabien und der Vatikan an den<br />

Verhandlungen teil.<br />

� die intensive Zusammenarbeit von NRO aus dem Norden und Süden,<br />

� die kontinuierliche Unterstützung der Positionen der Entwicklungsländer,<br />

� die breite Ablehnung von Gen-Food durch die Verbraucher in Europa, Japan, aber auch die<br />

zunehmende Kritik in Entwicklungsländern wie in Indien oder Thailand,<br />

� die nicht erfüllten Versprechen der Genindustrie und die zunehmenden Bedenken gegen die<br />

propagierte Sicherheit von GVO und Gen-Food.<br />

1.2 Was steht im Protokoll?<br />

Der englische Text des Biosafety Protokolls kann auf der Internetseite der CBD (www.biodiv.org)<br />

gefunden werden, Friends of the Earth Europe haben ein detailiertes Tagesprotokoll veröffentlicht<br />

(FoEE Biotech Mailout Volume 6, Issue 1: http://www.foeeurope.org/biotechnology/about.htm). Im<br />

folgenden werden die englischen Texte wiedergegeben, die amtliche deutsche Übersetzung wird<br />

einige Zeit in Anspruch nehmen.<br />

2 Ziel und Anwendungsbereich des Protokolls<br />

2.1 Was regelt das Protokoll – was nicht?<br />

Im Gegensatz zu zahlreichen Medienberichten ist das Biosafety-Protokoll kein Regelwerk, das den<br />

internationalen Handel mit Nahrungsmitteln aus gentechnisch veränderten Organismen leiten wird.<br />

Schon in den Rio-Verhandlungen und im zugrunde liegenden Artikel 19.3 der CBD wurde dem Biosafety-Protkoll<br />

eine andere Funktion zugewiesen. Es soll international verbindliche Sicherheitsstandards<br />

für den grenzüberschreitenden Verkehr von gentechnisch veränderten Organismen<br />

(GVO) setzen, Vorgaben zur Abschätzung der Risiken dieser GVO auf die biologische Vielfalt un-


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

1992: Artikel 19.3 der CBD<br />

Die Vertragsparteien prüfen die Notwendigkeit und die<br />

näheren Einzelheiten eines Protokolls über geeignete<br />

Verfahren, insbesondere einschließlich einer vorherigen<br />

Zustimmung in Kenntnis der Sachlage, im Bereich der<br />

sicheren Weitergabe, Handhabung und Verwendung der<br />

durch Biotechnologie hervorgebrachten lebenden modifizierten<br />

Organismen, die nachteilige Auswirkungen auf<br />

die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen<br />

Vielfalt haben können.<br />

ter Berücksichtigung der menschlichen<br />

Gesundheit liefern und den Mitgliedsstaaten<br />

die Möglichkeit garantieren,<br />

nach einer frühzeitigen Information über<br />

den Import von GVO eigenständige Entscheidungen<br />

über die Genehmigung des<br />

Importes treffen zu dürfen. Diese GVO<br />

können natürlich Nahrungsmittel sein.<br />

Wichtig ist: Nahrungsmittel, die zwar<br />

GVO-Material enthalten, aber keine lebenden<br />

Organismen sind, werden nicht<br />

vom Protokoll abgedeckt! Hier sind weiterhin<br />

die Nationalstaaten gefragt, mit<br />

entsprechenden ”Novel Food” Gesetzen für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, ohne sich dabei<br />

direkt auf internationale Abkommen beziehen zu können.<br />

2.2 Was ist das Ziel des Biosafety-Protokolls?<br />

Der englische Text kann folgendermaßen übersetzt werden: Das Biosafety-Protokoll soll in Übereinstimmung<br />

mit dem Vorsorgegrundsatz aus Grundsatz 15 der Rio-Deklaration für ein angemessenes<br />

Schutzniveau bei der Weitergabe, Handhabung und Verwendung von GVO sorgen, die<br />

nachteilige Auswirkungen auf die Erhaltung und nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt haben<br />

können, wobei Risiken für die menschliche Gesundheit berücksichtigt werden und der Schwerpunkt<br />

auf den grenzüberschreitenden Verkehr gelegt wird.<br />

Damit können durch dieses Abkommen<br />

Ziel des Biosafety-Protokolls<br />

Article 1 OBJECTIVE<br />

In accordance with the precautionary approach contained<br />

in Principle 15 of the Rio Declaration on Environment<br />

and Development, the objective of this Protocol<br />

to contribute to ensuring an adequate level of<br />

protection in the field of the safe transfer, handling<br />

and use of living modified organisms resulting from<br />

modern biotechnology that may have adverse effects<br />

on the conservation and sustainable use of biological<br />

diversity, taking also into account risks to human<br />

health, and specifically focusing on transboundary<br />

movements.<br />

Mindeststandards für Risikoanalysen und<br />

Sicherheitsmaßnahmen beim grenzüberschreitendem<br />

Verkehr mit GVO gesetzt<br />

werden, was vor allem dann Bedeutung hat,<br />

wenn die Importstaaten (noch) keine Gentechnik-Gesetzgebung<br />

besitzen. Somit wird<br />

das Biosafety-Protokoll vor allem als ein Instrument<br />

zum Schutz der biologischen Vielfalt<br />

in Entwicklungsländern angesehen, was<br />

auch deren intensiven Einsatz für ein starkes<br />

Protokoll erklärt. Aber auch in Staaten<br />

mit Gentechnik-Gesetzgebung kann das<br />

Biosafety-Protokoll genutzt werden. Unterschreibt<br />

eine Regierung etwa das Protokoll,<br />

berücksichtigt aber in den nationalen Gentechnik-Gesetzen<br />

nicht den Vorsorgegrundsatz,<br />

bietet das Protokoll Bürgerinnen und<br />

Bürgern einen guten Ansatzpunkt, eine entsprechende Revision dieser Gesetze einzufordern.<br />

2.3 Auf welche GVO wird das Biosafety-Protokoll angewendet?<br />

Im Vergleich zum Cartagena-Text wurde der Anwendungsbereich erweitert. Artikel 4 besagt, daß<br />

grundsätzliche alle GVO unter das Protokoll fallen, auch für den Fall, daß sie ein Land nur im<br />

Transit passieren oder zur Verwendung im geschlossenen System bestimmt sind. Eine Ausnahmeregelung<br />

trifft Artikel 5, in dem GVO, die als Medikamente zugelassen sind, ausgeschlossen werden.<br />

Das betrifft vor allem gentechnisch veränderte Viren als Lebensimpfstoffe. Mit dieser Bestimmung,<br />

von allen Industriestaaten gegen den Widerstand der Entwicklungsstaaten eingesetzt, sollte<br />

eine drohende Kontroverse mit dem gros der Pharmakonzernen verhindert werden. Die Auseinandersetzung<br />

mit ihren drei ”life science”-Unternehmen Monsanto, Novartis und AgrEvo reichte den<br />

Industriestaaten offenbar aus.


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

Für GVO im Transit oder für das geschlossene System setzt der Artikel 6 aber die entscheidende<br />

Aufgabe des Biosafety-Protokolls aus: diese GVO fallen nicht unter die Bestimmungen des AIA-<br />

Verfahrens - die Zustimmung über den Import nach einer frühzeitigen Information. Damit werden<br />

die Exporteure dieser GVO von der Verpflichtung freigesprochen, Risikoanalysen vorzulegen, die<br />

u.a. die Gegebenheiten in den Importländern berücksichtigen. Die (finanzielle) Last, solche Analysen<br />

dennoch durchzuführen, wird den Importstaaten aufgebürdet. Die Entwicklungsstaaten versuchten<br />

vergebens, gegen diese Aushöhlung des Grundgedankens des Biosafety-Protokolls anzugehen.<br />

Die Industriestaaten rechtfertigten diese Ausnahme mit den Argumenten, daß im Transit<br />

und geschlossenen System Kontakte der GVO mit der Umwelt und somit mögliche Schäden per<br />

Definition ausgeschlossen oder minimiert seien.<br />

2.3.1 Spezialfall Transit<br />

Article 3 USE OF TERMS<br />

For the purposes of this Protocol:<br />

(b) "Contained use" means any operation,<br />

undertaken within a facility, installation<br />

or other physical structure, which involves<br />

living modified organisms that are<br />

controlled by specific measures that effectively<br />

limit their contact with, and their<br />

impact on, the external environment.<br />

Diese formaljuristische Argumentation ergäbe im Beispiel<br />

des Transit nur einen Sinn, wenn Transportbehältnisse<br />

und Umschlagvorrichtungen den Ansprüchen<br />

des geschlossenen Systems entsprächen. Die<br />

Praxis zeigt, daß dies nicht so ist – Häfen und Bahnhöfe<br />

sind z.B. bevorzugte Orte für die erfolgreiche<br />

Ausbreitung neuer Arten. Die EU war nicht bereit, sich<br />

innerhalb des Biosafety-Protokolles für entsprechende<br />

Transportstandards einzusetzen – das ginge denn<br />

doch zu weit. Die im wesentlichen betroffenen Länder<br />

– zahlreiche kleine Inselstaaten mit einem regen Umschlag<br />

internationaler Seegüter – hatten keine Chance,<br />

ihre Standpunkte in den Vertragstext einzubringen.<br />

2.3.2 Spezialfall geschlossenes System<br />

Als einen der entscheidensten Schwachpunkte des Biosafety-Protokolls im Hinblick auf seine Umsetzung<br />

und seinen tatsächlichen Einfluß muß der Ausschluß von GVO für das geschlossenen System<br />

von dem AIA-Verfahren in Zusammenhang mit der Definition des geschlossenen Systems<br />

betrachtet werden. Als Begründung für diese Ausnahme wurde ebenfalls der fehlende Kontakt der<br />

GVO zur Umwelt angeführt. Der wesentlich stärkere, politische Beweggrund für die Industriestaaten,<br />

in diesem Punkt keine Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, ist die Absicht, den internationale<br />

Austausch von GVO zwischen Forschunglaboren, die als geschlossenes System definiert werden,<br />

in keinster Weise mit Formularen oder sogar Risikoanalysen zu belasten. So versprach das Bundesgesundheitsministerium<br />

auf einer Anhörung im August 1998 den Vertretern der deutschen Forschung,<br />

daß es für entsprechende Ausnahmeklauseln eintreten wird. Mit dieser Haltung konnte ein<br />

zweiter starker Sektor aus den Verhandlungen herausgehalten werden: die Forschungsverbände.<br />

Grundsätzlich öffnet Artikel 6 der Einflußnahme und Korruption sowie dem bewußten Verstoß gegen<br />

den Geist des Biosafety-Protokolls Tür und Tor. Exporteure von GVO geben an, daß die Saaten<br />

ausschließlich für das Gewächshaus bestimmt sind. Schon in der nächsten Vegetationsperiode<br />

kann dann die eigentlich beabsichtigte Freisetzung im Importland durchgeführt werden. Mit dem<br />

kleinen Unterschied: nun ist das Importland selbst für die Risikoanalyse zuständig. Die Verantwortung<br />

wird in vielen Fällen auf das schwächste Glied in der Kette abgewälzt – die Umweltministerien<br />

in Entwicklungsländern. Als extrem gefährlich wird der erfolgreiche Vorstoß der USA in der Sitzung<br />

in Cartagena gewertet, die Definition des geschlossenen Systems um der Zusatz ”physical structures”<br />

zu erweitern. Das allgemein gültige Konzept des Labor- oder Fabrikgebäudes und Gewächshaus<br />

als Ort des geschlossenen Systems – fragwürdig genug – ist damit durchbrochen. Die Praxis<br />

wird zeigen, ob in Zukunft Exporteure von GVO Saatgut für Feldversuche mit z.B. einem Hanfstreifen<br />

oder Bastmatten als Pollenfänger sich auf Artikel 6 berufen und diese Freilandversuche als geschlossenes<br />

System deklarieren! Artikel 6 schafft ein Schlupfloch für den Industriesektor, dessen<br />

Aktivitäten Hauptziel des Protokolls sein sollte: der Agrargentechnik- und Saatgutkonzerne.


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

2.4 Was ist ein GVO?<br />

Während des Rio-Gipfels 1992 wurde durch die USA versucht, in internationalen Abkommen zu<br />

verankern, daß Gentechnologie und konventionelle Züchtungsmethoden auf derselben Ebene der<br />

Eingriffstiefe in einen Organismus stehen. Alle gezüchteten Organismen seien ”genetisch verändert”<br />

und sollten als ”living modified organisms (LMO)”, manipuliert durch Methoden der Biotechnologie,<br />

definiert werden – analog zur ebenfalls 1992 beschlossenen US-amerikanischen Rechtslage.<br />

Diese undifferenzierten Begriffe finden wir in allen Rio-Dokumenten. Die Staaten der EU, in<br />

Definition eines GVO<br />

Art. 3 (Use of Terms)<br />

(g) ”Living modified organism” means any living organism<br />

that possesses a novel combination of genetic<br />

material, obtained through the use of modern biotechnology.<br />

(h) ”Living organism” means any biological entity<br />

capable of transferring or replicating genetic material,<br />

including sterile organisms, viruses and viroids.<br />

(i) ”Modern biotechnology” means the application<br />

of:<br />

(i) In vitro nucleic acid techniques, including recombinant<br />

deoxyribonucleic acid (DNA) and direct<br />

injection<br />

of nucleic acid into cells or organ-<br />

elles, or<br />

(ii) Fusion of cells beyond the taxonomic family<br />

that overcome natural physiological reproductive<br />

or recombination barriers and that are not techniques<br />

used in traditional breeding and selection.”<br />

denen eine völlig andere Rechtslage existierte,<br />

meldeten sich damals in dieser Diskussion<br />

kaum zu Wort. Bei der Ausarbeitung des<br />

Verhandlungsmandates im November 1995<br />

während der zweiten Vertragsstaatenkonferenz<br />

der CBD in Jakarta durch einige Entwicklungsländern<br />

gegen den starken Widerstand<br />

der USA, der EU und anderer Industriestaaten<br />

konnten die Korrekturen dieser<br />

anfänglichen Fehler eingeleitet werden: inzwischen<br />

entspricht der ”LMO” dem ”GVO”.<br />

Gentechnologie wird als ”modern biotechnology”<br />

angesprochen und von traditionellen<br />

Züchtungsmethoden und klassischen Biotechniken<br />

abgegrenzt. Einen kleinen Erfolg<br />

konnten Nichtregierungsorganisationen<br />

(NRO) verbuchen, indem sie durch intensive<br />

Arbeit dazu beitrugen, daß grundsätzlich Methoden<br />

der Zellfusion als ”modern biotechnology”<br />

definiert werden. Um die Opposition vor<br />

allem Japans, das sich stark im Gebiet der<br />

Zellfusion engagiert, zu überwinden, sah der<br />

Kompromiß schließlich vor, erst Zellfusionen<br />

oberhalb der taxonomischen Ebene der Familie in die Definition aufzunehmen.<br />

3 Die großen Konflikte<br />

3.1 Anwendung des Vorsorgeprinzips<br />

Das Biosafety-Protokoll bezieht sich an vier Stellen auf das Vorsorgeprinzip:<br />

1) Präambel<br />

2) Artikel 1 (Ziele)<br />

3) Anhang II (Risikoanalyse)<br />

4) Artikel 10 und 11 (Entscheidung im Zustimmungsverfahren)<br />

Während die ersten drei Bezüge schon in Cartagena abgesegnet wurden, bekämpfte die Miami-<br />

Gruppe vehement die vierte Textstelle. Mit einer solchen Definition, unter welchen Voraussetzungen<br />

das Vorsorgeprinzip angewendet werden darf, die zudem noch in einem völkerrechtlich verbindlichen<br />

Text – sog. ”hard law” im Gegensatz zu dem ”soft law” wie die politische Absichtserklärung<br />

der Rio-Deklaration – steht, würde Neuland betreten. Damit könnte das Biosafety-Protokoll<br />

die Regeln der WTO unterhöhlen. Unglücklich nur, daß ausgerechnet das Abkommen über sanitäre<br />

und phytosanitäre Maßnahmen der WTO ebenfalls eine Definition des Vorsorgeprinzips enthält!<br />

Während in Cartagena die Verhandlungsführung der EU im letzten Moment diese Verankerung


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

Ausgewählte Beispiele erfolgreicher Fusionen planzlicher Zellen (Stand Aug. 98)<br />

Fusionspartner Oberhalb<br />

Familie<br />

Innerhalb<br />

Familie<br />

Überschreitung<br />

nat. Fortpflan-<br />

Neue Eigenschaften der<br />

lebensfähigen Hybride<br />

1) Karotte X Gers- Bedecktsamer<br />

zungsgrenzen<br />

ja Karotten mit erhöhter<br />

te<br />

Salzresistenz (aus Gerste)<br />

2) Reis X Karotte Bedecktsamer ja nicht angegeben<br />

3) Raps X Amerik.<br />

Klappertopf<br />

Kreuzblütler ja fortpflanzungsfähig<br />

4) Reis X Gerste Süßgräser ja neue Genkombinationen,<br />

die nicht in den Eltern<br />

auftreten<br />

5) Futteresparsette<br />

Schmetter- ja nicht angegeben<br />

X Luzerne<br />

lingsblütler<br />

1) H. Kisaka & T. Kameya, 1998, Breeding Science 48: 11-15<br />

H. Kisaka et al. 1997, Theor. & Appl. Genetics 94: 221-226<br />

2) H. Kisaka et al., 1996, Breeding Science 46: 221-226<br />

3) M. Skarzhinskaya et al., 1996, Theor. & Appl. Genetics 93: 1242-1250<br />

4) H. Kisaka et al., 1998, Plant Cell Reports 17: 362-367<br />

5) X. Ziqin & J. Jingfen, 1997, Sci. in China, Ser. C, Life Sci. 40: 363-370<br />

Voraussetzung zur Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Importentscheidung<br />

Article 10 DECISION PROCEDURE<br />

Article 11 PROCEDURE FOR LIVING MODIFIED ORGANISMS INTENDED FOR DIRECT USE<br />

ASFOOD OR FEED, OR FOR PROCESSING<br />

6. ODER 8. Lack of scientific certainty due to insufficient relevant scientific information and acknowledge<br />

regarding the extent of the potential adverse effects of a living modified organism on the conservation<br />

and sustainable use of biological diversity in the Party of import, taking also into account risks to<br />

human health, shall not prevent that Party from taking a decision, as appropriate, with regard to the import<br />

of the living modified organism<br />

[Art. 10] in question as referred to in paragraph 3 above,<br />

[Art. 11] intended for direct use as food or feed, or for processing<br />

in order to avoid or minimize such potential adverse effects.<br />

Erklärung des Vorsorgeprinzip in der naturwissenschaftlichen<br />

Risikoanalyse<br />

Annex II RISK ASSESSMENT UNDER<br />

ARTICLE 15<br />

4. Lack of scientific knowledge or scientific<br />

consensus should not necessarily be<br />

interpreted as indicating a particular level<br />

of risk, an absence of risk, or an acceptable<br />

risk.<br />

Grundsatz 15 der Rio-Deklaration<br />

Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten<br />

im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend<br />

den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende<br />

oder bleibende Schäden, so darf<br />

ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher<br />

Gewißheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame<br />

Maßnahmen zur Vermeidung<br />

von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.<br />

des Vorsorgeprinzips im operationellen Teil des Protokoll zur Disposition stellte, war die Sache nun<br />

in Montreal klar. Die angereisten 10 Umweltminister und die Umweltkommissarin versicherten den<br />

NRO, daß sie auf keinen Fall auf diesen Passus verzichten werden.


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

Etwas verwirrend ist die Tatsache, daß das Biosafety-Protokoll nicht das Vorsorgeprinzip, sondern<br />

den Vorsorgegrundsatz in seinem Text erwähnt. Die Benutzung des Wortes Vorsorgeprinzip scheiterte<br />

am Widerstand der USA, Australien und anderer Staaten. So wurde schon im Sommer 1998<br />

der Begriff Vorsorgegrundsatz – ein direktes Zitat der Rio-Deklaration – vorgeschlagen. Diesen<br />

Begriff konnte nun kein Staat ablehnen, da sie 1992 alle die Rio-Deklaration unterschrieben hatten!<br />

In den folgenden Verhandlungen gelang es den Entwicklungsländern und der EU, den Begriff des<br />

Vorsorgegrundsatzes mit ihren inhaltlichen Vorstellungen zum Vorsorgeprinzip zu füllen.<br />

3.2 Verhältnis zum Welthandelsabkommen<br />

Neben dem Vorsorgeprinzip betonten die Umweltminister der EU, daß sie auf keinen Fall eine Unterordnung<br />

des Biosafety-Protokoll unter die Regeln des Welthandelsorganisation (World Trade<br />

Organisation, WTO) dulden würden. Diese Position teilten sie mit den Delegationen der Entwicklungsländer,<br />

der mittel- und osteuropäischen Staaten sowie den bündnisfreien Staaten. Die Miami-<br />

Gruppe setzte sich mit allen Mitteln für eine solche Unterordnung ein, die zugleich das Vorsorgeprinzip<br />

als politische Entscheidungsrichtschnur entwertet. Sie betrachten die WTO als Bollwerk<br />

gegen ”ungerechtfertigte” Importeinschränkungen bezüglich der GVO. Solche Einschränkungen<br />

dürften erst nach bewiesenen Schäden und Ursachenketten ausgesprochen werden, nicht schon<br />

”auf Verdacht” hin. In dieser Position sahen sie sich durch die versammelten Industrievertreter unterstützt.<br />

In den Verhandlungen ging es konkret um die Streichung des Artikels 31, der eine solche Unterordnung<br />

vorsah. Wenn ein internationaler Vertrag keine Aussage zu seiner Stellung zu anderen<br />

Verträgen trifft, gelten die Regeln des Wiener Abkommens über internationales Vertragsrecht von<br />

1969, die besagen, daß das jüngere Abkommen über dem älteren steht sowie daß das spezifischere<br />

Abkommen das allgemeinere übertrifft. Beides träfe für das Biosafety-Protokoll zu. Als<br />

Kompromiß wurde eine Lösung ausgehandelt, in der das Verhältnis zwischen den Abkommen in<br />

der Präambel angesprochen wird. Die Präambel stellt drei Sachverhalte klar:<br />

1) Handels- und Umweltabkommen sollten sich wechselseitig unterstützen, um eine nachhaltige<br />

Entwicklung zu erreichen.<br />

2) Das Biosafety-Protokoll darf nicht so verstanden werden, daß es eine Veränderung der Rechte<br />

und Pflichten unter anderen Abkommen bedeutet.<br />

3) Diese Vorgaben beabsichtigen keine Unterordnung des Protokolls unter andere Verträge.<br />

Vorgaben der Präambel zum Verhaltnis des Biosafety-<br />

Protkolls zur WTO<br />

Recognizing that trade environment agreements should<br />

be mutually supportive with a view to achieving sustainable<br />

development,<br />

Emphasizing that this Protocol shall not be interpreted<br />

as implying a change in the rights and obligations of a<br />

Party under any existing international agreements,<br />

Understanding that the above recital is not intended to<br />

subordinate this Protocol to other international agreements,<br />

Der Wortlaut entspricht den Vorstellungen<br />

der der Mehrzahl der Staaten sowie den<br />

Vorschlägen der Verbände und muß als<br />

großer Erfolg in der Sache angesehen<br />

werden. Die Absicht der USA – aber<br />

natürlich auch zahlreicher Wirtschaftministrien<br />

der übrigen Industrieländer – die<br />

Abkommen der WTO über Umwelt-, Gesundheits-<br />

und Verbraucherschutzabkommen<br />

zu stellen und sie gegen vorsorgliche<br />

Politik abzuschotten, konnten sich in<br />

Montreal nicht durchsetzen. Inwiefern die<br />

formale Gleichstellung des Protokolls mit<br />

den WTO-Abkommen im Falle einer Importeinschränkung<br />

und anschließenden<br />

Klage vor dem WTO-Gerichtshof tatsäch-<br />

lich Bestand hat, bleibt abzuwarten. Denn es bleibt unbestritten, daß die WTO mit ihrer eingebauten<br />

Gerichtsbarkeit, die millionenschwere Strafen aussprechen kann, strukturell erheblich stärker<br />

ist als die Abkommen aus den Rio-Verhandlungen, die Verstöße gegen ihre Vorgaben nicht gerichtlich<br />

ahnden können.


Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />

3.3 Berücksichtigung der Agrarmassengüter<br />

Im Laufe der Biosafety-Verhandlungen wurde eine ganz neue Kategorie von GVO geschaffen: der<br />

LMO-FFP (living modified organism for food, feed or processing). Damit wurde ganz bewußt eine<br />

Unterscheidung zwischen GVO als Saatgut sowie Nahrungs- und Futtermittel hergestellt. Im Laufe<br />

der letzten 1,5 Jahre traten die internationalen Agrarhändler mit großem Einsatz in die Verhandlungen<br />

ein. Sie traten für einen Ausschluß von GVO für Nahrungs- und Futterzwecke aus dem Protokoll<br />

ein. Diese Position ließ sich nicht durchsetzen. Die Unterhändler aus den Entwicklungsländern<br />

sowie der EU konnten ihre gemeinsame Position – LMO-FFP hinein ins Protokoll – festschreiben.<br />

Die Forderung der Entwicklungsländer nach Einbeziehung dieser GVO in das AIA und<br />

die Risikoanalyse wurde von den Industriestaaten abgelehnt. Die Argumentation der Länder des<br />

Südens, daß z.B. in Notsituationen GVO für Nahrungszwecke vermutlich auch als Saatgut benutzt<br />

werden und damit unweigerlich freigesetzt werden, stieß auf taube Ohren.<br />

Das Protokoll schließt in Artikel 7.2 die LMO-FFP vom regulären Genehmigungsverfahren aus und<br />

arbeitet in Artikel 11 ein ”AIA-light” aus. Danach sollen alle Mitglieder des Protokoll ihre nationalen<br />

Marktzulassungen und Risikoanalysen von GVO einer zentralen Informationsstelle zugänglich machen.<br />

Dieses Büro informiert nun wiederum alle anderen Mitglieder. Diese sollen sich nun einen<br />

Überblick beschaffen und im Falle, daß ihnen die Unterlagen für die Situation in ihrem Land nicht<br />

ausreichen, die Möglichkeit haben, eigene Risikountersuchungen durchzuführen. Ihnen wird das<br />

Recht zugestanden, aufgrund (noch zu schaffender) nationaler Gesetze den Import eines LMO-<br />

FFP prophylaktisch zu untersagen, über den tatsächlichen Zeitpunkt eines Importes müssen sie<br />

aber nicht unterrichtet werden. Mit dieser Regelung werden die Entwicklungsländer stark belastet -<br />

es ist ein ”Informations-Overkill” absehbar.<br />

Artikel 11.9 fordert eine Kooperation zwischen den Staaten im Hinblick auf finanzielle und technische<br />

Unterstützung beim Aufbau von Behörden und Regelwerken. Diese Maßnahmen liegen ganz<br />

auf der Linie der USA und Kanada, die schon immer Geld in die Ausbildung von Behörden in den<br />

Entwicklungsländern investiert haben – und dabei ihre eigenen Vorstellungen über ”effektive” Biosafety-Regeln<br />

gelehrt haben. Nach dem Ende der Verhandlungen ist vor allem die EU aufgerufen,<br />

Fortbildung in Sachen Biosafety nach Maßgabe des Protokolls zu finanzieren, damit ihr Verhandlungserfolg<br />

auch in der Praxis Bestand hat! Der Abschluß des Biosafety-Protokolls hat ganz nebenbei<br />

auch den Tod der unverbindlichen Biosafety-Richtlinien der UNEP eingeläutet. Der Sekretär<br />

der CBD erwähnte die Richtlinien in seinem Eingangsstatement ganz entgegen den Gepflogenheiten<br />

früherer Verhandlungen mit keinem Wort. Diese Regeln wurden 1995 durch Gentechnik-<br />

Experten vor allem der Industriestaaten erarbeitet und verzichten z.B. auf die Erwähnung des Vorsorgeprinzipes.<br />

Es ist zu hoffen, daß nun kein Geld mehr in breit angelegte Kampagnen gesteckt<br />

wird, diese UNEP-Richtlinien zu propagieren, die in ihren politische Absichten dem völkerrechtlich<br />

verbindlichen Biosafety-Protkoll widersprechen.<br />

3.3.1 Kennzeichnung und Trennung von Agrarmassengütern<br />

Kurz vor Mitternacht in der Schlußphase startete Argentinien im Namen der Miami-Gruppe seinen<br />

letzten Versuch, die Verhandlungen platzen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen Entwicklungsländern<br />

spielte es die ”arme-Länder-Karte” aus und behauptete, daß ihm weder Finanzen<br />

noch Personal zur Verfügung ständen, die Regeln aus Artikel 18 über die verbindliche Deklaration<br />

von GVO für Nahrungs- und Futterzwecke erfüllen zu können. Die Delegation verlangte eine fünfjährige<br />

Übergangsfrist – eine zweijährige Frist wurde schließlich zugestanden. In dieser Zeit müssen<br />

klare Regeln erarbeitet werden. Damit stand der Kompromiß, ein Protokoll schien in greifbarer<br />

Nähe! Diese Lösung wurde durch die nächste Forderung unterwandert: die eindeutige Kennzeichnungsregelung<br />

müsse ersetzt werden durch die Möglichkeit, LMO-FFP mit ”kann GVO enthalten”<br />

zu deklarieren. Damit entfällt der Zwang zur Trennung von transgenem und nichttransgenem Erntegut.<br />

Durch die Zustimmung zu dieser Klausel durch – ironischerweise - die Gruppe der Entwicklungsländer<br />

konnte der Text verabschiedet werden. Das Nachgeben wurde durch die Tatsache erleichtert,<br />

daß die großen Abnehmer von GVO – die EU und Japan – schon eigene Gesetze besitzen,<br />

die eine eindeutige Kennzeichnung vorschreiben und daß die großen Handelsunternehmen<br />

inzwischen Systeme zur Trennung der Ernten ausarbeiten. Im Bereich Kennzeichnung und Trennung<br />

ist ein internationaler Vertrag noch am ehesten verzichtbar, hier können Verbraucher durch<br />

ihre Marktmacht regulierend eingreifen!


3. Ansatz zur Konfliktlösung


Horst Freiberg<br />

Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />

Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über<br />

die biologische Vielfalt.<br />

1. Aufgaben und Entwicklung des CHM<br />

Für die „Förderung der wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit” sowie die Vermittlung<br />

und den Zugriff auf Informationen und Daten, die mit der Umsetzung der Ziele des Übereinkommens<br />

über die biologische Vielfalt (ÜBV) (Convention on Biological Diversity - CBD) und<br />

der Beschlüsse seiner Vertragsstaatenkonferenzen zusammenhängen, haben sich die Vertragsstaaten<br />

den Clearing-House Mechanismus (CHM) in Artikel 18(3) des Übereinkommens geschaffen.<br />

Der CHM ist damit die zentrale Informations- und Kommunikationsdrehscheibe des Übereinkommens<br />

über die biologische Vielfalt. Der CHM soll dezentral, schrittweise und in unmittelbarer<br />

Anlehnung an den Bedürfnissen seiner Nutzer und den anfallenden Erfahrungen entwickelt werden.<br />

In ihrer 1.Vertragsstaatenkonferenz (VSK) sollten die Vertragsstaaten festlegen, wie ein CHM<br />

zur Förderung der wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit eingerichtet werden soll.<br />

Die 1.VSK 1994 auf den Bahamas hat demzufolge entschieden den CHM einzurichten. Alle Aktivitäten<br />

des CHM sollten vom Haushaltsbudget des Sekretariats und von freiwilligen Zahlungen der<br />

Vertragsstaaten abgedeckt werden. Die 2.VSK 1995 in Jakarta, Indonesien forderte, daß der CHM<br />

neben dem Internet auch noch andere Formen der Informationsvermittlung nutzen sollte. Die<br />

3.VSK 1996 in Buenos Aires, Argentinien entschied, daß die 3-jährige Pilot-Phase des CHM im<br />

Dezember 1998 enden sollte. Die 4.VSK 1998 in Bratislava, Slowakien rief nochmals alle Vertragsstaaten<br />

auf, ausreichend finanzielle Unterstützung für den Aufbau und die Entwicklung des<br />

CHM bereit zu stellen, einschließlich für nationale, regionale und sub-regionale Aktivitäten.<br />

Mit dem CHM sind grundsätzlich drei Ziele verbunden, von denen alle drei wichtig für die Erreichung<br />

der Ziele des ÜBV sind:<br />

• Zusammenarbeit - die Förderung und die Erleichterung von wissenschaftlicher und technischer<br />

Zusammenarbeit,<br />

• Informationsaustausch - die Entwicklung eines weltweiten Systems zum Austausch und zur Integration<br />

von Informationen über die biologische Vielfalt,Aufbau des CHM-Netzwerks - der<br />

Aufbau der nationalen CHM Kontaktstellen und ihrer Partner<br />

Evolution: vom „Clearing-House“ zur „Informations- und Kommunikationsdrehscheibe“<br />

In der mehrsprachigen Übersetzung des CBD-Textes wird in Artikel 18(3) vom „Clearing-House<br />

Mechanismus“(E), „Centre d´Échange“(F) und vom „Vermittlungsmechanismus“(D) gesprochen.<br />

Die originäre Bedeutung des Wortes Clearing-House ist der englischen Bedeutung der Clearing-<br />

Stelle, einer früher im Bankwesen mit der Verrechnung von Gut- und Lastschriften beauftragten<br />

Einrichtung, entlehnt. Einige Länder sehen gerne den CHM in der Rolle eines Maklers, der Angebot<br />

und Nachfrage in Verbindung zu bringen versucht. Die Mehrheit der Länder lehnen jedoch diese<br />

Makler-Rolle („brokerage-function“) ab und befürworten, daß der CHM transparent und dezentral<br />

organisiert wird, auf Meta-Datenebene funktioniert und nur auf öffentlich verfügbare Informationen<br />

verweist. Auf der 2. Vertragsstaatenkonferenz der CBD im November 1995 wurde beschlossen,<br />

den „Clearing-House“ daher nicht zum Brokerinstrument, sondern zur „Informationsdrehscheibe“<br />

für das Übereinkommen zu entwickeln. Zu Beginn der Verhandlungsrunden sah man die<br />

Aufgabe des Clearing-House in der Förderung des Technologie-Transfers mit einem eigens eingerichteten<br />

Finanzierungs-Fonds. Erst Anfang 1992 - kurz vor dem Abschluß der Verhandlungen -<br />

einigte man sich auf die Förderung der technischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit als<br />

die eigentliche Aufgabe des CHM und fand letztlich im Artikel 18 („<strong>Technische</strong> und wissenschaftliche<br />

Zusammenarbeit“) den geeigneten Platz für die Beschreibung seiner Aufgaben.


Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />

2. Deutschland und der CHM<br />

Von Seiten der Bundesregierung, vertreten durch das Bundesumweltministerium<br />

(BMU) wird dieser Entwicklungsprozeß des CHM seit der 2.VSK im Rahmen eines<br />

Forschungs- und Entwicklungsvorhabens (F&E), für das das IGR der ZADI<br />

Auftragnehmer ist, mit fachlicher Betreuung durch das Bundesamt für Naturschutz<br />

(BfN) aktiv unterstützt. Über dieses F&E-Vorhaben wurden bisher mehrere international<br />

anerkannte Beiträge geleistet, u.a.: die Entwicklung eines CHM-Logos, das heute weltweit den<br />

CHM visualisiert.<br />

Das Logo enthält drei Elemente:<br />

1. Die drei grünen Blätter der Konvention der biologischen Vielfalt<br />

2. Zwei ineinandergreifende rote Pfeile, die den globalen Informationsaustausch symbolisieren,<br />

und<br />

3. Die blaue Weltkugel mit den am CHM beteiligten Vertragsstaaten.<br />

Anforderungen an den CHM<br />

Auf der 4. Vertragsstaatenkonferenz (VSK) in Bratislava, im Mai 1998 wurden weitere Anforderungen<br />

an den CHM formuliert, die besonders die Bereiche:<br />

• Technologietransfer und Capacity Building<br />

• „decision support function” für die Vertragsstaaten u.a. im Bereich des “continuing reporting”<br />

(also der nationalen Berichtspflichetn) und der Trendbeobachtung zur Veränderung der biologischen<br />

Vielfalt<br />

• Einbindung des Privat-Sektors<br />

• der Entwicklung des CHM zum Informationsinstrument für alle biodiversitätsrelevanten<br />

Konventionen (u.a. CMS, CITES, Ramsar)<br />

• der Entwicklung von „interaktiven” Nutzungsmöglichkeiten und<br />

• Nutzung des CHM als Instrument der Bewußtseinsbildung bei der Bevölkerung für die Ziele der<br />

Konvention.<br />

betreffen.<br />

Dies erfordert von allen Vertragsstaaten Anstrengungen, ganz gezielt konkrete Beispiele aus ihrer<br />

nationalen Arbeit zur Umsetzung der Beschlüsse der VSK sowohl zu den einzelnen Artikeln, den<br />

wichtigen Themen und den übergeordneten Zielen der Konvention vorzulegen. Diese werden dann<br />

über den CHM allen Staaten verfügbar gemacht.<br />

Die 3 Informationssäulen der deutschen CHM Homepage<br />

Die Homepage des deutschen CHM http://www.biodiv-chm.de (Abb. 1) soll dem Nutzer möglichst<br />

einen für ihn „intuitiven“ Zugang zu den vorhandenen Informationsquellen der biologischen


Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />

Vielfalt in Deutschland, aber auch weltweit, gestatten (Abb. 1). Die deutsche Homepage ist zweisprachig<br />

aufgebaut. Die Originalstartseite ist deutschsprachig mit einem Hinweis auf die englischsprachige<br />

Kopie.<br />

Die zentralen Informationsfelder der Startseite sind in die drei Säulen:<br />

• Informationsdienste<br />

• Die Konvention<br />

• Dialog & Kooperation<br />

aufgeteilt.<br />

Sie werden für die künftige Entwicklung des CHM als richtungsweisend betrachtet. Ein wichtiger<br />

Eckpfeiler zur aktiveren Ausgestaltung des CHM-Angebotes eröffnet die konzeptionelle Einbindung<br />

der sogenannten Aarhus Konvention. Diese Konvention verfolgt das Ziel, die Öffentlichkeit unmittelbarer<br />

an umweltbezogenen Entscheidungsprozessen sowohl auf nationaler und europäischer<br />

Ebene teilhaben zu lassen. Der deutsche CHM hat hier einen Vorschlag erarbeitet, der über die<br />

von dem Übereinkommen und seinen Gremien behandelten „Themen“, jedem Interessierten die<br />

Möglichkeit bietet, sich direkt über<br />

(i) den derzeitigen Diskussionsstand,<br />

(ii) das Sitzungs- und das Beschlußdokument zum Thema sowie<br />

(iii) die Schlußfolgerungen nach Abschluß der Verhandlungen über dieses Thema zeitnah<br />

zu informieren. Weiterführende Informationsquellen vertiefen den themenbezogenen<br />

Wissensraum.<br />

Zentrale Serviceangebote im deutschen CHM:<br />

Die VSK-Entscheidungsdokumentendatenbank<br />

Zur nutzerfreundlichen Recherche in den 80 bisherigen Vertragsstaatenbeschlüssen wurde eine<br />

Volltext-Datenbank mit den entsprechenden englischsprachigen Originaldokumenten aufgebaut.<br />

Die Datenbank erlaubt die Suche in den entsprechenden VSK-Beschlüssen:<br />

im Freitext<br />

nach festen Stichworten (Artikelname und Thema)<br />

nach Gesamt-Vertragsstaatenbeschlüssen, und<br />

nach alphabetischer Suchabfrage.<br />

Die alphabetische Suchabfrage erlaubt dem Nutzer, jedes beliebige Wort aus allen 80 Entscheidungen<br />

per Mausklick aus einer alphabetischen Wortliste auszuwählen. Durch Mausklick auf eines<br />

der Worte werden alle Dokumente aufgelistet, in denen dieses Wort gefunden wurde. Mit Hilfe eines<br />

kleinen “blauen” Navigationspfeiles, springt der Nutzer zielgenau auf die Textstelle im Dokument,<br />

an der das gesuchte Wort steht.<br />

Der on-line Veranstaltungskalender zur Biodiversität in Deutschland<br />

Auf Anregung der deutschen CHM-Arbeitsgruppe wurde ein Veranstaltungskalender zur biologischen<br />

Vielfalt mit Terminen aus dem deutschsprachigen Raum in das Informationsangebot des<br />

deutschen CHM aufgenommen. Nutzer des Veranstaltungskalenders können zum einen nach Veranstaltungen<br />

selbst suchen. Sie können aber auch selbst Termine und die damit verbundenen<br />

Veranstaltungen in ein elektronisches Formblatt eintragen und in den Kalender aufnehmen lassen.<br />

Die Forschungsförderdatenbank<br />

Das GMD-Forschungszentrum Informationstechnik entwickelt gemeinsam mit der <strong>Universität</strong> Bochum<br />

eine online Forschungsförderdatenbank in der alle Förderprogramme, die in Deutschland<br />

genutzt werden können, künftig abgebildet sein sollen. Für die CHM-Nutzer soll auch eine Möglichkeit<br />

entwickelt werden, diese Datenbank für Suchabfragen zu Forschungsfördermöglichkeiten<br />

im Bereich der Biologischen Vielfalt zu erschließen. Hierzu wurde in die überarbeitete Version der


Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />

Datenbank bereits der Querschnittsbegriff der “Biologischen Vielfalt” bzw “Biodiversität” aufgenommen.<br />

Bilaterale Zusammenarbeit – Förderung der wissenschaftlichen Kooperation durch den CHM<br />

Durch das Sektorvorhaben “Umsetzung der Biodiversitätskonvention” der GTZ werden zwei bilaterale<br />

TZ-Vorhaben mit Kamerun und Kolumbien zum Aufbau ihrer nationalen CHM-Sekretariate gefördert.<br />

Beide bilaterale Vorhaben sollen als aktiver und praktischer Ansatz dazu beitragen, den<br />

Bedarf, die Anforderungen und Erwartungen von Entwicklungsländern mit Mega-Biodiversität und<br />

von Hochtechnologieländern an den CHM besser zu erfassen. Damit ist beabsichtigt, diesem Informationsmechanismus<br />

auch die erwartete praktische Nutzanwendung zu verleihen. Im Mittelpunkt<br />

der Projektaktivitäten zwischen dem kolumbischen und dem deutschen CHM stehen die<br />

praktische Ausgestaltung der Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Hierfür wurde<br />

eine gemeinsame „Ideenbank für Forschungskooperationen“ eingerichtet, in der sich bereits 25<br />

deutsche und kolumbianische Wissenschaftler mit ihren Forschungsideen eingetragen haben.<br />

Zugriffsstatistik<br />

Die Zugriffe auf die deutschen CHM-Seiten liegen zwischen 4.500 und 6.500 pro Monat. Etwa 40%<br />

der Zugriffe kommen aus Deutschland, und da insbesondere aus dem Hochschulbereich und privater<br />

Web-Nutzer und etwa 40% aus dem US-amerikanischen Raum spezifiziert durch die Internetendungen<br />

ORG, COM, EDU; die weiteren 20% verteilen sich auf das europäische und außereuropäische<br />

Ausland (ohne US). Die Reihenfolge der 10 wichtigsten Nutzerländer des deutschen<br />

CHM-Internetangebotes im Monat April lautet: USA, DE, A, CH, UK, CO, NL, JP, AU und F. Die<br />

am häufigsten besuchten Web-Seiten waren: Datenbanken, deutsch-kolumbische Kooperation,<br />

Nationalbericht, Artikel & Themen sowie Gesetzestexte.<br />

4. Europa und Clearing-House Mechanismus (EC-CHM)<br />

http://biodiversity-dev.eea.eu.int/ (Abb. 2)<br />

Die Europäische Kommission ist, wie die derzeit 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union, ebenfalls<br />

Zeichnerstaat des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt. Wie die einzelnen Mitglieds-


Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />

Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />

länder auch, ist sie daher gefordert, biodiversitätsrelevante Informationen über einen eigenen CHM<br />

zugänglich zu machen. Die Kommission tut dies seit August 1999 mit Unterstützung der Europäischen<br />

Umweltagentur unter Nutzung eines hierfür eingerichteten Projektes. Im Rahmen dieses<br />

von der Generaldirektion Umwelt betreuten Projektes wird, in enger Abstimmung mit den europäischen<br />

nationalen CHM-Kontaktstellen der sogenannte „European Community Clearing-House Mechanismus<br />

– EC-CHM“ entwickelt (Abb. 2).<br />

Ziel ist es, über den EC-CHM alle relevanten Informationen zur Biodiversität aus den Verwaltungseinrichtungen<br />

der Kommission sowie den politischen Vertretungen insbesondere dem Europäischen<br />

Parlament zugänglich zu machen.<br />

5. Der deutsche CHM – Teil eines deutschen Informationssystems zur biologischen<br />

Vielfalt<br />

Der CHM ist in erster Linie ein Meta-Informationssystem. Er verweist und verbindet virtuell bestehende<br />

Informationsquellen die relevant für die biologische Vielfalt und deren Umsetzung auf nationaler<br />

aber auch internationaler Ebene sind. Über den CHM soll auch der Zugriff auf diese Informationsbestände<br />

erleichtert werden. Gerade in Deutschland entstehen umfassende Informationsräume<br />

und –systeme, die einen engen Bezug zum ÜBV und ihren Themen haben. Der CHM wird<br />

deshalb in Zukunft auch Abfragemöglichkeiten über genetische, taxonomische und naturschutzrelevante<br />

Informationen und Daten anbieten. Hier versteht sich der CHM als Teil eines deutschen Informationssystems<br />

zur biologischen Vielfalt in dem bestehende Informationssysteme wie das Informationssystem<br />

für Genetische Ressourcen (GENRES), oder auch das in Entwicklung stehende<br />

Bundesinformationsystem für Genetische Ressourcen (BIG) mit anderen sektoralen Informationsstrukturen,<br />

wie dem FloraWeb des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) virtuell verbunden werden.<br />

Eine Aufgabe in der weiteren Entwicklung des deutschen CHM wird es deshalb sein, den virtuellen<br />

Aufbau eines nationalen Informationssystems der biologischen Vielfalt weiter zu unterstützen und<br />

Synergien für die Informationsnachfrager zu nutzen. Darüber hinaus liegen die künftigen Entwicklungsarbeiten<br />

in der (i) Forschungsförderung, (ii) Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit,<br />

(iii) der Dokumentation der Umsetzung der Beschlüsse auf nationaler Ebene, (iv) der Förderung<br />

des Erfahrungsaustausches, (v) der Entwicklung von Konzepten zum „continuing reporting“<br />

und der (vi) verstärkten Nutzung des CHM zur Öffentlichkeitsarbeit.


Verzeichnis der Autoren:<br />

• Dr. Horst Freiberg, Informationszentrum für Genetische Ressourcen (IGR) der Zentralstelle<br />

für Agrardokumentation und –information (ZADI), Villichgasse 17, 53177 Bonn<br />

• Thomas Gladis, ZADI Abt. IGR, Villichgasse 17, 53177 Bonn, bzw. INK der GhK, FB 11,<br />

Steinstr. 19, 37213 Witzenhausen<br />

• Ali Hensel, Werkhof e.V., Rundeturmstraße 16, 64283 <strong>Darmstadt</strong><br />

• Gerold Kier, Botanisches Institut der <strong>Universität</strong> Bonn, Meckenheimer Allee 170, 53115 Bonn<br />

• Dr. Dietrich von Knorre, Friedrich-Schiller-<strong>Universität</strong> Jena, Biolog.-Pharm.- Fakultät, Phyletisches<br />

Museum, Vor dem Neutor 1, 07743 Jena<br />

• Dr. Hartmut Meyer, Koordinator AG Biologische Vielfalt, Forum Umwelt & Entwicklung,<br />

Kleine Wiese 6, 38116 Braunschweig<br />

• Jens Mutke, Botanisches Institut der <strong>Universität</strong> Bonn, Meckenheimer Allee 170, 53115 Bonn<br />

• Prof. Dr. Jürgen Pohlan, Rheinische Friedrich-Wilhelms-<strong>Universität</strong> Bonn, Institut für Obst-<br />

und Gemüsebau, Abt. Tropenpflanzenbau, Auf dem Hügel 6, 53121 Bonn<br />

• Dr. Stefan Schneckenburger, Botanischer Garten der TU <strong>Darmstadt</strong>, Schnittspahnstraße 5,<br />

64287 <strong>Darmstadt</strong><br />

• Dr. Thomas Wagner, Zoologisches Forschungsinstitut und Museum Alexander König, Adenauerallee<br />

160, 53113 Bonn

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