ianus 5/2000 - IANUS - Technische Universität Darmstadt
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<strong>IANUS</strong><br />
Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit<br />
Interdisciplinary Research Group Science, Technology and Security<br />
Arbeitsbericht <strong>IANUS</strong> 5/<strong>2000</strong><br />
Working Paper<br />
M. E. Hummel, Prof. Dr. H. R. Simon, Dr. J. Scheffran (Hrsg.)<br />
3. Symposium Konfliktfeld Biodiversität<br />
<strong>IANUS</strong> - <strong>Technische</strong> <strong>Universität</strong> <strong>Darmstadt</strong> - Hochschulstraße 4a, Geb. S2/09<br />
D-64289 <strong>Darmstadt</strong>, Germany<br />
Tel.: 0 61 51/16 43 68 (Sekretariat) - Fax: 0 61 51/16 60 39<br />
Mail: <strong>ianus</strong>@hrzpub.tu-darmstadt.de - Internet: http://www.<strong>ianus</strong>.tu-darmstadt.de
Vorwort der Herausgeber<br />
Der vorliegende <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht dokumentiert das 3. <strong>IANUS</strong>-Symposium „Konfliktfeld Biodiversität“,<br />
das am 17. und 18. Februar <strong>2000</strong> in <strong>Darmstadt</strong> stattfand. Wie die vorangegangenen<br />
Symposien in den Jahren 1998 und 1999 ging es dabei sowohl darum, einen Überblick über aktuelle<br />
Fragestellungen der Biodiversitätsforschung zu gewinnen, als auch um die Auseinandersetzung<br />
mit ausgewählten Konfliktbereichen. Was die aktuellen Fragestellungen der Biodiversitätsforschung<br />
angeht, widmete sich das 3. <strong>IANUS</strong>-Symposium „Konfliktfeld Biodiversität“ überwiegend<br />
aktuellen Forschungsfragen in der Biologie. Gerold Kier und Jens Mutke vom Institut für Botanik<br />
der <strong>Universität</strong> Bonn berichteten von ihren Bemühungen zur Kartierung der biologischen Vielfalt<br />
der Erde. Thomas Wagner vom Forschungsinstitut und Museum Alexander König in Bonn vermittelte<br />
einen Eindruck zeitgemäßer biologischer Feldforschung zur Bestimmung der Artenzahlen<br />
baumbewohnender Insekten (Arthropoden) im tropischen Afrika.<br />
Die behandelten Konfliktfelder um biologische Vielfalt betrafen die Themenbereiche Agrobiodiversität,<br />
Ex-situ-Sammlungen und genetische Sicherheit. Im Themenbereich Agrobiodiversität steht<br />
den Zielen der Bewahrung der Diversität von Nutzpflanzensorten sowie der Entwicklung nachhaltiger<br />
Anbaumethoden im Sinne der Konvention zur biologischen Vielfalt eine industrialisierte, von<br />
modernen Life-Sciences-Unternehmen propagierte Hochertrags- und Monokultur-Landwirtschaft<br />
gegenüber. Thomas Gladis von der Zentralstelle Agrardokumentation und -information (ZADI) in<br />
Bonn sowie Jürgen Pohlan von der <strong>Universität</strong> Bonn konnten jedoch auf bemerkenswerte Beispiele<br />
des Erhalts bzw. der Gestaltung einer Vielfalt bewahrenden landwirtschaftlichen Kultur verweisen.<br />
Ali Hensel vom Werkhof <strong>Darmstadt</strong> e.V. verdeutlichte aber in einem Kurzreferat, wie leichtfertig<br />
Ansätze nachhaltiger Landwirtschaft in Entwicklungsländern durch bedeutende Abnehmerländer<br />
der Agrarprodukte aufs Spiel gesetzt werden können.<br />
Ex-situ-Sammlungen stehen seit Beginn der Verhandlungen der Konvention zur biologischen Vielfalt<br />
in einem besonderen Spannungsfeld. Es ist einerseits strittig, welche Rolle botanische Gärten<br />
und Genbanken bei der Verwirklichung der Zielsetzung des Erhalts der biologischen Vielfalt spielen<br />
können und sollen. Andererseits besteht ein großes Nutzungsinteresse an den vergleichsweise<br />
einfach verfügbaren, systematisch aufgearbeiteten und katalogisierten genetischen Ressourcen in<br />
diesen Sammlungen seitens der Biotechnologie-Industrie. Und schließlich sehen sich Ex-situ-<br />
Sammlungen der unklaren Verpflichtung zu einer gerechten Beteiligung der Herkunftsländer an<br />
den Gewinnen bei der Sammlung und Weitergabe genetischer Ressourcen gegenüber. Dieses<br />
Spannungsfeld konnte Stefan Schneckenburger von der <strong>Technische</strong>n <strong>Universität</strong> <strong>Darmstadt</strong> aus<br />
der Sicht des Leiters eines botanischen Gartens anschaulich beleuchten. Dietrich von Knorre vom<br />
Phyletischen Museum der <strong>Universität</strong> Jena machte außerdem in eindringlicher Weise auf die Vernachlässigung<br />
naturkundlicher Sammlungen aufmerksam, die zur Sicherung unseres Wissens über<br />
die biologische Vielfalt unersetzlich sind. Den damit verbundenen Schwund des Wissens bezeichnete<br />
er als 2. Biodiversitätskrise.<br />
Die Züchtung und Verbreitung lebender, gentechnisch veränderter Organismen stellt eine in ihrem<br />
Ausmaß noch nicht absehbare Bedrohung der biologischen Vielfalt dar. Die notwendige Regulierung<br />
der grenzüberschreitenden Verbringung solcher Organismen war lange Zeit Gegenstand heftiger<br />
Kontroversen im Rahmen der Konvention zur biologischen Vielfalt. Wenige Tage vor Beginn<br />
des 3. <strong>IANUS</strong>-Symposiums war es jedoch gelungen, in Montreal das sog. Cartagena-Protokoll zur<br />
genetischen Sicherheit nach jahrelangen, intensiven Verhandlungen zu verabschieden. Hartmut<br />
Meyer vom Forum Umwelt & Entwicklung und Christine von Weizsäcker von Ecoropa konnten uns<br />
daher aus erster Hand vom Konfliktbereich genetische Sicherheit, seiner erfolgreichen Regulierung<br />
und weiteren offenen Fragen berichten. Während Hartmut Meyer die Bedeutung des sog. Biosafety-Protokolls<br />
aufzeigen konnte, schilderte Christine von Weizsäcker eindrücklich die Schwierigkeiten<br />
und Problembereiche im Verlaufe des Verhandlungsprozesses zu dem Protokoll. Der Beitrag<br />
von Christine von Weizsäcker ist jedoch in dem vorliegenden <strong>IANUS</strong>-Arbeitsbericht nicht enthalten<br />
und wird erst in einer von uns für das Jahr 2001 geplanten Buchveröffentlichung zum Konfliktfeld<br />
Biodiversität erscheinen.
Zum Abschluß des Symposiums stellte Horst Freiberg, der Koordinator des deutschen Clearing-<br />
House-Mechanismus bei der ZADI in Bonn, den Clearing-House-Mechanismus der Konvention zur<br />
biologischen Vielfalt vor. Als Informations- und Kooperationssystem halten wir einen solchen Mechanismus<br />
für einen hilfreichen Ansatz, der durch die Schaffung von Transparenz für alle Verhandlungspartner<br />
zur Lösung von Konflikten im Verlaufe des Verhandlungsprozesses beitragen kann.<br />
Wie bereits erwähnt wurde, ist für das Jahr 2001 eine Buchveröffentlichung zum „Konfliktfeld Biodiversität“<br />
geplant, die inhaltlich alle 3 <strong>IANUS</strong>-Symposien zu diesem Thema aufarbeiten soll. Dieses<br />
Buch soll in der Reihe „Darmstädter interdisziplinäre Studien“ im Agenda-Verlag erscheinen.<br />
<strong>Darmstadt</strong>, im November <strong>2000</strong><br />
Matthias E. Hummel<br />
Jürgen Scheffran<br />
Hans-Reiner Simon
Matthias E. Hummel, Hans-Reiner Simon, Jürgen Scheffran (Hrsg.)<br />
3. Symposium Konfliktfeld Biodiversität<br />
1. Die biologische Vielfalt der Erde:<br />
Stand und Probleme der aktuellen Forschung<br />
Gerold Kier:<br />
Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus<br />
und Artenreichtum<br />
Jens Mutke:<br />
Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt – das Beispiel der<br />
Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Thomas Wagner:<br />
Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas - Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit<br />
von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
2. Ausgewählte Konfliktbereiche<br />
2.1 Agrobiodiversität<br />
Thomas Gladis:<br />
Agrobiodiversität – Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
Jürgen Pohlan:<br />
Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale<br />
und biodiversitive Armut - Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Ali Hensel:<br />
Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
2.2 Ex-Situ-Sammlungen<br />
Stefan Schneckenburger:<br />
Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Dietrich v. Knorre:<br />
Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher<br />
Sammlungen<br />
Hartmut Meyer:<br />
Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
2.3 Genetische Sicherheit<br />
3. Ansatz zur Konfliktlösung<br />
Horst Freiberg:<br />
Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als Informations- und<br />
Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt<br />
Verzeichnis der Autoren
1. Die biologische Vielfalt der Erde:<br />
Stand und Probleme der aktuellen Forschung
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
Gerold Kier<br />
Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die<br />
räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
Einleitung<br />
Der Erhalt der globalen Biodiversität - der Vielfalt des Lebens auf der Erde - gehört angesichts des<br />
rasanten Konsum- und Bevölkerungswachstums zu den großen Herausforderungen der heutigen<br />
Zeit. Bedingt durch konkurrierende Landnutzungsansprüche und begrenzte finanzielle Ressourcen,<br />
aber auch durch die ungleiche räumliche Verteilung biologischer Vielfalt, konzentrieren sich<br />
Schutzmaßnahmen oft auf bestimmte, als besonders wertvoll eingestufte räumliche Einheiten.<br />
Zur Bemessung des biologischen Werts eines Gebiets lassen sich viele Qualitätskriterien heranziehen<br />
(vgl. u.a. Usher 1986, Barthlott et al. 1999). Zweien von ihnen wird jedoch in der Regel besondere<br />
Aufmerksamkeit zuteil: dem Anteil an endemischen (d.h. in ihrem Vorkommen auf ein bestimmtes<br />
Gebiet beschränkten) Arten und dem Artenreichtum (d.h. der Anzahl der dort vorkommenden<br />
Arten).<br />
Artenreichtum, Endemismus und andere Parameter von Ökosystemen unterliegen einem ständigen<br />
Wandel, der sowohl natürlich als auch durch menschliche Aktivitäten verursacht sein kann.<br />
Der menschliche Einfluß hat inzwischen ein erhebliches Ausmaß erreicht, das nicht zuletzt auch<br />
durch die spätestens seit Anfang des 20. Jahrhunderts zunehmend regionen-, länder- und kontinentübergreifenden<br />
Verkehrs- und Transportwege - kurz: durch die wachsende Globalisierung -<br />
schlagartig zugenommen hat.<br />
Doch wie haben sich hierdurch Vielfalt, insbesondere Artenreichtum, und Endemismus sowie im<br />
Allgemeinen der biologische Wert verschiedener räumlicher Einheiten aus globaler Sicht verändert?<br />
Im Folgenden soll diese Frage näher untersucht, zunächst aber Maße der Vielfalt, des Endemismus<br />
und des Beitrags von Gebieten zur globalen Vielfalt vorgestellt werden.<br />
Vielfalt und Artenreichtum<br />
Inventarisierungen der Flora oder Fauna eines Gebiets beinhalten stets die Untersuchung von Individuen,<br />
welche dann - soweit identifizierbar - Arten zugeordnet werden (andere taxonomische<br />
Niveaus werden hier der Einfachheit halber nicht angesprochen, spielen bei der primären Erfassung<br />
aber auch meist eine geringere Rolle als das Artniveau). Je nach Intensität und Zielsetzung<br />
der Erhebung kann hierbei das bloße Vorkommen einer Art oder aber - weitaus aufwendiger - die<br />
Biomasse oder Anzahl der Individuen (Abundanz) der Art erfaßt werden.<br />
Demzufolge stützen sich Maße der Vielfalt meist auf die Anzahl der Arten sowie gelegentlich auch<br />
zusätzlich auf die Verteilung der Individuen auf die Arten. Da sich die meisten Angaben jedoch,<br />
insbesondere bei großräumigen Erhebungen, auf das Vorkommen einzelner Arten beschränken,<br />
ist der Artenreichtum mit Abstand die meistverwendete Maßzahl für biologische Vielfalt.<br />
Hierbei ist zu beachten, daß er - ähnlich wie viele andere Merkmale - in hohem Grad vom räumlichen<br />
Maßstab abhängig ist. Auf einem Hektar im Tieflandregenwald Cuyabenos (Ecuador) finden<br />
sich beispielsweise über 800 Gefäßpflanzenarten (Valencia et al. 1994), während in einem 420mal<br />
so großen Bergregenwald-Schutzgebiet nur etwa 600 Gefäßpflanzenarten nachgewiesen werden<br />
konnten (Jens Mutke, pers. Mitt.). Auf großräumigem Maßstab fällt dieser Vergleich - bedingt durch<br />
die hohe Geodiversität, d.h. Vielfalt abiotischer Faktoren, in dieser Gegend - jedoch umgekehrt<br />
aus: in den ecuadorianischen Anden oberhalb 1000 m ü. NN wurden in einem Gebiet von ca.<br />
94 000 km² Größe bisher 9865 Gefäßpflanzenarten gefunden - mehr als doppelt so viele wie für<br />
das mit 71 100 km² nur etwas kleinere ecuadorianische Amazonastiefland (Oriente) nachgewiesen<br />
wurden (Jørgensen & León-Yánez 1999).<br />
Endemismus<br />
Der prozentuale Anteil der in ihrem Vorkommen auf ein Gebiet beschränkten Arten wird oft als<br />
Maß für den Endemismus verwendet. Dieser Index hat jedoch zwei Nachteile, die eng miteinander<br />
verknüpft sind. Zum einen enthält er keine Informationen über solche Arten, die auch außerhalb
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
des Gebiets vorkommen, und zweitens berücksichtigt er nicht die Flächengröße des betrachteten<br />
Gebiets.<br />
Letzterer Nachteil kann durch Verwendung des Bykov-Index (Bykov 1979, 1983) vermieden werden<br />
(für eine ausführliche Diskussion siehe Major 1988). Beide Nachteile können mit einer Methode<br />
vermieden werden, für deren Anwendung Rasterverbreitungskarten aller zu berücksichtigenden<br />
Arten vorliegen müssen. Hierbei wird zunächst für jede Art der Kehrwert der Arealgröße, d.h. der<br />
Anzahl der belegten Rasterfelder, berechnet (Usher 1986). Diese „inverse Arealgröße“ ist folglich<br />
um so größer, je kleiner das Verbreitungsgebiet, d.h. je „endemischer“ die Art ist. Für jedes Rasterfeld<br />
kann anschließend für alle darin vorkommenden Arten der Mittelwert der inversen Arealgrößen<br />
berechnet werden (Williams et al. 1996). Die hierbei entstehende Maßzahl für den Endemismus<br />
begegnet den beiden oben genannten Nachteilen der prozentualen Endemismuswerte, indem sie<br />
sich auf eine standardisierte Fläche (die Rasterfeldgröße) bezieht und alle vorkommenden Arten<br />
berücksichtigt.<br />
Anstatt den Mittelwert der inversen Arealgröße in jedem Rasterfeld kann man auch ihre Summe<br />
berechnen (Williams 1993). Der hierbei entstehende Index reflektiert sowohl den Artenreichtum als<br />
auch den Endemismus und kann folglich als Maß für den „Endemismus-Reichtum“ bezeichnet<br />
werden.<br />
Die oben beschriebene Methode der Berechnung inverser Arealgrößen und folglich auch des Endemismus-Reichtums<br />
setzt voraus, daß Rasterverbreitungskarten für alle relevanten Arten vorhanden<br />
sind. Die im Folgenden beschriebene Methode erlaubt eine Abschätzung dieser Werte in<br />
vielen Fällen, in denen eine solch ausführliche Datenbasis nicht vorliegt (für eine detaillierte Darstellung<br />
vgl. Kier & Barthlott, in Vorb.). Der Ausgangspunkt hierfür ist die Frage: Wie groß ist der<br />
Beitrag eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt?<br />
Beitrag zur globalen Artenvielfalt<br />
Man denke sich zwei Gebiete A und B mit jeweils genau 2 Arten, die beide jeweils endemisch für A<br />
bzw. B sind. Von beiden Gebieten kann gesagt werden, daß sie den gleichen Beitrag zur globalen<br />
Artenvielfalt leisten (im Folgenden vereinfacht als Beitrag oder C-Wert bezeichnet, von engl.<br />
contribution). Diese Aussage geht von der Überlegung aus, daß ein Gebiet einen Beitrag zur globalen<br />
Artenvielfalt leistet, indem es Arten einen Lebensraum zur Verfügung stellt. Jede Art wird<br />
folglich den Gebieten „gutgeschrieben“, in denen sie vorkommt, jedoch nur mit dem Anteil ihres<br />
Gesamtareals, der auf dieses Gebiet entfällt. Im oben genannten, sehr einfachen Beispiel beträgt<br />
der Beitrag (C-Wert) beider Gebiete demnach jeweils 2.<br />
Etwas aufwendiger wird die Rechnung für ein weiteres Gebiet (X). Von seinen zwei Arten ist eine<br />
endemisch. Die zweite kommt ansonsten nur noch in einem Gebiet Y vor, das die gleiche Fläche<br />
wie X hat. Art 2 hat also 50 % ihres Gesamtareals im Gebiet X und ergibt für dieses Gebiet folglich<br />
einen Beitrag von 0,5. Zuzüglich der einen endemischen Art beträgt der gesamte Beitrag von Gebiet<br />
X demnach 1,5.<br />
Die C-Werte einzelner Arten lassen sich folglich zum Gesamt-C-Wert addieren. Für ein Gebiet mit<br />
n Arten gilt demnach:<br />
C = C1 + C2 + ... + Cn<br />
(1)<br />
wobei der C-Wert einer Art i in einem Gebiet dem Quotient aus der internen Arealgröße Ii (d.h. der<br />
Arealgröße der Art in diesem Gebiet) und der Gesamtarealgröße Gi entspricht:<br />
Ii<br />
C = (2)<br />
i<br />
Gi<br />
Faßt man (1) und (2) zusammen, so ergibt sich für den Beitrag eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt<br />
n<br />
Ii<br />
C = ∑ (3)<br />
i = 1 Gi<br />
Wendet man diese Gleichung auf einen aus Rasterverbreitungskarten bestehenden Datensatz an<br />
und berechnet die C-Werte für jedes der Rasterfelder, mit denen die Artverbreitung erfaßt wurde,<br />
dann ergibt sich folgender Zusammenhang. Da Flächengrößen in diesem Fall naheliegenderweise<br />
als die Anzahl belegter Rasterfelder gemessen werden, ist die interne Arealgröße Ii einer Art in einem<br />
Rasterfeld gleich 1 und die globale Arealgröße gleich der gesamten Anzahl der von der Art<br />
belegten Rasterfelder:
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
C =<br />
n<br />
∑<br />
i= i G 1<br />
1 (4)<br />
In diesem Fall entspricht der C-Wert folglich der bereits oben erwähnten Summe der inversen Arealgrößen<br />
nach Williams et al. (1993).<br />
Bei der Berechnung des C-Werts wird die Fläche des entsprechenden Gebiets nicht berücksichtigt.<br />
Für den Vergleich verschiedener Gebiete kann es jedoch wichtig sein, daß sich der C-Wert auf eine<br />
einheitliche Flächengröße (d.h. eine Standardfläche) bezieht. Berechnet man die C-Werte für<br />
gleich große Rasterfelder, so beziehen sie sich automatisch auf eine Standardfläche, nämlich die<br />
Rasterfeldgröße. Berechnet man sie jedoch für unterschiedlich große Gebiete, muß für die Umrechnung<br />
auf eine Standardfläche die - im Folgenden erläuterte - mathematische Beziehung zwischen<br />
C-Werten und Flächengröße bekannt sein.<br />
Untergliedert man ein Gebiet in mehrere Teilgebiete, dann entspricht sein C-Wert der Summe der<br />
C-Werte dieser Teilgebiete. Dies ist darin begründet, daß zum einen die Gesamtarealgröße Gi<br />
auch bei der Betrachtung von Teilgebieten für jede Art gleich bleibt und daß zum anderen die von<br />
einer Art im Untersuchungsgebiet eingenommene Fläche gleich der Summe der von dieser Art in<br />
allen Teilgebieten eingenommenen Fläche sein muß. Folglich ergibt die lineare Umrechnung des<br />
C-Werts im arithmetischen Mittel den C-Wert einer Teilfläche. Der dabei entstehende flächenspezifische<br />
C-Wert, im Folgenden als Cs-Wert bezeichnet, berechnet sich demnach als<br />
C<br />
Cs = (5)<br />
A<br />
oder, gemäß Gleichung (3),<br />
n Ii<br />
∑<br />
i= Gi<br />
Cs = 1<br />
(6)<br />
A<br />
wobei A die Größe des Gebiets symbolisiert, für das der C-Wert berechnet wurde.<br />
Da der Cs-Wert im gleichen Maß wie die Summe der inversen Arealgrößen sowohl Endemismus<br />
als auch Artenreichtum reflektiert, kann er ebenfalls als Maß für den Endemismus-Reichtum bezeichnet<br />
werden.<br />
Zur Veranschaulichung sei im Folgenden ein Vergleich mit den Gesetzen der Physik genannt. Gibt<br />
man jeder Art das gleiche Gewicht, das sich gleichmäßig über ihr Verbreitungsgebiet verteilt, dann<br />
erzeugt jede Art einen unterschiedlichen „Druck“ auf ihr Areal: bei kleinräumig verbreiteten Arten<br />
ist er höher, da sich hier das Gewicht auf eine kleinere Fläche verteilt. Summiert man diese Gewichtsanteile<br />
nun für alle Arten, so entspricht das auf einem Gebiet lastende Gesamtgewicht dem<br />
C-Wert, während der auf einem Gebiet lastende Druck (= Gewichtskraft pro Flächeneinheit) dem<br />
Cs-Wert (Endemismus-Reichtum) gleichzusetzen ist.<br />
Exakte Werte des Endemismus-Reichtums zu berechnen, kann in der Praxis, insbesondere bei<br />
großen Untersuchungsgebieten und großen taxonomischen Gruppen, sehr schwierig sein, da meistens<br />
nicht die Gesamtareale aller Arten bekannt sind. Er kann jedoch abgeschätzt werden, wenn<br />
die Flora oder Fauna des Untersuchungsgebiets nach ihrem Verbreitungsspektrum in Gruppen<br />
eingeteilt wird. Die Einteilung erfolgt zu diesem Zweck in sogenannte chorologische Gruppen, d.h.<br />
Gruppen von Arten, die ein mehr oder weniger ähnliches Verbreitungsgebiet haben.<br />
Mit Hilfe dieses Verfahrens wurde eine Karte des Endemismus-Reichtums der Samenpflanzen Afrikas<br />
erstellt. Es wurde jeweils ein Wert für jede der 20 von White (1983) definierten Regionen berechnet,<br />
der als Durchschnittswert für die jeweilige Region zu verstehen ist und aus Gründen der<br />
schlechten Datenlage nicht weiter räumlich differenziert werden konnte. Im Folgenden ist beispielhaft<br />
die Berechnung für die mediterrane Zone Nordafrikas genannt.<br />
Die 4000 in dieser Region vorkommenden Arten wurden von White (1983) in sechs chorologische<br />
Gruppen unterteilt. Gemäß folgender Rechnung kann man nun zunächst einen C-Wert (C1 bis C6)<br />
für jede dieser sechs Gruppen berechnen, diese dann aufsummieren und den somit resultierenden<br />
Gesamt-C-Wert der Region anschließend auf eine Standardfläche umrechnen:<br />
1.) 800 Arten sind für diese Region endemisch, entfallen folglich mit ihrem vollen Gewicht hierauf<br />
(=> C1 = 800).<br />
2.) Die mediterrane Zone Nordafrikas bedeckt ca. 14,2 % der Fläche des gesamten Mittelmeergebiets<br />
(inklusive des europäischen und asiatischen Teils). Hierauf basierend wurde geschätzt, daß
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
die 2100 für das gesamte Mittelmeergebiet endemischen Arten (die 800 oben genannten Arten<br />
sind hier nicht enthalten) ungefähr 14,2 % ihres Verbreitungsgebiets in der mediterranen Zone<br />
Nordafrikas haben (=> C2 = 2100 x 14,2 % = 297,4).<br />
3.) Führt man diese Rechnung für alle Gruppen weiter und schätzt jeweils ab, welchen Anteil ihres<br />
Verbreitungsgebiets die Arten in der mediterranen Region Nordafrikas haben, so ergibt sich in der<br />
Summe ein C-Wert von ca. 1120 (vgl. Tab. 1).<br />
4.) Teilt man diesen C-Wert durch die Flächengröße der Region, so erhält man für den Endemismus-Reichtum<br />
einen Wert von rund 34 pro 10 000 km².<br />
Die Ergebnisse dieser Berechnungen für alle 20 Regionen Afrikas sind in Abb. 1 dargestellt. Die<br />
Daten wurden White (1983) und Davis et al. (1994) entnommen und wurden, soweit erforderlich,<br />
durch eigene Schätzungen ergänzt.<br />
Tab. 1: Berechnung des Endemismus-Reichtums der Samenpflanzen der mediterranen Zone Nordafrikas<br />
(Abgrenzung nach White 1983) als Beispiel für die Berechnung von Endemismus-Reichtum auf der Basis<br />
chorologischer Gruppen. Daten aus White (1983), ergänzt durch eigene Schätzungen. Nach Kier & Barthlott<br />
(in Druck).<br />
Chorologische Gruppe Anzahl der Arten Ii / Gi Ci<br />
Endemische Arten 800 1,000 800,0<br />
Mediterrane Endemiten 2100 0,142 297,4<br />
Boreale Arten 800 0,016 13,0<br />
Saharische Arten 120 0,043 5,1<br />
Irano-Turanische Arten 90 0,062 5,5<br />
Kosmopoliten 60 0,010 0,6<br />
C = 1121,6<br />
A = 330 000 km 2<br />
C/A = Cs = 34 / 10 000 km 2<br />
Abb. 1: Endemismus-Reichtum (Cs-Werte) der Regionen Afrikas in der Umgrenzung von White (1983). Man<br />
beachte, daß lediglich Mittelwerte für die Regionen dargestellt sind und eine weitere räumliche Differenzierung<br />
nicht vorgenommen werden konnte.
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
Biologische Globalisierung<br />
Die Verbreitungsgebiete von Tieren und Pflanzen unterliegen einem ständigen Wandel, der in vielen<br />
Fällen natürliche Ursachen haben kann. So hat sich beispielsweise auf den Hawaii-Inseln in<br />
der Zeit vor Ankunft des Menschen im Durchschnitt etwa alle 35 000 Jahre eine Pflanzen- oder<br />
Tierart erfolgreich angesiedelt (Westbrooks 1998: 53).<br />
Schon früh hat jedoch der Mensch im Zuge allmählicher Wanderungsbewegungen und durch seine<br />
Reise- und Transporttätigkeit Arten in einem Umfang verschleppt, der die natürliche Rate um Größenordnungen<br />
übersteigt. Dies geschah und geschieht sowohl absichtlich (z.B. bei Nahrungs- und<br />
Zierpflanzen) als auch unabsichtlich (z.B. durch das versehentliche Transportieren von Samen oder<br />
anderen Ausbreitungseinheiten). In jüngster Zeit stieg der Personen- und Güterverkehr in seiner<br />
Intensität schließlich explosionsartig an und wurde in zunehmendem Maße regionen-, länder-<br />
und kontinentübergreifend, wodurch sich die Rate der Einschleppung fremder Arten ebenso dramatisch<br />
erhöhte: auf Hawaii betrug sie nach der Ankunft der Polynesier im 4. Jahrhundert noch ca.<br />
drei bis vier Arten pro Jahrhundert und erreichte während der letzten zweihundert Jahre - alleine<br />
bezüglich der Pflanzenarten und -kultivare - schließlich eine Rate von rund 40 Einschleppungen<br />
pro Jahr (Westbrooks 1998: 53).<br />
Auch wenn seit Ankunft des Menschen auf Hawaii 106 Taxa (d.h. Arten, Unterarten und Varietäten)<br />
ausgestorben sind, so hat der dortige Artenreichtum doch netto enorm zugenommen: zu den<br />
ca. 1300 heimischen Taxa haben sich mittlerweile rund 8000 eingeschleppte hinzugesellt, von denen<br />
sich bereits 861 mit fortpflanzungsaktiven Populationen fest etabliert haben (Loope 1998).<br />
Während der lokale Artenreichtum auf Hawaii zugenommen hat, ist er auf globalem Maßstab jedoch<br />
in Folge der Aussterbeereignisse zurückgegangen. Ein Weg, um diesen weltweiten Verlust<br />
auch in einer lokalen Meßgröße auszudrücken, ist die Berechnung des oben erläuterten Beitrags<br />
eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt, sowohl in seiner absoluten (C-Wert) als auch in seiner flächenspezifischen<br />
Variante (Cs-Wert). Da Karten der globalen Verbreitung aller auf Hawaii vorkommenden<br />
Arten bzw. Taxa nicht in der notwendigen Form und Vollständigkeit vorliegen, kann<br />
eine exakte Rechnung an dieser Stelle nicht erfolgen. Eine grobe Abschätzung ist jedoch möglich<br />
und soll im Folgenden auf Grund der Datenlage nicht für Arten sondern für Taxa erfolgen.<br />
Wenn man davon ausgeht, daß es sich bei den 106 ausgestorbenen Taxa weitgehend um hawaiianische<br />
Endemiten handelt, so ist der C-Wert von Hawaii durch ihr Aussterben um rund 100 gesunken<br />
(siehe Gleichungen 2 und 3). Geht man weiterhin davon aus, daß die 861 etablierten eingeführten<br />
Taxa (die nicht Etablierten sollen hier nicht berücksichtigt werden) jetzt im Durchschnitt<br />
etwa ein Zehntel ihres Gesamtareals auf Hawaii haben, so beträgt der C-Wert dieser Gruppe insgesamt<br />
rund 86. Da jedoch der C-Wert, wie oben dargelegt, durch Aussterbeereignisse um rund<br />
100 gesunken ist, ergibt sich netto ein deutlicher Rückgang des C-Werts der Hawaii-Inseln. Da es<br />
sich bei den meisten eingeschleppten Arten vermutlich um sehr weitverbreitete Arten handelt, die<br />
deutlich weniger als 10 % ihres Verbreitungsgebiets auf diesem Archipel haben, ist der C-Wert von<br />
Hawaii vermutlich noch deutlich stärker gesunken. Weiterhin ist zu berücksichtigen, daß auf Grund<br />
der Vergrößerung des Verbreitungsgebiets der eingeführten Arten die C-Werte in ihrem ursprünglichen<br />
Verbreitungsgebiet gesunken sind.<br />
Angesichts der verheerenden Schäden, die manche eingeschleppte Arten anrichten können, mag<br />
es auf den ersten Blick abwegig erscheinen, diese überhaupt als einen Bestandteil des Beitrags<br />
eines Gebiets zur globalen Artenvielfalt anzuerkennen. Denn viele von ihnen können durch ihre<br />
Konkurrenzstärke oder - bei eingeschleppten Krankheitserregern oder Tieren - durch Befall oder<br />
Fraß das Aussterben heimischer Arten verursachen. So wurden von Smith (1985) 86 der in Hawaii<br />
eingeschleppten Pflanzenarten als echte Bedrohung für die natürlichen Ökosysteme eingestuft.<br />
Dies muß sich nicht zwangsläufig und ausschließlich in der Verdrängung heimischer Arten äußern,<br />
sondern kann auch eine negative Beeinflussung von - nicht zuletzt auch für den Menschen oft sehr<br />
wertvollen - Ökosystemfunktionen zur Folge haben. Andererseits ist es in vielen Fällen auf Grund<br />
der unzureichenden Datenlage gar nicht möglich, eine Art eindeutig als heimisch oder eingeschleppt<br />
zu klassifizieren. Zudem verhält sich der größere Teil der Neuankömmlinge - zumindest<br />
vorerst - relativ unschädlich und gliedert sich sogar oftmals problemlos in das Ökosystem ein. In<br />
seltenen Fällen kann die Besiedlung des neuen Gebiets sogar essentiell für das Überleben der Art<br />
sein, wenn sie in ihrem ursprünglichen Verbreitungsgebiet ausstirbt.<br />
Letztlich kann es keinen Index geben, der alle Qualitätskriterien in objektiver Weise miteinander<br />
vereint und eine solche Vermischung ist auch in vielen Fällen für die Bewertung der in einem Ge-
Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
biet vorhandenen Biodiversität nicht hilfreich. So reflektiert der hier vorgestellte C- bzw. Cs-Wert<br />
lediglich den - hier unabhängig vom Aufenthaltsort grundsätzlich positiv und für alle Arten gleich<br />
bemessenen - Wert der Existenz einer Art und enthält weder ein Maß für den ökosystemaren Wert<br />
der vorkommenden Arten noch für die potentiellen negativen Auswirkungen, die bestimmte Arten<br />
für den C-Wert selbst oder andere Maßzahlen für Qualitätskriterien beinhalten.<br />
Fazit<br />
Artenreichtum und Endemismus sind zwei wichtige Kriterien zur Bewertung der in einem Gebiet<br />
vorhandenen Biodiversität. Beide sind, für sich betrachtet, zur Charakterisierung des Beitrags eines<br />
Gebiets zur globalen Artenvielfalt nur eingeschränkt tauglich, und erst durch ihre Zusammenfassung<br />
in einem kombinierten Index wird dies in angemessener Weise möglich.<br />
Die heute in großem Umfang stattfindende Biologische Globalisierung, d.h. die weltweite, massenhafte<br />
Verschleppung von Arten, resultiert trotz einer hierdurch oftmals ausgelösten Ausrottung<br />
heimischer Arten in einer Nettosteigerung des lokalen Artenreichtums. Weltweit führt dies jedoch<br />
zu einer erheblichen Reduzierung der Artenvielfalt, was lokal durch den Beitrag eines Gebiets zur<br />
globalen Artenvielfalt gemessen werden kann. Es kann davon ausgegangen werden, daß der Beitrag<br />
der betroffenen Gebiete zur globalen Artenvielfalt in den meisten Fällen bereits kurzfristig<br />
sinkt. Durch die oftmals erst verzögert eintretenden negativen Auswirkungen eingeschleppter Arten<br />
ist insbesondere langfristig mit einem erheblichen Rückgang dieser Werte zu rechnen. Es sind daher<br />
verstärkte Bemühungen notwendig, um das derzeitige Ausmaß der Verschleppung von Arten<br />
und ihre negativen Einflüsse auf die heimische Natur so weit wie möglich zu begrenzen.<br />
Danksagung<br />
Der Verfasser dankt Wolfgang Küper, Jens Mutke, Dan Perlman und Wilhelm Barthlott für wertvolle<br />
Anregungen zum Manuskript sowie dem Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft<br />
und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen für finanzielle Unterstützung.<br />
Literatur<br />
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Gerold Kier: Auswirkungen der biologischen Globalisierung auf die räumliche Verteilung von Endemismus und Artenreichtum<br />
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Korea University, Seoul
Jens Mutke<br />
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt –<br />
das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung biologischer Vielfalt<br />
– das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Einleitung<br />
Sowohl für biogeographische Analysen, als auch für Prioritätensetzung im Naturschutz ist die Erfassung<br />
und Analyse von räumlichen Mustern der Biodiversität eine wichtige Grundlage. In den<br />
letzten Jahren sind international verschiedene Forschungsprogramme und Projekte unter den<br />
Schlagwörtern „biodiversity mapping“ und „priority setting“ begonnen worden. Hier sind neben Arbeiten<br />
des Australischen Environmental Resource Information Network (ERIN, vgl. CHAPMAN &<br />
BUSBY 1994), sowie dem US-amerikanischen Gap Analysis Programme (Scott et al. 1993, Scott &<br />
Jennings 1998), vor allem die naturschutzorientierten Ansätze der verschiedenen internationalen<br />
NGOs (WWF, IUCN, Conservation International, BirdLife International u.a.) zu nennen.<br />
Auffallend ist dabei, daß es nur wenige Arbeiten auf kontinentalem bis globalem Maßstab gibt, die<br />
sich auf detaillierte Informationen für jede einzelne Sippe der betrachteten Organismengruppe<br />
stützen (taxonbasierte Ansätze, vgl. Barthlott et al. 1999b). Diese Herangehensweise wurde nur für<br />
gut erforschte Gruppen mit sehr überschaubaren Artenzahlen herangezogen. Beispiele sind hier<br />
die Analysen von BirdLife International zu den Endemic Bird Areas (Long et al. 1996) oder die African<br />
Mammals Database (vgl. www.gisbau.uniroma1.it/amd). Auch wenn beispielsweise mit den afrikanischen<br />
Säugetieren sicherlich für die entsprechenden Lebensräume einige wichtige Schlüsselarten<br />
erfaßt wurden, sind mit den durch die Datenbank abgedeckten 281 Arten nur 0,02 Promille<br />
(!) der geschätzten globalen Organismenvielfalt von vielleicht 14 Mio. Arten (Heywood 1995)<br />
vertreten. Durch moderne Informationstechnologie und zunehmende Digitalisierung und Vernetzung<br />
der weltweit zerstreuten Informationsquellen werden in diesem Feld zur Zeit rapide Fortschritte<br />
gemacht. Trotzdem sind wir für großräumige Analysen der Diversitätsmuster artenreicherer Organismengruppen<br />
vorläufig noch auf methodische Alternativen angewiesen.<br />
Hierfür werden schon lange summarische Daten zur Diversität kompletter Gebietseinheiten wie<br />
Länder, Provinzen, Gebirgszüge etc. genutzt (sogenannte inventarbasierte Diversitätsanalysen<br />
oder –kartierungen, vgl. Barthlott et al. 1999b). Diese Daten werden häufig ohne weitere Standardisierung<br />
der Werte tabellarisch aufgelistet (z.B. WRI 1997) oder auch direkt ohne konkreten Flächenbezug<br />
kartographisch dargestellt (z.B. WCMC 1992). Um die eingehenden Größen wie die Artenzahl<br />
vergleichbar zu machen, sollten sie jedoch flächenbezogen betrachtet werden (vgl.<br />
Barthlott et al. 1996, 1999a, Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>). Entsprechende Ansätze gehen auf die Arbeiten<br />
von Lebrun (1960) oder auch Malyshev (1975, 1991, 1993) und die Analysen zu Grundfragen<br />
der Artenzahl-Fläche-Beziehungen vor allem von Arrhenius (1920,1921) zurück. Will man diese<br />
Methodik auf kontinentalem bis globalem Maßstab anwenden, stellt sich das Problem der unterschiedlichen<br />
Datenqualität oder auch räumlicher Datenlücken (vgl. Abb. 2a). Dieses Problem ist<br />
bei inventarbasierten Ansätzen im Vergleich zu den sehr datenaufwendigen taxonbasierten Ansätzen<br />
abgeschwächt, da sich z.B. die Gesamtartenzahl eines Gebietes relativ zuverlässig abschätzen<br />
läßt, lange bevor die genauen Verbreitungsmuster aller beteiligten Sippen bekannt sind.<br />
Trotzdem bleibt vor allem für kontinentale bis globale Analysen der notwendige Schritt der Ableitung<br />
räumlich lückenloser Darstellungen der betrachteten Diversitätsgröße von den räumlich meist<br />
relativ heterogenen Rohdaten.<br />
Dieser Schritt wurde bei allen bisherigen Arbeiten (s.o.) unter Zuhilfenahme von Vegetations- und<br />
Klimakarten manuell durchgeführt. Dies hat den Vorteil, daß noch nicht mit gesicherten quantitativen<br />
Daten auszudrückende vegetationskundliche und biogeographische Kenntnisse der Bearbeiter<br />
mit in das Endergebnis eingehen können. Auf der anderen Seite sind die Ergebnisse damit nur bedingt<br />
reproduzierbar, da die Methodik nicht standardisiert und auch nur bedingt dokumentierbar ist.<br />
Auch können in diesem Schritt die unterschiedlichen geographischen Kenntnisse der Bearbeiter<br />
die Ergebnisse weiter beeinflussen.<br />
Aus diesem Grund wird derzeit im Rahmen des BIOMAPS-Projektes des Botanischen Institut der<br />
<strong>Universität</strong> Bonn in Kooperation mit der Abteilung Umweltsysteme des Deutschen Fernerkun-
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
dungsdatenzentrums daran gearbeitet, inventarbasierte Diversitätskartierungsansätze methodisch<br />
weiterzuentwickeln. Dabei geht es vor allem auch darum, den Schritt der Ableitung räumlich flächendeckender<br />
Karten der Artenvielfalt zu standardisieren und reproduzierbar zu machen. Einige<br />
dieser Analysen und Modelle sollen in diesem Artikel beispielhaft für Nordamerika demonstriert<br />
werden. Die Ergebnisse werden auch im Vergleich mit einem neuen Datensatz zum Artenreichtum<br />
der nordamerikanischen Ökoregionen (nach Ricketts et al. 1999) diskutiert.<br />
Methoden<br />
Datenbasis<br />
Grundlage der im weiteren vorgestellten Analysen ist eine Datenbasis mit Metadaten zur Biologischen<br />
Vielfalt unterschiedlichster Gebietseinheiten, deren Grundstock auf die Arbeiten von<br />
Barthlott et al. (1996) zurückgeht. Für die dort publizierte Weltkarte der Artenzahlen von Gefäßpflanzen<br />
wurden damals für Nordamerika 148 Angaben zu 98 Gebietseinheiten zusammengetragen.<br />
Nach den inzwischen verfeinerten strengeren Auswahlkriterien für die Brauchbarkeit der Daten<br />
werden für den aktuellen Diversitätskartierungsansatz nur etwas mehr als 20 davon in den Analysen<br />
verwendet. Die Datenbank wurde inzwischen auf 215 Datensätze zu 130 Gebietseinheiten<br />
ausgebaut, von denen insgesamt 80 als brauchbar eingestuft werden. Es wurden, soweit vorhanden,<br />
eine ganze Reihe von Parametern zu den Gebieten und ihren Floren erfaßt (vgl. Tab. 1).<br />
Tabelle 1: Liste der wichtigsten Datenfelder in der BIOMAPS-Inventar-Datenbank<br />
Feld Name Erläuterung<br />
ID Eindeutige Nummer für jede Gebietseinheit<br />
c1 Kontinent, auf dem das Gebiet liegt<br />
Land Name des Landes, in dem das Gebiet liegt<br />
Gebiet Name der Gebietseinheit (geographical unit, „GU“)<br />
Fläche Flächengröße [1000 km²]<br />
Fläche_Bem Bemerkungen/ Zusätze zur Flächengröße (optional)<br />
spp Artenzahl (bezieht sich normalerweise auf die Gesamtartenzahl vaskulärer Pflanzen, Ausnahmen<br />
sind im Feld „spp_voll“ angegeben; ist in der Literatur eine Schätzung der Artenzahl<br />
in einer Spanne angegeben (z.B. 500-600 spp.), wird das arithmetische Mittel benutzt<br />
spp_voll Vollständige Angabe der Artenzahl wie in der zugrundeliegenden Literaturstelle inklusive Zusätzen<br />
(>,
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Tab. 2: z-Werte nach Kier & Mutke (unveröff. Daten) zur Beschreibung von Artenzahl-Fläche-Beziehungen<br />
im Modell von Arrhenius (1921) für Vegetationstypen Nordamerikas<br />
Major Habitat Type nach Olson & Dinerstein 1998 z-Wert<br />
Deserts and xeric shrublands 0,109<br />
Temperate grasslands, savannas, and shrublands 0,116<br />
Tundra 0,128<br />
Temperate coniferous forests 0,139<br />
Boreal forest/taigas 0,160<br />
Temperate broadleaf and mixed forests 0,175<br />
Mediterranean scrub 0,202<br />
Die Lage und die Umgrenzungen der in der Datenbasis unter Microsoft Access 97 erfaßten Gebietseinheiten<br />
wurden in Geographischen Informationsystemen (IDRISI f. Win 2.010 und ArcView<br />
3.1 inkl. Spatial Analyst) auf globalem Maßstab mit einer Auflösung von 1 Längen-/Breitengrad digitalisiert.<br />
Für die weiteren Analysen und räumlichen Modelle wurden dazu zusätzliche räumliche<br />
Datensätze zu Vegetation, Klima und Indikatoren aus der Fernerkundung in das GIS integriert<br />
(Tab. 3). Für zukünftige Analysen wurde damit begonnen, die Daten in höherer räumlicher Auflösung<br />
zu erfassen.<br />
Tab. 3: Datensätze im GIS zu Umweltparametern und Indikatoren aus der Fernerkundung<br />
Datensatz Datenherkunft Bemerkung<br />
NDVI-Jahressumme G. Braun, DFD/DLR aus NDVI-Monatskompositen für das Jahr 1987 abgeleitet<br />
Digit. Höhenmodell, DHM International Satellite<br />
Land Surface Climatology<br />
Project (ISLSCP)<br />
Jahresniederschlags- based on data by Aus Monatssummen abgeleitet<br />
summe<br />
ISLSCP<br />
Jahresmitteltemperatur based<br />
ISLSCP<br />
on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />
Monate mit Mitteltempe- based on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />
ratur über 4°C<br />
ISLSCP<br />
Monate mit Mitteltempe- based on data by Aus Monatsmittelwerten abgeleitet<br />
ratur über 0°C<br />
Temperaturdifferenz der<br />
Monatsmittel des kältesten<br />
und des wärmsten<br />
Monats<br />
ISLSCP<br />
based on data by<br />
ISLSCP<br />
Aus Monatsmittelwerten abgeleitet; kann als Kontinentalitätsindex<br />
interpretiert werden<br />
Anzahl Trockenmonate Based on data by Aus Monatswerten abgeleitet, Monate pro Jahr, in denen Temp<br />
ISLSCP<br />
[°C] > (prec/2 [mm])<br />
Major Habitat Types ESRI basierend auf Daten<br />
des WWF-US<br />
Annual Potential Evapotranspiration<br />
(PET)<br />
vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />
UNEP-GRID, nach Ahn<br />
&Tateishi 1994<br />
Annual Actual Evapotranspiration<br />
(AET)<br />
vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />
UNEP-GRID, nach Ahn<br />
&Tateishi 1994<br />
Waterbalance<br />
vgl. http://www.grid.unep.ch/datasets/data/gnv183.html<br />
UNEP-GRID, nach Ahn<br />
&Tateishi 1994<br />
Analysen<br />
Als Grundlage der Artenvielfaltskartierung nach inventarbasiertem Ansatz sind nach der Rohdatenerfassung<br />
verschiedene Verarbeitungsschritte notwendig, die an dieser Stelle nicht näher besprochen<br />
werden sollen (vgl. hierzu Barthlott et al. 1999b, in Vorb.). Dazu zählen nach Festlegung<br />
der Bezugsflächengröße (Standardfläche) die Bewertung der Brauchbarkeit der einzelnen Datensätze<br />
und die Standardisierung der Artenzahlen. Der wichtigste Parameter für die Auswahl der<br />
Gebietseinheiten ist neben der Vollständigkeit und Plausibilität der Daten die Flächengröße. Diese<br />
sollte nicht zu stark von der Bezugsfläche abweichen, um den Fehler bei der Standardisierung der<br />
Artenzahl gering zu halten. Ebenfalls wichtig für die Zuverlässigkeit der Standardisierung wie auch<br />
die sinnvolle kartographische Darstellung ist die teilweise mit der Flächengröße zusammenhän-
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
gende floristische Homogenität, die unter Zuhilfenahme von Vegetations-, Klima- und Reliefkarten<br />
abgeschätzt wird.<br />
Für die Ableitung flächendeckender Karten der Artendichte auf Basis der lückenhaften Rohdaten,<br />
wie sie in Abb. 2a dargestellt sind, ergeben sich zwei Probleme, die bewältigt werden müssen.<br />
Dies ist neben der Abschätzung von Werten für die Datenlücken die weitere Differenzierung der<br />
Werte innerhalb von größeren Gebietseinheiten, für die mit der standardisierten Artenzahl nur ein<br />
Durchschnittswert der Artendichte vorliegt. Es werden im weiteren verschiedene Ansätze zur Bewältigung<br />
dieser Probleme vergleichend dargestellt, die nur teilweise aufeinander aufbauen.<br />
Einfache Interpolation von Artenzahlen (moving weighted averages)<br />
Als einfachster Ansatz zur Erstellung einer flächendeckenden Karte ist eine simple räumliche Interpolation<br />
der Daten auf Basis gewichteter Mittelwerte der Umgebungsdaten denkbar. Für die<br />
Karte in Abb. 2c wurde die Artendichte Z eines Datenpunktes X0 durch das mit dem Kehrwert des<br />
Quadrates der Entfernung d0,i gewichtete Mittel der Artendichte der n = 3 nächsten Umgebungsdatenpunkte<br />
Xi mit bekannten Artenzahlen abgeschätzt (vgl. Formel [1]). Hierzu wurde die Interpolationsroutine<br />
IDW des Spatial Analyst von ESRI benutzt. Dabei ging jedes Gebiet einmal mit seinen<br />
Mittelpunktkoordinaten (Abb. 2b) in die Berechnung ein.<br />
n<br />
n 1 1<br />
[1] Z(<br />
X 0 ) = ∑[<br />
Z(<br />
X i ) * ] 2 ∑ 2<br />
d d<br />
i= 1<br />
0,<br />
i<br />
i= 1 0,<br />
i<br />
Trendflächenanalyse (Trend surface analysis)<br />
Um eventuelle großräumige Trends in den Artenzahlen herauszufinden, wurde eine multiple Regression<br />
der standardisierten Artenzahlen der Gebietseinheiten gegen die geographischen Koordinaten<br />
ihres Mittelpunktes (vgl. Abb. 2b) berechnet. Um nichtlineare Trends der Artenzahlen erfassen<br />
zu können, wurde versucht, mit Hilfe nichtlinearer Regressionsmodelle eine bessere Anpassungsgüte<br />
zu erreichen. Dafür wurde zum einen mit Hilfe des Programms Statistica (Version 1999)<br />
eine multiple Regressionsanalyse durchgeführt, in die die verschiedenen Potenzen der geographischen<br />
Koordinaten (lat², lat 3 , etc.) als unabhängige Parameter eingingen. In einem zweiten Ansatz<br />
wurde zuerst in einer univariaten Regressionsanalyse in MS Excel 97 eine polynomische Regressionsgleichung<br />
für den Zusammenhang von geographischer Länge und der standardisierten Artenzahl<br />
angepaßt. Diese wurde dann wieder als unabhängige Variable zusammen mit der geographischen<br />
Breite für eine multiple Regressionsanalyse in Statistica benutzt.<br />
Semivariogramm<br />
Da die Wahl der Parameter der Interpolation (s.o., quadratische reziproke Abhängigkeit des Gewichtes<br />
von der Entfernung, Wahl der drei nächsten Nachbarn) erhebliche Bedeutung für das<br />
Endergebnis hat, wurden in der Geographie Verfahren zur genaueren Analyse der sogenannten<br />
räumlichen Autokorrelation, also der Abhängigkeit des Wertes eines Datenpunktes von den Umgebungswerten,<br />
entwickelt (vgl. u.a. Gaile & Willmott 1984, Jongmann et al. 1987, Odland 1988).<br />
Die meisten der entsprechenden Maße sind dabei nur gültig unter der Bedingung der Stationarität,<br />
d.h., daß es keinen allgemeinen räumlichen Trend in den Werten gibt. Dies ist u.a. auf Grund latitudinaler<br />
Gradienten bei Artenzahlen (vgl. Abb. 3a) meist nicht der Fall. Um dieses Problem zu<br />
umgehen, wurden statt der Artenzahlen die Residuen aus dem Vergleich der durch die Trendflächenanalyse<br />
vorhergesagten Artenzahlen und der beobachteten Artenzahlen der Analyse unterzogen.<br />
In Abb. 1b wird das sogenannte empirische Semivariogramm dargestellt, das die durchschnittliche<br />
quadrierte Differenz γ(h) der Werte Z zweier Datenpunkte (si, sj) bei gegebener Entfernung<br />
h („lag“) berechnet nach Formel [2] zeigt. Abb. 1a zeigt ein Beispiel-Semivariogramm, an<br />
dem die wichtigsten Begriffe erklärt sind.<br />
n(<br />
h)<br />
1<br />
2<br />
[2] γ ( h)<br />
= ∑ [ Z(<br />
si<br />
) − Z(<br />
s j )]<br />
2n(<br />
h)<br />
=<br />
i 1<br />
Als Entfernungen der Gebietseinheiten sind in dieser Analyse die Entfernungen der geographischen<br />
Mittelpunkte der Gebiete (vgl. Abb. 2b) eingegangen. Diese sind aus Vereinfachungsgründen,<br />
wie in den anderen Analysen auch, als euklidische Distanz der Breiten- und Längengrade an-
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
gegeben. Die Berechnungen wurden mit Hilfe der "Kriging Interpolator 3.2"-Erweiterung von Marco<br />
Boeringa für das Programm ArcView 3.1 (inkl. Spatial Analyst) durchgeführt (vgl.<br />
http://gis.esri.com/arcscripts/scripts.cfm).<br />
Kriging<br />
Kriging (nach Krige, einem der Väter dieser Methode, vgl. Krige 1966) ist eine komplexe Interpolationsmethode<br />
zur Abschätzung von Oberflächen auf der Basis verstreuter Datenpunkte. Dabei<br />
werden die bekannten Datenwerte in der Umgebung des zu interpolierenden Punktes mit Hilfe der<br />
im Semivariogramm abgeschätzten Entfernungsfunktion gewichtet.<br />
Auch diese Analyse wurde mit Hilfe der "Kriging Interpolator 3.2"-Erweiterung von Marco Boeringa<br />
für den Spatial Analyst durchgeführt. Dabei wurde für die Interpolation die Variante des Universal<br />
Kriging gewählt. Diese Methode setzt im Gegensatz zum Ordinary Kriging keine Stationarität der<br />
Werte voraus. Statt dessen wird angenommen, daß sich die räumliche Variation der Größe Z aus<br />
drei Komponenten zusammensetzt: einer strukturellen Komponente (räumlicher Trend), einer zufälligen,<br />
aber räumlich korrelierten Komponente und einem nicht räumlich korrelierten Rauschen<br />
(c0 in Abb. 1a).<br />
Als Parameter in der Analyse wurden ein linearer Trend der Artenzahlen, ein lineares Modell des<br />
Semivariogramms mit „sill“ (vgl. Abb. 1a), eine maximale Interpolationsdistanz von dreißig Grad<br />
und eine Anzahl von 8 Nachbarwerten, aus denen das Ergebnis interpoliert werden soll, gewählt.<br />
Multiple Regressionen<br />
Die Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen wurden im GIS mit den verschiedenen räumlichen<br />
Datensätzen zu abiotischen Umweltfaktoren und Indikatoren aus der Fernerkundung überlagert<br />
und die Durchschnittswerte sowie Standardabweichungen der einzelnen Größen für die jeweilige<br />
Gebietseinheit abgefragt. Nach einigen Voruntersuchungen wurden zwei parallele Analysen<br />
durchgeführt. Zum einen wurde die bereits standardisierte Artenzahl pro 10.000 km² als abhängige<br />
Variable einer multiplen Regression mit verschiedenen in Tab. 3 aufgeführten unabhängigen Variablen<br />
unterzogen. Da der Schritt der Standardisierung der Artenzahlen schon mit gewissen Fehlern<br />
behaftet sein kann, wurde in einer zweiten Analyse die nicht standardisierte Gesamtartenzahl<br />
des Gebietes als abhängige Variable einer multiplen Regression mit den im GIS abgefragten Parametern<br />
(Tab. 3) und der Flächengröße der Gebietseinheit als unabhängige Variablen unterzogen.<br />
Entsprechend dem Artenzahl-Fläche-Modell von Arrhenius (1921) gingen bei dieser zweiten<br />
Analyse sowohl die Artenzahl, als auch die Flächengröße der Gebietseinheiten in logarithmierter<br />
Form in die Berechnung ein. Für beide Analysen wurde das Programm Statistica (Version 1999)<br />
der Firma Statsoft benutzt.<br />
Für die Auswahl des endgültigen Modells sind dabei zwei Kriterien entscheidend. Zum einen müssen<br />
alle Beta-Werte der unabhängigen Variablen signifikant sein. Außerdem darf die Redundanz<br />
zwischen den unabhängigen Variablen einen Toleranzwert nicht überschreiten.<br />
Räumliche Modellierung nach Miron (1984)<br />
Für die Erstellung der endgültigen Karte der Artendichte der Gefäßpflanzen sind sicherlich die Ansätze<br />
am vielversprechendsten, die sowohl die räumliche Lage der Gebiete, als auch die Abhängigkeit<br />
der Artenzahlen von den Umweltparametern mit einbeziehen. Dabei ist als Ansatz denkbar,<br />
einen gewichteten Mittelwert aus einer Interpolation (vorhergesagte Artenzahl nur abhängig von<br />
der Lage) und der multiplen Regression (vorhergesagte Artenzahl nur abhängig von Umweltfaktoren)<br />
zu berechnen (Kier & Mutke, unveröff. Daten). Dabei stellt sich aber die Frage der Gewichtung<br />
zwischen diesen beiden Komponenten. Zum anderen ergeben sich auch wieder Redundanzen<br />
zwischen der Lageinformation und den Umweltparametern, wodurch sich die Beta-Werte der einzelnen<br />
Variablen in einem echten räumlichen Modell von denen einer einfachen multiplen Regression<br />
unterscheiden können. Aus diesem Grund wurden basierend auf dem von Miron (1984) vorgestellten<br />
Algorithmus simultan der Parameter rho für die Gewichtung der Werte der benachbarten<br />
Datenpunkte sowie Beta-Werte für die in der multiplen Regression als wichtig erkannten Umweltfaktoren<br />
abgeleitet. Als abhängige Variable ging nach den Vorversuchen aus der multiplen Regression<br />
die bereits standardisierte Artenzahl pro 10.000 km² ein. Sowohl für die Ableitung des Modells<br />
wie auch für seine Umsetzung in die Fläche wurden vom Verfasser in VBA unter MS Excel 97<br />
programmierte Makros verwendet. Die Entfernung zwischen den Datenpunkten ging in der hier
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
vorgestellten Version der Analysen als Kehrwert des Quadrates der euklidischen Distanz der geographischen<br />
Koordinaten als Gewichtung in die Berechnung ein.<br />
Ergebnisse<br />
Einfache Interpolation (moving weighted averages)<br />
Die Interpolation der standardisierten Artenzahlen mit Hilfe der IDW-Methode („inverse distance<br />
weighted“) liefert im Süden der USA recht differenzierte Ergebnisse (Abb. 2c). In Kanada, bei geringerer<br />
Rohdatendichte, sind in Abb. 2c relativ grobe Trends dargestellt.<br />
Trend surface analysis<br />
Die lineare Trendanalyse der standardisierten Artenzahlen (spp / 10 000 km²) gegen die geographischen<br />
Mittelpunktkoordinaten der jeweiligen Gebietseinheit liefert für Nordamerika bereits ein<br />
hochsignifikantes Ergebnis mit einem Variationskoeffizienten von immerhin R² = 0,56.<br />
[3]<br />
spp = 2705,12 - 43,35 * lat - 6,21 * long<br />
n = 75 R= 0,75 R²= 0,57 Korr. R²= 0,56<br />
Bestimmend im Ergebnis ist vor allem der recht klar ausgeprägte latitudinale Gradient ansteigender<br />
Artendichte der Gefäßpflanzen mit abnehmender Breite in Nordamerika. Außerdem findet sich<br />
ein leichter Gradient abnehmender Artenzahlen von West nach Ost.<br />
Die multiple Regressionsanalyse, in die die verschiedenen Potenzen der geographischen Koordinaten<br />
(lat², lat 3 , etc.) als unabhängige Variablen eingingen, lieferte keine brauchbaren Ergebnisse.<br />
Dagegen zeigte die Berechnung, in die die geographische Länge nicht direkt sondern in Form einer<br />
polynomischen Funktion einging, eine im Vergleich zur linearen Trendanalyse noch einmal<br />
deutlich erhöhte Anpassungsgüte (vgl. Formel [4], Abb. 2d). Während für den latitudinalen Diversitätsgradienten<br />
das lineare Modell den Trend am besten beschreibt, zeigt sich ein longitudinaler<br />
Trend mit zwei Maxima, die höheren Artenzahlen entlang der Küsten und Gebirgszüge entsprechen.<br />
[4]<br />
spp = 2053,01 - 37,11 * lat - 0,000822 * long 4 - 0,315 * long 3 - 44,231 * long 2 - 2704,74 * long - 59828,373<br />
n = 75 R= 0,81 R²= 0,65 Korr. R²= 0,64<br />
Semivariogramm<br />
Das Semivariogramm der Residuen aus dem Vergleich der linearen Trendoberfläche und der<br />
standardisierten Artenzahlen der Gebietseinheiten (Abb. 1b) zeigt eine nur sehr schwache räumliche<br />
Autokorrelation. Die starke räumliche Autokorrelation, die sich bei der direkten Analyse der<br />
standardisierten Artenzahlen ergibt (hier nicht dargestellt), hat einen stark anisotropen Charakter<br />
und geht weitgehend auf die relativ ausgeprägten latitudinalen und longitudinalen Trends der Artenzahlen,<br />
also eine räumliche Instationarität, zurück.
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Abb. 1: Semivariogramm zur Beschreibung der räumlichen Autokorrelation der beobachteten Artenzahlen<br />
Kriging<br />
Entsprechend der Ergebnisse aus den beiden vorherigen Absätzen liefert die Methode des Universal<br />
Kriging (vgl. Abb. 2e) relativ ähnliche räumliche Muster der Gefäßpflanzenvielfalt, wie die in<br />
Abb. 2d dargestellte Trendoberfläche. Abweichend davon sind allerdings im südlichen Nordamerika<br />
wie bei der einfachen Interpolation (Abb. 2c) auch die geringeren Artenzahlen der Wüsten im<br />
Südwesten der USA, sowie die höheren Artenzahlen der südöstlichen Atlantikküste und Kaliforniens<br />
widergespiegelt.
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
a Überlagerung der Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen<br />
(standardisierte Rohdaten)<br />
c Einfache Interpolation (inverse distance weighted)<br />
basierend auf b)<br />
b Geographische Mittelpunkte der Gebietseinheiten<br />
bekannter Artenzahlen<br />
d Trendfläche (polynomisch)<br />
e Universal Kriging f Multiple Regression (standardisierte Artenzahlen<br />
als abhängige Variable)<br />
g Räumliches Modell (Algorithmus nach Miron<br />
1984)<br />
Abb. 2: Räumliche Muster nordamerikanischer Gefäßpflanzenvielfalt - Vergleich der Rohdaten mit verschiedenen<br />
Methoden zur Ableitung flächendeckender Karten
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Abb. 3: Korrelation der standardisierten Artenzahlen nordamerikanischer Gebietseinheiten mit verschiedenen<br />
Umweltparametern<br />
Multiple Regression<br />
In univariaten Regressionsanalysen zeigen die standardisierten Artenzahlen relativ klare Trends im<br />
Verhältnis zu verschiedenen Umweltparametern (Abb. 3). Dabei ist vor allem der latitudinale Gradient<br />
der Artenvielfalt mit einer engen Korrelation der Artenzahlen mit der geographischen Breite in<br />
Nordamerika stark ausgeprägt. Gute Korrelationen gibt es ebenfalls mit der Jahresmitteltemperatur,<br />
der potentiellen Evapotranspiration und verschiedenen Maßen für Saisonalität.<br />
Die multiple Regressionsanalyse der logarithmierten Gesamtartenzahlen der Gebietseinheiten gegen<br />
verschiedene unabhängige Variablen lieferte folgende Gleichung als Modell mit der besten<br />
Anpassungsgüte bei maximaler Korrelation zwischen den unabhängigen Variablen von R = 0,5.<br />
[5]<br />
Log10(spp)= 2,66 + 0,185 * Log10(Flächengröße der GU) + 0,038 * NDVI + 0,000268 * PET<br />
n= 80 R= 0,88 R²= 0,78 Korr. R²= 0,77 p
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
recht hohe Bestimmtheitsmaß von R² (Korr.) = 0,77 täuscht dabei etwas. Berechnet man basierend<br />
auf dieser Formel die nicht logarithmierten Artenzahlen pro 10.000 km² und führt eine Regressionsanalyse<br />
gegen die standardisierten Artenzahlen der einzelnen Gebietseinheiten durch, ergibt<br />
sich nur noch eine Korrelation von R² = 0,48. Im Gegensatz zu allen anderen vorgestellten<br />
Analysen ergibt das Modell auf die räumlichen Daten angewendet höchste Artenzahlen vor allem<br />
in der Region der teilweise immergrünen Laubwälder im Südosten der USA (nicht als Karte dargestellt).<br />
Die zweite multiple Regressionsanalyse, in die direkt die standardisierte Artenzahl als abhängige<br />
Variable einging, ergibt eine engere Korrelation mit einem R² = 0,58. Dabei sind die Umweltparameter,<br />
die in das am besten angepaßte Modell einfließen, andere als die in der oben dargestellten<br />
Analyse.<br />
spp / 10.000 km² = 758,27 + 124,35 * Trockenmonate + 0,252 * DHM + 53,68 * NDVI + 0,577 * AET<br />
n = 80 R = 0,78 R²= 0,603 Korr. R² = 0,582<br />
spp /10 000 km² = Artenzahl pro 10 000 km²<br />
Trockenmonate = Anzahl der Monate, in denen die Mitteltemperatur in °C größer als die<br />
halbe Niederschlagssumme in Millimetern ist.<br />
DHM = Höhe ü. NN<br />
NDVI = Jahressumme des NDVI (kann nach Malingreau 1989 als Indikator für<br />
die photosynthetisch aktive Phytomasse interpretiert werden)<br />
AET = jährliche aktuelle Evapotranspiration [mm]<br />
Räumliche Modellierung<br />
Das räumliche Modell (Abb. 2g) besitzt mit R² = 0,9 eine bessere Anpassungsgüte als beide Modelle<br />
aus der multiplen Regression. Auffallend ist, daß das Modell dabei zu 87 Prozent von der<br />
räumlichen Komponente, also einer Interpolation bestimmt wird. Bei den mit Hilfe des Algorithmus<br />
von Miron (1984) abgeleiteten Modellparametern weist die nicht-räumliche, auf den Umweltfaktoren<br />
basierende Komponente des Modells nur eine Korrelation von R² = 0,48 zu den beobachteten<br />
Werten auf. Der Interpolationsanteil des Modells korreliert dagegen eng mit den standardisierten<br />
Artenzahlen der Gebietseinheiten (R² = 0,91).<br />
spp<br />
n 1<br />
/ 10 000 km²<br />
= 0,<br />
129 * ( 1235,<br />
17 + 51,<br />
8*<br />
Trockenmonate<br />
+ 0,<br />
036 * DHM + 205,<br />
35*<br />
NDVI − 0,<br />
282 * AET)<br />
+ 0,<br />
871*<br />
[ Z(<br />
X ) * ]<br />
(Zur Erklärung der Parameter siehe Abschnitt Multiple Regression und Formel [1] )<br />
∑<br />
i 2<br />
i= 1 d0,<br />
i<br />
Diskussion<br />
Auffälligstes Charakteristikum der Gefäßpflanzenvielfalt Nordamerikas ist der ausgeprägte latitudinale<br />
Gradient ansteigender Artendichte mit abnehmender Breite. Neben den verschiedenen deutlichen<br />
Unterschieden ist dieser Trend das verbindende Element der Karten in Abb. 2. Auch die Ergebnisse<br />
in Abb. 3b-d zeigen durchgehend für Umweltparameter, die selber gut mit der geographischen<br />
Breite korrelieren, gute Korrelationen mit der Artenzahl. Das zweite auffallende Muster sind<br />
die relativ hohen Artenzahlen im trocken-kontinentalen Südwesten der USA. Im Gegensatz zu verschiedenen<br />
Modellen (multiple Regressionsanalyse mit log. Gesamtartenzahl (s.o.), Kleidon &<br />
Mooney <strong>2000</strong>) zeigt sich die höchste Artendichte nicht in den Laubwäldern mit ihrer positiven<br />
Wasserbilanz, höheren Biomasse und ausgeglichenem Klima. Ein wirklicher Erklärungsansatz ergibt<br />
sich hier aus den oben dargestellten Modellen nur bedingt. Daß die Anzahl der Trockenmonate<br />
im räumlichen Modell positiv mit der Artenzahl korreliert, ergibt für eine biologische Erklärung<br />
nur bedingt Sinn. Es ist wahrscheinlicher, daß dieser Parameter hier stellvertretend für einen gleich<br />
im Raum verteilten, in den Analysen nicht erfaßten Faktorenkomplex steht. Auch die positive Korrelation<br />
zur Höhe über dem Meeresspiegel muß differenziert betrachtet werden. Bei der sehr groben<br />
räumlichen Auflösung der Daten kann dieser Parameter in Nordamerika sicherlich eher als ein<br />
grobes Näherungsmaß für die Topodiversität (vgl. Barthlott et al., im Druck), also die räumliche Heterogenität<br />
des Reliefs interpretiert werden. Die Geodiversität, in die neben der Topo- noch die<br />
Klima- und Pedodiversität eingehen, scheint generell eine wichtige Rolle für die Biodiversität auf<br />
Landschaftsebene sowie die Skalenabhängigkeit von Diversitätsmustern zu spielen (Barthlott et<br />
al., 1996, 1999b, im Druck, Braun et al., in Vorber.). Im Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum<br />
n<br />
∑<br />
1<br />
d<br />
2<br />
i= 1 0,<br />
i
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
werden derzeit umfangreiche Analysen zur Quantifizierung von Geodiversität und ihrem Einfluß auf<br />
die biologische Vielfalt durchgeführt. Vorläufige Ergebnisse für Südamerika und Afrika zeigen einen<br />
hohen Erklärungswert v.a. der Klimadiversität (vgl. Barthlott et al., im Druck, Braun et al., in<br />
Vorb.). Dieser Faktor könnte auch im reich gegliederten Westen der Vereinigten Staaten eine wichtige<br />
Rolle spielen. Derzeit liegen hierzu aber noch keine verwertbaren Ergebnisse vor.<br />
Für die Erklärung der höheren Artenzahlen im trocken-kontinentalen Südwesten der USA scheinen<br />
aber auch noch weitere Umweltparameter oder historische Faktoren eine Rolle zu spielen, die bislang<br />
nicht in die Analyse eingegangen sind. Historisch wichtig für die Ausbildung der heutigen Flora<br />
im Südwesten war u.a. die Hebung der Sierra Nevada und Cascade Mountains im späten Miozän<br />
vor 5 bis 8 Millionen Jahren, die für einen stark kontinental geprägten Charakter des regionalen<br />
Klimas sorgte (DELCOURT & DELCOURT 1993 nach AXELROD 1979). Auch die Klimaschwankungen<br />
im Holozän waren im Westen der Vereinigten Staaten, der bis dahin stärker bewaldet war,<br />
wesentlich ausgeprägter als in den Wäldern des Südostens (DELCOURT & DELCOURT 1993). Dies<br />
führte zu einer Verarmung der Flora auf höherer taxonomischer Ebene, wie in Abb. 5a deutlich<br />
wird. Trotzdem finden sich höhere Artenzahlen und auch ein höherer Anteil endemischer Arten im<br />
Südwesten Nordamerikas (vgl. auch Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>).<br />
Abb. 4: Vergleich verschiedener qualitativer Aspekte der nordamerikanischen Phytodiversität (verändert<br />
nach Mutke & Barthlott <strong>2000</strong>)<br />
Solche historischen Faktoren in räumliche Modelle der Artenvielfalt mit einfließen zu lassen ist allerdings<br />
schwierig. Dies mag einer der Gründe sein, daß für manche Regionen selbst einfache Interpolationsansätze<br />
multiplen Regressionen überlegen sind. Über solche Interpolationen kann der<br />
Faktor des jeweils vorhandenen - teilweise historisch bedingten - Artenpools, der nicht rein über<br />
rezente Umweltfaktoren zu erklären ist, besser erfaßt werden. Daß die verschiedenen Interpolationsansätze<br />
für Nordamerika recht gute Ergebnisse liefern, hängt aber auch mit verschiedenen<br />
weiteren Faktoren zusammen. Zum einen ist die Ausgangsdatenlage im Vergleich zu anderen<br />
Kontinenten v.a. durch die Arbeiten an der noch recht neuen Flora of North America (Flora of North<br />
America Editorial Committee 1993-) und im Rahmen des BIOTA of North America Program<br />
(www.bonap.org) trotz kleinerer Inkonsistenzen sicherlich sehr gut. Es gibt relativ flächendeckend
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
in gleichmäßiger räumlicher Verteilung brauchbare Gebietseinheiten bekannter Artenzahlen. Zum<br />
anderen spielt aber auch der ausgeprägte latitudinale Gradient, der nur leicht entlang der Küsten<br />
und der größeren Gebirgszüge modifiziert wird, eine wichtige Rolle. Andere Kontinente, in denen<br />
keine so klaren räumlichen Trends vorherrschen oder starke Sprünge in den Artenzahlen zu finden<br />
sind, sind für die Ableitung einer flächendeckenden Diversitätskarte problematischer. Beispielsweise<br />
finden sich in Südamerika Diversitätszentren vor allem entlang der Andenabhänge, im Nordwesten<br />
Amazoniens, im Guayana-Hochland und in Südostbrasilien. Sowohl Trendflächenanalysen<br />
als auch das Semivariogramm lieferten nur schwache Hinweise auf räumliche Effekte in den Daten<br />
– wahrscheinlich auch bedingt durch eine extrem heterogen verteilte Datenlage. Für Südamerika<br />
zeigen die Ergebnisse aus der multiplen Regression bessere Übereinstimmungen mit den beobachteten<br />
Artenzahlen als die verschiedenen Interpolationsmethoden (IDW, Kriging, Trendflächenanalyse)<br />
(Mutke et al., unveröff. Analysen).<br />
Die bisherigen, noch vorläufigen Ergebnisse zeigen also, daß die verschiedenen Methoden je nach<br />
Datenlage unterschiedliche Probleme aufweisen. Bei einer Nachbearbeitung von Hand, wie sie in<br />
den bisherigen Diversitätskarten nach inventarbasiertem Ansatz genutzt wurde (Lebrun 1960, Malyshev<br />
1975, Barthlott et al. 1996), können diese Probleme zum Teil ausgeglichen werden. Will<br />
man aber rein über automatisierbare und damit standardisierbare und nachvollziehbare Ansätze zu<br />
einem Ergebnis kommen, wird sicherlich nur eine Kombination unterschiedlicher Methoden zu<br />
brauchbaren Ergebnissen führen. Bei den Interpolationsansätzen zeigt sich, daß die Definition und<br />
Einbeziehung der Entfernung entscheidenden Einfluß hat. Zum einen weisen Ansätze, in die die<br />
Entfernung linear oder als Quadrat mit in die Gewichtung eingeht, schon erhebliche Unterschiede<br />
auf. Zum anderen legen Vorversuche nahe, die Entfernung nicht rein räumlich, sondern auch über<br />
die Unterschiede bezüglich der Umweltparameter zu definieren. Auch eine weitere Gewichtung, in<br />
der unzuverlässigere Daten (hier vor allem Daten von Gebietseinheiten, deren Größe stark von der<br />
Standardfläche abweicht) automatisch abgewertet werden, scheint vielversprechend zu sein. Die<br />
Ergebnisse einer solchen differenzierten Interpolation müssen dann gewichtet mit Ergebnissen aus<br />
Regressionsanalysen der Artenzahlen gegen rezente Umweltfaktoren verrechnet werden. Dabei ist<br />
es natürlich am sinnvollsten, die beste Gewichtung dieser unterschiedlichen Ergebnisse direkt bei<br />
der Ableitung des Modells durch Algorithmen wie dem hier benutzen von Miron (1984) berechnen<br />
zu lassen. Allerdings zeigen weitere Vorversuche, daß eine räumlich differenzierte Gewichtung der<br />
Interpolation, je nach Rohdatendichte in unterschiedlichen Regionen, zu einer weiteren Verbesserung<br />
der Ergebnisse führt. Ein solcher Ansatz spielt vor allem in Regionen mit sehr heterogener<br />
Datenlage, wie z.B. in Südamerika, eine wichtige Rolle.<br />
Die Bewertung der Ergebnisse aus den unterschiedlichen Ansätzen ist allerdings auf Grund der<br />
Datenstruktur (vgl. Abb. 2a,b) schwierig. Ganz generell spielt bei allen Kartierungen von Biodiversität<br />
- auch wenn ein regelmäßiges Raster von Kartierungsflächen gewählt wird - die Skalenabhängigkeit<br />
eine wesentliche Rolle. Wenn in einer Region kleinräumig artenreiche Vegetationstypen<br />
einheitlich über große Flächen ausgeprägt sind, in einer zweiten Region aber eine enge Verzahnung<br />
einer Vielzahl sehr unterschiedlicher artenarmer Lebensräume vorherrscht, werden sich Diversitätskarten<br />
einer solchen Landschaft bei unterschiedlichen Auflösungen klar unterscheiden.<br />
Hier besteht ein enger Zusammenhang zu der oben bereits angesprochenen Geodiversität von<br />
Landschaften. Auf Grund der Struktur der hier genutzten Daten müssen solche Faktoren aber noch<br />
verstärkt beachtet werden. Auch wenn bei der Auswahl der für den gewählten Ansatz und die gewählte<br />
Standardfläche brauchbaren Gebietseinheiten schon relativ strenge Kriterien angewandt<br />
wurden (s.o.), gehen in die Analysen doch noch Gebiete recht verschiedener Flächengröße ein.<br />
Zwar wird die unterschiedliche floristische Heterogenität innerhalb der Gebiete durch differenzierte<br />
Parameter (vgl. Tab. 2) im Arten-Fläche-Modell bei der Berechnung der standardisierten Artenzahlen<br />
berücksichtigt. Für all diese Gebiete ergibt diese Standardisierung aber nur einen Durchschnittswert<br />
der Artendichte. Die in Abb. 2a zu findenden diskreten Grenzen der Zonen unterschiedlicher<br />
Artendichte sind größtenteils politischer Natur. Die verschiedenen Interpolations- und<br />
Modellierungsansätze (Abb. 2c-g) helfen zwar die höher aufgelösten tatsächlichen Muster der Artendichte<br />
vorherzusagen. Will man aber die Anpassungsgüte der verschiedenen Modelle bewerten,<br />
kann man jeweils nur Mittelwerte für die verschiedenen in die Analysen eingegangenen Gebietseinheiten<br />
zur Validierung verwenden. Dies ist sicherlich noch einmal kritischer für die Ansätze,<br />
die aus methodischen Gründen nicht von den flächigen (Abb.2a) sondern auf die Mittelpunkte bezogenen<br />
Rohdaten ausgehen (z.B. Kriging, Abb. 2e).
a<br />
b<br />
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
Artenzahlen pro 100.000 km² in<br />
den Bundesstaaten der USA<br />
(verändert nach Mutke &<br />
Barthlott <strong>2000</strong>, basierend auf<br />
Artenzahlen einheimischer Gefäßpflanzen<br />
pro Bundesstaat<br />
von Kartezs in Maina & Villa-Lobos<br />
1997)<br />
Artenzahlen pro 10.000 km² in<br />
den 116 Nordamerikanischen<br />
Ökoregionen nach Einteilung<br />
des WWF (Artenzahlen pro Ökoregion<br />
von Kartezs u.a. in Ricketts<br />
et al. 1999, Standardisierung<br />
mit Hilfe der z-Werte in<br />
Tab.2)<br />
Abb. 5: Vergleich der Muster nordamerikanischer Gefäßpflanzenvielfalt bei unterschiedlicher räumlicher Auflösung<br />
der Ausgangsdaten<br />
Deutlich wird der mögliche Einfluß der unterschiedlichen räumlichen Heterogenität auch beim Vergleich<br />
der in Karten in Abb. 5. Kalifornien und Texas weisen als Ganzes betrachtet (Abb. 5a, Abb.<br />
2) auf Grund der engen Verzahnung unterschiedlicher Klimatypen und Vegetationseinheiten die<br />
höchste Artendichte Nordamerikas auf. Betrachtet man die Artendichte der einzelnen Vegetationszonen<br />
aber getrennt, wird ein erheblicher Teil der räumlichen Heterogenität und der damit verbundenen<br />
Betadiversität eliminiert. Die einzelnen Vegetationseinheiten Kaliforniens treten dann bezüglich<br />
ihrer Artendichte hinter das Great Basin und die angrenzenden Gebirge zurück (Abb. 5b). Hier<br />
zeigt sich deutlich, daß die Ergebnisse jeder Biodiversitätskartierung immer auch erheblich vom<br />
betrachteten Maßstab und der jeweiligen Auflösung abhängen. Erschwert wird die Interpretation<br />
der Ergebnisse aber auch durch die Tatsache, daß die Datenbanken, die den Abbildungen 2, 5a<br />
und 5b zu Grunde liegen, teilweise einander widersprechende Daten enthalten, obwohl sie alle zu<br />
erheblichen Teilen auf Daten des BIOTA of North America Program (BONAP, vgl. www.bonap.org)<br />
zurückgehen. Außerdem mußte auf Grund der unterschiedlichen durchschnittlichen Größe der<br />
Gebietseinheiten in den Datensätzen eine unterschiedliche Standardfläche gewählt werden.<br />
Trotzdem stellt sich bei der Erstellung solcher Diversitätskarten die prinzipielle Frage, inwieweit die<br />
durch diese unterschiedliche räumliche Heterogenität geprägten Landschaften auch in der Karte<br />
entsprechend bewertet werden sollen. Im Falle von Rasterkartierungen, bei denen die Kartierungseinheiten<br />
und die Standardfläche üblicherweise identisch sind, können solche Fragen rein<br />
über die Wahl der entsprechenden Bezugsfläche gelöst werden. Bei inventarbasierten Ansätzen,<br />
die auf Grund der Datenlage bisher für große Regionen noch die einzige Möglichkeit einer Diversitätskartierung<br />
darstellen, ist die Problematik wegen der unterschiedlichen räumlichen Auflösung
Jens Mutke: Methodische Aspekte der räumlichen Modellierung Biologischer Vielfalt –<br />
Das Beispiel der Gefäßpflanzenflora Nordamerikas<br />
der Ausgangsdaten dagegen nicht immer klar aufzulösen. Dies muß bei der Interpretation der Ergebnisse<br />
im Hinterkopf behalten werden.<br />
Trotz solcher Probleme haben inventarbasierte Diversitätsanalysen und -kartierungsansätze unser<br />
Verständnis räumlicher Muster Biologischer Vielfalt bereits erheblich verbessert. Wie schon erwähnt,<br />
sind wir für die meisten Organismengruppen noch weit davon entfernt, für jede Sippe flächendeckende<br />
Verbreitungsdaten zu haben, die für einen taxonbasierten Diversitätskartierungsansatz<br />
die Grundlage bilden. In den Fällen, in denen detaillierte Daten zu einzelnen Taxa bereits für<br />
taxonbasierte Diversitätskartierungen genutzt wurden (z.B. Lovett et al. <strong>2000</strong>), zeigen sich meist<br />
gute Übereinstimmungen mit den großräumigen Mustern unserer inventarbasierten Diversitätsanalysen<br />
(Barthlott et al. 1996, 1999a,b, Abb.2). Auch die engen Korrelationen der hier genutzten Daten<br />
mit verschiedenen Umweltparametern (Abb. 3) zeigen ebenfalls gute Übereinstimmungen zu<br />
taxonbasierten Analysen (z.B. Currie 1991) und sprechen für die gefundenen Muster. In einer Zeit<br />
massiver Bedrohung Biologischer Vielfalt ist es unrealistisch, Maßnahmen zum Schutz von Biodiversität<br />
zu verschieben, bis irgendwann einmal "vollständige" Information für jedes Taxon vorliegt.<br />
Hier kommt es darauf an, die bereits vorhandene Information bestmöglich zu nutzen. Der hier vorgestellte<br />
Ansatz kann dazu einen erheblichen Teil beitragen - wenn man sich der Probleme und<br />
Grenzen der Methode bewußt ist.<br />
Danksagung<br />
Für wertvolle Anregungen zum Manuskript möchte ich Gerold Kier, Marlies von den Driesch und<br />
Gerald Braun danken. Viele der vorgestellten Analysen wurden in enger Zusammenarbeit mit Gerold<br />
Kier durchgeführt. Arbeiten vor allem zur Geodiversität und Skalenabhängigkeit von Biodiversität<br />
werden in Kooperation mit Gerald Braun am Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum durchgeführt.<br />
Für die Unterstützung unserer Arbeiten gebührt Wilhelm Barthlott dank, der die Grundlagen<br />
für das Projekt geschaffen hat. Die hier vorgestellten GIS-Auswertungen wären nicht möglich<br />
gewesen ohne die Förderung des Ministeriums für Schule, Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung<br />
des Landes Nordrhein-Westfalen zur Einrichtung von GIS-Arbeitsplätzen an unserem Institut.<br />
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Thomas Wagner<br />
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität<br />
und Höhenlage<br />
Die "Entdeckung" der tropischen Artenvielfalt<br />
Seit sich die ersten Biologen in die Inneren Tropen aufmachten, ist der unüberschaubare Artenreichtum<br />
von Pflanzen und Tieren bekannt, der vor allem die tropischen Regenwälder so grundlegend<br />
von den Wäldern der Gemässigten Breiten unterscheidet. In der Mitte des Neunzehnten<br />
Jahrhunderts lebten Henry W. Bates, Fritz Müller und Alfred R. Wallace viele Jahre in Brasilien,<br />
Wallace später auch noch in Südost-Asien. Die Erkenntnisse, die sie während ihrer langjährigen<br />
Schaffenszeit in den Tropen gewannen, hatten grossen Einfluss auf verschiedene biologische Disziplinen.<br />
Die von Bates und Müller entwickelte Theorie der Mimikry, die angesichts der ungeheuren<br />
Vielfalt tropischer Insekten "auf der Hand lag", hat z.B. entscheidend zur Akzeptanz von Darwins<br />
Selektionstheorie beigetragen (Mayr 1984, Lewinsohn et al. 1991). Eine erschöpfende Erklärung,<br />
warum die Tropen so ungleich artenreicher als die Gemässigten Breiten sind, ist jedoch auch 140<br />
Jahre nach den "Pionieren der Tropenökologie" nicht viel deutlicher erkennbar, als es damals der<br />
Fall war. Bates‘ (1863) Verwunderung darüber, dass "within an hour's walk" 700 Tagfalterarten in<br />
der Stadt Belém (Brasilien) zu finden waren und demgegenüber aus Grossbritannien nur 66 und<br />
aus ganz Europa 321 Arten bekannt waren, kann auch heute noch jeder Entomologe nachvollziehen,<br />
der, zumal aus einer Region nacheiszeitlicher Faunenverarmung, in die Tropen reist und die<br />
dortige Artenvielfalt erlebt.<br />
Die Zusammensetzung tropischer Lebensgemeinschaften, ihre räumliche und zeitliche Entwicklung,<br />
der Einfluss von biotischen und abiotischen Faktoren und der intensive Vergleich mit Tiergemeinschaften<br />
ausserhalb der Tropen rückten erst ab der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts ins<br />
Blickfeld der Ökologen (Richards 1952, Elton 1973). Dieser Trend hat sich weiter fortgesetzt, so<br />
dass heutzutage eine grosse Zahl ökologisch ausgerichteter Untersuchungen einer spärlichen,<br />
wenn auch in den letzten Jahren deutlich zunehmenden Zahl von taxonomischen Arbeiten gegenübersteht.<br />
Dass die taxonomische Erfassung jedoch noch keineswegs abgeschlossen ist, verdeutlichen die<br />
derzeitigen Schätzwerte der auf der Erde lebender Organismenarten. Ging man noch vor 20 Jahren<br />
von etwa 1,5 bis 2 Millionen rezenten Arten aus, so schwanken die heutigen Annahmen zwischen<br />
5 und 80 Millionen Arten (Erwin 1982 und 1991, Stork 1988, Wilson 1988). Der Paradigmenwechsel<br />
ging von einer Arbeit über baumkronenbewohnende Käfer in Panama aus. Terry Erwin<br />
(1982) extrapolierte die Käferarten, die er von einer Baumart in Panama gesammelt hatte, auf<br />
30 Millionen Insektenarten, die allein in den tropischen Wäldern der Erde leben sollten. Dementsprechend<br />
schrieb er damals "I was shocked by my conclusion." Einige Parameter, die den Schätzungen<br />
zu grunde lagen, so z.B. der Anteil von spezialisierten phytophagen Insekten, sind dabei<br />
nahezu willkürlich gewählt worden. Mittlerweile zeigt sich zwar, dass einige der frühen "Berechnungen"<br />
weit überzogen waren und es möglicherweise weniger als 10 Millionen Arten sein dürften<br />
(May 1986, 1990, Thomas 1990, Gaston 1991a und 1991b, Hodkinson 1992, Simon 1996), nichtsdestotrotz<br />
hat aber gerade diese Diskussion dazu beigetragen, dass die Tropenforschung in das<br />
Blickfeld einer breiten Öffentlichkeit gerückt ist.<br />
Was steuert die Entwicklung und Erhaltung der tropischen Artenvielfalt?<br />
Mit der Frage nach den Ursachen tropischer Biodiversität ist die nach den Prozessen, welche die<br />
Erhaltung der Vielfalt steuern, eng verbunden. Zwei Szenarien können dabei als Extrema gegenüber<br />
gestellt werden, wobei sich real existierende Gemeinschaften auf dem Kontinuum irgendwo<br />
dazwischen finden dürften (Feinsinger et al.1981, Cornell & Lawton 1992, Grossman et al. 1982,<br />
Huston 1994).
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
Auf der einen Seite steht das klassische Deterministische Gleichgewichtsmodell (MacArthur & Wilson<br />
1967). Demnach führt interspezifische Konkurrenz zu einer zunehmenden Spezialisierung der<br />
Arten, da im Laufe der Zeit die Ressourcen immer exclusiver genutzt werden. Eine Verringerung<br />
von Nischenbreite und -überlappung ist die Folge. "Löcher", die in einem solchen System zum Beispiel<br />
durch Prädation entstehen können, werden schnell wieder durch bestimmte Arten ersetzt. Eine<br />
solche Biozönose ist hinsichtlich der Arten- und Individuenzahl abgesättigt, bleibt trotz gelegentlicher<br />
Zu- und Abwanderungen weitgehend konstant und erreicht über definierte Sukzessionsschritte<br />
einen vorhersagbaren Klimax-Zustand.<br />
Dem steht das Stochastische Fluktuationsmodell gegenüber, wonach die Zusammensetzung einer<br />
Biozönose im wesentlichen von Zufallsprozessen abhängt (Caswell 1976, Huston 1979). Viele Lizenzen<br />
des Lebensraumes sind nicht dauerhaft als Nischen realisiert, da durch laufende Störeinflüsse<br />
Arten lokal und zeitlich aussterben (Sale 1977, Connell 1979, Price 1991). Die lokale Tiergemeinschaft<br />
ist daher nicht abgesättigt, erreicht keinen Klimax-Zustand und kann sich von einer<br />
benachbarten Biozönose stark unterscheiden (Caswell 1978, Conner & Simberloff 1979). Da die<br />
Arten selten hohe Abundanzen erreichen, steht mehr "Lebensraum" zur Verfügung, weshalb die<br />
Artendichte in einem solchen System viel höher sein kann (Elton 1973, Lawton 1991). Der lokale<br />
Artenpool ist oft nicht vollständig zu erfassen, da mit jeder weiteren Aufsammlung oder neuen Methode<br />
ein Quantum an bisher nicht nachgewiesenen Arten hinzukommt, was ein typisches Phänomen<br />
tropischer Lebensgemeinschaften ist (z.B. Erwin 1988, Wagner <strong>2000</strong>b; Abb. 1). Das Fluktuationsmodell<br />
impliziert auch, dass die Arten grössere Nischenüberlappungen und geringe Spezialisierungen<br />
aufweisen. Wenngleich das auf den ersten Blick vielleicht nicht naheliegend erscheint,<br />
gibt es zunehmend Hinweise darauf, dass der Anteil der Generalisten in den Tropen grösser als in<br />
den Gemässigten Breiten ist (Beaver 1979a und b, Gauld 1986, Price 1991, Wagner 1999a).<br />
Die Untersuchungen zur Arthropodenfauna in Zentral- und Ostafrika<br />
Die Frage nach den Ursachen und dem Erhalt der Artenvielfalt in tropischen Tiergemeinschaften<br />
steht im Mittelpunkt unserer Untersuchungen. Dabei haben wir uns auf die baumkronenbewohnenden<br />
Arthropodengemeinschaften, als die artenreichsten terrestrischen Biozönosen konzentriert.<br />
Mit dem Beginn unserer Untersuchungen im September/Oktober 1993 in Rwanda und der<br />
angrenzenden Kivu-Provinz im damaligen Zaire begannen, handelte es sich um die ersten dieser<br />
Art in Afrika. Zunächst galt es, einen Überblick über die Zusammensetzung der Arthropodenfauna<br />
in verschiedenen Waldtypen zu bekommen (Wagner 1997; Abb. 2). Rwanda und die angrenzenden<br />
Länder eignen sich hierzu hervorragend, da aufgrund der stark heterogenen Höhenzonierung<br />
eine Vielzahl von Waldtypen auf engstem Raum existieren. Während dieser ersten Untersuchung<br />
wurden Bäume im Nebel- und Tieflandregenwald entlang des Grabenbruchs, und in einem Galeriewald<br />
am Akagera, dem Grenzfluss zwischen Rwanda und Tanzania untersucht. Um Zufallseffekte<br />
möglichst zu reduzieren und die Vergleichbarkeit der Daten untereinander zu gewährleisten,<br />
haben wir uns damals auf einen methodischen Ansatz konzentriert, der bis heute fast unverändert<br />
beibehalten wurde. Spätere Untersuchungen in Uganda galten dem Einfluss von Baumart, Waldtyp,<br />
Waldnutzung und der Saisonalität auf die Arthropodengemeinschaften und insbesondere der<br />
Frage nach dem Spezialisierungsgrad der Käfer in tropischen Systemen (Wagner 1998, 1999a,<br />
<strong>2000</strong>b). Im Mittelpunkt der aktuellen Untersuchungen steht die Frage nach den Veränderungen der<br />
Fauna entlang eines Höhgengradienten in Kenia.<br />
Wie erfasse ich die Kronenfauna?<br />
Schon früh wurde deutlich, das ein Grossteil der Artenfülle in tropischen Regenwäldern nicht in<br />
den bodennahen Schichten, sondern vielmehr im sonnendurchfluteten Kronenraum der Bäume zu<br />
finden sein dürfte. So vermutete schon zu Beginn des jüngst vergangenen Jahrhunderts der Biologe<br />
William Beebe dort eine Artenvielfalt, die in anderen Lebensräumen ihresgleichen sucht. Das<br />
was damals aus dieser Region in bis zu 60 m Höhe über dem dämmrigen Waldboden bekannt<br />
war, beschränkte sich auf wenige Miscellen, denn, wie er schrieb „Up to now gravitation and treetrunks<br />
swarming with terrible ants have kept us at bay, and of the tree-top life we have obtained<br />
only unconnected facts and specimens" (Beebe 1917).
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
Das sollte bis in die sechziger Jahre auch so bleiben. Erst dann begannen einige, die Risiken der<br />
Gravitation wenig scheuende Wissenschaftler damit, sich diesem Lebensraum mit Türmen, ausgeklügelten<br />
Seilsystemen oder „Canopy walk ways", Hängebrücken, die sich von Krone zu Krone<br />
hangelten, zu nähern. Diese Methoden erlaubten intensive botanische Studien, z.B. Einblicke in<br />
den ungeheueren Epiphytenreichtum besonders der mittel- und südamerikanischen Regenwälder.<br />
Wer genügend Sitzfleisch besaß, dem gelangen schliesslich faszinierende Beobachtungen zur Bestäubung<br />
der epiphytischen Bromelien oder Orchideen durch Insekten und Vögel. Es wurde aber<br />
auch deutlich, dass über solche Tier-Pflanze-Interaktionen hinaus, die Vielfalt der artenreichsten<br />
Tiergruppe, der Insekten, weiterhin kaum zu erfassen war. Viele Arten erwiesen sich als so selten,<br />
dass man ihnen nur zufällig begegnete, andere suchten auch vor dem am Seil hängenden Forscher<br />
das Weite und liessen sich, eine „Fluchtstrategie„ vieler Käfer, einfach fallen oder flogen davon.<br />
Dadurch waren auch mit diesen Methoden letztlich punktuelle Einblicke in die Insektengemeinschaften<br />
der Baumkronen möglich.<br />
Zu deren Erfassung bediente man sich zunächst noch Insektizid-Sprühverfahren (Southwood et al.<br />
1982a und b). Seit den sechziger Jahren, mit "Entdeckung" der Baumkroneneinnebelung für die<br />
Freilandökologie, sind solche Untersuchungen besonders effektiv durchführbar (Martin 1966, Erwin<br />
& Scott 1980, Adis et al. 1984). Damit stand nun erstmals eine Methode zur Verfügung, die auf den<br />
ersten Blick brachial erscheinen mag, mit der aber für viele Gruppen von Insekten und Spinnentieren<br />
eine vollständige Erfassung möglich wurde. Dabei wird ein Insektizid mit einem sogenannten<br />
Schwingfeuergerät als Nebel ausgebracht. Diese Geräte wurden ursprünglich zur Schädlingsbekämpfung<br />
in Gewächshäusern entwickelt und haben gegenüber Druck-Spritzverfahren den grossen<br />
Vorteil, dass der Wirkstoff um den Faktor 100 effizienter ausgebracht werden kann. Für den<br />
Einsatz im Freiland ist wesentlich, dass der Nebel etwa 60°C heiss ist und daher schnell aufteigt,<br />
so dass kleinere Bäume relativ problemlos vom Boden aus eingenebelt werden können. Bei Wind<br />
wird die Benebelung mit der Baumhöhe allerdings zunehmend uneffektiver, zumal in den hohen<br />
Baumkronen oftmals stärkere Luftbewegungen auftreten als am Boden. Daher beschränken wir<br />
uns in unseren Untersuchungen üblicherweise auf 7 - 12 m hohe Bäume, wenngleich unter extrem<br />
windstillen Bedingungen auch schon bis zu 33 m hohe Bäume eingenebelt werden konnten.<br />
Vor der Einnebelung des Baumes müssen Vorkehrungen getroffen werden, die eine selektive Aufsammlung<br />
der Kronenfauna ermöglichen. In ersten Untersuchungen dieser Art wurde der Waldboden<br />
unter den zu untersuchenden Bäumen mit Plastikplanen ausgelegt, was zunächst eine aufwendige<br />
"Planierung" erforderlich macht. Auch wird das Ergebnis durch bodenlebende Arthropoden<br />
verfälscht, die auf die Planen "zuwandern". Wie eigene erste Versuche dieser Art zeigten,<br />
nehmen besonders Ameisen die auf den Planen liegenden betäubten Arthropoden als leichte Beute<br />
gerne an. Daher wurde ein Auffangsystem entwickelt, mit dem die Arthropoden aus der Baumkrone<br />
eines Baumes exclusiv zu erfassen sind. Vor der Einnebelung wird unter der Krone eine<br />
Fläche von 16 m 2 , mit je ein m 2 grossen Nylontrichtern an Leinen aufgespannt. Dabei werden solche<br />
Bäume gewählt, die sich horizontal nicht mit anderen überlappen und vertikal mindestens 5 m<br />
von Kronen anderer Bäume entfernt sind. Die Einnebelung dauert nur drei bis vier Minuten. Als Insektizid<br />
wird eine einprozentige Lösung natürlicher Pyrethrum-Extrakte verwendet, die sehr schnell<br />
wirken, aber schon nach kurzer Zeit im Sonnenlicht in nichttoxische Komponenten zerfallen. Noch<br />
während der Einnebelung fallen insbesondere die kleinen Arthropoden gleich einem Regen herab,<br />
während sich grosse Tiere noch länger auf dem Baum halten können. Daher warten wir stets anderthalb<br />
Stunden, bis das gesamte Material aus den Trichtern zusammengefügt und konserviert<br />
wird. Um eine möglichst hohe Reproduzierbarkeit und statistische Auswertung der Ergebnisse zu<br />
gewährleisten, werden in der Regel acht Einzelbäume pro Baumart und Standort untersucht.<br />
Was erfasst man mit der Nebelmethode?<br />
Diese Methode erlaubt es nun, die auf Blättern, Ästen und Stämmen lebenden und im Kronenraum<br />
fliegenden Arthropoden quantitativ zu erfassen. Sie unterscheidet sich darin wesentlich von anderen<br />
Methoden, mit denen, seien es auch noch so ausgeklügelte Fallensysteme, nur die Aktivität,<br />
nicht aber die reale Häufigkeit (Abundanz) der Arten zu erfassen ist (Basset et al. 1997). Insbesondere<br />
die auf den Blättern des Kronenraumes lebenden Blatt- und Rüsselkäfer sind mit Ausnahme<br />
der Nebelmethode kaum quantitativ zu erfassen. Bei entsprechender Dosierung des Insek-
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
tizids werden die Arthropoden nur betäubt und stehen nach einer Erholungsphase z.B. für autökologische<br />
Experimente zur Verfügung (Paarmann & Stork 1987, Paarmann 1994).<br />
Pyrethrum ist ein äusserst wirksames Kontaktgift, das eine koordinierte Bewegung der betroffenen<br />
Tiere schnell unterbindet (Elliott et al. 1978). Selbst Insekten mit exzellenten Anpassungen zum<br />
Leben auf glatten Blattoberflächen, wie viele Blatt- und Rüsselkäfer, die spezielle Hafthaarpolster<br />
an den Tarsen tragen, sind nicht mehr in der Lage, sich auf dem Untergrund zu halten. Direkte<br />
Nachsuche oder Schütteln des Baumes nach der Benebelung erbringt nur wenig zusätzliches Material.<br />
Die wenigen Daten, die bisher zur Effizienzkontrolle vorliegen, unterstreichen die Effektivität<br />
der Methode. Bei einer Untersuchung im Tieflandregenwald auf Borneo konnte z.B. durch mehrmaliges<br />
Schütteln des Baumes die Ausbeute um nur etwa 5 % erhöht werden, wobei die Hälfte der<br />
zusätzlich erfassten Arthropoden Ameisen waren, die nachträglich aus ihren Nestern herausgelaufen<br />
waren. Erneutes Benebeln drei Stunden nach Beendigung des ersten Versuchs ergab weitere<br />
16 % Arthropoden, im wesentlichen hochmobile Insekten wie Dipteren und Hymenopteren (Floren<br />
& Linsenmaier 1994). Auf ein Schütteln der Bäume wurde bei dieser Untersuchung verzichtet.<br />
Stichproben erbrachten ebenfalls nur wenige zusätzliche Arthropoden, dafür fielen aber Blätter und<br />
anderes pflanzliches Material in die Auffangtrichter, die das Aussortieren sehr erschwerten.<br />
Die Nebelmethode hat natürlich ihre Grenzen. So können z.B. Schild- und Blattläuse kaum erfasst<br />
werden, da sie ihre dünnen Saugrüssel nicht aus den Pflanzen herausziehen und so am Baum<br />
"hängenbleiben". In den Tropen spielen diese Pflanzensauger allerdings nur eine untergeordnete<br />
Rolle, da sie viel artenärmer und seltener als in den Gemässigten Breiten sind (Price 1991). Auch<br />
im Holz und unter der Rinde verborgen lebende Arthropoden werden mit der Nebelmethode nur<br />
zufällig erfasst, wenn sie sich gerade ausserhalb ihres Substrates aufhalten. Trotz dieser Einschränkungen<br />
ist festzuhalten, dass mit der Nebelmethode eine aktuelle und für viele Taxa quantitative<br />
Erfassung möglich ist, was keine andere Methode zu leisten vermag.<br />
Neben der Erreichbarkeit der Arthropoden, stellt die Grösse der Bäume eine weitere Grenze dar.<br />
Dass wir uns im wesentlichen auf häufige, in den jeweiligen Waldtypen in Zentral- und Ostafrika<br />
weit verbreitete und kleinwüchsige Baumarten bzw. auf Jungwuchs beschränken, hat nicht nur logistische,<br />
sondern auch methodische Gründe. In vielen anderen Untersuchungen (Erwin & Scott<br />
1980, Erwin 1983, Adis et al. 1984, Stork 1987, Morse et al. 1988, Hammond 1990, Stork & Brendell<br />
1990, Basset & Kitching 1991, Allison et al. 1993, Kitching et al. 1993, Floren & Linsenmair<br />
1994), wurden fast nur hohe Bäume (bis 70 m, Stork 1988) benebelt. Um in dieser Höhe effektiv zu<br />
arbeiten, muss das Nebelgerät über ein Seilsystem in die Baumkrone gezogen und dort bewegt<br />
werden können. Der austretende Nebel wird durch den Wind leicht verdriftet, der bei solchen Höhen<br />
kaum auszuschliessen ist. Gleiches gilt aber auch für die herab"schwebenden" Insekten und<br />
es ist zu fragen, ob nicht kleine bzw. leichte Insekten in solchen Aufsammlungen unterrepräsentiert<br />
sind, da sie stärker verdriftet werden. So liegt z.B. die mittlere Körpergrösse der mit der Nebelmethode<br />
erfassten Käfer bei extrem hohen Bäumen bei 3,5 mm (Stork & Blackburn 1993), während<br />
der Wert in unseren Untersuchungen z.B. aus dem Budongo Forest bei 2,45 mm liegt. Da unter<br />
den kleinen Käfern üblicherweise die häufigsten Arten zu finden sind, während grosse Käfer oft nur<br />
als Einzelstücke vorkommen, sind beim "Driftverlust" hoher Bäume eher Fehleinschätzungen der<br />
Zusammensetzung und Diversität der Fauna zu erwarten.<br />
Die Arthropodenfauna der Baumkronen in Zentral- und Ostafrika<br />
Mit der von uns angewandten Methode werden pro Baum und Gebiet durchschnittlich 1500-3000<br />
Arthropoden erfasst, die zunächst nach Grossgruppen sortiert und ausgezählt werden können<br />
(Abb. 2, 3, 4). Während das eine zeitaufwendige, aber relativ einfach durchzuführende Fleissarbeit<br />
ist, stellt die Ermittlung der Artenzahlen, die entscheidende Grösse für Untersuchugen zur Biodiversität,<br />
ein grosses Problem dar. Eine Bestimmung des Materials im herkömmlichen Sinne ist<br />
kaum möglich und nur für wenige Gruppen stehen Spezialisten zur Verfügung, die diese Arbeit<br />
durchführen könnten. Darüberhinaus wurden durch unsere Untersuchungen viele Arten erstmals<br />
der wissenschaftlichen Erfassung zugänglich gemacht und wurden, bzw. werden derzeit beschrieben.<br />
Die Vernachlässigung, die so grundlegende biologische Teildisziplinen wie Taxonomie und<br />
Systematik in den letzten Jahrzehnten erfahren haben, wirkt sich bei der Bearbeitung tropischer<br />
Insekten besonders stark aus, da es für viele Taxa weltweit keine Bearbeiter mehr gibt. In der Zwi-
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
schenzeit konnte zwar ein Netzwerk von etwa 60 Taxonomen aufgebaut werden, dennoch konnte<br />
für nicht einmal 20 % der in Frage kommenden Taxa ein Bearbeiter gefunden werden. Eine dergestalt<br />
"verwaiste" Gruppe sind Blattkäfer aus der Verwandschaft um die Gattung Monolepta, die in<br />
den Nebelproben stets zahl- und artenreich vertreten waren und deren Taxonomie und Phylogenie<br />
derzeit von uns bearbeitet wird (z.B. Hasenkamp & Wagner <strong>2000</strong>, Wagner 1999b, <strong>2000</strong>a). Grundsätzlich<br />
stellen Blattkäfer nicht nur in unseren (Abb. 5), sondern auch in vergleichbaren Untersuchungen<br />
aus Südamerika und Südost-Asien, einen herausragenden Anteil an der Baumkronenfauna.<br />
Zumindest in den Tieflandregenwäldern sind sie die arten- und indivuenreichste Käfergruppe,<br />
meist gefolgt von den Rüsselkäfern und Kurzflüglern. In tropischen Montanwäldern sind jedoch<br />
die Rüsselkäfer wesentlich abundanter, ähnlich wie in temperaten Wäldern, wo die Rüsselkäfer<br />
weit vor den Blattkäfern rangieren (z.B. Wagner <strong>2000</strong>c).<br />
Um ökologische Fragestellungen auf Basis der Artenzahlen bearbeiten zu können, lassen sich diese<br />
auch nährungsweise ermitteln, indem die Insekten nach "Morphospecies" sortiert werden. Dazu<br />
sind umfassende Vorkenntnisse unabdingbar, weshalb wir uns bei der weiteren Auswertung auf<br />
die Käfer als eine ökologische Schlüsselgruppe beschränken. Dass die Anzahl der Morphospecies<br />
in guter Näherung der Anzahl "taxonomischer" Arten entspricht, wie sie von Spezialisten ermittelt<br />
werden, zeigten bereits die Ergebnisse unserer ersten Untersuchungen aus Rwanda. Etwa 4500<br />
Käfer aus verschiedenen Gruppen wurden damals von uns 180 Morphospecies zugeordnet und in<br />
der anschliessenden taxonomischen Bearbeitung als 188 Arten bestimmt (cf. Wagner 1996).<br />
Unsere ersten Untersuchungen in Rwanda und Kivu zeigten extreme Unterschiede in der Zusammensetzung<br />
der Arthropodenfauna in verschiedenen Waldtypen (Abb. 1). Im Galeriewald waren<br />
Käfer, insbesondere Blatt- und Rüsselkäfer die dominierende Insektengruppe. Einige Arten waren<br />
hochabundant, die Artenanzahl insgesamt aber relativ gering. Eine wesentlich höhere Diversität<br />
der Käfer konnte im Nebelwald festgestellt werden, während im Tieflandregenwald nur wenige, zufallsverteilte<br />
Käferfunde möglich waren, was vermutlich auf den starken Prädationsdruck der Ameisen<br />
in diesem Lebensraum zurückzuführen ist.<br />
Die Untersuchungen sollten in Rwanda fortgesetzt werden, ein Vorhaben, das durch den Bürgerkrieg<br />
1994 jäh gestoppt wurde. Es fanden sich aber neue Kooperationspartner in Uganda, wo zunächst<br />
der Budongo Forest im Nordwesten des Landes im Mittelpunkt des Interesses stand. Dort<br />
finden sich noch Parzellen alten Primärwaldes neben Sekundärwaldflächen, in denen teils intensiver<br />
Holzeinschlag stattfand. Hier haben wir gleiche Baumarten in verschiedenen Waldtypen untersucht,<br />
um den Einfluss der Habitatstruktur und die Spezifität der Baumart auf die Käferfauna zu<br />
ermitteln. Dabei zeigte sich, dass der Anteil an Spezialisten selbst unter den Pflanzenfressern wesentlich<br />
geringer ist als z.B. Erwin in seiner oben erwähnten Arbeit angenommen hatte. So waren<br />
nur 3 % der häufigeren Blattkäferarten exclusiv auf einer Baumart, aber 12 % ausschliesslich in einem<br />
der untersuchten Waldtypen zu finden (Abb. 6). Auch fand sich im Sumpfwald entlang eines<br />
Flusses im Budongo Forest eine deutlich andere und wesentlich artenreichere Käferfauna, als in<br />
höhergelegenen Waldparzellen, was ebenfalls auf einen grossen Einfluss der Habitatstrukturen<br />
und der abiotischen Parameter auf die Besiedlung hinweist.<br />
Im Budongo Forest wurden Untersuchungen zur Trocken- und Regenzeit durchgeführt, um den<br />
Einfluss der Saisonalität auf die Baumkronenfauna zu erfassen (Abb. 3, 7). Insgesamt haben wir<br />
dort nunmehr fast 100 Bäume untersucht, wobei ca. 200.000 Arthropoden, darunter ca. 50.000 Käfer<br />
erfasst wurden. Diese konnten etwa 1600 Arten zugeordnet werden, von denen 40 % nur mit<br />
einem Individuum, und über 95 % mit weniger als 10 Individuen nachgewiesen werden konnten.<br />
Vergegenwärtigt man sich das dabei eingenebelte Kronenvolumen von etwa 12.000 m 3 , wird die<br />
extreme Seltenheit vieler Arten überdeutlich, auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann,<br />
dass die Fauna komplett erfasst wurde. Möglicherweise ist auch hier der Prädationsdruck der Ameisen<br />
ein ganz wesentlicher Faktor bei der Entstehung solcher Verteilungsmuster. In den feuchtheissen<br />
Tieflandregenwäldern, die wir im Kivu (bei 950 m NN) und im Semliki Forest (650 m NN)<br />
untersucht haben, stellen Ameisen im Mittel zwischen 50 und 60 % der baumbewohnenden<br />
Arthropodenfauna (Abb. 8). Sie dürften als weitgehend generalistische Prädatoren, oder einfach<br />
nur durch ihren Störeinfluss in Form permanenter Anwesenheit, die Abundanz anderer Arthropo-
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
den gering halten und teilweise den "Überhang" gewissermaßen laufend abschöpfen. Den starken<br />
Einfluss der Ameisen zeigen auch Untersuchungen, welche jüngst in Montanwäldern in Kenia<br />
durchgeführt wurden.<br />
Die dort herrschenden geringen Nachttemperaturen erlauben den Ameisen keine permanente Besiedlung<br />
der Bäume. Die Dichte der kronenbewohnenden Arthropoden war dort wesentlich höher<br />
als in Tieflandregenwäldern (Abb. 4), wobei der Anteil der Webspinnen und Milben besonders<br />
stark mit der Höhe zunimmt (Abb. 8). Neben besser besiedelbaren Habitatstrukturen durch die umfangreichen<br />
Moss- und Flechtenpolster in den Montanwäldern, ist möglicherweise auch hier der<br />
fehlende Prädationsdruck der Ameisen bedeutsam für die hohe Abundanz von Arachniden. Auch<br />
viele Käferarten weisen in den Baumkronen der Montanwälder viel höhere Abundanzen als in den<br />
Tieflandregenwäldern auf. Die Diversität dieser Montanwaldfauna ist dementsprechend deutlich<br />
geringer und liegt in etwa 2500 m NN im Grössenbereich dessen, was aus Wäldern der Gemässigten<br />
Breiten bekannt ist. Rarefaction-Kurven für Käfer vom Mt. Kenya oder in den Aberdare Mountains<br />
zeigen den gleichen Verlauf wie solche der Käferfauna von Eichen in Deutschland, die mit<br />
der gleichen Methode erfasst worden sind (Abb. 9). Wenngleich die Genese dieser Faunen unter<br />
historisch-geographischen Gesichtspunkten sehr verschieden verlaufen sein dürfte, sind es doch<br />
in tropischen Gebirgen wie in den Gemässigten Breiten hauptsächlich abiotische Faktoren, die wesentlich<br />
für eine Limitierung der Artenvielfalt sein dürften. An erster Stelle sind hier die starken diurnalen<br />
bzw. annualen Temperaturschwankungen zu nennen, die spezifische Adaptationen der Arten<br />
notwendig machen.<br />
Im Umkehrschluss ergibt sich daraus, dass die konstant hohen Temperaturen der Tieflandtropen<br />
eine wesentliche Grundlage für die hohe Artenvielfalt dieses Lebensraumes ist. Dazu ist die permanente<br />
Humidität von besonderer Bedeutung, da die Fauna in Trockengebieten, selbst in Galeriewäldern<br />
entlang der Flüsse, wesentlich artenärmer ist. Kurze Trockenzeiten, wie etwa im Budongo<br />
Forest, bedingen zwar deutliche Änderungen in der Zusammensetzung der Fauna, haben<br />
aber keinen erkennbar negativen Einfluss auf die Diversität. Vielmehr sind hier biotische Faktoren,<br />
insbesondere die Präsenz bzw. Prädation der Ameisen ein für die Zusammensetzung der Arthropodenfauna<br />
der Baumkronen ein offenbar wesentlicher Faktor. Möglicherweise ist es der Prädationsdruck<br />
der dazu führt, dass die Arten keine hohen Abundanzen erreichen können.<br />
Damit scheidet auch das zu Beginn erläuterte klassische Deterministische Gleichgewichtsmodell<br />
als Modell zur Beschreibung tropischer Arthropodenzönosen weitgehend aus. Die extreme Seltenheit<br />
der meisten Arten dürfte kaum zu interspezifischer Konkurrenz führen. Auch ist die damit verbundene<br />
zunehmende Spezialisierung der Arten nicht nachzuweisen, sondern es mehren sich im<br />
Gegenteil die Erkenntnisse, dass in den Tropen die Generalisten überwiegen. Sind z.B. in Mitteleuropa<br />
etwa 80 % der Blattkäferarten mono- oder oligophag (also bis auf max. eine Pflanzenfamilie<br />
spezialisiert; Schöller 1996), konnten wir demgegenüber z.B. im Budongo Forest nur ca. 3 % der<br />
häufigeren (mit mehr als einem Individuum vertretenen) Blattkäferarten spezifisch auf einer Baumart<br />
finden. Obwohl die Nahrungspflanzenbeziehungen dieser Blattkäfer unbekannt sind, muss<br />
selbst in dieser Gruppe von einer geringen Spezialisierung in den Tropen ausgegangen werden.<br />
Der grosse Einfluss von Prädation und die damit verbundene geringe Abundanz der meisten Arten,<br />
sowie der geringe Spezialiserungsgrad der Arthropodenfauna insgesamt sind vielmehr Faktoren,<br />
die mit dem Stochastischen Fluktuationsmodell gut zu erklären sind. Zufälligkeit, Unvorhersagbarkeit<br />
und Chaos bestimmen die zeitliche und räumliche Verteilung der Arthropoden in den tropischen<br />
Regenwäldern vermutlich in einem viel höheren Maße, als bisher angenommen wurde. Die<br />
extreme Seltenheit vieler Arten bedingt auch, dass selbst die bisher umfangreichsten Erfassungen<br />
tropischer Arthropodenzönosen zu keiner Sättigung der Artenzahlen geführt, sondern vielmehr die<br />
gesamte Artenfülle nur angekratzt haben. Da wir uns derzeit im Bereich des linearen, durch das<br />
langsame Wiedererwachen der lange so vernachlässigten Taxonomie, sogar im leicht exponentiellen<br />
Bereich der Kurve wissenschaftlich erfasster Arten befinden, ist auch eine Aussage über die<br />
tatsächliche Anzahl der Organismenarten der Erde weiterhin höchst spekulativ.
Thomas Wagner: Verteilungsmuster von Arthropoden in Wäldern Ostafrikas –<br />
Einfluss der Ameisen und Abhängigkeit von Waldstruktur, Saisonalität und Höhenlage<br />
Danksagung<br />
Im Hinblick auf die bisher im Rahmen dieses Projektes erfasste Menge von etwa 600.000 Arthropoden,<br />
von denen ein Grossteil der etwa 80.000 Käfer zudem präpariert wurde, wird klar, dass<br />
diese Arbeit nur in Zusammenarbeit vieler geleistet werden konnte. Mein besonderer Dank geht an<br />
die Diplomanden/-innen, Staatsexamens-Kandidaten/-innen, sowie an eine Vielzahl von Studierenden,<br />
die sich im Rahmen von Praktika für die Faszination tropischer Artenfülle begeistern konnten.<br />
Dabei standen teils ökologische, teils taxonomische Fragestellungen im Vordergrund. Ohne<br />
deren Engagement, Interesse und Fleiss wäre diese Arbeit ein Torso geblieben. Weiterhin haben<br />
sich viele Kooperationspartner der Bearbeitung des Materials teils unter Hintanstellung anderer<br />
Aufgaben hingegeben, so dass bisher eine Vielzahl neuer Taxa beschrieben werden konnte. Neben<br />
Neubeschreibungen vieler Arten aus verschiedenen Insektengruppen, erlaube ich mir eine<br />
neu beschriebene Gattung der Schienenkäfer (Eucnemidae) herauszunehmen, der Wilhelm Lucht<br />
(1998) den Namen "Nebulatorpidus" gegeben hat. „Der vom Nebel Betäubte„, so die Übersetzung,<br />
wird für immer mit der Methode verbunden sein, mit der die ersten Käfer dieser Gruppe der Wissenschaft<br />
zugeführt wurden.<br />
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Abbildungstitel:<br />
• Abb. 1: Artensummenkurve für Käfer während einer zwei-monatigen Erfassung im Budongo Forest.<br />
Auch nach 64 untersuchten Bäumen und nahezu 30.000 Käfern ist die Artenvielfalt nicht komplett erfasst.<br />
• Abb. 2: Verteilungsmuster der Arthropoden in verschiedenen Waldtypen in Rwanda und Kivu (Mittelwerte<br />
pro Waldtyp; n = 5-9 Bäume). Zu beachten ist die starke Dominanz der Ameisen (Formicidae) im Trockenwald<br />
und Tiefland-Regenwald.<br />
• Abb. 3: Verteilungsmuster der Arthropoden auf Rinorea beniensis (Mittelwerte aus je 8 Bäumen) in unterschiedlichen<br />
lokalen Waldtypen im Budongo Forest (Uganda); Vergleich zwischen Trocken- und Regenzeit.<br />
Im Sumpfwald fanden sich keine saisonalen Unterschiede, im Primärwald und insbesondere im<br />
Sekundärwald sind die Arthropodendichten während der Trockenzeit signifikant höher.<br />
• Abb. 4: Verteilungsmuster der Arthropoden verschiedener Baumarten in ugandischen und kenianischen<br />
Montanwäldern (Mittelwerte aus je 8 Bäumen).<br />
• Abb. 5: Die artenreichsten und häufigsten Käfergruppen aus Wäldern verschiedener Höhenlage (Mittelwerte<br />
aus je 8 Bäumen). Blattkäfer (Chrysomelidae) sind jeweils die artenreichste, mit Ausnahme der<br />
Stichprobe vom Mt. Kenya, auch die individuenreichste Käfergruppe.<br />
• Abb. 6: Spezifität der Blattkäfer (Chrysomelidae) im Vergleich zwischen Waldtypen und Baumarten im<br />
Budongo Forest, Uganda. Durchschnittlich sind nur ca. 3 % der mit mehr als einem Individuum nachgewiesenen<br />
Blattkäferarten nur auf einer Baumart, aber ca. 12 % nur in einem Waldtyp gefunden worden.<br />
• Abb. 7: Prozentuale Unterschiede der Individuenzahlen auf Rinorea beniensis (Mittelwerte aus je 8<br />
Bäumen) zwischen Trocken- und Regenzeit im Budongo Forest, Uganda. Die Gruppen zeigen in den<br />
drei untersuchten lokalen Waldtypen meist die gleiche Tendenz, wobei die Unterschiede vom Sumpf-<br />
über Primär- zum Sekundärwald zunehmen.<br />
• Abb. 8: Prozentualer Anteil der Individuen einiger Arthropodengruppen entlang eines Höhengradienten<br />
vom Tieflandregenwäldern (Irangi; Semliki) über einen saisonalen Regenwald (Budongo) zu Montanwäldern<br />
unterschiedlicher Höhe in Rwanda (Cyamudongo), Kenia (Kikuyu, Mt. Kenya) und Uganda (Mt. Elgon).<br />
• Abb. 9: Rarefaction-Kurven für Käfer einzelner Bäume im saisonalen Regenwald (Teclea, Uganda) im<br />
Vergleich zuDaten aus dem Montanwald (Podocarpus, Kenia) und von mitteleuropäischen Eichen<br />
(Quercus; mit Kreissignatur). Aus dem Kurvenverlauf lässt sich die zu erwartende Artenzahl bei einheitlicher<br />
Stichprobengrösse ermitteln. Für 200 Käfer sind für Podocarpus und Quercus aufgrund der ähnlichen<br />
Dominanzstruktur der Käferfauna gleichermassen zwischen 21 und 41 Arten zu erwarten. Der Wert<br />
für Teclea liegt mit 71 bis 93 Arten signifikant darüber, da hier die meisten Arten nur selten zu finden waren.
2. Ausgewählte Konfliktbereiche<br />
2.1 Agrobiodiversität
Thomas Gladis<br />
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
Agrobiodiversität – Kulturen zwischen Tradition, Integration<br />
und Resignation<br />
„Die Konflikte werden uns vorerst nicht<br />
loslassen. Multikulturalität ist das Schicksal<br />
aller wohlhabenden modernen Länder.“<br />
Dieter Grimm<br />
Wo immer unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen, bauen sich Konfliktpotentiale auf. Kulturelle<br />
Konflikte sind aus allen geschichtlichen Epochen belegt. Wir kennen sie aus allen Teilen der<br />
Welt, aus allen gesellschaftlichen Schichten, bedingt durch die Altersstruktur auch zwischen den<br />
Generationen und selbst innerhalb der Familien.<br />
Um Lösungen herbeizuführen, bedarf es nicht zwangsläufig der Gewaltanwendung. Es ist im Gegenteil<br />
eher festzustellen, dass sich abgesehen von leider immer wieder zu beobachtenden Rückschlägen<br />
bei steigender Frequenz und zunehmender Intensität interkultureller Kontakte tendenziell<br />
eine Entwicklung zu mehr Toleranz abzeichnet, zu mehr Diskussionsbereitschaft und Weltoffenheit.<br />
Gewandelt hat sich also der Umgang mit fremden Kulturelementen und mit den Trägern dieser<br />
Kulturen. Worauf ist dies zurückzuführen?<br />
Kontakte zu anderen Kulturen waren früher vor allem Eroberern, Forschern und einigen Geschäftsleuten<br />
vorbehalten. Heute werden sie nicht mehr nur durch die aus allen gesellschaftlichen Schichten<br />
stammenden Fernreisenden wahrgenommen. Es sind neben den entlegene Reiseziele bevorzugenden<br />
Urlaubern immer zahlreicher werdende Arbeitsuchende, Gastarbeiter, die eine mindestens<br />
zeitweilige Integration in andersartige Kulturen anstreben. Dies fällt in großen Städten leichter<br />
als auf dem Lande. Städte tolerieren bzw. integrieren Fremde und deren Kulturen leichter als dörfliche<br />
Gemeinden in dünn besiedelten Regionen. Die Intensität der Migration und damit die gegenseitige<br />
Beeinflussung ist zwischen Metropolen weit größer als sie es zwischen Stadt und Land oder<br />
zwischen benachbarten ländlichen Gemeinden ist. Dies führt zu einer Nivellierung der Unterschiede<br />
zwischen miteinander kommunizierenden großen Kulturstädten, desgleichen ist eine kulturelle<br />
Kompartimentierung des Lebensraumes Stadt zu beobachten, unabhängig vom Bezug zu einem<br />
bestimmten Staat.<br />
Tradition, Kultur, Sprache bzw. Dialekt, selbst Wertvorstellungen bleiben in ländlichen Siedlungsräumen<br />
in der Regel besser erhalten. Sie werden dort gepflegt und gewissermaßen in situ konserviert.<br />
Die Mobilität ist auf dem Lande historisch und berufsbedingt geringer als in der Stadt. Flexibilität<br />
bringt hier im Vergleich mit Kontinuität und Stabilität zunächst keine wirtschaftlichen Vorteile.<br />
Bei der ländlichen Bevölkerung ist daher das Realitätsbewusstsein im Hinblick auf die Abhängigkeit<br />
der Produktion von Klima, Boden, Einhaltung agronomischer Termine etc. zur landwirtschaftlichen<br />
Produktion und mithin zum Überleben viel ausgeprägter als bei den von der Industrie, Handel<br />
und Gewerbe lebenden Städtern. Der im voll klimatisierten Büroalltag fast bedeutungslose und im<br />
Supermarktbummel kaum mehr wahrnehmbare Wechsel von Witterung und Jahreszeiten bleibt natürlich<br />
nicht ohne persönliche Folgen für den einzelnen Menschen, für sein Umfeld, für die Gesellschaft.<br />
Die subjektive Wahrnehmung veränderter Grundbedürfnisse spiegelt sich nicht zuletzt im<br />
Konsumverhalten, in der Freizeitgestaltung und in der Bewertung ererbter Güter wider. Diese Veränderungen<br />
sind nicht auf die Städte beschränkt, sie finden hier jedoch wesentlich schneller statt<br />
und sind tiefgreifender.<br />
Vor der Industrialisierung wurde in bäuerlichen Familien neben dem Land mit Haus und Hof, Stallungen<br />
und Vieh auch das Saat- und Pflanzgut vererbt. In „Entwicklungsländern“ ist das aus gutem<br />
Grunde heute noch der Fall (vgl. TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Experimente wurden und werden<br />
von Bauern – wenn überhaupt – nur sehr vorsichtig unternommen: Ein kompletter Saatgutwechsel<br />
birgt mehr Risiken als das schrittweise Verschneiden und Mischen der Hofsorten mit anderen,
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
mutmaßlich besseren, ertragreicheren, krankheitsresistenten Züchtungen. Für die Umstellung auf<br />
andere Haustierrassen mit anderen Verhaltensweisen, spezifischen Charaktereigenschaften und<br />
anderen Ansprüchen z.B. an Lebensraum und Fütterung muss es triftige Gründe geben. Am ehesten<br />
werden noch Einzeltiere zur „Blutauffrischung“ in den Bestand eingekreuzt, ob bei Geflügel,<br />
Hund, Rind, Schaf oder Schwein, ja selbst bei der Honigbiene. Bei dieser ist der allmähliche Übergang<br />
von der Schwarmimkerei mit der dafür typischen Apis mellifera ssp. mellifera (die stech-,<br />
sammel- und schwarmfreudige dunkle Honig- oder Heidebiene) zu den „friedlicheren“ kärntner oder<br />
den italischen Rassen für Deutschland gut dokumentiert, einschließlich der damit verbundenen<br />
grundsätzlichen kulturellen Veränderungen. Hier schließt sich der Kreis, denn das Resultat der<br />
Entwicklung ist bei Kulturpflanzen und Haustieren sehr ähnlich: Kenntnisse gehen verloren, die Existenz<br />
von Sorten und Rassen ist gefährdet. Viele von ihnen sterben aus, gelegentlich sogar Arten.<br />
Gerätschaften werden nutzlos, Methoden verlieren an Bedeutung.<br />
Erst seit rund 100 Jahren hat es sich bei Landwirten in den Industrieländern eingebürgert, Saat-<br />
und Pflanzgut käuflich zu erwerben. Immer weniger Bauern halten seither an ihren traditionellen<br />
Hofsorten und deren erhaltungszüchterischer Bearbeitung fest. Am leichtesten fällt es ihnen offenbar,<br />
sich von den einjährigen Feldfrüchten zu trennen, allen voran vom Getreide. Es folgen die Öl-<br />
und Faserpflanzen, Gemüsearten und -sorten, Kartoffeln, schließlich Obst. Eine Kompensation<br />
dieser weltweit flächendeckend stattfindenden Generosion durch die im Gegenzug entwickelten<br />
neuen Zuchtsorten und verbesserten Rassen sowie durch die inzwischen etablierten nationalen<br />
oder regionalen Genbanken bzw. Zuchtverbände ist nur bedingt möglich, da die einst weit verbreitete<br />
Vielfalt der Kulturpflanzen und Haustiere nur mehr den Mitarbeitern jener „ihr“ Material auf<br />
kleinen Parzellen vermehrenden ex-situ-Sammlungen und den auf einige Arten bzw. Sortengruppen<br />
oder Rassen spezialisierten Züchtern bekannt ist. Selbst von den agrarhistorischen<br />
und Freilichtmuseen verfügen die wenigsten über repräsentative Freiflächen und ausreichende<br />
Kapazitäten, selten gewordene Rassen und Sorten regionaler Besonderheiten lebend zu zeigen –<br />
von einer Nutzung dieses Kulturgutes ganz zu schweigen.<br />
Gegenwärtig erscheint nur noch das Management riesiger Feldflächen mit einer an die Dimensionen<br />
der Äcker angepassten Technik rentabel, die Maximierung von Erträgen durch den Einsatz<br />
von ertragreichen Handelssorten, Kunstdünger und Pflanzenschutzmitteln. Hat diese Entwicklung<br />
die wirtschaftliche Lage moderner Landwirte nachhaltig verbessern können? Arbeitstage und –<br />
wochen ohne Enden, Präsenzpflicht auf dem Hof bzw. dem landwirtschaftlichen Betrieb, drängende<br />
Saat-, Ernte-, Fütterungs- und Liefertermine, witterungsbedingte Unsicherheiten, durch Saisonarbeiter<br />
notdürftig abgepufferte Arbeitsspitzen und nicht zuletzt dem Preiskampf geschuldete vergleichsweise<br />
niedrige Gehälter lassen modernen Bauern und Landwirten immer weniger Spielraum.<br />
Unter ähnlichen Bedingungen leben nur noch private Fischer und Waldarbeiter. Andere als<br />
die beschriebenen, überall auf dem Lande ähnlichen Arbeitsmöglichkeiten bestehen im Dorf kaum.<br />
Defizite im kulturellen und im Informationsangebot tun ein übriges, die Landflucht zu fördern. Wer<br />
jung ist und wem von der Familie gestattet bzw. wer von ihr gar dazu aufgefordert wird, wandert ab<br />
in eine der Städte und versucht dort sein Glück. Kaum jemand kommt zurück. In Krisengebieten,<br />
weniger industrialisierten und Ländern, die von Kriegen heimgesucht werden, erfordert die wirtschaftliche<br />
Lage der Großfamilien in Analogie, dass ein Großteil der arbeitsfähigen Bevölkerung<br />
das Land verlässt, um in den großen Städten oder als Gastarbeiter in anderen Staaten ein Auskommen<br />
zu finden.<br />
Migration ist gesellschaftsfähig geworden. Emigranten- und Immigrantenströme folgen eigenen<br />
Gesetzen. Sie sind mit bestehendem Recht nicht immer in Einklang zu bringen, denn sie perforieren<br />
Grenzen, weichen sie auf und machen sie schließlich sogar überflüssig, führen zur Novellierung<br />
von Gesetzen oder gar zu deren Abschaffung. Regelmäßige Migration einschließlich der<br />
Permigration (z.B. dank internationaler Reise- und Transitabkommen oder auch innerhalb der Europäischen<br />
Union) kennzeichnet heute das tägliche, wöchentliche oder auf den Urlaub gerichtete<br />
Verhalten sehr vieler Menschen. Zwischen Erst-, Zweit- und sonstigen Wohnorten, Arbeitsstätten<br />
und Urlaubsplätzen liegen Distanzen, die mit eigener oder mit Muskelkraft von Pferden im gleichen<br />
Zeitraum nicht mehr überbrückt werden könnten. Doch nicht nur die Menschen selbst wandern,<br />
auch die von ihnen und für sie produzierten Gebrauchsgüter einschließlich leicht verderblicher<br />
Nahrungs- und Genussmittel sind unterwegs. Migration und Gütertransfer sind ganz normale, keineswegs<br />
neue Erscheinungen menschlicher Kultur. Es ist vielmehr die Intensität, die uns erstau-
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
nen oder mitunter auch erschrecken lässt. Der Prozess der Verfremdung, der Verlust langfristiger<br />
gesellschaftlicher und regionaler, spezifischer Bindungen, die Dimension allgegenwärtiger fremder<br />
Kulturelemente.<br />
Am Beispiel emigrierender Flüchtlinge und immigrierender Gastarbeiter aus ländlichen Regionen<br />
soll auf ein scheinbar unbedeutendes kulturelles Detail eingegangen werden, das bei Problemanalysen<br />
bisher übersehen wurde. Gemeint ist das lebende kulturelle Erbe, das die unterschiedlichsten<br />
Nationalitäten angehörenden Wanderer mit sich führen, das sie ihr eigen nennen, ohne damit<br />
jedoch „Eigentum“ oder „Besitz“ im juristischen Sinne zu meinen.<br />
„Wie es schon lange Tradition war, gehörte die Pflege des Gartens zum Aufgabenfeld der Burgherrin,<br />
die ihn zusammen mit ihren Töchtern und Mägden bearbeitete. ... Dieser meist rechtwinklig<br />
angeordnete, ordentlich in Beete geteilte Wurzgarten lieferte Gemüsepflanzen für die Küche. Aber<br />
auch viele Heilkräuter wurden, nach Anweisung der Mönche, hier gezogen. ... Gewaltige neue<br />
Eindrücke stürmten ... auf die Kreuzfahrer ein. Im fernen Morgenland entfaltete sich vor ihnen die<br />
Pracht der Kalifengärten. Einige der orientalischen Gewächse, vor allem Gewürzpflanzen wie<br />
Schwarzkümmel und Ysop, nahmen die Ritter mit in ihre Heimat. Und von den Burggärten aus<br />
fanden die Pflanzen dann schließlich auch ihren Weg in die umliegenden Bauerngärten.“ An anderer<br />
Stelle schreibt WIDMAYR-FALCONI (1994) in ihrem historischen Exkurs: „Es ist auffällig, wie sehr<br />
der Pflanzenbestand in den Bauerngärten, zumindest innerhalb Mitteleuropas, bis hinauf in den<br />
Norden, übereinstimmt. Sicher ist dies auch auf den Einfluss der Mönche zurückzuführen, die mit<br />
der Verbreitung des Christentums auch im Gartenbau für neuen Aufschwung sorgten.“ Diese Aussage<br />
kann sich natürlich nur auf die Artenebene beziehen, denn wie sonst wäre die Rassen- und<br />
Sortenvielfalt zu erklären, die uns auf historischen Landschaftsbildern überliefert ist, die uns in<br />
Darstellungen von Marktszenen aus den unterschiedlichen Regionen Europas nahegebracht und<br />
auf Stilleben aus vergangenen Epochen originalgetreu wiedergegeben wird? Die Klöster, Kaiser<br />
und Könige konnten Empfehlungen geben, mehr oder minder detaillierte Land-Verordnungen erlassen<br />
und deren Nicht-Befolgung mit Geld- und Prügelstrafen belegen. Langfristig durchsetzen<br />
ließ und lässt sich nur, was Akzeptanz bei den Bauern findet, sich in ihre Kultur und Tradition integrieren<br />
lässt, notfalls via Förderung und Schulung. Es wäre höchst erstaunlich, hätten Pflanzen<br />
und Tiere aus dem täglichen Umgang mit ihnen keinen Eingang in bäuerliche Riten und Bräuche<br />
gefunden oder gäbe es keine verbindlichen rechtlichen Regelungen zum Umgang mit diesen Gütern.<br />
Aus gegenwärtiger Sicht teils unverständlich gewordenes aber beibehaltenes Brauchtum,<br />
Gast- oder Brautgeschenke und selbst Opfer bis hin zum Erntedank zeugen vielmehr sogar in der<br />
modernen Alltagskultur davon, wie stabil ursprünglich rein bäuerliche Verhaltensweisen beibehalten<br />
werden (vgl. HELLER 1995).<br />
Wenn Bauern – gleich wo auf der Welt – gewaltsam vertrieben werden, die Flucht ergreifen und<br />
befürchten müssen, Zeit ihres Lebens den heimischen Hof nicht wiederzusehen, nehmen sie<br />
Saatgut mit auf die Reise. Beispielsweise wurde dies für die Zeit der Eroberung Albaniens durch<br />
die Türken im 15. – 18. Jahrhundert von LAGHETTI et al. (1998) in Italien nachgewiesen und in diesem<br />
Jahrhundert für Familien österreichischen Ursprungs in Australien festgestellt (M. RIGLER<br />
1997, pers. Mitt.). Doch auch „harmlose“ Urlauber, Besucher, nehmen Saatgut oder Pflanzen, nicht<br />
selten auch Tiere aus fernen Ländern mit – als lebende oder präparierte Souvenirs, die nationalen<br />
Ein- und Ausfuhrbestimmungen häufig ignorierend, von der Nichtbeachtung oder Unkenntnis erlassener<br />
Artenschutzbestimmungen ganz zu schweigen. Nicht wenige lassen sich dieses Material<br />
sogar nachschicken oder von anderen transferieren, um das Risiko der Entdeckung bei Zollkontrollen<br />
zu umgehen. Doch dies soll hier nicht näher erörtert werden, obwohl es ein allgemein<br />
verbreitetes menschliches Verhalten beschreibt.<br />
Auf dem Lande, um auf die Gastarbeiter zurückzukommen, gibt es auch in den Industriestaaten<br />
meist nur kurze Verträge z.B. für die Erdbeerernte, in der Spargelsaison oder zur Weinlese. Beginn<br />
und Ende der Tätigkeit liegen zeitlich so dicht beieinander, dass der Versuch kaum lohnt, sprachliche<br />
Barrieren abzubauen. Wem es jedoch gelingt, in einer Stadt Fuß zu fassen, die auch noch in<br />
einem der wohlhabenden Länder dieser Erde liegt, dem bieten sich ganz andere Möglichkeiten.<br />
Geregelte Arbeits- und Freizeiten sowie ein allen offenstehender Zugang zu preiswerten Kommunikationsmöglichkeiten<br />
erlauben es, einen engen Kontakt zu den Familien zu unterhalten und Teile<br />
des Verdienstes zur Unterstützung der Verwandten nach Hause zu schicken. Briefwechsel mit<br />
Freunden und Verwandten (heute Telefonate oder der Austausch von E-Mails), neue Bekannt-
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schaften mit Landsleuten, die einen ähnlichen Hintergrund besitzen, mit denen man zusammenarbeitet<br />
oder die man nach Feierabend trifft, sind neben der Beibehaltung von Kultur und Tradition<br />
dann zwischen den Urlaubsaufenthalten wichtige Brücken in die Heimat. Die meisten Immigranten<br />
sind jedoch bestrebt, die engsten Familienmitglieder nachzuholen, Ehefrauen und Kinder.<br />
Menschlich verständlich, verhindert dies jedoch eine gesellschaftliche Integration. Das Nebeneinanderherleben<br />
reduziert sich auf eine langsame Assimilation einander fremd bleibender Kulturelemente.<br />
Da die Verbindung zur Heimat nicht abreißt, kommt es zu wiederholten Besuchen und Gegenbesuchen<br />
selbst der Großfamilien. Informationen über frei werdende oder bei Bekannten neu<br />
geschaffene Arbeitsplätze werden vermittelt und regen Verwandte, Freunde und ehemalige Kollegen<br />
an, es den Vorbildern gleich zu tun. Wie oben angedeutet, werden neben unbelebten Kulturträgern<br />
(Andenken, Bücher, Zeitschriften, Musik) häufig auch lebende (Saatgut, Pflanzen, Tiere) in<br />
beide Richtungen ausgetauscht. Sie dominieren hier wie dort nicht, aber sie sind präsent: So kann<br />
man – um bei dem Beispiel der Hausgärten abgelegener albanischer Bergdörfer zu bleiben – neben<br />
den traditionellen plötzlich auch holländische und deutsche, auf den Inlands-Märkten und im<br />
Handel als Saatgut oder Jungpflanzen nicht erhältliche Hybridsorten antreffen (GLADIS et al. 1995),<br />
so u.a. von Mais und Tomaten. Vielleicht sind es Erinnerungen an den Besuch eines Sohnes vor<br />
etlichen Jahren. Bei einem Züchter oder auf Versuchsflächen würde man dies als Vergleichsanbau,<br />
als Materialsichtung im Hinblick auf die Eignung an dem betreffenden Standort bezeichnen,<br />
als Vorarbeit für eine spätere Evaluierung und züchterische Nutzung werten.<br />
Gastarbeiter verhalten sich grundsätzlich nicht viel anders als Besucher, Urlauber oder Flüchtlinge.<br />
Sie agieren aber aus sehr konkreten und nachvollziehbaren Beweggründen: Insbesondere wenn<br />
sie sich mit ihren Familien im Ausland ansiedeln versuchen sie, an ihre heimatliche Kultur anzuknüpfen.<br />
Lebens-wichtige Bestandteile dieser Kultur waren dort und sind in der neuen Umgebung<br />
zunächst einmal Landwirtschaft und Gartenbau. Wo in den Randlagen der Städte das Land für Ackerbau<br />
und Viehzucht nicht ausreicht – und das ist zumeist der Fall – da wird gegärtnert, gegebenenfalls<br />
Land urbar gemacht und bewirtschaftet, da werden Kleintiere gehalten. Nicht selten sind<br />
es sogar mehrere Gärten, die in Abhängigkeit von der Nähe zur Wohnung der Familie mit ganz unterschiedlichen<br />
Pflanzen bestellt werden. Fast ausnahmslos stammen alle Mais- und Bohnen-<br />
„Sorten“, die unterschiedlichen Obst-, Gemüse, Gewürz-, Heil- und Zierpflanzen nicht aus den einschlägigen<br />
Fachgeschäften, die Saatgut „weit besserer Qualität“ preiswert feilbieten sondern aus<br />
den vertrauten heimatlichen Gärten und Kulturkreisen, in denen die strikte Trennung zwischen Ernte-<br />
und Saatgut noch nicht vollzogen ist. Unter einfachsten Bedingungen, meist ohne Wasseranschluss,<br />
nur mit der Handhacke als Werkzeug ausgestattet, wird wenn es sein muss mitten in Europa<br />
in ausgefeilten intercropping-Systemen eine fast tropisch anmutende üppige Vielfalt angebaut,<br />
genutzt – und erhalten: Hunderte unterschiedliche Busch- und Stangenbohnen, Dutzende<br />
Salate, Tomaten und Paprika, primitiv anmutende – aber äusserst robuste und ertragsstabile Mais-<br />
und Perlporree-Varianten sowie vergleichsweise frostharte Mangoldsippen und Pflückrüben kann<br />
man allein im Bonner Raum finden (GLADIS 1999). In (West-)Berlin wurden grenznahe Nischen als<br />
Gärten genutzt (GÜNGÖR <strong>2000</strong>). Nicht selten werden Mischungen unterschiedlichster Sorten sogar<br />
auf dem gleichen Beet angesät oder gepflanzt: „The common management practise of mixing several<br />
genotypes ... explains why many cultivars rather than few are used. When combined they<br />
can, in isolation or in association, develop a defensive versatility against climate changes, blights<br />
and various environmental conditions ...“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Fast in jedem Garten<br />
steht Melde (Atriplex hortensis) – nicht als Unkraut, nicht zur Zierde, nicht als „Kulturpflanze des<br />
Jahres <strong>2000</strong>“ sondern als Gemüse. Und es ist nicht „eine“ Melde, es sind mosaikartig verzahnt – je<br />
nach Herkunft der Gärtner – Melden aus den unterschiedlichsten Regionen und Anbaugebieten<br />
z.B. des Irak und Iran, Palästinas, Rumäniens, Syriens, der Türkei. Nicht anders als in typischen<br />
ländlichen Gebieten Europas, Asiens und Afrikas gehen die indigenen Gemeinschaften angehörenden<br />
Bauern mit ihren traditionellen „pflanzengenetischen Ressourcen“ in Australien und in den<br />
beiden Amerika um: „The methods of farming practised for centuries are still used by farmers and<br />
local cultivar seeds are part of this tradition. Seeds are one of the most precious resources a<br />
farmer has and great care is taken in conserving them. This respect and care for seeds has been<br />
passed down through generations ...“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Und nicht anders als in Europa,<br />
Asien und Afrika verfahren Aussiedler mit ihren tradierten „pflanzengenetischen Ressourcen“<br />
in Australien und den beiden Amerika.
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
Fundamental entgegengesetzt ist der Umgang mit Saatgut, Pflanzen und wohl auch mit Tieren bei<br />
sekundären Gärtnern und Landwirten, beispielsweise in Österreich und in Deutschland. Bis auf<br />
wenige beschriebene Ausnahmen (vgl. ARROWSMITH et al. 1998; GLADIS 1996, HELLER 1997/98),<br />
das Obst und den Hobby-Bereich (Privatinitiativen, Vereine) werden Saatgut und vorgezogene<br />
Jungpflanzen aller landwirtschaftlichen und gärtnerischen Kulturpflanzen einschließlich der Zier-<br />
und Forstpflanzen mittelbar bei Züchtern gekauft. Ein Rückgang des Absatzes ist mit Sicherheit<br />
nicht auf die Aktivität der genannten Initiativen und Vereine sondern vielmehr darauf zurückzuführen,<br />
dass Gartenarbeit in diesen Ländern keineswegs mehr zu den präferierten Freizeitbeschäftigungen<br />
gehört. Gärten müssen dort in erster Linie pflegeleicht und in zweiter repräsentativ<br />
sein. Selbstversorgung aus eigenem Anbau spielt fünfundfünfzig Jahre nach dem zweiten Weltkrieg<br />
nur mehr eine untergeordnete Rolle. Dessen ungeachtet bewahrt die Gesetzgebung formal<br />
auch die aus Altersgründen mittlerweile beinahe zu vernachlässigende Verbrauchergruppe der<br />
Selbstversorger, die Hunger am eigenen Leibe zu spüren bekommen hat, ebenso wie die weit<br />
größere der Zierpflanzenfreunde vor dem Erwerb möglicherweise minderwertiger Pflanzen: Sortenschutz<br />
und Saatgutverkehrsgesetz regeln den Markt und den Konsum inländisch erzeugter<br />
pflanzlicher Nahrungsmittel nahezu perfekt. In den Handel gelangt nur, was auf Sortenechtheit und<br />
Vitalität, Homogenität, Keimfähigkeit, Pflanzengesundheit und Fremdbesatz amtlich geprüft und für<br />
gut befunden wurde und was mithin für den Verbrauch im Lande oder für den Export zugelassen<br />
ist. Abgesehen von wenigen Sonderregelungen (z.B. für den Nachbau und für die Nachbarschaftshilfe<br />
bzw. die kostenfreie Abgabe kleinster Saatgutmuster durch Genbanken, Botanische oder<br />
Schulgärten) und den „grauen“ Hobby-Bereich gibt es also keine offiziell anerkannten Quellen für<br />
den Bezug von Saat- und Pflanzgut, die nicht von der privaten (Gemüse, Zierpflanzen) oder staatlichen<br />
(Forst, Obst) Pflanzenzüchtung legitimiert worden sind. Die weiterverarbeitende Industrie<br />
gibt den Landwirten in Verbindung mit Abnahmegarantien sogar vor, welche Sorten sie in welchem<br />
Umfang anbauen dürfen.<br />
Es ist als ein Zeugnis erstaunlicher Anpassungsfähigkeit, dass der Artenrückgang nicht dramatischer<br />
verläuft, dass die Generosion bei Kulturpflanzen und Haustieren noch immer stattfinden<br />
kann, dass die Zerstörbarkeit der Biosphäre bis heute nicht bewiesen worden ist. Abgesehen davon,<br />
dass sich das niemand ernsthaft wünscht noch überhaupt vorstellen kann, dass wohl auch<br />
niemand absichtlich und bewusst darauf hinarbeitet, ist es vermutlich auch gar nicht möglich. Denn<br />
nicht nur menschliche Gesellschaften, auch die Natur ist an Grundgesetze gebunden. Und wie in<br />
der Gesellschaft, werden auch in der Natur Grenzen und Gesetze meist erst dann bewusst wahrgenommen,<br />
wenn sie erreicht sind bzw. wenn gegen sie verstoßen wird. Wir Menschen sind und<br />
bleiben Teil der Natur, solange sie unser Tun toleriert und unsere fortwährenden Provokationen ihre<br />
Existenz nicht ernsthaft gefährden – ein sehr zuverlässiges, sich selbst schützendes, stabiles<br />
und abgepuffertes System.<br />
Gesellschaftliche Grundgesetze sind dann am wirkungsvollsten, wenn sie sich an Naturgesetze<br />
anlehnen: Angenommen, neue Elemente (fremdländische Arten, klimatisch überlebensfähige Exoten)<br />
treten hinzu, dominieren bald und nehmen gar überhand, ändert sich das Arteninventar und<br />
die soziologische Struktur der natürlichen Lebensgemeinschaften durch jene Neophyten und Neozoen,<br />
nicht aber die naturgesetzliche Grundlage (vgl. GLADIS et al. 1997). Treten neue Sorten oder<br />
Arten in Erscheinung, verdrängen sie alte, müssen jene aber nicht zwangsläufig tilgen. Durchaus<br />
ähnliches ist auf den Obst- und Gemüsemärkten zu beobachten: exotische Lebensmittel wie Bananen,<br />
Erdnüsse, Litchi, Nashi-Birnen, und Süßkartoffeln haben sich auf mitteleuropäischen Märkten<br />
etabliert. Andere, herkömmliche Obst- und Gemüsearten, sind dadurch aber nicht verdrängt<br />
worden. Automobile, Reisezüge und Flugzeuge haben Fahrräder und Fußgänger nicht abgeschafft,<br />
Online-Zeitschriften nicht die Bücher, Gazetten und Journale, Halogenleuchten nicht die<br />
Wachslichter. Das ist in allen Systemen recht ähnlich, natürlichen wie gesellschaftlichen. Das<br />
Spektrum ist erweitert worden, bunter – und mithin gibt es mehrere Optionen. Auszusterben ist nur<br />
eine davon.<br />
Jedes Lebewesen, d.h. jedes Individuum, altert und stirbt einmal – aus. Auch Sorten und Rassen,<br />
Varietäten, Arten, ganze Gattungen sind nicht dagegen gefeit. Die Dinosaurier sind das bekannteste<br />
Beispiel, in der Evolution waren sie schließlich kleineren Reptilien und den Säugern unterlegen.<br />
Auch von der Dronte (Raphus cucullatus) und vom Deutsche Bertram (Anacyclus officinarum) existieren<br />
nur mehr Abbildungen und Präparate in Museen. Auch diese Arten sind ausgestorben bzw.
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
in diesen Fällen genauer: von Menschen in historischer Zeit bewußt ausgerottet, nicht erhalten<br />
bzw. nicht rechtzeitig als erhaltenswert eingeschätzt worden. Heute bedauern wir dies, doch wir<br />
können diese Wesen (noch?) nicht zu neuem Leben erwecken. Unzählige Individuen, Tiere, Pflanzen,<br />
aber auch Menschen sterben täglich, sind vom ersten Tag ihres Lebens an in ihrer Existenz<br />
bedroht. Und je nach Häufigkeit, Lebensweise, Reproduktionsvermögen, Konkurrenz- und Anpassungsfähigkeit<br />
mit ihnen – jeweils spezifisch und unterschiedlich stark auch grundsätzlich alle wildlebenden<br />
und domestizierten Arten wie auch die höheren taxonomischen Einheiten. Ethnischen<br />
Gruppen ergeht es nicht besser. Bei Kulturpflanzen und Haustieren kommt als zusätzliches Selektionskriterium<br />
für ein Überleben der Nutzen für „den“ Menschen hinzu. Auch Sprachen, Kunstschätze<br />
und andere Kulturgüter altern, erodieren, gehen unwiederbringlich verloren. Kulturlandschaft<br />
gehört gleichfalls dazu. Dies alles findet permanent statt – ungeachtet intensiver Forschungstätigkeit,<br />
trotz des erklärten Willens und größter Anstrengungen zur Erhaltung. Die Naturgüter<br />
sollen ebenso wie Kulturgüter für die Ewigkeit möglichst unverändert bewahrt werden. Auf<br />
dieser erklärten menschlichen Absicht basieren alle ausgewiesenen Schutzgebiete, die Arbeit aller<br />
Museen. Dies zu wollen erscheint ganz unterschiedlichen Gesellschaften auch vernünftig obwohl<br />
wir nicht erst seit heute wissen, dass es gänzlich unmöglich ist. Wir leben mit diesem Schisma,<br />
haben uns mit der Unabänderlichkeit von Werden und Vergehen abgefunden, trauern darum, freuen<br />
uns darauf, können es kaum beeinflussen und sollten gerade dies vielleicht auch so wenig wie<br />
möglich tun. Denn wo sollen die von ehrgeizigen Forschern vielleicht irgendwann einmal tatsächlich<br />
rekonstruierten Riesenhirsch-, Mammut- und Wollnashornherden einmal leben – nur in speziellen<br />
Zoologischen Gärten, in realisierten „Jurassic Parks“? Die blinde Fortschrittsgläubigkeit, vereint<br />
mit der Annahme, dass sich jede einmal ins Auge gefasste Idee irgendwann auch realisieren lässt<br />
und dies dann auch werden muss, entbindet uns nicht von der Verantwortung für unser Tun.<br />
Wie am Beispiel von Pflanzen und Tieren sowie der „Eigentumsrechte“ an ihnen deutlich wird, sind<br />
alte und neue Wertesysteme durcheinandergeraten. Bis zur Unterzeichnung der Biodiversitätskonvention<br />
durch die Mehrheit der Staaten dieser Erde wurden – und werden wie eingangs geschildert<br />
teils noch heute – (Kultur-)Pflanzen und (Haus-)Tiere ebenso wie Boden, Wasser und Luft als öffentliche<br />
Güter behandelt (OETMANN-MENNEN und BEGEMANN 1998). Sie sind Ressourcen im besten<br />
Sinne des Wortes. Die neuen Wertesysteme sind damit gänzlich inkompatibel, wie Genpiraterie<br />
und Patentierung von Lebewesen erkennen lassen. Dessen ist man sich wohl bewusst, setzt aber<br />
weiterhin auf juristisch unanfechtbare internationale Vereinbarungen, diskutiert über staatliche<br />
Souveränität und die Realisierung deren globaler Akzeptanz (BORRING <strong>2000</strong>). Nationale und regionale<br />
Umsetzungsbemühungen des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt (CBD) müssen<br />
an der Eigentumsfrage und deren Auslegung scheitern: „Bis zuletzt war umstritten, wie der Grundsatz<br />
nationaler Souveränität Eingang in den Vertragstext finden sollte. Der letzte Entwurf sah eine<br />
Liste von Grundprinzipien und allgemeinen Verpflichtungen vor. Die Entwicklungsländer befürworteten<br />
eine derartige Liste, die von den Industrieländern abgelehnt wurde. Um zu einem Kompromiss<br />
zu gelangen, wurden im letzten informellen Entwurf alle entsprechenden Vorschläge gestrichen<br />
und kurzerhand durch Prinzip 21 der Erklärung von Stockholm ersetzt, dessen Wortlaut<br />
zum Art. 3 der Konvention wurde in Abs. 1 des Art. 15, der Kernvorschrift über die Regelung genetischer<br />
Ressourcen, das souveräne Recht der Staaten wiederholt und aus ihm die Befugnis der<br />
Regierungen abgeleitet, den Zugang zu genetischen Ressourcen zu bestimmen. Er unterliegt den<br />
innerstaatlichen Rechtsvorschriften. Wie wichtig der Grundsatz der nationalen Souveränität den<br />
Staaten ist, wird daran deutlich, dass auch die Präambel ihn nochmals bekräftigt (4. Erwägung) ...<br />
Ein „gemeinsames Erbe“ für biologische Vielfalt hätte, wäre es nicht für nur einen kleinen Teil wildlebender<br />
Vielfalt im Staatseigentum angenommen worden, die Eigentumsregelungen in Frage gestellt<br />
und größte Durch- und Ausführungsprobleme aufgeworfen.“ (HENNE 1998, p. 121). Wie wichtig<br />
deutschen Hilfsorganisationen die Saatgutversorgung der Bauern in Katastrophengebieten ist<br />
erkennt man daran, dass hierfür überhaupt keine Planung existiert. Hilfssendungen erschöpfen<br />
sich in der Bereitstellung von Lebensmitteln, Trinkwasser, Medikamenten, Kleidung und Wohnraum.<br />
Darüber hinausgehende sind keine Grundbedürfnisse mehr, Aufbauhilfe wird über die Entwicklungszusammenarbeit<br />
gewährt. Was tun, wenn einem Land seine nationalen Genressourcen<br />
durch Umweltkatastrophen wie Stürme oder Hochwasser komplett zerstört worden sind und regional<br />
angepasstes Saatgut nur von feindlich gesinnten, weniger betroffenen Nachbarstaaten bereitgestellt<br />
werden könnte, die sich jedoch auf ihre nationale Souveränität berufen und keine ressourcenbezogenen<br />
material transfer agreements (MTA) eingehen? Es wurde und wird noch immer
Thomas Gladis: Agrobiodiversität - Kulturen zwischen Tradition, Integration und Resignation<br />
einfach nicht wahr-, nicht zur Kenntnis genommen, welche fundamentalen Gesetze und unbezahlbaren<br />
Güter durch die CBD verletzt werden und dass diese ökonomisch nicht bewertbaren, unveräußerlichen<br />
Grundrechte schlicht durch individuelle Prinzipientreue weltweit ungeschmälert wahrgenommen<br />
wurden, immer noch werden und weiterhin wahrgenommen werden wollen, von Bauern,<br />
von Landwirten, von Migranten.<br />
Ausnahmeregelungen und juristische Spitzfindigkeiten helfen hier nicht weiter. Die einzig vernünftige,<br />
realisierbare Alternative wird von „Entwicklungsländern“ propagiert: „A dynamic system therefore<br />
requires that seed is transferred on a regular basis from place to place. Where seed is lost<br />
then the variety can be restored by obtaining seed from another farmer´s germplasm. This in its<br />
turn generates intercommunal and intracommunal seed flow“ (TERRAZAS und VALDIVIA 1998). Dem<br />
ist nur hinzuzufügen, dass die moderne Gemeinde in der Regel nicht mehr an einen bestimmten<br />
Ort auf diesem Globus oder gar an einen definierten Staat gebunden ist. Und man möge die Stabilität<br />
menschlicher Gemeinschaften auch in dieser mobilitätsbewussten Epoche nicht unterschätzen:<br />
Die oben erwähnten albanischen Flüchtlinge sind aus der süditalienischen Region Basilicata<br />
nicht nach Albanien heimgekehrt, als die Türken sich aus ihrem Mutterland zurückzogen. Bis heute<br />
ist ihr Einfluss allein dort in 94 Städten und Siedlungen nachweisbar: in der Zweisprachigkeit, in ihrer<br />
Kultur, den Traditionen und eben auch in den von ihnen gepflegten und erhaltenen Sorten.<br />
Literatur<br />
• ARROWSMITH, N., TH. GLADIS and A. KANZLER 1998: Collecting in northeastern Austria, 1997. PGR Newsletter<br />
113, 35-37.<br />
• BORRING, J. <strong>2000</strong>: The International Undertaking on Plant Genetic Resources for Food and Agriculture:<br />
is it now or never? IPGRI newsletter for Europe 17, pp. 1+7.<br />
• GLADIS, TH. 1996: Vorkommen und potentielle Nutzung von seltenen Gemüsearten und -sorten. Schriften<br />
zu genetischen Ressourcen Band 2, 72-82.<br />
• --, 1999: Kulturelle Vielfalt und Biodiversität – hier, in Deutschland und anderswo. VEN- Sonderheft vom<br />
2. Tag der Kulturpflanze in Mainz-Bretzenheim. Samensurium, 10, 22-36.<br />
• --, K. HAMMER, P. PERRINO, W. PODYMA and L. XHUVELI 1995: Report of the third collecting mission in Albania,<br />
autumn 1994. PGR Newsletter 104, 21-23.<br />
• --, M. SPAHILLARI und W. HILBIG 1997: Bemerkungen zur Introduktion und Reintroduktion von Nutzorganismen<br />
in Kulturlandschaften. Berichte des LUA Sachsen-Anhalt. Sonderh. 3, 29-33.<br />
• GRIMM, D. <strong>2000</strong>: Das Andere darf anders bleiben. Wie viel Toleranz gegenüber fremder Lebensart verlangt<br />
das Grundgesetz? Die Zeit Nr. 8, 17. Februar, S. 12-13.<br />
• GÜNGÖR, D. <strong>2000</strong>: Der geduldete Garten. Berliner Zeitung Nr. 59 (10. März) S. 25.<br />
• HELLER, R. 1995: Obst in der Altmark. Entstehung, Verbreitung und Verdrängung von Lokalsorten. Verein<br />
Kultur-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e.V., 106 S.<br />
• --, 1997/98: Napp vull Kohl mütt sin. – Zur einstigen Bedeutung des Braunkohls (Brassica oleracea convar.<br />
acephala var. sabellica L.) in der Ernährung der Landbevölkerung der Altmark und benachbarter Gebiete.<br />
Altmark-Blätter (Heimatbeilage der Altmark-Zeitung) vom 13.12.97 S.195-197, 03.01.98 S. 1-4 und 10.01.98<br />
S. 7-8.<br />
• HENNE, G.1998: Genetische Vielfalt als Ressource: Die Regelung ihrer Nutzung. – 1. Aufl. Baden-Baden,<br />
Nomos Verlagsges. (Völkerrecht und Außenpolitik; Bd. 54), Diss. FU Berlin, 386 S.<br />
• LAGHETTI, G., L. XHUVELI, P. PERRINO, G. OLITA and K. HAMMER 1998: Collecting crop genetic resources<br />
in Italian towns of Albanian origin: Basilicata region. PGR Newsletter 114, 29-34.<br />
• OETMANN-MENNEN, A. und F. BEGEMANN 1998: Genetische Vielfalt und pflanzengenetische Ressourcen<br />
– Gefährdungsursachen und Handlungsbedarf. Schriftenreihe für Vegetationskunde des BfN, Heft 29,<br />
35-46.<br />
• TERRAZAS, F. and G. VALDIVIA 1998: Spatial dynamics of in situ conservation: handling the genetic diversity<br />
of Andean tubers in mosaic systems. PGR Newsletter 114, 9-15.<br />
• WIDMAYR-FALCONI, CHR. 1994: Bauerngärten neu entdeckt. 6. Aufl., BLV-Verlagsges. München, Wien,<br />
Zürich, 143 S.
Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Jürgen Pohlan<br />
Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau<br />
als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut –<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Gliederung<br />
1. Problemstellung<br />
2. Nachhaltigkeit im Kontext von Anbau- und Nutzungssystemen des<br />
tropischen Klimabereiches in Lateinamerika<br />
2.1 Traditionelle Anbausysteme<br />
2.2 Die moderne Entwicklung und heutige Praktiken<br />
2.3 Die Agricultura Sostenible<br />
2.4 Kuba: Ein Beispiel<br />
3. Anbausysteme mit Kakao (Theobroma cacao L.) als Hauptkultur<br />
3.1 Kurze historische Betrachtung<br />
3.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />
3.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kakaoanbau<br />
4. Anbausysteme mit Kaffee (Coffea arabica L.) als Hauptkultur<br />
4.1 Kaffeeanbau mit oder ohne Beschattung<br />
4.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />
4.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kaffeeanbau<br />
5. Ausblick<br />
6. Literatur<br />
1. Problemstellung<br />
Die nachhaltige Transformation konventioneller landwirtschaftlicher Systeme ist eine der wichtigsten<br />
Aufgaben für die tropische Landwirtschaft im neuen Jahrtausend, um die durch übermäßigen,<br />
einseitigen Einsatz von Inputs und von unverantwortlichen Praktiken und Methoden zur Ertragssteigerung<br />
geprägte Epoche der letzten 40 Jahre ablösen zu können.<br />
Viel diskutiert und publiziert wurde in den vergangenen 15 Jahren über die nachhaltige Entwicklung<br />
landwirtschaftlicher Anbau- und Nutzungssysteme in den Tropen (INIFAT, 1996; BRAUN und<br />
PETERS, 1995; DSE, 1992 ). Trotzdem gilt es festzustellen, die Mehrzahl dieser Beispiele und Visionen<br />
blieb bisher theoretischer Natur (POHLAN 1999 b; MAYER-RIES, 1998).<br />
Erfreuliche Beispiele entwickelten sich im Kaffeeanbau verschiedener mittel- und südamerikanischer<br />
Staaten, die besonders durch den Fair-Trade Handel organischen Kaffees befördert und unterstützt<br />
wurden. Auch in Regionen mit Kakaoanbau sind Initiativen für ökologisch produzierten<br />
Kakao entwickelt worden. Die positiven Ergebnisse beschränken sich bisher auf nur kleinere Flächen<br />
in Bolivien, Kostarika, Ecuador, Nikaragua, der Dominikanischen Republik, Venezuela, Ghana,<br />
Kamerun, Sri Lanka oder die Philippinen (GEPA, 1999).<br />
Eine schnelle, drastische Änderung der konventionellen Anbausysteme ist in den tropischen Regionen<br />
aufgrund der existierenden ökonomischen, ökologischen und sozialen Bedingungen nicht<br />
empfehlenswert. Erfolgversprechender dürfte die gut vorbereitete, partizipative Umgestaltung dieser<br />
oft nur auf Subsistenz ausgerichteten Wirtschaftsweise zu nachhaltigen Nutzungssystemen<br />
sein, die zwingend auch Praktiken und Erkenntnisse aus dem wissenschaftlichen und technologischen<br />
Fortschritt angepaßt umsetzen.<br />
Wie sieht die Realität zur Nutzung nachhaltiger Systeme in den Tropen aus? Auf der einen Seite<br />
gibt es eine ungezählte Vielfalt von Chancen, aber gleichzeitig existieren Hemmnisse, die schnell<br />
gelöst werden müssen, um einer ökonomischen Globalisierung echte Alternativen bieten, um bäuerliche<br />
Traditionen bewahren, um stabile ökologische Bedingungen erhalten oder rehabilitieren<br />
und um gerechte soziale Verhältnisse schaffen zu können (FAO, <strong>2000</strong>; GUGEL und JÄGER, 1999;<br />
POHLAN et al., 1996; BRAUN und PETERS, 1995).
Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Dieses Szenario benötigt einen generellen Wechsel in der ruralen Welt der Tropen. Es werden<br />
junge, gut ausgebildete Landwirte benötigt, die offen sind für die Einführung von wissenschaftlichtechnischen<br />
Neuheiten, ohne die Erkenntnisse und Traditionen ihrer Eltern und Großeltern zu negieren,<br />
und die selbst über ein hohes Maß an Kreativität verfügen (POHLAN, 1999 b).<br />
2. Nachhaltigkeit im Kontext von Anbau- und Nutzungssystemen des tropischen<br />
Klimabereiches in Lateinamerika<br />
Die Landwirtschaft in Lateinamerika ist traditionell seit dem 17. Jahrhundert mit Praktiken konfrontiert,<br />
die ausgedehnte Landstriche ungehemmt in Besitz nahmen und nutzen, Exportansprüche<br />
und Exportmöglichkeiten befriedigen, die billige Arbeitskraft ausbeuten und den agrotechnischen<br />
Entwicklungsstand industrialisierter Staaten kopieren (POHLAN, 1999 a; DARY et al., 1998;<br />
CASTELLANOS CAMBRANES, 1996; REYNOSO, 1963). Davon zeugen die starke ökonomische<br />
Abhängigkeit zahlreicher Länder von einem einzigen landwirtschaftlichen Wirtschaftszweig. Der<br />
Zuckerrohranbau trägt in der Dominikanischen Republik zu 54 % und in Kuba zu 40 % der Exporterlöse<br />
bei. El Salvador realisiert 58 % der Deviseneinnahmen mit Kaffee. Der Bananenexport erbringt<br />
Honduras 31 % und Panama 26 % der harten Währung. Mit Baumwolle erwirtschaftet Paraguay<br />
rund 40 % seiner Devisen und Uruguay deckt seine Dollareinnahmen zu mehr als 20 Prozent<br />
aus dem Rindfleischexport.<br />
Die nachhaltige Gestaltung von Anbau- und Nutzungssystemen wird durch die seit Jahrzehnten in<br />
der Mehrzahl lateinamerikanischer Länder bestehende strikte Trennung von Pflanzenbau (sector<br />
agrícola) und Tierhaltung (ganadería) gehemmt. Vielmehr bot die Monokultur einzelner Nutzpflanzenarten<br />
wie Zuckerrohr, Banane, Baumwolle oder Kaffee, die zumeist Exportbedürfnisse befriedigen,<br />
beste Möglichkeiten für eine schnelle Technisierung und Chemisierung des Anbaus. Eine generell<br />
verbesserte sozial - ökonomische Lage der ländlichen Bevölkerung trat damit nicht ein. Das<br />
Überstülpen fortgeschrittener Technologien in Einheit mit Monokultur, überhöhter Mineraldüngung,<br />
ständig unkontrolliert zunehmender Ausbringung von Herbiziden, Insektiziden und Fungiziden sowie<br />
regional hohe Tierkonzentrationen provozierten jedoch unübersehbare Probleme für die Umwelt.<br />
Die in Europa seit zwei Jahrzehnten heiß diskutierten Probleme wie der übermäßige Eintrag von<br />
Stickstoff und Phosphaten in das Grundwasser und die Kontaminierung von Boden, Wasser und<br />
landwirtschaftlichen Produkten mit Pflanzenschutzmitteln sind heute auch in Lateinamerika allgegenwärtig.<br />
Eine öffentliche Auseinandersetzung zu Fragen des Umweltschutzes ist dank des Verantwortungsbewußtseins<br />
von sehr unterschiedlichen nationalen und internationalen Organisationen<br />
und von Einzelpersonen in Gang gebracht worden. Vielen mittleren, aber auch kleinen Landwirten<br />
ist längst bewußt geworden, daß sie Nahrungsmittel nicht nur in ausreichender Menge und<br />
gewinnbringend produzieren, sondern auch ihren Bodenbesitz vor umweltschädigenden Einflüssen<br />
schützen müssen. Hiermit bieten sich Chancen und Notwendigkeiten, traditionelle nachhaltige<br />
Produktionssysteme mit neuen Erkenntnissen zugunsten einer dauerhaft nachhaltigen Landwirtschaft<br />
zu verknüpfen.<br />
Das katastrophale Image der heutigen Landwirtschaft in der Öffentlichkeit, ein ständiges Hineinreden<br />
nichtkompetenter Verbraucher und die tatsächliche Situation der Landwirtschaft als unproduktiver,<br />
nichtprofitabler, unattraktiver und keinesfalls nachhaltig produzierender Wirtschaftszweig<br />
schaffen unzählige Zweifel und Widersprüche, die alles andere alles fördernd auf eine zukünftig<br />
vorherrschende nachhaltige Landwirtschaft (Agricultura Sostenible) wirken. Daran hat bisher auch<br />
die immer wieder in die Diskussion gebrachte nachhaltig zu gestaltende volkswirtschaftliche Entwicklung<br />
wenig verändert. Als Komponenten werden dafür die ökonomische, ökologische und soziale<br />
Nachhaltigkeit angeführt. Die Wichtung eines jeden einzelnen Gliedes erfolgt natürlich entsprechend<br />
den Interessen und den Möglichkeiten des jeweiligen Staates. Und hier scheiden sich<br />
seit Jahrzehnten die Geister. Die Marktwirtschaft priorisiert den kurzzeitig sicheren ökonomischen<br />
Gewinn, die extreme Ökologie - Szene möchte die Natur über alles stellen und die kostenfreie soziale<br />
Sicherheit bleibt Utopie des Kommunismus.<br />
Globale und lokale Interessen gilt es deshalb zu verknüpfen. Die Schwierigkeiten dieses Unterfangens<br />
spiegeln sich in den bisher recht bescheidenen Ergebnissen der AGENDA 21 wider, die auf<br />
dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahr 1992 beschlossen wurden. Nationale ökonomische<br />
Interessen torpedieren noch immer die detailliert erarbeiteten wissenschaftlichen Aussagen zur Situation<br />
und die vorgeschlagenen Lösungswege.
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Auch wenn es generell positiv ist, dass miteinander geredet wird, darf es nicht bei der selbstkritischen<br />
Einschätzung der Industrienationen bleiben, eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung<br />
weltweit politisch einzuleiten, wissenschaftlich zu fördern und ökonomisch abzusichern. Diese<br />
Selbstverpflichtung, zukünftig beispielhaft umweltschützend und ressourcensparend vorangehen<br />
zu wollen, hätte schon längst in die Tat umgesetzt werden können und müssen.<br />
Ökonomische<br />
Nachhaltigkeit<br />
Boden<br />
Tier<br />
soziale<br />
Nachhaltigkeit<br />
Ökologische<br />
Nachhaltigkeit<br />
Pflanze<br />
Abb. 1: Dreieck der Nachhaltigkeit für landwirtschaftliche Anbausysteme (POHLAN et al., 1995)
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Die Zielgrößen und Prinzipien der Nachhaltigkeit für land- und forstwirtschaftliche Systeme haben<br />
wir in zwei sich einander beeinflussende Dreiecke eingefügt (Abb. 1). Besonders geht es darum,<br />
dass die wirtschaftliche Effizienz in tropischen Nutzungs- und Anbausystemen erhöht und dynamisch<br />
und kreativ für einen wirksamen Schutz der natürlichen Ressourcen und für eine gerechte<br />
Gestaltung sozialer Grundbedürfnisse eingesetzt wird. Einen bedeutsamen Anteil am Gelingen hat<br />
die Umsetzung von Beziehungen, Abhängigkeiten und Stimulierungen im Dreieck Boden – Pflanze<br />
– Tier.<br />
In Lateinamerika besteht selbst in kleinbäuerlichen Betrieben nur selten diese Grundvoraussetzung.<br />
Entsprechend schwierig gestalten sich Prozesse einer integrierten Bewirtschaftungsweise.<br />
Die große Herausforderung besteht deshalb darin, arten- und nutzungsreiche Systeme zu etablieren,<br />
die traditionellen und neuen Kenntnisse für eine tragfähige, umweltverträgliche Landnutzung<br />
dieser Agroökosysteme zu nutzen und den Erhalt der noch verbliebenen natürlichen Ökosysteme<br />
innerhalb der verschiedenen tropischen Regionen zu manifestieren.<br />
2.1 Traditionelle Anbausysteme<br />
Die Palette an traditionellen Anbausystemen in Lateinamerika ist ebenso reichhaltig wie das Füllhorn<br />
an Pflanzen- und Tierarten im tropischen Regenwald. Die Anbausysteme entwickelten sich<br />
entsprechend den ethnobotanischen Gegebenheiten, den sozial - ökonomischen Bedingungen der<br />
jeweiligen Region und den natürlichen Standortsverhältnissen über eine Vielzahl von Generationen<br />
hinweg. Typisch für die vorkoloniale Epoche war in jedem Fall die nachhaltige Nutzung der vorhandenen<br />
natürlichen Ressourcen.<br />
Das Kayapo - System im Amazonasbecken nutzte die reiche Artenvielfalt für einen Mischanbau<br />
von einjährigen und mehrjährigen Pflanzenarten (ALTIERI, 1983). Auf den gerodeten Flächen<br />
wurden die abgeschlagenen Gräser, Kräuter und kleineren Zweige als bodenbedeckende Mulchschicht<br />
aufgelegt, um so den Boden zu schützen. Die Düngung erfolgte mit Asche und organischen<br />
Materialien. Eine der mehrjährigen Anbauperiode nachfolgende fünf bis zehnjährige Brache<br />
wirkte der Bodenmüdigkeit entgegen. Entstehende Lücken in den Baumbeständen wurden periodisch<br />
bepflanzt. So konnten entsprechend des Vegetationsverlaufes mehrere Pflanzenarten<br />
gleichzeitig fruchten und reifen. Reis, Knollen- und Wurzelfrüchte sowie Obst und Gemüse standen<br />
ganzjährig auf dem Speisezettel. Viehhaltung war unter den feuchten Verhältnissen des Regenwaldes<br />
schwer möglich. Dafür spielten der Fischfang und die Jagd eine große Rolle.<br />
In Mittelamerika zählt das Milpa - System zu den Bekanntesten. Die ortsansässigen Mayas von<br />
Nordmexiko bis Guatemala prägten ungezählte lokale Varianten (ZAPATA ALONSO, 1994). Charakteristisch<br />
ist hier der Mischanbau von Mais mit teilweise bis zu 40 anderen Pflanzenarten. Gemüse-<br />
und Obstanbau typisieren dieses nachhaltige Anbausystem ebenso wie Baumarten zur<br />
Feuer- und Bauholzgewinnung. Es wurde Vieh gehalten und Wildtiere gejagt. Entsprechend den<br />
klimatischen Verhältnissen lassen sich in feuchteren Zonen Mittel- und Südamerikas ähnlich gestaltete<br />
Anbausysteme finden, die aber als Hauptkultur die Knollenfrucht Maniok oder das Zuckerrohr<br />
haben. Bedeutsam für all diese Nutzungssysteme ist die durch den Menschen geförderte<br />
Dreieinigkeit von Boden - Pflanze – Tier (Abb. 1). Auf diese Weise konnte sich der Mensch seine<br />
Bedürfnisse nach ausreichend Nahrung und erträglichen Lebensbedingungen erfüllen und sich die<br />
Natur in schonender Weise als nachhaltig wirkenden Lebensquell nutzbar machen.<br />
2.2 Die moderne Entwicklung und heutige Praktiken<br />
Auf diese stabilen und umweltverträglichen Verhältnisse wurde mit Einführung der frühkapitalistischen<br />
landwirtschaftlichen Nutzung in Lateinamerika bewußt verzichtet. Die Monokultur mit Zuckerrohr,<br />
Kaffee, Banane oder Baumwolle wurde als modernes Mittel propagiert und umgesetzt<br />
und die extensive Weidewirtschaft mit Rindern angekurbelt.<br />
Seitdem Mineraldünger, chemische Pflanzenschutzmittel und veterinärmedizinische Produkte uneingeschränkt<br />
kostengünstig eingesetzt werden konnten, erhöhte sich das Leistungspotential für<br />
die landwirtschaftliche Produktion erheblich. Die Exportmengen stiegen besonders durch größere<br />
Transportkapazitäten und höhere Transportgeschwindigkeiten. Die Ansprüche Nordamerikas, Japans<br />
und der westeuropäischen Staaten nach einem ganzjährigen Angebot von exotischen Obst-<br />
und Gemüsearten in ihren Supermärkten mußten und konnten zunehmend besser befriedigt werden.<br />
Eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung Lateinamerikas wurde damit fast völlig ausgeschlossen,<br />
denn die internationale Verflechtung von Kapital, Transportmittel produzierender Indust-
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
rie und Nahrungsmittelindustrie ließ den nationalen Produzenten nur Brosamen. Vielmehr setzte<br />
sich der Teufelskreis fort, daß nur diejenigen landwirtschaftlichen Betriebe ökonomisch überleben,<br />
welche engagiert und rücksichtslos neue Exportchancen ausnutzen. Das es dabei nicht nur um<br />
Nahrungs- und Genussmittel oder industrielle Rohstoffe geht, zeigt das Beispiel der Provinz Cauca<br />
in Kolumbien, wo der jahrzehntelang existierende Anbau von hochwertigem Kaffee (Coffea arabica<br />
L.) durch Koka (Erythroxylum coca Lam.) verdrängt wurde.<br />
Zu den typischen Praktiken in der heutigen Landwirtschaft Lateinamerikas gehört weiterhin das<br />
traditionelle System zur Brandrodung von Wäldern und das Brennen zur Aussaatvorbereitung von<br />
Nahrungskulturen wie Mais, Bohnen, Maniok oder auch Trockenreis (Abb. 2). Hierbei wird jeglicher<br />
Pflanzenwuchs mit der Machete abgeschlagen, zum Trocknen auf der Fläche belassen und verbrannt.<br />
Ein Wanderfeldbau ist jedoch, wie noch vor Jahrhunderten üblich, nicht mehr möglich. Innerhalb<br />
weniger Jahrzehnte sind dieser Praxis Hunderttausende Hektar von Wäldern geopfert<br />
worden. Die direkten Konsequenzen wie Verlust von organischer Substanz und damit Bodenfruchtbarkeit,<br />
Belastung der Atmosphäre mit Ruß, Förderung von Wasser- und Winderosion sowie<br />
temporär sich abwechselnde starke Trockenheit und Überschwemmungen und das Versiegen<br />
kleiner Quellen belasten ganz besonders auch die Regionen mit Kakao- und Kaffeeanbau.<br />
Kontaminierung<br />
Einschlag Brennen<br />
Roza / Tala Tumba Quema<br />
System Milpa Estacionario<br />
Bohnen<br />
Subsistenzwirtschaft<br />
© POHLAN, 1999<br />
Erosion<br />
Abb. 2: Traditionelles System für den Anbau von Grundnahrungsmitteln in Lateinamerika<br />
Die moderne landwirtschaftliche Entwicklung darf aber nicht grundsätzlich mit dem Makel versehen<br />
werden, umweltzerstörend und ressourcenvergeudend zu sein. Die in vielen Ländern Lateinamerikas<br />
gegründeten Assoziationen von Kaffeebauern mit nachhaltiger, standortgerechter Produktionsweise<br />
verzichten keineswegs auf wissenschaftliche Erkenntnisse und den technischen Fortschritt.<br />
Auch die mittels organischer Landwirtschaft kultivierten Obst- und Gemüsearten sowie andere<br />
Kulturen wie Kakao oder Baumwolle sind hier einzubeziehen (RESTREPO RIVERA, 1996;<br />
NUŇEZ, 1994). Bewusst werden umweltzerstörende Maßnahmen in deren Anbau- und Vermarktungsprozessen<br />
vermieden. Belanglos ist es dabei, ob kleinbäuerlich oder großflächig produziert<br />
wird. Entscheidend ist die möglichst vielfältige Gestaltung und standortgerechte Nutzung der entsprechenden<br />
ländlichen Räume und eine klar favorisierte sozial-ökonomische Stellung von Anbausystemen<br />
für die nationale Eigenversorgung mit landwirtschaftlichen Produkten.
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2.2 Die Agricultura Sostenible<br />
Die Agricultura Sostenible könnte mit dazu beitragen, einen Ausweg aus der umweltzerstörenden,<br />
ressourcenvernichtenden Sackgasse der einseitigen Anbau-, Nutzungs- und Vermarktungsweise<br />
vieler landwirtschaftlicher Kulturen in Lateinamerika zu finden (POHLAN et al., 1995). Es geht dabei<br />
keineswegs darum, ein zurück zur Natur zu fordern und sich dem enormen naturwissenschaftlich<br />
- technischen Wissen zu verweigern. Die Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen<br />
für alle Menschen als globale Grundvoraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung und poli<br />
tische Stabilität auf der Erde kann so nicht erreicht werden.<br />
Nutzungs- und Anbausysteme<br />
energetisch<br />
ethnologisch<br />
ökonomisch<br />
sozial<br />
ästhetisch<br />
ökologisch<br />
© POHLAN <strong>2000</strong><br />
stabil<br />
dynamisch<br />
Abb. 3: Komponenten und ihre Interaktionen für eine Agricultura Sostenible<br />
Die Agricultura Sostenible muss Spiegelbild nachhaltiger, umwelterhaltender, traditioneller Nutzungssysteme<br />
sein, deren Produktivität durch innovative Lösungen so zu verbessern ist, dass bis<br />
zum Jahr 2030 eine Nahrungsmittelverdopplung garantiert werden kann, ohne die Umwelt zu<br />
schädigen(Abb. 3). Deshalb ist der Kreislauf Boden - Pflanze - Tier so zu steuern, dass die Bodenfruchtbarkeit<br />
erhalten bleibt und keine Kontamination von Boden, Wasser und Luft erfolgt. Die<br />
neuen Anbausysteme müssen mit wenig Energie auskommen können. Das Brennen wird für immer<br />
der Vergangenheit angehören und die Müllentsorgung dürfte auch im ländlichen Raum nach<br />
umweltgerechten Standards erfolgen. Entsprechende Maßnahmen wie die standortgerechte Nutzung<br />
mit ausdauernden land- und forstwirtschaftlichen Kulturen, die Direktsaat und die Minimalbodenbearbeitung<br />
für annuelle Nutzpflanzenarten, die derzeitig in Lateinamerika nur eine Fläche von<br />
etwa 500.000 ha betreffen, werden verstärkt Anwendung finden. Neue Sorten für eine Vielzahl von<br />
Kulturpflanzen und Standorte, die ertragreich und ertragsstabil sind, hat die Züchtung ebenso parat<br />
wie leistungs- und widerstandsfähige Tierrassen. Die Düngung kann über ein harmonisches Miteinander<br />
von organischen Materialien wie Gründung, Stalldung, Kompost und Mulch, stickstoffbindenden<br />
Leguminosen, biotechnologisch erzeugten Produkten und auch Mineraldüngern realisiert<br />
werden. Integrierte Lösungen eines vorwiegend vorbeugend ausgerichteten Pflanzenschutzes<br />
beinhalten einen verantwortungsvollen Umgang mit allen Pflanzenschutzmitteln.<br />
Die Agricultura Sostenible wird den Artenschutz gewährleisten, die Biodiversität des Standortes<br />
erhalten und zunehmend die Landschaftsgestaltung übernehmen. Der naturverbundene Tourismus<br />
findet dann auch unter tropischen Verhältnissen einen reichen Anschauungs- und Erholungsquell<br />
und fördert gleichzeitig das Einkommen der ländlichen Bevölkerung.<br />
Die Agricultura Sostenible kann neue Impulse für den Sektor der alternativen Energiequellen geben.<br />
Biogas, Wind-, Wasser- oder Sonnenenergie müssen auch in kleineren Einheiten an schwer<br />
zugänglichen Standorten zukünftig ökonomisch erzeugt werden können. Sauberes Trinkwasser, in
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den städtischen Ballungszentren wie Ciudad de México oder Sao Paulo eine kostbare Rarität, und<br />
Energie dürften dann in den ländlichen Räumen zu erschwinglichen Kosten verfügbar sein. Eine so<br />
geschaffene stabile Einheit von ökonomischem Einkommen und ökologischem Gleichgewicht wird<br />
eine soziale Absicherung ermöglichen, die ein menschenwürdiges Leben auch auf dem Land garantiert.<br />
Die Landflucht in die Städte wird unter solchen Bedingungen stark abnehmen.<br />
2.4 Kuba: Ein Beispiel<br />
Warum steht gerade Kuba als ein viel zitiertes Beispiel für die Agricultura Sostenible?<br />
Die kubanische Landwirtschaft wurde durch den Zusammenbruch des RGW und dem damit verbundenen<br />
plötzlichen Wegfall stabiler wirtschaftlicher Austauschbeziehungen in eine außergewöhnliche<br />
Lage gepreßt. Gleichzeitig verschlechterte sich die energetische Lage des Landes in einem<br />
solch drastischen Maß, daß für unsere heutige Zeit inakzeptable Lebens- und Produktionsverhältnisse<br />
eintraten. Zudem fehlten fortan für die devisenträchtige Monokultur Zuckerrohr die Mineraldünger<br />
und Pflanzenschutzmittel. Das Ertragsniveau nahm daraufhin rasch ab und sank in<br />
den Jahren 1996-98 unter 40 t Rohr je Hektar. Inzwischen haben die Maßnahmen der Agricultura<br />
Sostenible zu einer Ertragsstabilisierung geführt und es konnten wieder mehr als 70 t/ha in der<br />
letzten Kampagne geerntet werden.<br />
Die fatale wirtschaftliche Situation des Landes benötigte ein drastisches Einsparen von und Auskommen<br />
mit wenig Energie. Ein Neubesinnen auf traditionelle Praktiken der Landwirtschaft sowohl<br />
in den Staatsgütern als auch in den kleinbäuerlichen und genossenschaftlichen Betrieben galt dabei<br />
als mögliche Alternative und ebnete vehement den Weg für die Agricultura Sostenible. Das hohe<br />
akademische und praktische Ausbildungsniveau der Kubaner muß als entscheidender Punkt für<br />
die schnelle Umsetzung von wissenschaftlich modifizierten praktischen Erfahrungen angesehen<br />
werden. Alternative Energiequellen wurden gesucht und gefunden. Die Wiedereinführung des lokalen<br />
Anbaues von Grundnahrungskulturen, Obst, Gemüse und Blumen und der individuellen Viehhaltung<br />
wurde durch die Eröffnung freier Agrarmärkte stimuliert. Durch Gaben von Kompost, den<br />
Anbau von Leguminosen und die Einführung von Bio - Düngermitteln auf der Basis von Azotobacter,<br />
Azospirillum und Mycorrhiza wurde ein Teil der fehlenden Mineraldünger umweltgerecht ersetzt.<br />
Die Schädlings- und Krankheitsbekämpfung basiert nun nicht mehr auf chemischen Produkten,<br />
sondern wird vorwiegend vorbeugend oder biologisch vorgenommen. Die sehr vielfältigen standörtlichen<br />
Gegebenheiten Kubas dienen erneut den vorübergehend sehr vernachlässigten Nutzungsformen<br />
wie der Binnenfischerei und der Imkerei als Produktionsbasis. Nicht zuletzt erinnerte<br />
man sich schon längst als überflüssig angesehener Methoden der Haltbarmachung landwirtschaftlicher<br />
Produkte nach Großmutters Art und es belebten sich das kleinhandwerkliche Gewerbe und<br />
traditionelle künstlerische Zweige.<br />
3. Anbausysteme mit Kakao (Theobroma cacao L.) als Hauptkultur<br />
3.1 Kurze historische Betrachtung<br />
Der Kakaoanbau in Mittelamerika und in der Karibik ist seit Jahrhunderten geprägt durch Spannungen<br />
zwischen einer Gier nach möglichst hohen Erträgen und dem verantwortungsbewussten,<br />
nachhaltigen Streben für eine standortgerechte, vielseitige Nutzung.<br />
Die große Herausforderung besteht deshalb darin, endgültig artenreiche Systeme mit gepflegten<br />
Schattenbäumen zu etablieren und damit den schattenlosen Anbau von Kakao in Reinkultur abzuschaffen.<br />
Traditionelle und neue Kenntnisse und Erfahrungen sind für eine tragfähige, umweltverträgliche<br />
Landnutzung dieser Agroökosysteme zu nutzen. Der Erhalt noch verbliebener natürlicher<br />
Ökosysteme mit Kakao als autochthonem Bestandteil sollte besondere Beachtung und Förderung<br />
erfahren.<br />
Historische Betrachtungen zu sozio-ökonomischen und ethnobotanischen Einflüssen auf die agronomische<br />
Gestaltung und Entwicklung von Regionen mit Kakao als Hauptkultur sind in Lateinamerika<br />
bisher nicht in komplexer Art ausgeführt worden. Entsprechend lückenhaft und teilweise auch<br />
spekulativ sind Darstellungen über die statt gefundenen Produktionsepochen mit ihren Hoch und<br />
Tiefs in Produktionsvolumen und Weltmarktpreisen. Im 16. und 17. Jahrhundert spielte die Nut-
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zung des Kakaobaumes in den Einzugsgebieten der Mayas eine herausragende Rolle (DARY et<br />
al., 1998). Auf die Einhaltung der Reinheit von Flüssen und den Bodenschutz in den fruchtbaren<br />
Tallagen wurde seitens der religiös-politischen Führungskaste akribisch geachtet (METZ, 1995).<br />
Negative Auswirkungen der flächenmäßigen Erweiterung und auch der intensiveren Bewirtschaftung<br />
von Kakaoarealen in Chipas, Mexiko, auf den Bodenschutz und die Bodenfruchtbarkeit werden<br />
von HELBIG (1964) beschrieben.<br />
Die Geschichte des Kakao in Mittelamerika lässt sich grob vereinfacht als eine über Jahrhunderte<br />
währende Nutzung von Kakaobäumen in Regenwäldern darstellen, die erst am Ende des 19.<br />
Jahrhunderts dem Anbau schrittweise wich. Die zunehmende Ortsansässigkeit etablierte das stationäre<br />
Milpa-System (Mais- und Bohnenanbau) und die Brandrodung zerstörte weite Teile der küstennahe<br />
Regenwälder in der Pazifikregion zugunsten annueller Kulturen oder der extensiven Weidewirtschaft<br />
(Abb. 4).<br />
Kakaoanbau plus annuelle Nahrungskulturen<br />
Regenwald<br />
Kakaonutzung<br />
Mais/<br />
Bohnen<br />
Sorghum<br />
Soja<br />
Brache<br />
Erbfolge<br />
Weide<br />
© POHLAN <strong>2000</strong><br />
Subsistenz<br />
Abb. 4: Verlauf der traditionellen Nutzung und des Anbaues von Kakao<br />
Der naturbelassene Kakaoanbau ging auf diese Weise zum größten Teil verloren. Ersatzpflanzungen<br />
mit neuen, ertragreichen Sorten und geringer Beschattung oder unter ungehinderter Sonneneinstrahlung<br />
hatten in den traditionellen Kakaoanbaugebieten Mittelamerikas nur in den 60er und<br />
70er Jahren des 20. Jahrhunderts eine kurze Blütezeit. Eine nachhaltige Entwicklung konnte in<br />
diesen Regionen nicht eingeleitet werden, denn die kurzfristigen ökonomischen Gewinne wurden<br />
weder in ökologische noch in soziale Belange investiert.<br />
3.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />
Der Kakaoanbau ist in den letzten drei Jahrzehnten von 4 Mio. Hektar auf 6,5 Mio. Hektar ausgedehnt<br />
worden. Seit 1995 ist die Flächenerweiterung fast ausschließlich auf Afrika beschränkt. Im<br />
Herkunftsgebiet des ehemals schwarzen Goldes, in Mittelamerika, ist der Anbau sogar rückläufig.<br />
Wesentliche Ursache sind die geringen Weltmarktpreise und der hohe Bevölkerungszuwachs in<br />
diesen Gebieten, so dass dem Anbau von Grundnahrungskulturen verbunden mit der Rodung der<br />
nun unattraktiven Kakaopflanzungen die entscheidende Bedeutung zukommt.<br />
Die Kakaoproduktion stagniert seit mehr als fünf Jahren im Weltmaßstab (Abb. 5). In Mittelamerika<br />
und der Karibik schwankte die Produktion zwischen 1985 und 1999 von 109386 bis 138356 Tonnen.<br />
Damit ist die ehemals herausragende Bedeutung für diese Kultur verloren gegangen.<br />
Das Ertragsniveau hat sich seit 1961 von knapp 3000 kg Fruchtertrag/ha auf fast 5000 kg/ha erhöht<br />
(Abb. 6). Die Erntemengen von Rohkakao erreichen damit ein Niveau von 600 bis 1000
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
kg/ha. In den letzten 10 Jahren ist jedoch eine Tendenz zu beobachten, dass keine Höchsterträge<br />
mehr angestrebt werden. Ursache dafür sind die geringen Weltmarktpreise, die keine oder nur geringe<br />
Inputs ermöglichen. Darin liegt auch das Desinteresse von Kleinproduzenten in Mittelamerika<br />
an einer ordnungsgemäßen agronomischen Betreuung dieser Kultur begründet.<br />
3500<br />
3000<br />
2500<br />
<strong>2000</strong><br />
1500<br />
1000<br />
500<br />
0<br />
Kakaoproduktion (in Tausend t)<br />
1961 1970 1980 1990 1995 1999<br />
Welt<br />
Afrika<br />
Lateinamerika<br />
FAO, 1999<br />
Abb. 5: Kakaoproduktion in den wichtigsten Regionen der Welt<br />
Das Haupterzeugerland Elfenbeinküste ist auch Spitzenreiter im Ertrag. Die hochintensiven Kakaopflanzungen<br />
dieses Landes sind jedoch kein Aushängeschild für eine nachhaltige Bewirtschaftung.<br />
Die biologische Vielfalt ist aus den Plantagen verdrängt worden und die Inputs in Form von<br />
Mineraldüngern und Agrochemikalien belasten erheblich Böden und Grundwasser.<br />
7000<br />
6000<br />
5000<br />
4000<br />
3000<br />
<strong>2000</strong><br />
1000<br />
0<br />
Ertragsentwicklung Kakao<br />
(kg Frucht/ha)<br />
1961 1980 1990 1999<br />
Welt<br />
Elfenbeinküste<br />
Ghana<br />
Brasilien<br />
Dom. Republik<br />
FAO, 1999<br />
Abb. 6: Ertragsentwicklung von Kakao in bedeutsamen Anbauländern
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3.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kakaoanbau<br />
Die Nutzungssysteme in Regionen mit Kakaoanbau sind besonders in den letzten 30 Jahren zunehmend<br />
dem Verfall preis gegeben. Neben den schon aufgeführten ökonomischen Ursachen<br />
muss die Ausrichtung auf nur eine Nutzpflanzenart und damit alleinige Einnahmequelle genannt<br />
werden.<br />
Im kleinbäuerlichen Kakaoanbau dienten seit jeher unterschiedliche Baumarten als Beschattung.<br />
Besonders beliebt sind obst- oder stärkeliefernde Arten, die zum Eigenverbrauch und auch zur<br />
Brennholzbereitstellung dienen können. Als generelles Problem muss dabei angesehen werden,<br />
dass diese meist ohne direkten Einfluss auf die ökonomische Situation der Familien bleiben.<br />
Ein Beispiel für eine marktorientierte Transformation von Kakaopflanzungen ist nachfolgend dargestellt<br />
(Abb. 7). Ursprünglich dienten die Bäume vom Großen Breiapfel (Pouteria sapota (Jacquin)<br />
H. E. Moore & Stearn) als Schattenbäume und Obstlieferanten für die Familie. Einige Bauern<br />
erkannten die Marktchance und widmeten fortan dieser Art mehr Aufmerksamkeit als dem Kakao<br />
(Tab. 1). Es werden 80 bis 100 Pouteria-Bäume je Hektar genutzt. Die Erträge variieren nach<br />
Baumalter und Standortgüte. In den untersuchten Betrieben lagen sie bei 300 bis 900 kg Frucht je<br />
Baum und Jahr. Zusätzlich kultiviert man 300 bis 400 Stauden von Koch- oder kleinfrüchtiger<br />
Obstbanane. Neben dem Eigenverbrauch ist damit eine zusätzliche ökonomische Wertschöpfung<br />
möglich.<br />
Tabelle 1: Ökonomische Bewertung von Kakaopflanzungen im Soconusco (Mexiko) und Baracoa<br />
(Kuba) mit Mehrnutzungscharakter (US $/ha)<br />
Nutzpflanzenart Ertrag (kg/ha) Verkaufspreis<br />
(US $/kg)<br />
Bruttoeinkommen<br />
(US $/ha)<br />
Soconusco<br />
Kakao 400 0,76 304<br />
Breiapfel 19200 0,40 7680<br />
Banane 3000 0,10 300<br />
Gesamt 8284<br />
Baracoa<br />
Kakao 500 0,76 380<br />
Kokosnüsse 1000 0,10 100<br />
Banane 1500 0,10 150<br />
Apfelsine 1500 0,12 180<br />
Gesamt 810<br />
Auch die inzwischen selten anzutreffende Pacaya-Palme (Chameadora spp.) wird noch in den Kakaopflanzungen<br />
kultiviert. Deren Früchte gelten als Leckerbissen in der einheimischen Küche und<br />
werden als grüne Medizin gegen Diabetes genutzt. Natürlich ist zu berücksichtigen, dass der Markt<br />
für Pouteria-Früchte recht eng ist und somit dieses Beispiel nicht uneingeschränkt auf den gesamten<br />
Kakaoanbau in Mexiko oder sogar in Mittelamerika ausgedehnt werden kann. Andererseits<br />
verdeutlicht die zielstrebige Marktarbeit der beteiligten Bauern wie dem Preisdruck auf eine Monokultur<br />
bewusst begegnet werden kann. Marktwirtschaftlich interessante Mischkulturen im Kakao<br />
sind des weiteren Früchte von Avocado (Persea americana L.) und verschiedenen Zitrusarten sowie<br />
die Anzucht von Schnittblumen wie Heliconia spp., Alpinia spp. oder Hawaiana spp.
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Technikeinsatz<br />
+<br />
Handarbeit<br />
+ +<br />
Agrochemikalien<br />
+<br />
Zapote Mamey<br />
Avocado<br />
System Kakao<br />
Hauptkultur: Kakao<br />
Ertrag: 350 bis 600 kg/ha<br />
Biomasse: 25 a 60 t/ha/a<br />
Umweltbelastung: sehr gering<br />
Erosion: sehr gering<br />
Kochbanane Pacaya Schnittblumen<br />
Energie<br />
Sauerstoff<br />
Abb. 7: Beispiel für ein artenreiches, variables Kakao-Nutzungssystem im Soconusco, Chiapas,<br />
Mexiko (nach POHLAN et al., <strong>2000</strong> b)<br />
Im Kakaoanbau der Region Baracoa, Kuba, existieren ebenfalls Varianten einer Mehrfachnutzung.<br />
Die Kokospalme (Cocos nucifera L.) dient in diesem System als wichtiges Kompartment für ein gesichertes<br />
Zweiteinkommen. Die seit mehr als 50 Jahren bestehende Schokoladenproduktion vor<br />
Ort nutzt die Kokosflocken für eine begehrte Süßtafel und mit Schokolade überzogene Süßigkeiten.<br />
Weitere Einkunftsquellen der Kakaobauern waren und sind hier Banane und Apfelsine (Tab.<br />
1).<br />
Gemeinsam ist beiden aufgeführten Beispielen, dass die erhöhte pflanzliche Diversität nicht nur<br />
das ökonomische Einkommen der Bauern stärkt, sondern wesentlich dazu beigetragen hat, das<br />
wertvolle Ökosystem Kakaowald im humiden tropischen Umfeld zu erhalten. Mineraldünger werden<br />
nicht oder in nur sehr geringer Menge verabreicht. Die Applikation von Pflanzenschutzmittel<br />
beschränkt sich auf die sporadische Bekämpfung von Phytophthora palmivora Butl. Diese sehr geringen<br />
externen Inputs, der bodenbedeckende Blattmulch während des gesamten Jahres und eine<br />
ausgewogene Beschattung beherbergen eine reiche Mikroflora und Mikrofauna. Die Bodenfruchtbarkeit<br />
bleibt stabil und Erosion ist praktisch ausgeschlossen. Die agronomischen Aktivitäten sind<br />
ohne größere Schwankungen über das gesamte Jahr verteilt.<br />
Als Konfliktfelder müssen für den Kakaoanbau das durchschnittlich sehr geringe ökonomische Einkommen<br />
je Flächeneinheit und daraus resultierende soziale Benachteiligungen betrachtet werden.<br />
Der Mindestlohn für einen mexikanischen Landarbeiter (60,- US $ / Monat) kann mit der Hauptkultur<br />
Kakao erst bei mehr als 2 ha Anbaufläche erwirtschaftet werden. Aufgrund der Besitzverhältnisse<br />
von 1 bis 4 ha je Familie sind viele kleinbäuerliche Betriebe nicht einmal in der Lage, dieses<br />
Limit zu erreichen.<br />
Ein stabiles ökonomisches Einkommen ist deshalb nur durch marktwirksame Mehrnutzungssysteme,<br />
höhere Kakaoerträge sowie größeren Flächenbesitz möglich. Damit ist der Zukauf nicht selbst<br />
produzierter Lebensmittel gegeben und eine sozial verträgliche Lebensweise erreichbar. Die Ansprüche<br />
an den Kakaobauern in diesen nachhaltigen Systemen sind aber weitaus höher als im<br />
traditionellen Subsistenzsystem. Ohne detaillierte Fachkenntnisse zu den einzelnen Kulturen, ohne<br />
vorausschauend geplante agronomische und marktpolitische Aktivitäten und ohne eine geschickte<br />
vertragliche Absicherung des Verkaufs der einzelnen Produkte ist eine nachhaltige Gestaltung<br />
nicht möglich. Zukünftig gilt es deshalb die Bauern besonders in unternehmerischen Belangen zu
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
schulen und sie für Entscheidungsprozesse in Marktfragen zu qualifizieren. Dem lokalen und regionalen<br />
Markt ist dabei besondere Priorität einzuräumen.<br />
Energie- oder Ökobilanzen für tropische Nutzungssysteme sind bisher rar. Für das System Kakaoanbau<br />
mit Hauptnutzung von Breiapfel (Zapote Mamey) wurde eine entsprechende Berechnung<br />
vorgenommen, die eine positive energetische Bilanz erbrachte (BORGMAN et al., <strong>2000</strong>). Die geringen<br />
Inputs resultieren aus einer fast ausschließlich auf die Ernte ausgerichteten Anbaustrategie<br />
(Abb. 8). Zum Erhalt der ökologischen Stabilität werden zukünftig Schnittmaßnahmen zur Rehabilitation<br />
von Breiapfel und Kakao nötig sein. An der positiven Input – Output : ratio wird sich dabei<br />
nichts ändern. Ein Übergang zur ausschließlichen Nutzung von Breiapfel ist unbedingt zu verhindern.<br />
Kraftstoffe<br />
0.72 GJ/ha<br />
Arbeitskraft<br />
0,24 GJ/ha<br />
Agrochemikalien<br />
nicht eingesetzt<br />
Kakao:<br />
Ertrag
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
für die notwendig gewordenen Aufwendungen zur Stabilisierung der Hochertragskonzeption. Registriert<br />
wurden auch die negativen ökologischen Begleiterscheiningen aufgrund der geringen Diversität<br />
an ausdauernden Baum- und Straucharten und die mit dem offen gehaltenen Boden<br />
eintretende Erosion und Austrocknung der Böden. Eine starke Zunahme von Unkrautbesatz sowie<br />
von Krankheits- und Schaderregerpopulationen bewirkte nicht nur erheblich höhere Aufwendungen<br />
im Pflanzenschutzmitteleinsatz, sondern führte auch zu Ertragsverlusten und teilweise negativen<br />
Betriebsergebnissen. Die Kontaminierung von Boden, Grundwasser und Wasserläufen spielte<br />
meist nur eine nebensächliche Rolle bei dieser Entscheidung.<br />
Biodiversität in Kaffee<br />
Beschattungsbäume<br />
Wege und Raine andere Kulturen<br />
© POHLAN <strong>2000</strong><br />
Unkrautflora<br />
toleriert<br />
Anbau mit Beschattung<br />
Bodenleben<br />
reich<br />
nackter Boden<br />
ohne<br />
Beschattung<br />
Bodenleben<br />
verarmt<br />
Abb. 9: Gegenüberstellung von Grundprinzipien im Kaffeeanbau mit und ohne Beschattung<br />
Die erfreuliche Tendenz, Kaffee wieder standortgerecht unter Beschattung zu kultivieren, schafft<br />
erneut artenreiche Nutzungssysteme, dämmt die Erosion ein und restauriert schrittweise das ökologische<br />
Gleichgewicht in den fragilen Hügel- und Berglandschaften der mittelamerikanischen Anbaugebiete.<br />
Allein die generelle Sicht auf den schattenlosen und den beschatteten Kaffeeanbau<br />
verdeutlicht die Unterschiede in der Biodiversität beider Systeme (Abb. 9). Die schattenlosen intensiven<br />
Anbausysteme bewirken eine immense Verarmung der Biodiversität. Diese Pflanzungen<br />
werden ständig frei von Unkraut gehalten, mit hohen Gaben von Mineraldüngern versorgt und sollen<br />
durch dichte Intervalle mit Applikationen von Nematiziden, Insektiziden und Fungiziden schaderregerfrei<br />
gehalten werden. Eine multidisziplinäre, holistische Studie wäre wünschenswert, um die<br />
tatsächlichen Dimensionen in der biologischen Vielfalt, der langfristigen Einflüsse auf Bodengesundheit<br />
und Wasserqualität sowie nicht zuletzt auf den Lebenszyklus und die Ertragsfähigkeit der<br />
Hauptkultur Kaffee in den verschiedenen Systemen bestimmen zu können.<br />
4.2 Produktionsvolumen und Erträge<br />
Die Anbaufläche von Kaffee ist seit 1970 von 8,885 Mio. Hektar auf 11,379 Mio. Hektar ausgedehnt<br />
worden (FAO, 1999). Die Flächenerweiterung fand besonders in asiatischen Ländern mit<br />
Robusta (Coffea canephora) statt. Im genannten Zeitraum verdreifachte sich dort die Anbaufläche<br />
von 560065 ha (1970) auf 1682467 ha (1999). In Mittelamerika und der Karibik variiert die Anbaufläche<br />
seit 1980 (1669950 ha) bis heute (1843566 ha) nur wenig. Detaillierte Angaben für den Anbau<br />
unter Beschattung und unter schattenlosen Bedingungen (Sonnenkaffee) sind statistisch nicht<br />
erfasst. Die Daten für die Flächenausdehnung des konventionellen und ökologischen Anbaus sind<br />
lückenhaft. In Mexiko beträgt die derzeitige Anbaufläche für ökologischen Kaffee ca. 15000 ha. Es
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
wird angenommen, dass mehr als 100000 Bauern in diesem System involviert sind (MEJÍA<br />
GUTIÉRREZ, 1999).<br />
7000<br />
6000<br />
5000<br />
4000<br />
3000<br />
<strong>2000</strong><br />
1000<br />
0<br />
Kaffeeproduktion (in Tausend t)<br />
1961 1970 1980 1990 1995 1999<br />
Welt<br />
Afrika<br />
Lateinamerika<br />
Mittelamerika<br />
Asien<br />
FAO, 1999<br />
Abb. 10: Kaffeeproduktion in ausgewählten Regionen<br />
Die Kaffeeproduktion überschritt im Jahre 1990 erstmals die 6 Millionen Grenze (Abb. 10). Marktstudien<br />
gehen davon aus, dass in den nächsten 10 Jahren keine wesentlichen Verbrauchssteigerungen<br />
eintreten werden. In Mittelamerika und der Karibik schwankte die Produktion zwischen<br />
1980 und 1999 von 957306 bis 1219562 Tonnen. Eine detaillierte Aufschlüsselung des Produktionsvolumens<br />
im ökologischen Kaffeeanbau ist noch nicht verfügbar.<br />
Das Ertragsniveau von Kaffee ist schwierig zu bewerten, denn statistisch werden selten Coffea arabica<br />
und Coffea canephora getrennt geführt. Gleiches gilt auch für die Produktionsbedingungen<br />
wie beschatteter und Sonnenkaffee. Vietnam ist in den letzten 10 Jahren zu einem der wichtigsten<br />
Kaffeeproduzenten aufgestiegen. Der Robusta – Kaffee (C. canephora) wird ohne Beschattung,<br />
mit Bewässerung und hohen Mineraldüngergaben kultiviert. Aufgrund dieser einseitigen Anbaustrategie<br />
ist die Artenvielfalt in der gesamten Region gering und der Einsatz von Agrochemikalien<br />
gegen vermehrt auftretende hohe Schaderregerpopulationen nötig.<br />
Die Preislabilität des Kaffees auf dem Weltmarkt hat in den mittelamerikanischen Erzeugerländern<br />
zu einer verstärkt praktizierten low-Input Strategie unter Beschattungsverhältnissen geführt. Der<br />
Anbau von ökologischem Kaffee, d.h. der Verzicht auf Mineraldünger und synthetische Pflanzenschutzmittel,<br />
ist besonders unter kleinbäuerlichen Verhältnissen zu einer Alternative geworden.<br />
Im Weltmaßstab liegen die Erträge unter 600 kg Rohkaffee je Hektar (1000 kg Fruchtertrag entsprechen<br />
200 bis 250 kg Rohkaffee). Eine starke Ertragsdifferenzierung besteht demzufolge zwischen<br />
einer überwiegenden Anzahl von Niedrigertragsländern und wenigen Ländern mit Spitzenerträgen<br />
(Abb. 11). Die Erträge in Sierra Leone, Vietnam, Kostarika oder Indien von mehr als 4000<br />
kg Rohkaffee/ha sind dem bedingungslosen Höchstertragskonzept mit den darin enthaltenen ökologischen<br />
Gefahren geschuldet.
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
16000<br />
14000<br />
1<strong>2000</strong><br />
10000<br />
8000<br />
6000<br />
4000<br />
<strong>2000</strong><br />
0<br />
Ertragsentwicklung Kaffee<br />
(kg Frucht/ha)<br />
1961 1980 1990 1999<br />
Welt<br />
Brasilien<br />
Kolumbien<br />
Vietnam<br />
Elfenbeinküste<br />
FAO, 1999<br />
Abb. 11: Ertragsentwicklung in ausgewählten Ländern mit Kaffeeanbau<br />
4.3 Beispiele für nachhaltige Systeme im Kaffeeanbau<br />
Der Anbau von Kaffee steckt weltweit in einer anhaltenden Krise. Besonders der Preisverfall dieser<br />
typischen tropischen Exportkultur und die unzureichende finanzielle Basis kleiner und mittlerer<br />
Produzenten führten in Mittelamerika und der Karibik in den letzten zwei Jahrzehnten zur Vernachlässigung<br />
oder sogar zur teilweisen Rodung von Kaffeeflächen zugunsten des Anbaus von Mais,<br />
Bohnen und Maniok als Überlebenskulturen dieser Bauern. Andererseits bewirkten intensive Anbausysteme<br />
eine immense Verarmung der Biodiversität. Damit ist die ökonomische und ökologische<br />
Stabilität ganzer Regionen gefährdet.<br />
Besondere Beachtung muss der inneren Struktur von Kaffee-Fincas eingeräumt werden. Die anbaustrategische<br />
Gestaltung unterliegt wesentlich den Hauptzielen des Kaffeeproduzenten. Dies<br />
kann einerseits die Subsistenzwirtschaft sein, um der eigenen Familie den Lebensunterhalt zu sichern.<br />
Andererseits besteht bei entsprechendem unternehmerischen Geschick auch unter geringem<br />
Flächenbesitz die Möglichkeit, nachhaltig zu wirtschaften (Abb. 12). Wichtig sind dabei die<br />
Standortsbedingungen. Auf marginalen Standorten wird Kaffee meist durch die aus besseren Regionen<br />
verdrängten und verarmten Kleinbauern kultiviert. Ihr Hauptziel ist die Selbstversorgung mit<br />
Nahrungsmitteln. Der Kaffeeanbau dient lediglich zur monetären Abdeckung ihrer Lebensgrundlagen<br />
(Kleidung, Energie, Transport, weitere Lebensmittel, Schulbildung der Kinder, Arztbesuche).<br />
Aufgrund der rustikalen Kaffeetrocknung auf dem Erdboden und einer fehlenden direkten Integration<br />
in Vermarktungsorganisationen bleiben die Verkaufserlöse auf das Niedrigpreissegment beschränkt.<br />
Böden mit vorzüglichen Standortsbedingungen sind vorwiegend in Besitz von Mittel- und<br />
Großbauern. Die Philosophie des Anbaus beruht hier auf einer nachhaltigen Entwicklung der<br />
Hauptkultur Kaffee. Diese Kaffeebauern haben sich frühzeitig in Erzeugergemeinschaften zusammen<br />
geschlossen, verfügen über qualitätsgerechte Aufbereitungseinrichtungen und sind direkt an<br />
der Vermarktung ihres Exportproduktes beteiligt (ÁLVAREZ SIMÁN, 1996; CASTELLANOS<br />
CAMBRANES, 1996).
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Struktur Struktur von von Fincas Fincas<br />
Vorzügliche Standortsbedingungen<br />
Unternehmergeist<br />
Marginale Standortsbedingungen<br />
Individuelle Entwicklung Regionale Entwicklung<br />
Hilfe von<br />
aussen<br />
© POHLAN 1999<br />
Abb. 12: Hauptkomponenten und Wechselbeziehungen in Kaffee-Fincas<br />
Als Konfliktbereiche für einen nachhaltigen Kaffeeanbau sind vor allem die dynamisch sich verändernden<br />
Marktbedingungen, die artenreich zu gestaltenden Kaffe-Ökosysteme und die flexibel einzusetzenden<br />
Arbeitskräfte anzusehen (Abb. 13). Aus der Vielzahl von Konfliktfeldern, die eine<br />
nachhaltige Gestaltung des Kaffeeanbaus erschweren, seien einige besonders heraus gestellt:<br />
� Die jährliche Erntemenge bestimmt im wesentlichen die Aufbereitungsmethode. Bei weniger<br />
als 5000 kg Kirschenertrag (ca. 2 ha) ist die qualitätsmindernde Bodentrocknung üblich.<br />
Damit sind Betriebe mit weniger als zwei Hektar Anbaufläche schon im Strukturansatz ökonomisch<br />
stark benachteiligt. Einen Interessenausgleich zwischen den ökonomischen, ökologischen<br />
und sozialen Komponenten kann die Einbeziehung auch kleiner Kaffeemengen in<br />
die Direktvermarktung schaffen. Dies ist mit dem ökologischen Kaffee (café orgánico) eingeleitet<br />
worden. Wichtig ist bei diesem Segment die gewinnträchtige Chance, wenn die Anbau-,<br />
Qualitäts- und Aufbereitungsstandards eingehalten werden.<br />
� Parallel dazu etablieren sich biologisch vielfältige, nachhaltige Nutzungssysteme, der Boden<br />
ist ganzjährig mit Pflanzenwuchs bedeckt, die Erosion wird auf ein geringes Maß herab<br />
gesetzt, die wasserspeichernde Funktion dieser Regionen regeneriert sich und die Wasserqualität<br />
erreicht natürliche Werte.<br />
� Die Aus- und Weiterbildung der Kaffeebauern ermöglicht marktwirtschaftlich attraktive Nebennutzungen<br />
anderer Kulturen, der Viehwirtschaft oder auch des Tourismus. Die ganzjährige<br />
Beschäftigung im landwirtschaftlich produzierenden Bereich und in unterschiedlichen<br />
Serviceeinrichtungen wird verbessert. Dadurch kann sich eine sozial verträgliche ländliche<br />
Struktur nachhaltig entwickeln und die Landflucht wird abgeschwächt.
Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Konfliktbereiche im Kaffeeanbau<br />
© POHLAN <strong>2000</strong><br />
Abb. 13: Wechselwirkungen einzelner Konfliktbereiche im Kaffeeanbau<br />
Die Beispiele in Tabelle 2 aus nachhaltig bewirtschafteten Systemen in Mexiko, Guatemala, Nikaragua,<br />
Kostarika und Kuba belegen Alternativen zugunsten einer ökonomisch erfolgreichen, ökologisch<br />
stabilen und sozial verträglichen Landwirtschaft unter Beibehaltung der Hauptkultur Kaffee.<br />
Unsere Feldstudien konzentrierten sich auf die artenmäßige Zusammensetzung und den agronomischen<br />
Zustand dieser Nutzungssysteme (POHLAN 1999 b; POHLAN et al.,1996;<br />
FRIESSLEBEN et al., 1991; RELOVA et al., 1987). Eine Erfassung und Bewertung der faunistischen<br />
Artenvielfalt konnte leider nicht vorgenommen werden. Die drastische Reduzierung in Flora<br />
und Fauna bei regional großflächigem Anbau von Kaffee ohne Beschattung geht aus der tabellarischen<br />
Zusammenstellung hervor.
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Tabelle 2: Beispiele für die biologische Vielfalt im Kaffeeanbau (Coffea arabica L.) Mittelamerikas<br />
und der Karibik<br />
Marktwirtschaftlich nutzbar<br />
Ökosystem - Kaffee<br />
Eigenversorgung Gesamtfläche<br />
Hauptkultur Nebenkultur /<br />
Direkter<br />
Indirekter<br />
Nebennutzung<br />
Bestandteil Bestandteil<br />
System Kaffeeanbau mit geregelter Beschattung<br />
Arabica - Kaffee<br />
Zitrus<br />
(Citrus spp.)<br />
Phaseolus-Bohnen<br />
(Phaseolus vulgaris,<br />
P. lunatus)<br />
Mais<br />
Beschattungsbäume<br />
Waldbau auf Nischenflächen<br />
10-15 Arten<br />
Natürliche Zäune<br />
3-8 Sorten Guave (Psidium<br />
5-12 Arten<br />
Unkräuter<br />
guayava) (Zea mays) 25-60 Arten 3-10 Arten<br />
Papaya<br />
Reis<br />
Epiphyten auf Be- Epiphyten auf<br />
(Carica papaya) (Oryza sativa) schattungsbäumen<br />
Forstbäumen<br />
5-15 Arten 15-30 Arten<br />
Maracuja Maniok<br />
Bäume und Sträu-<br />
(Passiflora molli- (Manihot esculencher<br />
als Bienenweisima)tum)de<br />
10-15 Arten<br />
Ananas<br />
Yam<br />
Vegetation an und<br />
(Ananas comosus) (Dioscorea spp.)<br />
in Bächen<br />
10-40 Arten<br />
Chontaduro (Gu- Arracha (Arracha Fauna ???? Fauna ????<br />
lieima gassipaes) xanthorriza)<br />
Schnittblumen Cocoyam<br />
z. B. Anthuria spp. (Colocasia esculen-<br />
Heliconia spp., Alta, Xanthosomas<br />
pinia spp. oder sagittifolium)<br />
Hawaiana spp.<br />
Forstwirtschaft Balu (Erythrina edu-<br />
Bau- und Möbelholz<br />
Imkerei<br />
Fischwirtschaft<br />
Geflügelhaltung<br />
lis)<br />
System Kaffeeanbau ohne Beschattung<br />
Arabica - Kaffee<br />
Keine Sehr selten Unkräuter<br />
10-20 Arten<br />
Waldbau auf Nischenflächen<br />
10-15 Arten<br />
1-3 Sorten Vegetation an und<br />
in Bächen<br />
10-20 Arten<br />
Fauna ???? Fauna ????<br />
Die regelmäßigen Preisschwankungen auf dem Weltmarkt und die damit einhergehende ökonomische<br />
Unsicherheit veranlassten einige Kaffeeproduzenten im Soconusco, marktwirtschaftlich attraktive<br />
Nebennutzungen zu erproben (Abb. 14).<br />
Erfolgreich erwiesen sich die Fischwirtschaft und die Anzucht von Schnittblumen. Beide Nebenzweige<br />
sind jedoch kapitalintensiv. Ein vorteilhafter Nebeneffekt ist bei der Aufzucht von Fischarten
Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
wie Forelle, Karpfen, Tilapia oder Cachama die Selbstkontrolle für rein zu haltendes Wasser. Die<br />
Hauptquellen für eine Wasserverseuchung in Kaffeeregionen, Abwasser mit ungeklärter Kaffee-<br />
Pulpe und Agrochemikalien, werden auf diese Weise ausgeschlossen. Die ökologische Teichwirtschaft<br />
ermöglicht auch bei geringer Zufütterung eine jährliche Fischproduktion von 3 bis 7 kg Edelfisch<br />
je Quadratmeter Wasserfläche.<br />
Der kommerzielle Anbau von Schnittblumen (Anthuria spp.) erfordert neben der fachlichen Ausbildung<br />
von Gärtnern eine Investition von ca. 60 US $ je m². Ökonomisch rentabel erwiesen sich Anlagen<br />
mit über <strong>2000</strong> m² Anbaufläche. Diese Arbeit kann besonders Frauen eine sozialökonomische<br />
Verbesserung bieten.<br />
Technikeinsatz<br />
+<br />
Handarbeit<br />
+ + +<br />
Agrochemikalien<br />
+ +<br />
Jagd und<br />
Ökotourismus<br />
System Kaffee<br />
Hauptkultur: Kaffee<br />
Ertrag: 600 bis 1000kg/ha<br />
Biomasse: 12 bis20 t/ha/a<br />
Holz /<br />
Möbel<br />
Energie<br />
Honig Fischwirt - Blumen<br />
schaft<br />
Schattenbäume sind Pollenspender<br />
Umweltbelastung: Abwässer von Kaffeeaufbereitung<br />
Erosion: schattenloser Anbau, Pflanzung in Hangneigung<br />
Sauerstoff<br />
Abb. 14: Anbausystem Kaffee mit Beschattung im Soconusco, Chiapas, Mexiko<br />
(nach POHLAN et al., <strong>2000</strong> b)<br />
Eine Energiebilanz im Kaffeeanbau ist sicherlich uninteressant, denn was wir an Energie im Kaffee<br />
ernten, interessiert niemanden. Eine gute Möglichkeit zur Bewertung wäre eine ökologische Bilanz.<br />
Doch dazu müssen einige Modellverfahren erstellt und ausgewertet werden. Diese sollten sich auf<br />
die verschiedenen Intensitäten im Kaffeeanbau beziehen, die Nebennutzungen bewerten und die<br />
zusätzlichen direkten und indirekten Komponenten des gesamten Nutzungssystems erfassen.<br />
5. Ausblick<br />
Die Regionen Mittelamerikas und der Karibik bieten eine Vielfalt an ökologischen und soziethnologischen<br />
Gegebenheiten, die durch neu gestaltete und von Abwechslung und nachhaltiger<br />
Produktion geprägte Kakao- und Kaffee-Ökosysteme genutzt werden können.<br />
Anhand von Beispielen nachhaltig bewirtschafteter Systeme in Mexiko, Guatemala, Nikaragua,<br />
Kostarika und Kuba wurden Alternativen zugunsten einer ökonomisch erfolgreichen, ökologisch<br />
stabilen und sozial verträglichen Landwirtschaft unter Beibehaltung der Hauptkultur Kakao oder<br />
Kaffee vorgestellt.<br />
Ergebnisse aus langjährigen Feldstudien in Mexiko, Guatemala, Nikaragua, Kostarika, Kuba und<br />
Venezuela belegen die sozioökonomische und ökologische Lebensfähigkeit von Gebieten mit Kakao-<br />
oder Kaffeeanbau als Hauptkultur, wenn uneingeschränkt nachhaltig produziert wird. In diesen<br />
Untersuchungen wurde auch deutlich, dass für eine erfolgreiche Transformation des konventionellen<br />
Anbaus zu nachhaltigen Anbausystemen die Kenntnisse und das Einfühlungsvermögen<br />
der Bauern in agronomische, ökologische und ökonomische Belange ihrer Kulturen von entscheidender<br />
Bedeutung sind.<br />
Besonders nötig sind die multidisziplinäre Zusammenarbeit von Landwirten, Umweltexperten und<br />
dem Tourismusmanagement sowie die ökonomische Absicherung des Anbaus von Kaffee oder
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Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
Kakao durch eine refinanzierbare Kreditpolitik seitens staatlicher oder internationaler Institutionen.<br />
Eine Neubestimmung für die Nutzung und den Erhalt der Ökosysteme Kaffee und Kakao sollte<br />
nachfolgende Schwerpunkte beinhalten:<br />
o Ökonomische Vielfalt bestimmen und nutzen<br />
o Anbauprobleme analysieren und lösen<br />
o Ökologische Vielfalt erhalten oder wiederherstellen<br />
o Vermarktungschancen ermitteln und Handel organisieren<br />
Eine zukunftsweisende Gestaltung der beiden Anbausysteme hängt dabei nicht primär, wie vielfach<br />
angenommen und betont, von den politischen Rahmenbedingungen ab, sondern liegt in der<br />
dynamischen, kreativen Zusammenarbeit aller lokal, regional oder auch global sich beteiligen Wollender.<br />
Der Lebenszyklus von Kakao- und Kaffeepflanzungen kann standort- und umweltgerecht gesteuert<br />
sowie stabil gestaltet werden. Dafür ist eine beispielhafte Verknüpfung bereits existierender und<br />
neu zu kreierender Anbau- und Nutzungssysteme zu entwickeln (Abb. 15). Kostenoptimierung und<br />
kostendeckende Preisbildung sind ebenso wichtig wie eine nachhaltige Wertschöpfungskette und<br />
die Sicherung der ökologischen Glaubwürdigkeit im Anbau- und Vermarktungsprozess. Die biologische<br />
Vielfalt der einzelnen Systeme ist mit möglichst geringen Stoffströmen zu formen. Die Profilierung<br />
im Marketing dürfte ein bedeutungsvolles Glied in der Kette zwischen Produzent und Konsument<br />
bilden. Minimierte Transportwege sowie Aufbereitungs- und Verarbeitungsprozesse sind<br />
dabei unumgänglich. Ohne entsprechende vertikale und horizontale Kooperationen werden die<br />
aufgeführten Formen einer nachhaltigen Entwicklung nur stockend und stückweise voran kommen.<br />
Diese Zukunftsvision kann und muss mit einer nachhaltigen Lebenskultur erfüllt, mit praktischem<br />
Können und theoretischem Wissen gestaltet und ohne Zaghaftigkeit schwungvoll umgesetzt werden.<br />
Die neuen Bedingungen und Grenzen für ihre Konstanz sind so zu gestalten, dass Strukturveränderungen<br />
innerhalb dieser Agroökosysteme ohne Rodung, ohne Abbrennen der dabei anfallenden<br />
organischen Materialien und ohne den bisher praktizierten Anbausystemen mit offen gehaltenem<br />
Boden vorgenommen werden.<br />
Zukunftsvision<br />
Hohe Biodiversität<br />
Naturbelassene<br />
Bedingungen<br />
Kleinb au ern in Subsistenz<br />
Anbausystem<br />
1<br />
Spezialisierung<br />
Anba usystem<br />
4<br />
Anba usystem<br />
2<br />
Siglo XXI<br />
Anba usystem<br />
5<br />
1 Spezialkultur<br />
Anbausystem<br />
3<br />
Intensive Produktion<br />
© POHLAN und BORGMAN 1999<br />
Abb. 15: Entwicklungsmöglichkeiten für eine nachhaltige Landwirtschaft
Jürgen Pohlan: Nachhaltig bewirtschaftete Systeme im Kakao- und Kaffee-Anbau als Mittel gegen soziale und biodiversitive Armut -<br />
Fallbeispiele aus Mittelamerika und der Karibik<br />
6. Literaturverzeichnis<br />
• ALTIERI, M. (1983): Agroecología, Bases Científicas de la Agricultura Alternativa. División de Control<br />
Biológico, Universidad de California, Estados Unidos.<br />
• ÁLVAREZ SIMÀN, F. (1996): Capitalismo, el estado y el campesino en México. Universidad Autónoma<br />
de Chiapas, Tuxtla Gutiérrez, Chiapas, 359 pp.<br />
• BORGMAN, J.; GEHRKE VELEZ, M.R.; POHLAN, J. (<strong>2000</strong>): Energy balances in the tropical fruit production<br />
of the Soconusco Region, Chiapas, Mexico. Acta Horticulturae, Number 531, 57-64<br />
• BORGMAN, J.; POHLAN, J. (1995): Agricultura Sostenible - eine Perspektive? Quetzal, Heft Nr. 11,<br />
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Ali Hensel<br />
Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
Vorbemerkung<br />
Der Werkhof e.V. unterstützt seit über 15 Jahren in Lateinamerika und Afrika Projekte im<br />
berufsbildenden Bereich und fördert kleinindustrielle Strukturen und Handwerksbetriebe. In den<br />
letzten Jahren ist zu dieser Arbeit ein neuer Schwerpunkt hinzugekommen: die Förderung<br />
ökologisch nachhaltiger Landwirtschaft. Zwei von der Europäsichen Union mitfinanzierte Projekte<br />
befassen sich mit dem Anbau von organischem Kaffee und Bio-Baumwolle in Nicaragua. In einem<br />
weiteren von der Europ. Union finanzierten Großprojekt wird der Anbau, die Verarbeitung und<br />
Vermarktung von tropischen Bio-Früchten in Kolumbien gefördert.<br />
In diesen drei Projekten ebenso wie in vielen Kleinprojekten ist es das Anliegen des Werkhofs,<br />
ökonomisch günstige Rahmenbedingungen für das Erreichen der ökologischen Projektziele zu<br />
schaffen und damit zugleich die jeweilige Fauna und Flora vor Ort zu erhalten. Dabei kommt es<br />
immer wieder zu Konflikten im Spannungsfeld zwischen der Natur-Nutzung durch den Menschen<br />
einerseits und den Bestrebungen, die Biodiversität einer Region zumindest zu erhalten,<br />
andererseits.<br />
Wir gehen von der These aus, dass letztlich nur Ökologieprojekte, die auch ökonomisch nachhaltig<br />
sind, also den Bauern und Bäuerinnen ein gesichertes Einkommen oberhalb des<br />
Existenzminimums bieten, einen schonenden Umgang mit der Natur sicherstellen können. Vor<br />
diesem Hintergrund liegt uns die wirtschaftliche Überlebensfähigkeit der Bauern und Bäuerinnen<br />
besonders<br />
am Herzen.<br />
Exportfähigkeit ist Existenzsicherung<br />
Oft hängt die Überlebensfähigkeit der vom Werkhof e.V. unterstützten landwirtschaftlichen Projekte<br />
zugleich von deren Exportfähigkeit 1 und Exportmöglichkeiten ab. Eine Konzentration der wirtschaftlichen<br />
Aktivitäten allein auf die lokalen Märkte reicht in der Regel gerade für ökologisch orientierte<br />
Vorhaben nicht aus, um die erhöhten Kosten der Produktion zu finanzieren und darüber<br />
hinaus den beteiligten Akteuren ein ausreichend hohes Einkommen zu sichern.<br />
Neue Sicherheitskriterien für Früchte und Gemüse:<br />
Schutz der VerbraucherInnen oder Mittel zur Importrestriktion?<br />
Vor dem Hintergrund der Exportorientierung vieler ökologisch orientierter Landwirtschaftsprojekte<br />
möchten wir das Augenmerk auf den Entwurf einer Richtlinie aus den USA richten, die für die Bio-<br />
Bauern speziell in Lateinamerika von großer Bedeutung werden wird. Es wird erwartet, dass der<br />
vorliegende Entwurf nach den Präsidentenwahlen in den USA (Herbst <strong>2000</strong>) zur verbindlichen<br />
Richtlinie wird und dann weitreichende Konsequenzen für den Export von Früchten und Gemüse in<br />
die USA hat.<br />
Es handelt sich um eine Richtlinie zur “Minimierung von mikrobiologischen Sicherheitsrisiken für<br />
frisches Obst und Gemüse” 2 . Der Entwurf liegt zur Zeit in spanischer und englischer Fassung vor<br />
1<br />
dazu gehören u.a. Einhaltung von hygienischen Standards, regelmäßige Kontrolle der<br />
Produktqualität, Analysen der Belastung mit Pestiziden, Schwermetallen, Pilzen usw.,<br />
Zertifizierung des<br />
Öko-Anbaues<br />
2<br />
Guide to minimize microbial food safety hazards for fresh fruits and vegetables, Herausgeber:<br />
U.S. Department of Health and Human Services, Food and Drug, Administration, Center for Food<br />
Safety and Applied Nutrition (CFSAN), April 13, 1998
Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
und kann bei Bedarf (ca. 70 Seiten incl. Anlagen) über e-mail 3 bei uns angefordert werden. Er wird<br />
in Lateinamerika, insbesondere in Mexico und Kolumbien, bereits heftig diskutiert.<br />
- Good management practices als Richtlinien für die Produzenten<br />
In der Richtlinie werden acht Prinzipien 4 entwickelt, welche die Produzenten zur Beachtung von<br />
bestimmten Standards bei Anbau und Verarbeitung verpflichten sollen. Durch die Einhaltung dieser<br />
Prinzipien soll der Gefahr einer mikrobiologischen Kontaminierung ihrer Produkte entgegengewirkt<br />
werden.<br />
Das mit dem Entwurf angestrebte Ziel, nämlich die Unbedenklichkeit bzw. Unschädlichkeit von<br />
landwirtschaftlichen Produkten zu garantieren, scheint durchaus akzeptabel. Die USA haben ebenso<br />
wie die EU das gute Recht, sich mit Importvorschriften für landwirtschaftliche Produkte zu<br />
befassen und einen Nachweis der gesundheitlichen Unbedenklichkeit zu fordern.<br />
Nach einem Bericht des „Council for Agricultural Science and Technology“ aus dem Jahr 1994<br />
sterben in den USA jährlich über 9.000 Menschen durch verdorbene und verseuchte Nahrungsmittel.<br />
6,5 bis 33 Millionen Erkrankungen werden in Zusammenhang mit verdorbenen oder verseuchten<br />
Nahrungsmitteln gebracht.<br />
- Machen Importe krank?<br />
Wie Untersuchungen zeigen, glauben die VerbraucherInnen in den USA, dass in erster Linie importierte<br />
Lebensmittel diese Schäden verursachen.<br />
Diese in der Öffentlichkeit vorhandene (Fehl)Einschätzung war sicherlich einer der Gründe, weshalb<br />
Präsident Clinton am 25. Januar 1997 eine Initiative ankündigte, welche die Versorgung der<br />
Nation mit sicheren Lebensmitteln garantieren soll. Insgesamt sollten bereits im Haushaltsjahr<br />
1998 ca. 43 Millionen USD zur Verfügung gestellt werden.<br />
Aus der Sicht der VerbraucherInnen machen die geplanten Vorschriften Sinn, denn sie befassen<br />
sich mit:<br />
a) der Erzeugung der landwirtschaftlichen Produkte selbst (Anbau und Ernte)<br />
b) der Verpackung der Produkte und ihrem Weg bis zu den EndverbraucherInnen<br />
- Abschottung durch Nachweispflicht<br />
Problematisch wird es aber für die ErzeugerInnen von Bio-Produkten in Lateinamerika, wenn sie in<br />
Zukunft gezwungen sein werden, die Nachweispflicht für die Unschädlichkeit der Produkte zu führen.<br />
Lassen Sie mich nur einige Beispiele aus dem Entwurf der Richtlinie herausgreifen, die auf dem<br />
Papier als nachvollziehbar oder gar wünschenswert erscheinen, in der Realität aber vielen Bio-<br />
Bauern die Exportmöglichkeiten ihrer Produkte zunichte machen:<br />
1. Nachweis der Unbedenklichkeit des zur Bewässerung verwendeten Wassers: Hier sind sowohl<br />
chemische als auch biologische Risiken auszuschliessen<br />
2. Ausschluss von Verseuchungen durch organische Düngemittel, Tierdung und Kompost<br />
3. Nachweis von ausreichenden Hygieneeinrichtungen für die Arbeiter während der Ernte<br />
4. Verhinderung der Beschäftigung von erkrankten Arbeitern.<br />
Dies ist nur eine kleine Auswahl aus den zu erwartenden Vorschriften für die Erzeugung landwirtschaftlicher<br />
Produkte. Die Bestimmungen für die Verpackung und Verarbeitung gehen erheblich<br />
weiter und erfordern zum Teil einen hohen Kapitaleinsatz, um z.B. die Abpackanlagen den geplanten<br />
Hygiene-Standards anzupassen.<br />
3 e-mail: whd@compuserve.com<br />
4 Good management practices (GMP´s)
Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
Allein die Punkte 1 bis 4 machen aber klar, dass Bio-Produkte besonders dann, wenn sie innerhalb<br />
kleinbäuerlicher Strukturen erzeugt werden, bei den neuen Anforderungen auf dem USamerikanischen<br />
Markt kaum eine Chance auf Zulassung haben werden.<br />
- Ökologie in der ökonomischen Zange<br />
Durch die Verknüpfung von weitreichenden Hygiene-Standards (z.B. Wasseruntersuchungen, detaillierte<br />
Vorschriften zu Gesundheitsuntersuchungen bei dem beschäftigten Personal) mit dem<br />
Ausschluss von Tierzucht in den Plantagen werden die Bauern von zwei Seiten in eine ökonomische<br />
Zange genommen:<br />
1. Die Nachweise und Untersuchungen können nach den bisherigen Erfahrungen nur über ausländische<br />
Institute erbracht werden und werden im Vergleich unangemessen teuer sein (bisher<br />
werden z.B. alle Zertifizierungen im Bereich des Exportes von Kaffee, Baumwolle und Bio-<br />
Tropenfrüchten ausschließlich durch ausländische Experten oder Organisationen erbracht, das<br />
Gesetz würde diese Nachweispflicht aber auf zusätzliche Bereiche ausdehnen).<br />
2. Die in immer mehr landwirtschaftlichen Projekten praktizierte Tierhaltung wird kaum noch<br />
möglich sein. Dies kann so weit gehen, dass letztlich für die Produktion von landwirtschaftlichen<br />
Produkten im kleinbäuerlichen Umfeld keinerlei Raum mehr bleibt, da die Haustiere nicht<br />
mit Sicherheit von den Plantagen ferngehalten werden können.<br />
Damit wird das gerade durch den Einsatz von Schafen erzielbare Zusatzeinkommen unmöglich<br />
(die Schafe pflegen die Plantagen, wodurch gleichzeitig der Einsatz von Herbiziden unnötig<br />
wird).<br />
Punkt 1 führt zu einer Verteuerung der Produktion, die nach unserer Ansicht dazu führen wird,<br />
dass der zu erzielende Preis nicht mehr die Kosten deckt, da schon heute die Agrarkonzerne zu<br />
günstigeren Preisen anbieten.<br />
Punkt 2 schmälert das zu erzielende Zusatzeinkommen, welches in Kombination mit dem meist<br />
geringen Gewinn aus der Produktion bisher die ökonomische Überlebensfähigkeit sichert.<br />
Ohne diese ökonomische Überlebensfähigkeit wird die Ökologie über kurz oder lang auf der Strecke<br />
bleiben.<br />
Wir möchten es bei diesen beiden Beispielen bewenden lassen. Sie zeigen aber bereits, dass es<br />
notwendig ist, rechtzeitig auf die Gesetzesvorlage einzuwirken, um auch den Bio-Produkten, die<br />
nicht aus den Plantagen von Agrar-Konzernen kommen, auf dem amerikanischen Markt eine<br />
Chance zu geben.<br />
Es müssen Regelungen gefordert und formuliert werden, die sicherstellen, dass über die neue<br />
Richtlinie nicht die unliebsamen Konkurrenten der Agrar-Konzerne, die ja nur allzu oft auch in amerikanischem<br />
Besitz sind, ganz vom Markt verdrängt werden.<br />
Fazit<br />
Es besteht tendenziell die Gefahr, dass die Richtlinie als Importblockade gegen Exporteure in aller<br />
Welt verwendet wird, die je nach Marktlage und Belieben (das heißt, je nach Angebotssituation auf<br />
dem heimischen Markt) ein- bzw. ausgeschaltet wird. Die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen,<br />
dass solche Richtlinien immer zugleich als willkommene Waffe zum Schutz des eigenen Marktes<br />
eingesetzt wurden.<br />
Der Werkhof versucht in Zusammenarbeit mit anderen betroffenen NGO´s in Deutschland und Lateinamerika<br />
sowie mit den Produzenten, auf die Gesetzesvorlage Einfluss zu nehmen.<br />
Dazu allerdings brauchen wir Unterstützung nicht nur durch die Politik, sondern auch durch die<br />
Wissenschaft.
Anlage:<br />
GMP`s:<br />
Ali Hensel: Importrestriktionen und Probleme nachhaltiger Landwirtschaft<br />
Principle 1<br />
Prevention of microbial contamination of fresh produce is favored over reliance on corrective actions<br />
once contamination has occurred.<br />
Principle 2<br />
To minimize microbial food safety hazards in fresh produce, growers or packers should use good<br />
agricultural practices in those areas over which they have some degree of control<br />
while not increasing other risks to the food supply or the environment.<br />
Principle 3<br />
Anything that comes in contact with fresh produce has the potential of contaminating it.<br />
For most foodborne pathogens associated with produce, the major source of contamination is associated<br />
with human or animal feces.<br />
Principle 4<br />
Whenever water comes in contact with produce, its source and quality dictate the potential for contamination.<br />
Good agricultural and manufacturing practices<br />
must be considered to minimize the risk of contamination from water used for agricultural and<br />
processing purposes.<br />
Principle 5<br />
Practices using manure or municipal biosolids should be closely managed to minimize the potential<br />
for contamination.<br />
Principle 6<br />
Worker hygiene and sanitation practices along the production cycle play a critical role in minimizing<br />
the potential for microbial contamination of fresh produce.<br />
Principle 7<br />
It is important to understand and follow all local, State, and Federal government regulations relative<br />
to established agricultural practices Principle 8<br />
Principle 8<br />
Establish a system for accountability at all levels of your agricultural environment (farm, packing<br />
facility, distribution center, and transport operation). A successful food safety program should include<br />
provisions for qualified personnel and effective monitoring and maintenance to ensure that all<br />
elements of the program are functioning correctly and to help track produce back through the distribution<br />
channels to the producer.
2.2 Ex-Situ-Sammlungen
Stefan Schneckenburger<br />
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Kurzfassung: Etwa 270.000 Arten Höherer Pflanzen sind derzeit bekannt – rund 80.000 Arten<br />
werden in den etwa 1.775 Botanischen Gärten weltweit kultiviert – in <strong>Darmstadt</strong> sind es zwischen<br />
8000 und 9000. Während die natürliche Artenvielfalt ihre Maxima in den Tropen und Subtropen<br />
zeigt, konzentrieren sich diese Einrichtungen nicht in diesen ‚Megadiversitätsländern‘, sondern in<br />
den hochentwickelten Industrieländern. Mit seinen etwa 100 Gärten beherbergt Deutschland eine<br />
größere Anzahl dieser Institutionen als der gesamte afrikanische Kontinent! So ist der Reichtum<br />
der Gärten an Biodiversität zugleich eine große Verpflichtung.<br />
Konflikte ergeben sich nun einerseits durch den Wunsch potentieller kommerzieller Nutzer auf ungehinderten<br />
Zugriff auf die Sammlungen und andererseits wegen der berechtigten Ansprüche der<br />
Ursprungsländer auf Grund der Biodiversitätskonvention und der sich daraus ergebenden Verpflichtungen.<br />
Zum einen sollen die Potentiale der Botanischen Gärten zur Erforschung, Erhaltung und Nutzung<br />
biologischer Vielfalt – auch in Verbindung mit Lehre und Bewußtseinsbildung in einer breiten Öffentlichkeit<br />
- vorgestellt werden, zum anderen soll auf das entstandene Konfliktfeld im Dreieck zwischen<br />
Herkunftsländern, Gärten und Nutzern hingewiesen werden.<br />
Inhalt:<br />
Vorbemerkungen und Dank<br />
1. Botanische Gärten und Phytodiversität<br />
Exkurs 1: Kurzer Abriss der Geschichte Botanischer Gärten<br />
Exkurs 2: Was macht einen modernen Botanischen Garten aus?<br />
2. Die Botanischen Gärten Deutschlands und ihre Sammlungen<br />
Exkurs 3: Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten<br />
3. Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten<br />
Exkurs 4: CITES – die erste für Botanische Gärten folgenreiche internationale Konvention<br />
Vorbemerkungen und Dank:<br />
Ein besonderer Dank geht nach Bonn an die Mitarbeiter des F + E – Vorhabens ‚Beitrag der deutschen<br />
Botanischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Vielfalt und Genetischer Ressourcen“<br />
für die Benutzung ihrer Ergebnisse (vgl. RAUER et al. <strong>2000</strong>).<br />
Deshalb gilt mein besonderer Dank am Anfang Herrn Professor Dr. W. BARTHLOTT, Herrn Dr.<br />
LOBIN, Herrn Dr. P. IBISCH und Herrn Dipl.Biol. G. RAUER. Besonders herzlich möchte ich mich bei<br />
Frau Dipl.Biologin MARLIES VON DEN DRIESCH für zahlreiche Informationen und konstruktive Gespräche<br />
bedanken.<br />
1. Botanische Gärten und Phytodiversität<br />
Etwa 270.000 Arten an Blütenpflanzen und Farnen und Farnartigen – also Gefäßpflanzen (= Höhere<br />
Pflanzen) sind derzeit bekannt – dies im Sinne von wissenschaftlich beschrieben. Realistische<br />
Schätzungen gehen von einer Gesamtanzahl von etwa 320.000 Arten aus, so dass die Botaniker,<br />
die sich mit Höheren Pflanzen beschäftigen, in der glücklichen Lage sind, knapp 85 % der Arten<br />
zumindest potentiell kennen zu können. Hier sind sie in einer deutlich besseren Lage als viele Zoologen<br />
– bei den Arthropoden sind derzeit nur etwa 6% der geschätzten 15 Mio. Arten bekannt!<br />
Dieser Grad an Bekanntheit kann eigentlich nur noch mit dem der Säugetiere konkurrieren, wo<br />
man von etwa 83% an beschriebenen Arten ausgeht.<br />
Über die unterschiedliche Verteilung der Biodiversität auf der Erde wird in den Beiträgen von KIER<br />
und von MUTKE in dieser Publikation berichtet; man vergleiche auch BARTHLOTT et al. 1999b.
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Sammlungsschwerpunkte Botanischer Gärten sind nun die Höheren Pflanzen. Zu den bereits angesprochenen<br />
Blütenpflanzen gesellen sich hierbei noch die Farne und ihre Verwandten. Hier sind<br />
etwa 10.500 - 11.300 Arten (80% in den Tropen, also auf etwa 15% der Landfläche) bekannt, geschätzt<br />
wird die Gesamtartenzahl auf 12.000 – 15.000. Damit ergibt sich für die Pteridophyten ein<br />
Bekanntheitsgrad von etwa 74% (Tropen) bis 90% (temperierte Gebiete) (ROOS 1996).<br />
Von den übrigen Pflanzengruppen unserer Erde sind gelegentlich einige Moose und Lebermoose<br />
(beschrieben sind weltweit insgesamt ca. 14.000 Arten) bzw. Armleuchteralgen (bekannt etwa 500<br />
Arten) in gezielter Kultur. Vertreter anderer Pflanzengruppen (insgesamt etwa 400.000 Algenarten,<br />
etwa 1,5 Mio. Pilzarten) sind in Botanischen Gärten in der Regel nur vorübergehende Gäste, werden<br />
also mit ganz wenigen Ausnahmen nicht gezielt gepflegt, erhalten und vermehrt.<br />
Wenn wir nun etwas mehr ins Detail gehen, stellt sich die Frage, wie viele Arten denn nun tatsächlich<br />
in Kultur sind.<br />
Man schätzt, dass weltweit etwa 80.000 Pflanzenarten (HEYWOOD & WATSON 1995) in Botanischen<br />
Gärten und vergleichbaren Einrichtungen kultiviert werden – mithin knapp 30% der bisher bekannten<br />
Spezies. In den Gärten innerhalb der Staaten der EU sind es etwa 50.000 Species (CHENEY et<br />
al. <strong>2000</strong>). Über die genetische Diversität in den Botanischen Gärten wird noch zu sprechen sein.<br />
Sehr viele Gärten sind Bestandteile von Forschungseinrichtungen mit systematisch-taxonomischen<br />
Schwerpunkten, die in der Regel über umfangreiche Herbarien verfügen. Der Umfang der Lebend-<br />
bzw. Herbarsammlungen gibt einen Hinweis auf die Fülle des für Forschung und Wissenschaft verfügbaren<br />
Materials. Einige Zahlen mögen aber zunächst die schiere Vielfalt verdeutlichen:<br />
Institution Taxa im Garten Herbarbelege<br />
(inkl. der jeweiligen Bot.<br />
Institute)<br />
Royal Bot. Gardens, Kew 34.000 6.000.000<br />
Bot. Garten Berlin-Dahlem 20.000 Taxa 2.500.000<br />
Royal Bot. Gardens Edinburgh 17.000 Taxa 2.000.000<br />
New York Botanical Garden 15.000 Taxa 5.300.000<br />
Bot. Garten München 13.000 Taxa 2.300.000<br />
...<br />
Bot. Garten <strong>Darmstadt</strong> 8 - 9.000 Taxa 23.000<br />
(Zahlen nach BARTHLOTT et al. 1999a, HOLMGREN et al. 1990)<br />
Insgesamt zählt man weltweit etwa 1.775 Botanische Gärten in 148 Ländern, eine Zahl, die von<br />
dem Royal Botanic Gardens, Kew und dem Botanic Gardens Conservation International ermittelt<br />
wurde. Allein in den Staaten der EU sind es 424 (CHENEY et al. <strong>2000</strong>). Allerdings schließt diese<br />
Angabe sicherlich weltweit eine Reihe von kleinen bzw. kaum nach elementaren Standards unterhaltenen<br />
Gärten ein, die in vielen Fällen die Bezeichnung als Botanische Gärten kaum verdienen.<br />
Trotzdem müssen wir uns in diesem Zusammenhang einmal die weltweite Verteilung der Botanischen<br />
Gärten vor Augen halten (vgl. Abb. 7 in BARTHLOTT et al. 1999a). Die Gärten sind nämlich<br />
sehr ungleich verteilt. Sie häufen sich in beeindruckender Weise in den temperierten Gebieten der<br />
Nordhalbkugel, mithin in den an Biodiversität armen Ländern der Erde. Betrachtet man dagegen<br />
die an Biodiversität reichen Länder, so erkennt man, dass hier nur sehr wenige Botanische Gärten<br />
zu finden sind. So weist Bolivien als ausgesprochenes ‚Megadiversitätsland‘ (IBISCH 1998) gerade<br />
einmal zwei Einrichtungen auf, die aber die Charakterisierung als Botanische Gärten nur mit Einschränkungen<br />
verdienen. Vergleichbares gilt für Borneo oder Neuguinea. Deutlich wird der Reichtum<br />
der temperierten Gebiete und die Armut der Tropen an Botanischen Gärten – Phytodiversität<br />
und Botanische Gärten sind also invers verteilt.<br />
Dies gibt Gelegenheit, in einem ersten Exkurs einen kurzen Überblick über die Geschichte der Botanischen<br />
Gärten zu geben.<br />
Exkurs 1: Kurzer Abriss der Geschichte Botanischer Gärten:<br />
Die ersten Botanischen Gärten westlicher Tradition entstanden in Anlehnung an die mittelalterlichen<br />
Klostergärten im Italien der Renaissance (Pisa 1543 und Padua 1545) und hatten zunächst<br />
die Aufgabe, Arzneipflanzen für die akademische Lehre heranzuziehen. Recht bald schon folgten
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
weiteren italienischen Gründungen Gärten nördlich der Alpen (Leipzig 1580, Jena 1586, Leiden<br />
1587). Sie gingen mir einer Erweiterung der Aufgaben im Hinblick auf die Kultur natürlich vorkommender<br />
Pflanzen der Region wie auch der neu entdeckten Kontinente einher. Dabei spielte allerdings<br />
von Anfang an die wissenschaftliche Untersuchung und Dokumentation (z.B. in Form von<br />
Herbarien) eine wichtige Rolle, so dass wir heute über den Pflanzenbestand dieser frühen Gründungen<br />
recht gut informiert sind. Nur etwa hundert Jahre später verfügten viele bedeutende <strong>Universität</strong>en<br />
über große, z. T. noch immer an derselben Stelle bestehende Gärten. Die botanischen<br />
Institute und die mit ihnen verbundenen Gärten sind bis heute Zentren der botanischen Forschung<br />
auf allen Gebieten dieser Wissenschaft. So sind ein Teil der Gärten mit den weltweit größten Lebendsammlungen<br />
mit sehr umfangreichen Herbarien – ebenfalls unter den weltweit größten - verknüpft<br />
(s. o.). Große Gärten leisten als (Mit-)Herausgeber bedeutender Gebietsfloren unverzichtbare<br />
Arbeit für die Erfassung der pflanzlichen Vielfalt und ihrer Dynamik (München: Flora de Chile,<br />
RBG Edinburgh: Flora of Bhutan, Madrid: Flora Iberica, RGB Kew: u.a. Flora of Tropical East Africa,<br />
New York: Flora Neotropica etc.).<br />
Zahlreiche Neugründungen kamen dann im 18. und 19. Jahrhundert in den Kolonialgebieten hinzu.<br />
Diese dienten zunächst der Versorgung der Schiffsbesatzungen mit frischem Obst und Gemüse<br />
(z.B. der ehemalig Königliche Botanische Garten von Pamplemousses (Mauritius; heute Sir Seewoosagur<br />
Ramgoolam Botanic Garden; vgl. SCHÖLLER 1992), später jedoch bevorzugt als Prüfungs-<br />
und Sichtungsgärten für die Verbreitung tropischer Nutzpflanzen im jeweiligen Kolonialreich.<br />
Hier sind Gärten auf Sumatra, Ceylon, in Singapur und auch in Lateinamerika zu nennen. Ein spätes<br />
Beispiel mag dies veranschaulichen: der gesamte wirtschaftlich für die Region überaus bedeutsame<br />
Anbau der Ölpalme in Zentralamerika geht auf die Aktivitäten des von der USamerikanischen<br />
‚United Fruit Company‘ gegründeten und bis in die 60er Jahre geführten und dann<br />
aufgegebenen Botanischen Gartens von Lancetilla/Tela in Honduras zurück (vgl.<br />
SCHNECKENBURGER 1995). Ein anderes Beispiel ist die Verbringung des Kautschukbaumes (Hevea<br />
brasiliensis) aus Brasilien mit Zwischenstationen in den Royal Botanic Gardens, Kew (England)<br />
und den Botanischen Garten von Singapur in die Plantagenwirtschaft im tropischen SO-Asien.<br />
In den letzten Jahrzehnten wandelten sich wiederum die Aufgaben: Angesichts der erschreckend<br />
schnell um sich greifenden Naturzerstörung in und außerhalb der Tropen gelten die Botanischen<br />
Gärten immer mehr auch als Zentren einerseits der Bemühungen um die Erhaltung einzelner Arten,<br />
andererseits als Lernstätten für interessierte Kreise innerhalb und außerhalb der <strong>Universität</strong>en<br />
im Hinblick auf Fragestellungen der Ökologie der Pflanzen in ihren Lebensräumen und ihrer Bedrohung<br />
durch den Menschen. Durch das reiche Spektrum lebender Objekte und ihre Präsentation<br />
in einer sich den natürlichen Verhältnissen annähernden Form lassen sich sowohl einzelne Arten,<br />
das Zusammenleben von Pflanzen untereinander als auch Wechselwirkungen zwischen Tieren<br />
und Pflanzen Studierenden und Besuchern nahebringen. So sind neben der Anzucht von Pflanzen<br />
für die Lehre (z. B. für Kurse, Praktika und Vorlesungen) sowie der Kultur von Versuchspflanzen<br />
für Forschungszwecke auch Führungen für Studenten der Hochschule sowie für interessierte Laien<br />
eine wichtige Aufgabe eines Gartens. Hierzu zählen Gruppen aus Kindergärten, Schulklassen jeder<br />
Altersstufe und allgemein an der Botanik und an Gärten interessierten Personen. Europaweit<br />
können die Botanischen Gärten etwa 50 Millionen Besucher jährlich vorweisen (CHENEY et al.<br />
<strong>2000</strong>). Allein in Deutschland schätzen die Gärten ihr jährliches Besucheraufkommen auf etwa 14<br />
Mio. Personen (BARTHLOTT et al. 1999a). Nicht vergessen sollte man darüber hinaus ihre kulturhistorische<br />
Bedeutung mit ihren Gebäuden, Gewächshäusern (z. T. architektonische Kostbarkeiten),<br />
Bibliotheken (z. B. Jardím Botánico Coimbra mit etwa 125.000 Titeln botanischen und gärtnerischen<br />
Inhalts; CHENEY et al. <strong>2000</strong>) und Herbarien. Als ‚lebendige Museen‘ stellen sie ein wichtiges<br />
Glied im Kulturerbe der Menschheit dar.<br />
Dies gibt Anlass, in einem zweiten Exkurs kurz die Charakteristika eines modernen Botanischen<br />
Gartens vorzustellen:<br />
Exkurs 2: Was macht einen modernen Botanischen Garten aus?<br />
Die internationale Dachorganisation BGCI (Botanic Gardens Conservation International) hat 1989<br />
folgende Charakteristika und Anforderungen aufgestellt:<br />
Kontinuität der Sammlungen<br />
Wissenschaftliche Basis und Betreuung der Sammlungen<br />
Dokumentation (Herkunft, Sammeldaten etc.)
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Monitoring<br />
Etikettierung und Beschilderung<br />
Zugang für die Öffentlichkeit<br />
Informationsaustausch mit anderen Gärten, wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Institutionen<br />
Samen- und Materialaustausch mit Gärten, Arboreten und wissenschaftlichen Institutionen (z. B.<br />
durch die Bereitsellung eines ‚Index Seminum‘)<br />
Wissenschaftliche und technische Forschung<br />
Auf dieser Basis haben RAUER et al. <strong>2000</strong> in Anlehnung an eine Formulierung von BCGI 1999 folgende<br />
Kurzdefinition vorgeschlagen:<br />
Botanische Gärten sind Institutionen, welche dokumentierte lebende Sammlungen von Pflanzen<br />
kultivieren, um insbesondere Aufgaben in den Bereichen wissenschaftliche Forschung und Lehre,<br />
der Bildung sowie des Arten- und Naturschutzes zu erfüllen.<br />
Einen Überblick über die verschiedenen Typen – immerhin werden 11 notiert - Botanischer Gärten<br />
in der Europäischen Union geben CHENEY et al. <strong>2000</strong>.<br />
2. Die Botanischen Gärten Deutschlands und ihre Sammlungen<br />
In Deutschland gibt es etwa 95 Botanische Gärten, wobei hier mit Leipzig (1580), Jena (1586) und<br />
Heidelberg (1593) Gärten der ‚ersten Generation‘ zu finden sind. Einen attraktiven Überblick gibt<br />
das Buch von Frau Prof. h.c. LOKI SCHMIDT (1997), einer unermüdlichen Fürsprecherin der Belange<br />
des Naturschutzes und der Botanischen Gärten. Im Vergleich zur Fläche ist Deutschland weltweit<br />
das Land mit der höchsten Dichte Botanischer Gärten. Mehr als die Hälfte der Gärten (51)<br />
sind dabei <strong>Universität</strong>sgärten. In Länderzuständigkeit ohne <strong>Universität</strong>sanbindung fallen 9 Gärten,<br />
24 sind städtische und 10 private Einrichtungen. Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Größen der<br />
Botanischen Gärten in Deutschland zwischen maximal 40 ha (Bremen, Berlin-Dahlem, Insel Mainau)<br />
und knapp unter 1 ha schwanken. Die Mehrzahl der Botanischen Gärten weist eine Fläche<br />
von unter 6 ha auf (Daten nach RAUER et al. <strong>2000</strong>).<br />
Neben den fünf Botanischen Gärten Deutschlands, die den Umfang ihrer Sammlungen mit mehr<br />
als 10.000 Taxa angeben (Berlin, München, Tübingen, Frankfurt Palmengarten und Bochum), beherbergen<br />
deutsche Gärten in der Regel deutlich weniger als 10.000 Arten; ihre Zahl liegt im<br />
Durchschnitt zwischen 3.000 und 8.000 (LOBIN et al. 1996).<br />
Insgesamt sind in Deutschland etwa 50.000 verschiedene Taxa in den Lebendsammlungen der<br />
Gärten vorhanden und damit – das sei betont – auch ständig verfügbar.<br />
Es ist nun nötig, sich diese Zahlen noch einmal unter pflanzensystematischen Aspekten im im Detail<br />
anzusehen (Angaben nach BARTHLOTT et al. 1999a):<br />
Beschriebene Taxa davon in Kultur<br />
454 Familien 380 (ca. 85%)<br />
13.700 Gattungen 5.000 (ca. 40%)<br />
270.000 Arten 80.000 (ca. 30%)<br />
Verschiedene Probleme und Asymmetrien verbergen sich hinter diesen beeindruckenden Zahlen:<br />
1. Die einzelnen Pflanzenfamilien sind sehr ungleich in den Botanischen Gärten repräsentiert:<br />
So verfügt praktisch jeder Garten über eine mehr oder weniger große Orchideen- oder Sukkulentensammlung,<br />
während tropische Holzgewächse wie Vertreter der Rubiaceae oder Tiliaceae kaum<br />
vertreten sind. Mycotrophe und parasitische Sippen der verschiedensten Familien entziehen sich<br />
oft der Kultur in Botanischen Gärten (z.B. Balanophoraceae, Rafflesiaceae).<br />
Auch hier sollen wieder einige konkrete Zahlen diese Aussage ergänzen (nach BARTHLOTT et al.<br />
1999a):<br />
Familie Artenanzahl davon in Kultur<br />
Orchidaceae ca. 30.000 mehr als 25%<br />
Asteraceae – Korbblütler ca. 25.000 weniger als 10%<br />
(‚Sonnenblumenverwandtschaft‘)<br />
Rubiaceae – Rötegwächse mehr als 10.000 5 - 10%<br />
(‚Kaffeeverwandtschaft‘)
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Euphorbiaceae – ca. 8.000 5 – 10%<br />
Wolfsmilchgewächse<br />
Bromeliaceae 2.700 ca. 70%<br />
Cactaceae 1.000 mehr als 90%<br />
Didiereaceae<br />
(endem. Fam. Madagaskars) 11 100%<br />
Besonders eindrucksvoll wird die Asymmetrie bei den Bäumen: wahrend von den Bäumen der<br />
temperierten Gebiete etwa 90 % der Arten kultiviert werden, sind es von größeren tropischen<br />
Holzgewächsen dagegen weniger als 10%! Grund hierfür ist keinesfalls nur die Tatsache, dass<br />
Bäume eher als langweilig empfunden werden, sondern dass eine Gewächshauskultur tropischer<br />
Bäume nicht nur wegen der Größenverhältnisse zu keinen befriedigenden Ergebnissen führt, sondern<br />
dass auch der Lichtmangel in unseren Breiten die Entwicklung einer Baumgestalt in der Regel<br />
einfach verhindert. Die schlechte Repräsentanz tropischer Bäume liegt letztendlich wieder an<br />
der geringen Anzahl Botanischer Gärten in den Tropen überhaupt.<br />
Aus der Gartenrealität seien willkürlich zwei umfangreiche und in den temperierten Gebieten bzw.<br />
den Tropen bedeutsame Familien herausgegriffen und ihre Repräsentanz im Botanischen Garten<br />
<strong>Darmstadt</strong> (Fettdruck der entsprechenden Taxa) sichtbar gemacht.<br />
BU: Melastomataceae - Schwarzmundgewächse, eine überwiegend tropisch verbreitete Familie:<br />
Fam. Melastomataceae JUSS. (166 Gtg./4200 - 4500 Arten)<br />
UFam. Kibessioideae<br />
§ Kibessieae (1/15)<br />
UFam. Melastomoideae<br />
§ Astronieae (4/150)<br />
§ Sonerileae (42/580-660; Bertolonia (18), Centradenia (4),<br />
Sonerila (100-175))<br />
§ Merianieae (16/230)<br />
§ Rhexieae (1/13)<br />
§ Microlicieae (11/215)<br />
§ Melastomeae (47/890; Heterocentron (27),<br />
Tibouchina (240))<br />
§ Miconieae (42/<strong>2000</strong>-2200; Medinilla (200-400),<br />
Miconia (ca. 1000!), Clidemia (120), Tococa (54))<br />
§ Blakeeae (2/162)<br />
(nach RENNER 1993)<br />
BU: Rosaceae – Rosengewächse, eine vorwiegend in den temperierten Gegenden verbreitete<br />
Familie mit überaus wichtigen Nutz- (Stein-, Kern- und Beerenobst) und Zierpflanzen.<br />
Familie Rosaceae (110 Gtg./3.500 A.)<br />
UFam. I: Spiraeoideae<br />
I.1 Neillieae: Physocarpus, Neillia, Stephanandra<br />
I.2 Spiraeeae: Spiraea, Pentactina, Sibiraea, Petrophytum, Kelseya, Luetkea,<br />
Aruncus<br />
I.3 Gillenieae: Gillenia, Spiraeanthus<br />
I.4 Holodisceae: Holodiscus<br />
I.5 Sorbarieae: Sorbaria, Chamaebatiaria<br />
I.6 Adenostomateae: Adenostoma<br />
UFam. II: Lyonothamnoideae: Lyonothamnus<br />
UFam. III: Quillajoideae:Quillaja – möglicherweise keine Rosaceae (MORGAN e.a.<br />
1994)
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
UFam. IV: Filipenduloideae: Filipendula<br />
UFam. V: Kerrioideae<br />
V.1 Rhodotypeae: Rhodotypos<br />
V.2 Kerrieae: Kerria, Neviusia<br />
UFam. VI: Coleogynoideae: Coleogyne<br />
UFam. VII: Ruboideae: Rubus<br />
UFam VIII: Rosoideae: Rosa, Hulthemia<br />
UFam. IX: Potentilloideae<br />
IX.1 Dryadeae: Dryas, Fallugia<br />
IX.2 Purshieae: Chamaebatia, Cowania, Purshia<br />
IX.2 Geeae: Geum, Orthurus, Taihangia, Novosieversia, Sieversia, Waldsteinia,<br />
Coluria<br />
IX.3 Cercocarpeae: Cercocarpus<br />
IX.4 Potentilleae: Potentilla, Comarum, Chamaerhodos, Duchesnea, Fragaria,<br />
Horkelia, Horkeliella, Ivesia, Sibbaldia<br />
IX.5 Alchemilleae: Alchemilla, Aphanes<br />
IX.6 Sanguisorbeae: Agrimonia, Aremonia, Spenceria, Hagenia, Leucosidea,<br />
Sanguisorba, Sarcopterium, Margyricarpus, Tetraglochin, Acaena, Polylepis,<br />
Cliffortia, Bencomia<br />
IX.7 Potaninieae: Potaninia<br />
UFam. X: Dichotomanthoideae: Dichotomanthes<br />
UFam. XI: Pyroideae (Maloideae)<br />
XI.1 Kageneckieae: Kageneckia<br />
XI.2 Lindleyieae: Vanquelinia, Lindleya<br />
XI.3 Maleae: Photinia (incl. Stranvaesia), Heteromeles, Eriobotrya,<br />
Rhaphiolepis, Sorbus, Chamaemespilus, Cormus, Torminalis, Aronia,<br />
Amelanchier, Pyrus, Malus, Docynopsis, Eriolobus, Peraphyllum, Docynia,<br />
Cydonia, Pseudocydonia, Chaenomeles<br />
XI.4 Crategeae: Cotoneaster, Malacomeles, Chamaemeles, Pyracantha,<br />
Crataegus, Mespilus, Hesperomeles, Osteomeles<br />
UFam. XII: Amygdaloideae (Prunoideae)<br />
XII.1 Osmaronieae: Oemleria<br />
XII.2 Exochordeae: Exochorda<br />
XII.3 Amygdaleae: Maddenia, Pygeum, Laurocerasus, Padus, Cerasus,<br />
Prunus, Armeniaca, Amygdalus<br />
XII.4 Prinsepieae: Prinsepia<br />
2. Mag das Arteninventar des einzelnen Gartens sehr hoch sein (der Artenbestand des Botanischen<br />
Gartens <strong>Darmstadt</strong> auf seinen knapp über 5 ha Fläche umfasst ein Mehrfaches der in<br />
Deutschland natürlich vorkommenden Arten!), wiederholen sich die Arten im Vergleich der Gärten<br />
untereinander – die Artenturnoverrate und mithin die Beta-Diversität ist verhältnismäßig gering.<br />
Das F+E Projekt hat festgestellt, dass sich hinter den 70.000 Akzessionen der ersten 10 untersuchten<br />
Gärten nur rund 27.000 verschiedenen Taxa verbergen (RAUER et al. <strong>2000</strong>). Nicht nur das<br />
- die genetische Diversität der Sammlungen ist teilweise gering, da von einigen Sippen nur identische<br />
Klone kultiviert werden. So ist der morphologisch interessante epiphytische Kaktus Rhipsalis<br />
pentaptera zwar in über 100 Gärten in Kultur, allerdings handelt es sich hierbei immer um den gleichen<br />
Klon (BARTHLOTT et al. 1999a). Diese geringe genetische Diversität steigt natürlich mit der<br />
Möglichkeit bzw. der ausschließlichen vegetativen Vermehrung sehr stark an. Bei Pflanzen, die nur<br />
durch Samen – bestenfalls noch selbststerile Arten – vermehrt werden können, ist die genetische<br />
Vielfalt naturgemäß größer als bei Pflanzen, die leicht vegetativ (z.B. über Stecklinge) vermehrt<br />
werden und von denen entsprechendes Material zwischen den Gärten kursiert.<br />
Ein besonders eindrucksvoller Fall mag das illustrieren: Encephalartos woodii, eine südafrikanische<br />
Cycadee wurde nur ein einziges Mal als mehrstämmiges Exemplar wild gefunden und zwar<br />
als männliche Pflanze. Diese wurde zwischen 1903 und 1913 regelrecht aufgeteilt und an verschiedene<br />
Gärten und Gärtnereien in Südafrika und England gegeben. Heute ist Encephalartos
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
woodii in zahlreichen Sammlungen vertreten, allerdings nur in Form genetisch identischer Abkömmlinge<br />
eben dieser einen staminaten (männlichen) Pflanze (NORSTOG & NICHOLLS 1997). Allen<br />
Anstrengungen zum Trotz wurden bisher keine ‚weiblichen‘ (karpellaten) Pflanzen gefunden.<br />
Die Art ist also sicherlich nicht vom Aussterben bedroht, wobei allerdings wegen der fehlenden und<br />
nicht mehr wiederherstellbaren genetischen Diversität die Art – etwas salopp gesprochen - biologisch<br />
nahezu tot ist. Dieses Beispiel zeigt auch ganz deutlich einer der Grenzen einer Ex–situ-<br />
Erhaltung auf.<br />
Der in den letzten Jahren sehr umfangreich gewordene Diskussion über Ex-situ- versus In-situ-<br />
Erhaltung kann hier nur ganz am Rande erwähnt werden. Eine prägnante Übersicht aus dem<br />
Blickwinkel eines Botanischen Gartens gibt HENRY 1997 (vgl. auch HAMANN 1992). Die vor einigen<br />
Jahren sehr stark überschätzten Möglichkeiten der Botanischen Gärten der Ex-situ-Erhaltung<br />
scheitern schon der schieren Masse der gefährdeten Arten, wie der folgende Exkurs zeigt:<br />
Exkurs 3: Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten<br />
Das neueste IUCN Red Data Book (1998) listet etwa 34.000 Arten auf und weist ihnen einen Gefährdungsstatus<br />
zu. Würden sich alle Botanischen Gärten weltweit an Ex-situ-Erhaltungskulturen<br />
beteiligen, hätte jeder Garten etwa 20 Arten zu betreuen. Angesichts der Anforderungen an ein<br />
auch die genetische Diversität und Reinerhaltung verschiedener Herkünfte berücksichtigendes Erhaltungsprogramm<br />
kann ein solches Ansinnen nur als illusorisch betrachtet werden. Nach neuen<br />
Einschätzungen sind kleine Gärten kaum in der Lage, mehr als zwei bis im Höchstfall fünf Arten<br />
unter diesen Voraussetzungen zu betreuen. Deshalb ist man schon seit geraumer Zeit von früher<br />
stark propagierten und mit großen Hoffnungen ‚vorbelasteten‘ Vorstellung einer gewissermaßen<br />
großflächigen Ex-situ-Erhaltung in Botanischen Gärten abgekommen. Um so wichtiger erscheint<br />
der Aspekt der Unterstützung von In-situ-Programmen durch Botanische Gärten – sei es nun im<br />
Zusammenhang mit Vermehrungsmaßnahmen zur Wiederausbringung, Standortsicherung, wissenschaftlicher<br />
Begleitung oder durch Bewusstseinsbildung in Form einer breiten Öffentlichkeitsarbeit<br />
(vgl. auch CHENEY et al. <strong>2000</strong>).<br />
3. Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten<br />
Bevor näher auf die ‚Convention on Biological Diversity‘ (kurz CBD) eingegangen wird, soll in einem<br />
weiteren Exkurs das ‚Washingtoner Artenschutzübereinkommen‘ (kurz CITES) gewürdigt<br />
werden.<br />
Exkurs 4: CITES – die erste für Botanische Gärten folgenreiche internationale Konvention<br />
Die erste internationale Konvention, die massiv die Arbeit der Gärten beeinflusste, war das Washingtoner<br />
Artenschutzübereinkommen (CITES – Convention on International Trade in Endangered<br />
Species; verabschiedet 1973 in Washington, in Deutschland seit 1976 in Kraft). Zum einen<br />
wurde der Export von Pflanzen geschützter Arten auch für Botanische Gärten, die ja keinerlei<br />
kommerzielle Interessen verfolgen, erschwert. Zwar gab und gibt es im Hinblick auf ein vereinfachtes<br />
Verfahren für wissenschaftlichen Austausch (Label-Verfahren) gewisse Erleichterungen im Materialtransfer<br />
zwischen entsprechend zertifizierten Einrichtungen, doch war und ist der Umgang mit<br />
CITES gerade für kleinere Gärten oft schwer und – auf der Verwaltungsebene – schwer durchschaubar.<br />
Zum anderen brachte CITES den Gärten zusätzliche Verpflichtungen: Einerseits rekrutieren<br />
sich im Pflanzenbereich die vom Zoll bzw. anderen damit befassten Behörden herangezogenen<br />
Gutachter überwiegend aus Botanischen Gärten (vgl. die Liste der anerkannten Sachverständigen;<br />
BAnz. Nr. 83 v. 5.5.1992), andererseits müssen bei illegalen Einfuhren oder bei Betriebskontrollen<br />
beschlagnahmte Pflanzen irgendwo untergebracht werden – und dafür sind sie<br />
ebenfalls bevorzugt gefragt. Der Umfang solcher Beschlagnahmen darf nicht unterschätzt werden<br />
– zwar kommt es natürlich immer wieder vor, dass Reisende einige Kulturorchideen ohne CITES-<br />
Dokumentation mitbringen, bei Händlern bzw. halbkommerziellen (damit Reisen finanzierenden)<br />
Liebhabern kann es schnell um Hunderte von Pflanzen verschiedenster Arten und damit verschiedenster<br />
Ansprüche gehen. Allein die gärtnerische ‚Erstversorgung‘ einer solchen Sendung kann<br />
einen Aufwand von mehreren Tagen für mehrere Gärtner bedeuten – alles das angesichts personeller<br />
Engpässe, großen Platzmangels in den eigenen Gewächshäusern, einer ungewissen gerichtlichen<br />
Entscheidung und drohender Schadensersatzansprüche im Fall von Verlusten. Letztere
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
sind überdies bei frisch gesammeltem Wildmaterial fast unvermeidlich; die Preise für Einzelpflanzen<br />
können u. U. mehrere tausend DM betragen! Die Verfahren ziehen sich dann u. U. über mehrere<br />
Jahre hin – keine guten Aussichten für die Gärten.<br />
Während CITES den internationalen Handel mit bedrohten Tier- und Pflanzenarten regelt, schreibt<br />
die Konvention den Vertragsstaaten nicht vor, auf den jeweiligen Staatsgebieten Natur-, Arten- und<br />
Biodiversitätsschutz zu betreiben. Oftmals hat man den Eindruck, dass bei guten Kontakten der<br />
Händler in den Herkunftsländern viel mehr Handel als förderlich möglich ist. Es gibt augenscheinlich<br />
eine Reihe von Staaten, die gegenüber einheimischen Exporteuren sehr freigiebig mit entsprechenden<br />
Ausfuhrdokumenten sind. Man vergleiche in diesem Zusammenhang auch die Diskussionen<br />
um die Elfenbeinproblematik, die vor einigen Jahren seitens der afrikanischen Staaten mit<br />
dem Schutz der Heringsbestände der Nordsee verbunden wurde bzw. die Tragikomödie um den<br />
japanischen ‚wissenschaftlichen‘ Walfang.<br />
Andererseits wurden in den Vergangenheit gerade aus botanischer Sicht die Grenzen von CITES<br />
überaus deutlich sichtbar: die Aufnahme von Tropenhölzern (Dipterocarpaceae – Meranti, Swietenia,<br />
Khaya – Mahagoni etc.) scheiterte weitgehend bzw. gestaltete sich bereits im nationalen Vorfeld<br />
wegen des Widerstands anderer, am wirtschaftlichen Erfolg interessierter Fachministerien als<br />
außerordentlich schwierig<br />
Die Biodiversitätskonvention (CBD) wurde auf dem Umweltgipfel in Rio de Janeiro 1992 verabschiedet<br />
und von der Bundesrepublik Deutschland im Dezember 1993 ratifiziert. Bisher haben<br />
nach Angaben des deutschen ‚Clearing House Mechanism‘ zur CBD etwa 176 Staaten die Konvention<br />
ratifiziert (nähere und aktuellste Informationen auf der homepage des Clearing House Mechanism,<br />
einer ‚Informationsdrehscheibe‘, unter www.dainet.de/bmu-cbd/homepage.htm).<br />
Es ist festzustellen, dass die Bestimmungen der CBD noch nicht in konkretes nationales bzw. EU-<br />
Recht gegossen wurden, so dass man sich momentan noch auf sehr schwankendem Boden bewegt.<br />
Daneben soll daran erinnert werden, dass die USA der Konvention bisher nicht beigetreten<br />
sind und dies wohl auch nicht beabsichtigen. Die CBD greift in die Arbeit und Abläufe der Botanischer<br />
Gärten noch massiver als CITES ein. Nur drei Aspekte sollen genannt werden: Zum einen<br />
wird das Sammeln, auch kommuner und nicht gefährdeter Arten, in den Ursprungsländern – ein<br />
unverzichtbares Element für einen Garten – sehr erschwert bzw. fast unmöglich. Zum anderen<br />
wird der Austausch zwischen Gärten erschwert und – ein letztes - die in der Konvention verankerte<br />
Verpflichtung zum Benefit-sharing (also der Vorteilsbeteiligung der Ursprungsländer) ist von Botanischen<br />
Gärten nur sehr schwer einzulösen. An allen den genannten Konfliktpunkten tritt wieder<br />
eine tiefe Kluft zwischen kleinen und großen Gärten zu Tage – während sich die großen Institutionen<br />
eigene Mitarbeiter nur für den Umgang mit den Bestimmungen der CBD ‚leisten‘ können und<br />
durch ihre Etats und Möglichkeiten auch im Hinblick auf das Benefit-sharing beweglicher und flexibler<br />
sind, stehen gerade die kleineren Gärten vor immensen Schwierigkeiten. Die drei genannten<br />
Problemfelder sollen im folgenden etwas ausführlicher erläutert werden.<br />
Um ihre Sammlungen und deren biologische und genetische Vielfalt zu erhalten und auszubauen,<br />
sind alle Gärten darauf angewiesen, regelmäßig (jeweils allerdings in geringen Mengen!) von<br />
Pflanzen unmittelbar vom Naturstandort oder mittelbar vergleichbares Material über andere Botanische<br />
Gärten zu erhalten. Dabei ist darauf zu achten, dass nach Möglichkeit keine Gartenklone<br />
weitergegeben werden, sondern Wildmaterial bekannter und definierter Herkunft verwendet wird.<br />
Nur so ist es möglich, die genetische Vielfalt in den Sammlungen sicherzustellen und zu vergrößern.<br />
Dazu kommt noch – Ausnahmen wie die über 200 Jahre alte Fockea im Botanischen Garten<br />
Wien (gesammelt 1785 in der Regierungszeit Josephs II) oder die hundertjährige Idria in <strong>Darmstadt</strong><br />
(gesammelt 1899 durch C..A. PURPUS) gibt es durchaus, – dass die durchschnittliche Verweildauer<br />
von Pflanzen in Botanischen Gärten nur etwa 10 Jahre beträgt (RAUER et al. <strong>2000</strong>). Ein<br />
hoher Standard kann also nur durch Neuakzession von Wildmaterial (unmittelbar oder mittelbar)<br />
gewährleistet werden. Man darf auch nicht außer acht lassen, dass neue Forschungsrichtungen<br />
oder aktuelle Fragestellungen auf den verschiedensten Gebieten die Inkulturnahme neuer Arten<br />
erforderlich machen können. Um die Diversität der Sammlungen lokal wie global zu erhöhen, sind<br />
in den letzten Jahren die Botanischen Gärten vermehrt dazu übergegangen, Schritt für Schritt das<br />
seit langem kultivierte Gartenmaterial durch Wildherkünfte der gleichen Arten mit dokumentierter<br />
Herkunft zu ersetzen und die entsprechenden Daten auch sicher zu erfassen und eineindeutig die-
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
sen Pflanzen zuzuordnen. Die sind aufwendige Maßnahmen, die auch ein gehöriges Umdenken<br />
des gärtnerischen Personals erfordern.<br />
Hier versagt auch kläglich der einmal von einem ehemaligen Zukunftsminister formulierte Ansatz,<br />
die Aufgaben Botanischer Gärten könnten auch durch den Erwerbsgartenbau erfüllt werden. Gerade<br />
das Vorhalten nicht attraktiver Pflanzenarten in einem breiten systematischen und geographischen<br />
Spektrum und bekannter Herkunft kann nur von Botanischen Gärten geleistet werden. So<br />
sind in der Regel die ‚Allerweltsgartenklone‘ für viele Fragestellungen in der Grundlagenforschung<br />
nicht brauchbar. Von diesem Vorhalten profitieren natürlich nicht nur <strong>Universität</strong>en, sondern u.U.<br />
auch kommerzielle Forschungseinrichtungen im Life-Science-Bereich. So waren die seit den fünfziger<br />
Jahren auf verschiedenen Wirtsbäumen lebenden Misteln des Darmstädter Gartens im Hinblick<br />
auf ihre vom Wirt abhängige Wirkstoffzusammensetzung von Interesse – in einer kommerziellen<br />
Baumschule wären sie schon längst entfernt worden. Und auch hier – nicht nur beim Erwerb –<br />
greifen die Bestimmungen der CBD.<br />
Analysiert man einmal – neben der bisher ganz neuen Rechtsauffassung, dass die genetischen<br />
Ressourcen nicht mehr als ‚gemeinsames Erbe der Menschheit‘ betrachtet werden, sondern dass<br />
sie dem souveränen Nutzungsrecht der Ursprungsländer unterliegen - die Hintergründe der CBD,<br />
stellt sich heraus, dass eines der wichtigsten Motive für das Zustandekommen dieser Konvention<br />
nicht zuletzt die – berechtigte - Angst der Herkunftsländer in den Tropen war, mit Wildpflanzen,<br />
Tieren oder sogar menschlichen Blutproben (Neuguinea) kostenlos den Rohstoff für biotechnologische<br />
Neuerungen zu liefern und hinterher teuer für patentierte Produkte, Medikamente, Pflanzen/Nutzpflanzensorten<br />
bezahlen zu müssen. Man denke hierbei an die ‚Terminator-Technik‘, die<br />
mit Hilfe sogenannter Overkill-Gene zu einem Absterben der zweiten Generation von Nutzpflanzen<br />
führt und die Bauern dazu zwingt, Saatgut immer wieder von den großen Firmen zu beziehen.<br />
Was gerechtfertigt ist und schnell zu Papier gebracht ist, zieht allerdings auch erhebliche Schwierigkeiten<br />
nach sich. Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass auf diesem Feld besonders die kleineren<br />
Botanischen Gärten – also die überwiegende Mehrzahl – kaum eine ‚Gefahr‘ darstellen. Vor<br />
diesem Hintergrund fällt es vielen Institutionen bzw. – um den tatsächlichen Sachverhalt nicht zu<br />
verschleiern – vielen Kolleginnen und Kollegen auf allen Ebenen der Botanischem Gärten schwer,<br />
die CBD vorbehaltlos zu akzeptieren. Dies umso mehr, als das Prinzip der vorbehaltlosen Verfügbarmachung<br />
des Materials zu einem Grundprinzip der Gärten seit ihren Anfangszeiten gehört. So<br />
funktionierte der Samentausch zwischen den Gärten nicht nur unmittelbar nach den Kriegen unseres<br />
Jahrhunderts sondern auch in den Zeiten des ‚Kalten Krieges‘ in beiden Richtungen über den<br />
‚Eisernen Vorhang‘ hinweg. Auch heute wird dieses Instrument des Austauschs innerhalb der ‚garden<br />
community‘ stets überaus großzügig gehandhabt - z.B. bei Neugründungen/Neuanlagen werden<br />
oftmals sehr umfangreiche Anforderungen bedient. Insofern fällt es schwer, die Beschränkungen<br />
des Zugangs bzw. der Weitergabe nachzuvollziehen.<br />
Wie sich insgesamt das Klima in diesen Fragen geändert hat, mögen folgende Beispiele illustrieren:<br />
In den vierziger Jahren wurde mit Metasequoia glyptostroboides (Urweltmammutbaum) eine<br />
nur wenige Jahre zuvor fossil bekannt gewordene Conifere in China wildlebend gefunden. Samen<br />
wurden innerhalb kurzer Zeit weltweit Botanischen Gärten und wohl auch Handelsgärtnereien kostenfrei<br />
zur Verfügung gestellt. So verfügt der BG <strong>Darmstadt</strong> mit etwa zehn anderen Gärten in<br />
Deutschland über Pflanzen dieser ‚ersten Generation‘ des Urweltmammutbaums außerhalb Chinas<br />
(SCHNECKENBURGER <strong>2000</strong>). 1994 wurde in einer Schlucht der Blue Mountains nahe Sydney (Australien)<br />
die bis heute einzige bekannte Population von Wollemia nobilis (Wollemi Pine) gefunden.<br />
Es handelte sich um den einzigen Vertreter einer bisher noch unbekannten Gattung der Araucariaceae<br />
(Araukariengewächse). Einem australischen Mitglied der weltweit um den Schutz der Coniferen<br />
bemühten Conifer Specialist Group der IUCN wurde bedeutet, dass vor der Klärung zukünftiger<br />
Vermehrungs- und Vermarktungsrechte keinerlei Material erhältlich sei. Über die Höhe der<br />
Entgelte für die Vermarktungsrechte für diese in unseren Klimaten mit Sicherheit nicht winterharten<br />
Conifere wurden Summen von 2 Mio. Austr. $ genannt (WATT 1999).<br />
Zum anderen ist gerade auch die Weitergabe bzw. Annahme von Material an bzw. von fremden<br />
Gärten wegen der Bestimmungen der CBD nicht mehr ohne entsprechende Formalien und Verpflichtungen<br />
möglich. Die Unterscheidung von Prä- und Post-CBD-Material (wie dies z.B. bei<br />
CITES sinnvoll ist – man denke z.B. an einen Konzertflügel mit einer Tastenauflage aus Elfenbein,<br />
Baujahr 1930) ist in diesem Zusammenhang – nicht zuletzt auch aus Glaubwürdigkeitsgründen –<br />
wenig angebracht und wird von den Gärten überwiegend abgelehnt. Insofern wird alles Material
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
gleich behandelt. Eine Arbeitsgruppe unter Federführung der großen Botanischen Gärten (u.a.<br />
RBG Kew, New York BG, Missouri BG) hat im vergangenen Jahr umfangreiche ‚Common Policy<br />
Guidelines for Participating Gardens on Access to Genetic Ressources and Benefit Sharing‘ vorgelegt,<br />
die zwar noch nicht endgültig verabschiedet sind, aber hierfür recht gute Chancen haben. Die<br />
administrativen Voraussetzung zu einer konsequenten Umsetzung dieser Guidelines sind vielfach<br />
sicher nicht vorhanden. Die deutschen Botanischen Gärten sind derzeit in der Diskussion darüber,<br />
ob sie sich dem internationalen Modell anschließen, oder ob sie ihre Rolle eigenständig definieren<br />
wollen. Viele Gärten sind jetzt dazu übergegangen, schon jetzt bei der Weitergabe von Material eine<br />
Anerkennung der Grundlagen und Ziele der CBD zu verlangen. Nach meinen Beobachtungen<br />
wird diesem Ansinnen in der Regel auch gefolgt. Unterschiedlich allerdings ist die Handhabung –<br />
während einige Gärten Material nur gegen Unterschrift weitergeben, ist bei anderen die CBD quasi<br />
als Präambel der Samenkatalogs vorangestellt und gefordert, dass ein etwaiger Besteller die Konvention<br />
mit der Bestellung anerkennt.<br />
Grundaussagen dieser Weitergaberichtlinien sind:<br />
Material wird ausschließlich für Zwecke des Gemeinwohls (Wissenschaft, Bildung, Naturschutz)<br />
zur Verfügung gestellt.<br />
Eine kommerzielle Nutzung wird hiervon nicht erfaßt. Diese erfordert einen separaten Vertrag mit<br />
den Ursprungsländern.<br />
Bei Übernahme verpflichtet sich der Empfänger zur sorgsamen Handhabung, Dokumentation, Vertraulichkeit.<br />
Unterrichtung des Gebers über wissenschaftliche Ergebnisse, Publikationen etc., die mit Hilfe des<br />
Materials gewonnen wurden.<br />
Der Verband Botanischer Gärten hofft, dass – nicht zuletzt auch im Rahmen eines durchgeführten<br />
F+E-Vorhabens - bald eine zumindest für die deutschen Gärten praktikable Regelung gefunden<br />
werden kann, der sich dann alle anschließen können und werden. Ein solcher Entwurf liegt jetzt<br />
(August <strong>2000</strong>) vor und soll diskutiert und noch in diesem Jahr verabschiedet werden.<br />
Die Probleme bei der Weitergabe pflanzlichen Materials fokussieren sich für die Botanischen Gärten<br />
nicht zuletzt durch die Vorgabe des Benefit-Sharing (Art. 15 CBD). In der Regel sind die Botanischen<br />
Gärten und <strong>Universität</strong>en nicht an Patenten beteiligt (Auch hier gibt es Ausnahmen – Patente<br />
der US-Amerikanischen University of Wisconsin für Thaumatin (ein aus dem westafrikanischen<br />
Pfeilwurzgewächs Thaumatococcus danielii (Marantaceae) gewonnener Süßstoff) oder der<br />
Versuch der University of Colorado, für alle Sorten von der andinen Quinoa (Reismelde; Chenopodium<br />
quinoa (Chenopodiaceae) ein Patent zu erhalten. In diesem Fall ist die Lizenzfreiheit der Ursprungsländer<br />
Bolivien und Peru nicht mehr gewährleistet). Desgleichen entwickeln Botanische<br />
Gärten nicht die profitablen Produkte (so liegen die Entwicklungskosten eines neuen Medikaments<br />
zwischen 100 und 200 Mio. US $) bzw. sind noch weniger an ihrer Vermarktung beteiligt), sondern<br />
haben im besten Fall über eine Weitergabe von Pflanzen zum zeitlich u. U. stark verspätet eingetretenen<br />
kommerziellen Erfolg beigetragen. Bei Entwicklungszeiten von 10-15 Jahren sind die Wege<br />
für Botanischen Gärten nicht mehr nachvollziehbar. Ihnen kann also unmöglich die Bürde der<br />
Kontrolle des Benefit-sharing auferlegt werden – dafür sind sie nicht in der Lage.<br />
Dennoch bieten sich einige Formen des Benefit-sharing auf nicht unmittelbar pekuniärer Ebene für<br />
die Botanischen Gärten an und können von ihnen geleistet werden. Obwohl einige dieser Dinge<br />
bereits viele Jahrzehnte auf freiwillig-kollegialer Basis durchgeführten Praktiken entsprechen, sollen<br />
sie noch einmal kurz aufgeführt werden:<br />
Wissenstransfer, Austausch<br />
Forschungskooperationen<br />
Zugriff auf Sammlungen, Datenbanken,<br />
Technologietransfer: Hardware, Software<br />
Biodiversitätserhaltende Projekte<br />
Ausbildung Training: Capacity Building<br />
Internationaler Gärtner- und Kustodentausch (initiiert von Frau Prof. Dr. h.c. LOKI SCHMIDT)
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
Es soll abschließend die Frage nach den Chancen gestellt werden, die sich aus der CBD für die<br />
Botanischen Gärten ergeben (vgl. RAUER et al. 1999).<br />
Durch die Jahrhunderte lange Aktivität und Kompetenz in der Bewahrung der weltweiten Biodiversität<br />
können – und sollen - Botanische Gärten im Zusammenhang mit der CBD eine wichtige Rolle<br />
übernehmen und dafür auch zusätzliche Mittel einfordern. Dies betrifft zum Beispiel konkrete Maßnahmen<br />
auf dem Gebiet der Erhaltung der Flora – unabhängig davon, ob lokal, regional oder national<br />
-, wobei auf eine Verzahnung zwischen In - situ und Ex - situ – Projekten zu achten ist.<br />
In diesem Zusammenhang ist auch eine Koordinierung der Schutzmaßnahmen zwischen den Gärten<br />
unabdingbar. Dies erfordert die gegenseitige Abstimmung der Sammlungen sowie in Folge<br />
dann auch deren Spezialisierung. Die Überlegungen, derartige Spezialsammlungen als ‚Nationale<br />
Schutzsammlungen‘ zu zertifizieren, wird die Effektivität der Bemühungen der Gärten und ihre Attraktivität<br />
erhöhen. Nicht zuletzt ergeben sich hier sicherlich auch Möglichkeiten, in den Genuss von<br />
Fördermitteln zu kommen.<br />
Auch in den an Biodiversität reichen Ländern ergeben sich große Chancen in der Mitarbeit bei der<br />
Erforschung der Vielfalt. Eine wichtige Rolle werden hier sicherlich Technologie- und Informationstransfer,<br />
Ausbildung auf den verschiedensten Ebenen und Strukturaufbau in diesen Ländern spielen.<br />
In diesem Zusammenhang muss auch auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Ausbildung<br />
in Deutschland hingewiesen werden und dringend auch deren Verbesserung eingefordert<br />
werden. Ohne grundlegende Kenntnis der systematisch-taxonomischen Grundlagen und eine Forcierung<br />
entsprechender Ausbildungsinhalte bei uns – nicht zuletzt auch in den Botanischen Gärten-<br />
(hier den US-Amerikanern folgend, die dies in den letzten Jahren entsprechend vorangetrieben<br />
haben) wird dies allerdings nicht möglich sein.<br />
Nicht zuletzt durch die Vermittlung der Inhalte an die breite Öffentlichkeit können die Gärten eine<br />
wichtige Rolle bei der Steigerung der Akzeptanz des Biodiversitätsschutzes übernehmen. Mit attraktiven,<br />
gut präsentierten und informativ aufgearbeiteten Sammlungen wird dies gelingen und<br />
zum Erfolg der weltweiten Bemühungen zum Erhalt der lebendigen Vielfalt beitragen.<br />
Literatur:<br />
• BARTHLOTT, W., VON DEN DRIESCH, M., IBISCH, P., LOBIN, W., RAUER, G. (1999a): Biodiversität und Botanische<br />
Gärten.- In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.): Botanische Gärten und Biodiversität. Erhaltung<br />
Biologischer Vielfalt durch Botanische Gärten und die Rolle des Übereinkommens über die Bologische<br />
Vielfalt (Rio de Janeiro, 1992): 1-24.- Landwirtschaftsverlag GmbH, Münster.<br />
• BARTHLOTT, W., KIER, G., MUTKE, J. (1999b): Globale Artenvielfalt und ihre ungleiche Verteilung.- Cour.<br />
Forsch.-Inst. Senckenberg 215: 7-22.<br />
• BGCI (1999): The international transfer format for botanic garden plant records.- 2. Aufl., BGCI, Richmond.<br />
• CHENEY, J, NAVARRO, J.N. & WYSE JACKSON, P. (<strong>2000</strong>): Action plan for botanic gardens in the European<br />
Union.- BGCI/IABG European Gardens Consortium, Kew.<br />
• HENRY, J.-P. (1997): Integrating in situ and ex situ conservation.- Plant Talk 8: 23-25.<br />
• HEYWOOD, V.H. & WATSON, R.T., (Eds) (1995): Global biodiversity assessment. Edited by (UNEP),<br />
U.N.E.P. Cambrigde.<br />
• IBISCH, P.L. (1998): Bolivia is a megadiversity country and a developing country.- In: BARTHLOTT, W.,<br />
WINIGER, M. (Eds.): Biodiversity. A challenge for development research and policy, p. 213-241.-<br />
Springer.<br />
• HAMANN, O. (1992): Ex xitu conservation in botanical gardens.- Opera Botanica 113.<br />
• HOLMGREN, P.K., HOLMGREN, N.H., BARNETT, L.C. (1990): Index Herbariorum. Part I: The herbaria of the<br />
world.- New York Botanical Garden, Bronx, New York.<br />
• LOBIN, W., SCHNECKENBURGER, S., ZIZKA, G. (1996): Botanische Gärten in Deutschland und ihre Sammlungsschwerpunkte<br />
12: 41-45.<br />
• NORSTOG, K.J. & NICHOLLS, T.J. (1997): The biology of cycads.- Cornell University Press.<br />
• RAUER, G., IBISCH, P., VON DEN DRIESCH, M., LOBIN, W., BARTHLOTT, W. (1999): Die Biodiversitätskonvention<br />
und Botanische Gärten.- In: Bundesamt für Naturschutz (Hrsg.): Botanische Gärten und Biodiversität.<br />
Erhaltung Biologischer Vielfalt durch Botanische Gärten und die Rolle des Übereinkommens über die<br />
Bologische Vielfalt (Rio de Janeiro, 1992): 25-70.- Landwirtschaftsverlag GmbH, Münster.<br />
• RAUER, G., VON DEN DRIESCH, M., IBISCH, P., LOBIN, W., BARTHLOTT, W. (<strong>2000</strong>): Beitrag der deutschen<br />
Botanischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Gärten zur Erhaltung der Biologischen Vielfalt und<br />
Genetischer Ressourcen. – Bestandsaufnahmen und Entwicklungskonzept. Abschlussbericht des gleichlautenden<br />
F + E – Vorhabens 808 05 070 des Bundesamts für Naturschutz. – Bonn.
Stefan Schneckenburger: Biodiversitätskonvention und Botanische Gärten im Konflikt<br />
• RENNER, S.S. (1993): Phylogeny and classification of the Melastomataceae.- Nord. J. Bot. 13: 519-540.<br />
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GIBBY, M. & JOHNS (eds.): Pteridology in perspective, pp. 29-42.- Royal Botanic Gardens, Kew.<br />
• SCHMIDT, L. (1997): Die Botanischen Gärten Deutschlands.- Hoffmann & Campe, Hamburg.<br />
• SCHNECKENBURGER, S. (1995): Das Gartenportait VIII: Der Botanische Garten von Lancetilla (Tela/Honduras).<br />
- Der Palmengarten 2/1995: 127-139.<br />
- (<strong>2000</strong>): Vom Urweltmammutbaum zur Parfümorchidee. 141 Informationsblätter aus dem Botanischen<br />
Garten der TU <strong>Darmstadt</strong>.- <strong>Darmstadt</strong>.<br />
• SCHÖLLER, M. (1992): Zur Geschichte tropischer botanischer Gärten am Beispiel des ehemalig Königlichen<br />
Botanischen Gartens von Pamplemousses (Mauritius).- Der Palmengarten 2/1992: 92-96<br />
• WATT, A. (1999): The Wollemi Pine. A novel approach to conservation.- Fitzroya 3 (February 1999): 5-6.
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
Dietrich v. Knorre<br />
Die 2. „Biodiversitätskrise“:<br />
Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung<br />
naturkundlicher Sammlungen<br />
Wer heute wachen Auges die Landschaft sieht, erahnt die schleichende Vernichtung der Mannigfaltigkeit<br />
- Mannigfaltigkeit an Lebensräumen, Strukturen und damit auch an Arten. Doch es entspricht<br />
der Natur von uns Menschen, erzogen im Denken des abendländischen Kulturkreises, dass<br />
wir diese subjektiven Eindrücke nicht wahrhaben wollen, stets in Zweifel ziehen und angeblich objektive<br />
Zahlenangaben als Belege für diese Aussage fordern. Erinnert sei hier nur an die nicht endenden<br />
Diskussionen um die Tatsache und die auslösenden Faktoren des Waldsterbens bis hin<br />
zur völligen Negierung dieser Erscheinung. Solange die "Klimakatastrophe" nicht bewiesen, also<br />
nicht eingetreten ist, gilt ein umfassendes Einlenken als eine vermeidbare bzw. zur Zeit nicht zumutbare<br />
ökonomische Belastung und Eingrenzung der persönlichen Freiheit. Geglaubt werden nur<br />
exakte Meßdaten, möglichst auf zwei Kommastellen genau und mit der nötigen statistischen Sicherung.<br />
Doch welchen Wert hat eine derartige Statistik, wenn schon die Ausgangsdaten einer<br />
groben Kritik nicht standhalten?<br />
Es ist daher eine sehr verdienstvolle Aufgabe, der sich die „Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft,<br />
Technik und Sicherheit“ [<strong>IANUS</strong>] angenommen hat. Nur durch den interdisziplinären<br />
Dialog kann ein umfassendes Verständnis für die vielseitigen Problemfelder - oder vielfach auch<br />
besser als Konfliktfelder bezeichnet - der Biodiversität geweckt werden. Denn erst aus diesem gegenseitigen<br />
Verstehen erwächst die Möglichkeit einer zukunftsweisenden Konfliktlösung - gemeint<br />
sind hiermit Konflikte, die durch den technischen Fortschritt bedingt sind.<br />
Diese Aufgabenstellung wurde sehr treffend in der Einleitung zum Arbeitsbericht <strong>IANUS</strong> 7/1999<br />
wie folgt formuliert:<br />
„Das besondere Anliegen von <strong>IANUS</strong> ist die problemorientierte, wissenschaftlich fundierte und<br />
nicht zuletzt interdisziplinäre Bearbeitung technikbedingter gesellschaftlicher Konflikte, die die<br />
grundlegenden Daseinsbedingungen von Menschen bedrohen.“<br />
Das Leben auf der Erde hat sich über Millionen von Jahren aus relativ einfachen zu äußerst komplexen<br />
Strukturen entwickelt. Leben und Tod, Mutation und Selektion sind dabei die entscheidenden<br />
Triebkräfte gewesen. Maß aller Dinge war und ist immer die Frage, wie kann sich eine Form in<br />
ihrer Umwelt behaupten, wer besser angepaßt ist überlebt. Damit ist der Artentod eine durchaus<br />
natürliche Erscheinung, worin liegt also die heutige neue, uns so beunruhigende Dimension und ist<br />
sie wirklich so neu ?<br />
Bereits 1818 vermerkt im hohen Alter der als Vogelkundler bekannte JOHANN ANDREAS NAUMANN<br />
(1744 - 1826) in einem Manuskript über „selbst erfundene Fallen und Fänge zum Vogelstellen“<br />
(Köthen 1989):<br />
"Die Zeiten haben sich zwar binnen meiner Laufbahn sehr verändert, die Menschen haben sich<br />
vermehret, die Vögel vermindert; ich sehe jetzt von manchen Vögelarten den ganzen Herbst nicht<br />
so viele ziehen wie vor 50 Jahren an einem Tage. Wie dieses zugehet, lässet sich schwerlich erklären,<br />
da sie doch in unserer Gegend weit weniger nachgestellt werden. Denn vor 80 Jahren zählete<br />
man hier in einem Umkreise von 3/4 Stunden an die 20 gangbare Vogelherde, jetzt ist der<br />
meinige noch der einzige, der gestellt wird."<br />
Arten- oder besser Individuenrückgang ist somit bereits vor 200 Jahren beobachtet worden. Doch<br />
erst aus dem Erkennen der globalen Zerstörung der Biodiversität durch den technischen Fortschritt<br />
erwuchs innerhalb der letzten Jahrzehnte die politische Einsicht für unsere gemeinsame Verantwortung<br />
zum Erhalt dieser Mannigfaltigkeit. Somit fördert die Biodiversitätskrise zugleich die Erkenntnis,<br />
dass ein umfassendes Verständnis der Artenmannigfaltigkeit nicht ein Hobby von völlig<br />
unmodernen, weltfremden - vielfach als „Borstenzähler“ verspotteten - Taxonomen, sondern eine<br />
zentrale Frage der weiteren Entwicklung der Menschheit ist. Damit ist der Begriff Biodiversität, wie
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
SCHEU (1999) feststellt, „zum Schlagwort geworden, das immer häufiger in der Presse auftaucht“<br />
und mit entsprechendem Zahlenmaterial ausgerüstet, die Dramatik der Naturzerstörung verdeutlichen<br />
soll. So schreibt LIEDTKE (<strong>2000</strong>) im „National Geographic Deutschland“: „Es ist eine Realität,<br />
in der pro Tag 30 Tier- und Pflanzenarten sterben“. Doch auf welcher Datengrundlage basiert diese<br />
Aussage ? Derartige in angesehenen Zeitschriften publizierte Angaben müssen dem unvoreingenommenen<br />
Leser suggerieren, dass hierzu fundiertes Zahlenmaterial zu Grunde liegt. Dies ist<br />
jedoch durchaus nicht gegeben. Ja es bedeutet indes nicht einmal, dass die Begriffsinhalte immer<br />
identisch sind. Die babylonische Sprachverwirrung scheint sich auch hier zu wiederholen.<br />
Für die nachfolgenden Betrachtungen sei auf die Ausführungen vorangegangener Symposien, insbesondere<br />
auf die Beiträge von SIMON (1998) und SCHEU (1999) sowie das Buch von GLEICH<br />
u.a. (<strong>2000</strong>) verweisen, um nur einige der zahlreichen diesbezüglichen neueren Publikationen zu<br />
erwähnen. Allen Zahlenangaben gemein ist die Tatsache, dass es sich um Schätzwerte handelt,<br />
nur wird dies nicht immer klar genug betont. Darunter leidet aber vielfach die Glaubwürdigkeit der<br />
Aussage und schwächt die angestrebte Wirkung erheblich ab. Aus dieser Aussage resultiert<br />
zugleich der berechtigte Appell von GLEICH u.a. (<strong>2000</strong>):<br />
„Deshalb tun wir gut daran, die Vielfalt der Arten zu erforschen. Wir sollten so rasch wie möglich in<br />
Erfahrung bringen, wieviele Arten es überhaupt gibt, die noch mit uns auf dem Planeten Erde leben.<br />
Dann wissen wir auch die Verluste besser einzuschätzen.“<br />
So berechtigt diese Forderung erscheint, sie nützt uns nur dann etwas, wenn wir zugleich auch Informationen<br />
darüber sammeln, wo im geographischen Sinn und in welchen Biozönosen die einzelnen<br />
Arten vorkommen, wie sie leben und was zu ihrem Schutz erforderlich ist. Hier können wir<br />
nahtlos auf das Schlußwort in DE LATTINS „Grundriss der Zoogeographie" aus dem Jahr 1967 anknüpfen:<br />
"Ich möchte diese Ausführungen nicht schließen, ohne noch einen Hinweis, ja einen sehr eindringlichen<br />
Appell an die Gemeinschaft aller interessierten und verantwortungsbewußten Menschen zu<br />
richten.<br />
Daß es in der Zoogeographie noch vieles, sehr vieles zu tun gibt, bevor sie ihrem Forschungsziel<br />
auch nur in etwa nahegekommen ist, geht - so hoffe ich - aus dem Voraufgegangenen hervor....<br />
Darüber hinaus aber - und darum geht es wirklich - besitzt die Zoogeographie (und mit ihr die gesamte<br />
Biogeographie) derzeit innerhalb der Naturwissenschaften einen einmaligen Sonderstatus<br />
mit ausgesprochen negativem Aspekt für ihre weitere Entwicklung. Hat schon die weiträumige<br />
Vernichtung der ursprünglichen Tier- und Pflanzengesellschaften Europas, Ostasiens und Nordamerikas<br />
durch den Menschen genug Schwierigkeiten, vor allem auch für den kausal arbeitenden<br />
Forscher, geschaffen, so droht sich dieses Geschehen jetzt auf die gesamte Erde auszudehnen.....Naturschutzmaßnahmen,<br />
so nützlich und nötig sie auch aus anderen Gründen sind, helfen<br />
hier nicht weiter. Sie können die bedrohten Lebensräume und deren Arten nur schwerpunktmäßig<br />
in kleinen Reservaten erhalten. Das Grundelement der Zoogeographie, das natürliche Areal, würde<br />
aber trotzdem - sei es durch Biotopvernichtung, sei es durch Verschleppung - in seiner ursprünglichen<br />
Gestalt unkenntlich gemacht. Hier gibt es nur eine Lösung - die, zugegebenermaßen,<br />
eine Notlösung bleiben muß. Es gilt möglichst schnell in allen bedrohten Gebieten an den verschiedensten<br />
Orten und möglichst dichtmaschig Bestandsaufnahmen der dort vorkommenden Arten<br />
zu machen, damit späterhin brauchbare Arealkarten (möglichst in einem zentralen Archiv) für<br />
alle über die reine Chorologie hinausführenden biogeographischen Arbeiten zur Verfügung stehen.<br />
Es ist das eine Aufgabe, bei der es keine spektakulären wissenschaftlichen Lorbeeren zu erringen<br />
gibt, die aber getan werden muß, damit nicht einem ganzen naturwissenschaftlichen Forschungszweig<br />
die Grundlagen entzogen werden.“<br />
Mit der Zerstörung der Biodiversität wird jedoch nicht nur, wie DE LATTIN im Jahr 1967 bescheiden<br />
formulierte, der Biogeographie die Grundlage entzogen. Ihre Folgen greifen - wie an wenigen Beispielen<br />
in der kleinen Schrift „Agenda Systematik <strong>2000</strong>" (STEININGER 1996 (Hrsg.)) überzeugend<br />
gezeigt werden konnte - in fast alle Bereiche unseres Lebens und der möglichen Lösung künftiger,<br />
nicht nur wissenschaftlicher sondern ebenso auch ökonomischer Probleme ein.<br />
Eine wesentliche Aufgabe im Rahmen der Biodiversität-Dikussion besteht in der möglichst umfassenden<br />
Erfassung der Arten und ihrer Verbreitungsgebiete. Hierbei fasziniert schon seit langem<br />
die Artenzahl die Wissenschaftler sowie die interessierte Öffentlichkeit und wird „als Faktum für die
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
„Höherentwicklung“ der Kultur und Wissenschaft und demnach als Fortschrittssignal interpretiert“<br />
(SIMON 1998). Diese Betrachtung setzt jedoch stillschweigend voraus, dass es Spezialisten gibt,<br />
die die Arten kennen und Sammlungen, in denen entsprechendes Belegmaterial sicher und für die<br />
weitere wissenschaftliche Forschung frei verfügbar verwahrt wird. Beide Voraussetzungen sind jedoch<br />
nur sehr bedingt erfüllt, bezüglich der Sammlungsbelege drohen sie sogar ebenso vernichtet<br />
zu werden wie die lebenden Arten in der freien Natur. Denn neben dem Biodiversitätsverlust beobachten<br />
wir einen ebenso erschreckenden Verlust an biologischem Sammlungsmaterial. Zum geringen<br />
Teil ist er im unvermeidbaren Verschleiß bedingt, vielfach jedoch durch fehlende Betreuung,<br />
unzureichende Unterbringung und nachlässigen Umgang mit den Präparaten. Dieser<br />
Verlust beträgt, je nach Museumsgröße schätzungsweise 1 bis 5 % pro Jahr. Diese Zahl kann<br />
nach eigenen Untersuchungen z.B. anhand der Ankäufe von etwas über 150 Vogelpräparaten von<br />
CH.L.BREHM (1787 - 1864) durch Einrichtungen der <strong>Universität</strong> Jena in den Jahren 1849 bis 1864<br />
belegt werden, von denen heute lediglich noch zwei Präparate nachweisbar sind (KNORRE,V.<br />
1987). Ähnlich verlief eine Erhebung über vorhandene Belege an in Thüringen gesammelten<br />
Steinsperlingen (Petronia petronia) in allen potentiell möglichen Museen Deutschlands und des<br />
Auslands (BÄTHE 1999). Die Art ist in den 30er Jahren des 20.Jh. in Deutschland ausgestorben.<br />
Insgesamt konnten lediglich noch 54 Präparate (15 Standpräparate, 39 Bälge und 4 Eier) aufgefunden<br />
werden. Diese Zahl überrascht insofern, da in Veröffentlichungen um die Jahrhundertwende<br />
19./20.Jh. mehrfach auf die Gefahren für diese Art durch die zahlreichen Übergriffe von Sammlern<br />
hingewiesen wurde. Weitere Beispiele ließen sich beliebig aus den unterschiedlichsten<br />
Sammlungen ergänzen.<br />
Eine gewisse Ausnahme bilden die rein der wissenschaftlichen Arbeit dienenden Sammlungen der<br />
wenigen großen Forschungsmuseen in unserem Land. Doch auch dort müssen mitunter erhebliche<br />
Verluste registriert werden, die Erschließung entspricht ebenfalls keineswegs den derzeitigen<br />
technischen Möglichkeiten. So berichtet PAEPKE (1999) über die Revision der BLOCH´schen Fischsammlung<br />
im Museum für Naturkunde in Berlin. M.E.BLOCH (1723 -1799), einer der bedeutendsten<br />
europäischen Ichthyologen, hinterließ bei seinem Tod 1799 die größte wissenschaftliche<br />
Fischsammlung (etwa 1400 Exemplare) seiner Zeit, die bei der Gründung des Zoologischen Museums<br />
in Berlin für dieses einen wesentlichen Anfangsbestand darstellte. Anläßlich des 200. Todestages<br />
von BLOCH 1999 wurde diese Sammlung kritisch revidiert und dabei konnten nur noch<br />
etwas über 800 Exemplare (= knapp 60 %) ermittelt werden, der Rest ist verschollen. Ähnliche Lücken<br />
lassen sich in vielen Sammlungen feststellen, wobei nicht geleugnet werden darf, daß auch<br />
nicht selten bereits die Bearbeiter/Sammler bei der Konservierung ihrer Belege sehr nachlässig<br />
gehandelt haben oder selbst Typen nicht als solche gekennzeichnet wurden. Diese Aussage gilt<br />
leider auch für fast alle von E.HAECKEL (1834 - 1919) beschriebenen Schwämme und Medusen,<br />
die eigentlich in den Sammlungen im Phyletischen Museum in Jena vorhandensein müßten. Man<br />
stelle sich einmal die Entrüstung der Öffentlichkeit vor, falls ein derartiger Schwund aus einer Gemäldegalerie<br />
oder einer Handschriftensammlung bekannt würde.<br />
Bei ruhigerer Betrachtung erweisen sich jedoch gerade die oben angesprochenen Punkte - Artabgrenzung,<br />
eindeutig datiertes Belegmaterial - als höchst problematisch. Schon die Frage der Artdefinition<br />
stößt auf erhebliche Schwierigkeiten und bedingt den Tatbestand, dass es faktisch unmöglich<br />
ist, genaue Artenzahlen anzugeben. Erinnert sei an die erst in jüngster Zeit wieder verstärkt<br />
in den Mittelpunkt systematisch-taxonomischer Diskussionen gerückte Gruppe der Silbermöwen<br />
(Larus argentatus - canchinnans Komplex) (KLEIN & GRUBER 1997; KLEIN & BUCHHEIM<br />
1997; LIEBERS & HELBIG 1999). Damit gewinnen alte Belege, sofern noch vorhanden, sehr an Bedeutung,<br />
da sie erneut einer kritischen Bearbeitung, unter Einbeziehung moderner molekularbiologischer<br />
Untersuchungstechniken, unterzogen werden können und müssen. Hierin liegt u.a. auch<br />
ein entscheidender Grund, weshalb die genaue Artenzahl einer Gruppe bzw. eines geographischen<br />
Gebiets maximal für einen begrenzten Zeitraum angegeben werden kann. SIMON (1998)<br />
versucht eine diesbezügliche Angabe und schreibt:<br />
„Die Artenzahl bekannter, d.h.mit einem Binomen belegten, publizierten Formen liegt 1996 bei<br />
1.700.000 (max.Schätzung, ohne Berücksichtigung der Synonymie). Diese kann bis zu 40 %<br />
betragen, so daß evtl. nur 1,4 bis 1,5 Mio.Arten bekannt sind“.<br />
Doch gerade die zahlreichen Synonyme sind es, die eine Verständigung und Zählung so sehr erschweren.<br />
Unter dieser Prämisse erscheinen dann natürlich die eingangs zitierten Angaben und
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
Berechnungen über den Artenschwund, ohne dass er damit geleugnet werden soll, recht problematisch<br />
- nach LIEDTKE (<strong>2000</strong>): 30 Arten am Tag, dies entspricht 10.950 im Jahr und 1.095.000 in<br />
100 Jahren, damit mehr als der Hälfte der heute bekannten Arten.<br />
Für die dringend erforderlichen Revisionen einzelner Organismengruppen zur Klärung möglicher<br />
Synonyme oder aber der Frage, welche Arten wirklich in einem zu bearbeitenden Gebiet nachgewiesen<br />
wurden, reichen oftmals die vorliegenden Beschreibungen und Angaben nur sehr bedingt<br />
aus. Hierfür sind die in den Museen verfügbaren Belegmaterialien (Typen und Sammlungen) die<br />
entscheidende Arbeitsgrundlage. Der hohe Stellenwert, den Typen einnehmen, hat dazu geführt,<br />
dass vielfach ihre Anzahl als Maß für die Bedeutung einer Sammlung, eines Museums, betrachtet<br />
wird. In steigendem Maß gewinnt aber auch alles weitere, exakt datierte Sammlungsmaterial an<br />
Bedeutung, da die betreffenden Arten entweder inzwischen ausgerottet wurden, ausgestorben oder<br />
so selten geworden sind, dass sich jegliche weitere Entnahme aus der Natur verbietet. Ferner<br />
wird die Materialzufuhr durch restriktive Maßnahmen bei der Erteilung von Sammelerlaubnissen<br />
eingeschränkt, die immer häufiger gerade aus außereuropäischen Ländern (u.a. Australien, Südamerika,<br />
einzelne Staaten in Afrika, aber auch selbst in unserem eigenen Land) bekannt werden.<br />
Damit stehen uns oftmals nur noch die alten Sammlungsbestände für die künftige Forschung zur<br />
Verfügung, und diese schmelzen wie der Schnee in der Sonne durch Unverständnis dahin.<br />
Über Jahrzehnte, teilweise bis auf den heutigen Tag, galten und gelten biologische Sammlungsobjekte<br />
als jederzeit ersetzbar, und nicht wenige Museumsdirektoren begannen und beginnen ihren<br />
Dienstantritt mit einer gründlichen „Säuberung“ der vorhandenen Schausammlung bzw. beauftragen<br />
ungeschulte ABM-Kräfte mit der Sortierung von Sammlungsmaterial. Selbst heute noch kann<br />
man Präparate seltenster oder gar ausgestorbener Arten in Dauerausstellungen von Museen sehen,<br />
in denen sie der zerstörenden Einwirkung des Tageslichtes und damit einem unverantwortlichen<br />
Verschleiß ausgesetzt sind. Da auch mit Typen mitunter ähnlich verfahren wurde, bestehen<br />
heute erhebliche Lücken in den Beständen, die dann zu entsprechenden Fehldeutungen Anlaß<br />
geben. Selbst für die von LINNÉ aufgestellten Arten fehlen vielfach die Belege, die Beschreibungen<br />
sind umstritten und sind die Ursache dafür, dass bei der Benutzung älterer oder auch fremdsprachiger<br />
Literatur sogar Angaben über eigentlich allgemein bekannte Arten falsch zugeordnet wurden<br />
und werden. Als Beispiel seien die Singdrossel (Turdus philomelos C.L.BREHM) und die Rotdrossel<br />
(Turdus iliacus L.) genannt.<br />
BECHSTEIN (1807) vermerkt dazu in der zweiten Auflage seiner Naturgeschichte:<br />
„In den naturhistorischen Büchern wurde gewöhnlich diese (gemeint ist die Singdrossel, Verf.) und<br />
die Rothdrossel mit einander verwechselt, wenigstens ihre Eigenschaften unter einander gemischt“.<br />
Autor<br />
BECHSTEIN,J.M. (1807)<br />
NAUMANN, J.F. (1905)<br />
KLEINSCHMIDT, O. (1934)<br />
NIETHAMMER,G. u.a. (1964)<br />
FLINT,V.E. u.a. (1968)<br />
IVANOV,A.I. (1976)<br />
GLUTZ V.BLOTZHEIM, U.(1988)<br />
Singdrossel<br />
Turdus musicus<br />
Turdus musicus<br />
Turdus philomelos<br />
Turdus philomelos<br />
Turdus philomelos<br />
Turdus philomelos<br />
Turdus philomelos<br />
Rotdrossel<br />
Turdus iliacus<br />
Turdus iliacus<br />
Turdus musicus<br />
Turdus iliacus<br />
Turdus musicus<br />
Turdus iliacus<br />
Turdus iliacus<br />
In der älteren deutschsprachigen Literatur wird zeitweilig die Sing-, dann aber auch wiederum die<br />
Rotdrossel als Turdus musicus - so auch im weit verbreiteten Buch "Singvögel der Heimat" von<br />
O.KLEINSCHMIDT (1934) - bezeichnet. Eine eindeutige Artzuordnung bei schriftlichen Quellen erscheint<br />
mitunter nur möglich, wenn Angaben für beide Arten enthalten sind oder aber das Belegmaterial<br />
noch vorhanden ist.
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
Ein ähnliches Beispiel läßt sich für die beiden einheimischen Sumpfdeckelschneckenarten anführen.<br />
Während unter Viviparus viviparus L. in älteren Bestimmungsbüchern und faunistischen Untersuchungen<br />
die Spitze Sumpfdeckelschnecke mit deutlich vertiefter Naht verstanden wurde, wird<br />
diese nunmehr als Viviparus contectus (MILLET) bezeichnet - die Stumpfe Sumpfdeckelschnecke<br />
mit flacher Naht dagegen als Viviparus viviparus L. (früher Viviparus fasciatus (O.F.Müller)). Wenn<br />
nun in einer älteren Publikation der wissenschaftliche Name Paludina vivipara oder Viviparus viviparus<br />
publiziert wurde, kann nicht mit der nötigen Sicherheit diese Angabe verwendet werden.<br />
Die seit praktisch 100 Jahren gültigen, seit 1999 in der fünften überarbeiteten Fassung vorliegenden<br />
„Internationalen Regeln der Zoologischen Nomenklatur“ sollen Stabilität und Klarheit bringen.<br />
Die Bemühungen, die Prioritätsregel exakt einzuhalten, haben jedoch wegen des Verlustes zahlreicher<br />
Typen aber auch durch erforderliche Änderungen leider zu erheblichen Umdeutungen beigetragen.<br />
Daraus resultieren Fehler, die leicht bei Vorliegen von entsprechendem Belegmaterial<br />
hätten vermieden werden können.<br />
Vielfach ist die Ansicht verbreitet, dass die mitteleuropäische Säugetier-Fauna gründlich erforscht<br />
sei. Doch selbst hier gibt es durch verfeinerte Untersuchungsmethoden Neufunde, die dann viele<br />
Fragen nach der Herkunft und genauen Verbreitung dieser Arten aufwerfen. So wurde im Jahr<br />
1907 fast zeitgleich durch CABRERA (1907) die Sumpfspitzmaus als Neomys anomalus aus Spanien<br />
sowie von MOTTAZ (1907) unter dem Namen Neomys milleri aus den Schweizer Alpen beschrieben.<br />
Unbeachtet blieb jedoch dabei, dass CHRISTIAN LUDWIG BREHM bereits 1826 bei seiner<br />
Beschreibung von vier einheimischen Wasserspitzmausarten aus Renthendorf/Ostthüringen<br />
(BREHM 1826) ganz offensichtlich auch diese Art vorgelegen hat. Während es sich bei drei der von<br />
ihm behandelten Formen eindeutig um Altersgruppen der verbreiteten Wasserspitzmaus (Neomys<br />
fodiens) handelte, fällt die vierte Art wegen ihrer Kurzschwänzigkeit deutlich heraus. NATHUSIUS<br />
(1838), der sich eingehend mit den bislang bekannten europäischen Spitzmäusen beschäftigte,<br />
und dem die BREHM´schen Bälge zur Untersuchung vorlagen, vermerkt:<br />
"Diese Art hat mich sehr lange im Zweifel gelassen, ich habe sie in großer Anzahl beobachtet, und<br />
halte jetzt dafür, daß mit diesem Namen keine eigenthümliche Form, sondern der Jugendzustand<br />
der gemeinen Wasserspitzmaus bezeichnet ist; doch sind die Untersuchungen hierüber noch keineswegs<br />
als geschlossen anzusehen, wie ich im zweiten Theil dieser Abhandlung weiter ausführen<br />
werde."<br />
Leider ist dieser zweite Teil seiner Bearbeitung niemals erschienen, und alle Suche nach den<br />
BREHM´schen Spitzmausbälgen verlief erfolglos. Nach eigenen Untersuchungen verläuft die heutige<br />
nördliche Verbreitungsgrenze der Sumpfspitzmaus entlang der Orlasenke (Ostthüringen) nur<br />
wenig südlich von Renthendorf. Diese Tatsache legt die Vermutung nah, dass diese Art in der ersten<br />
Hälfte des 19.Jh. vor den umfangreichen Trockenlegungsarbeiten der Talauen auch weiter<br />
nördlich verbreitet war und von CH.L.BREHM als eine andere Form richtig erkannt wurde. Doch<br />
kann ihm weder Gerechtigkeit bezüglich der von ihm entdeckten und beschriebenen neuen Art zuerkannt,<br />
noch können letzte Zweifel an seiner Artbeschreibung abschließend behoben werden. Wir<br />
müssen feststellen, dass durch den Verlust von Sammlungsmaterial wertvollste wissenschaftshistorische<br />
und zoogeographische Informationen unwiederbringlich verloren sind.<br />
Ein weiteres Beispiel stellt das erst in jüngster Zeit nach morphologischen Merkmalen eindeutig zu<br />
trennende Artenpaar - Wald- und Schabrackenspitzmaus (Sorex araneus und Sorex coronatus)<br />
dar. Während die Waldspitzmaus (Sorex araneus) durch ganz West- und Mitteleuropa in allen geeigneten<br />
Lebensräumem verbreitet ist, beschränkt sich das Areal der Schabrackenspitzmaus auf<br />
Frankreich und die südwestlichen deutschen Bundesländer (HAUSSER 1990). Die Art erreicht in der<br />
Thüringischen Rhön die Ostgrenze ihrer Verbreitung (ERFURT 1986; Erfurt & STUBBE 1986;<br />
KNORRE,V. 1996). Zur Untersuchung der Verbreitung standen nun aber praktisch nur Neuaufsammlungen<br />
aus Fängen, Zufallsfunden und Gewöllanalysen zur Verfügung. Somit können keine<br />
Aussagen getroffen werden, ob und wie sich die Verbreitungsgebiete dieser beiden Arten in den<br />
letzten 150 Jahren verändert haben könnten. Der Verlust älterer Sammlungsbestände, deren Existenz<br />
sich z.B. für Thüringen (s.NATHUSIUS 1838) eindeutig belegen läßt, läßt auch in diesem Fall<br />
viele Fragen offen.<br />
Neben einer dramatischen globalen Umweltzerstörung und der damit ausgelösten 1. Biodiversitätskrise<br />
bedingt die Vernichtung von Sammlungsmaterial durch fehlende Betreuung und sorglo-
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
sen, um nicht zu sagen verantwortungslosen Umgang mit diesen Kulturgütern einen weiteren hohen<br />
Informationsverlust. Hieraus resultiert die 2. Biodiversitätskrise, denn bald werden viele Arten<br />
mehr oder weniger unbekannt sein, da das heute vielleicht noch verfügbare Belegmaterial der<br />
Vernichtung anheimgefallen ist. Bedingt durch die historische Entwicklung der vergangenen 250<br />
Jahre gelangte viel Sammlungsgut aus der ganzen Welt nach Europa. Sammlungsgut, das es in<br />
vielen der Herkunftsländer nicht gibt. Bekanntlich kann man Entdeckungen in der Natur, aber ebenso<br />
auch in den Museen machen. Manche Art mag inzwischen in der freien Natur ausgestorben<br />
sein, Belege könnten aber noch unerkannt in Sammlungen ruhen. Die uns damit auferlegte Verantwortung<br />
zum Erhalt, der Pflege und der Erschließung dieses Kulturerbes der gesamten<br />
Menschheit ist eine große Herausforderung, der wir uns mit der gleichen Konsequenz zu stellen<br />
haben wie dem Erhalt vom Kunstwerken.<br />
Naturwissenschaftliches Sammlungsgut ist Kulturgut im besten Sinne seiner Bedeutung (BARTHEL<br />
1983, V.KNORRE 1990). Neben den rein naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, die daran gewonnen<br />
werden können, erlaubt es uns auch Aussagen und Untersuchungen zum Verständnis des<br />
geistig-kulturellen Umfeldes früherer Epochen sowie zum Entwicklungsstand der Präparationstechnik<br />
vergangener Zeiten. Ist dies Kulturgut zerstört, so ist es, da die Arten inzwischen ausgestorben<br />
bzw. ausgerottet sein könnten, in vielen Fällen heute nicht wieder beschaffbar.<br />
„Schönheit und Geist eines Kunstwerkes können nachgebildet werden, auch wenn es zerstört ist;<br />
eine verschwundene Harmonie vermag den Komponisten von neuem zu inspirieren; doch wenn<br />
eine Gattung von Lebenwesen dahin ist, müssen Himmel und Erde vergehen, bevor es sie wieder<br />
geben kann.“ - C.WILLIAM BEEBE „Der Vogel, Form und Funktion „ - zitiert n. F.BRODWORTH: Der<br />
letzte Eskimobrachvogel.<br />
Zum Abschluß möchte ich nochmals zusammenfassen:<br />
Als 1. Biodiversitätskrise müssen wir die Abnahme des Strukturreichtums und daraus folgend eine<br />
Abnahme der Artenvielfalt, eingeschlossen eine Abnahme der genetischen Vielfalt innerhalb der<br />
einzelnen Spezies bezeichnen.<br />
Die 2. Biodiversitätskrise beinhaltet den Verlust des Informationsgehaltes der wissenschaftlichen<br />
Dokumentation durch den unmittelbaren Verlust an Sammlungsgut und damit der Möglichkeit der<br />
Überprüfung früherer Aussagen. Mit anderen Worten - die Artenzahl kann vielfach überhaupt nicht<br />
mehr ermittelt werden, da bedingt durch den Verlust von Typen und Sammlungsbelegen die Synonymie<br />
und einstige Verbreitung nicht mit der nötigen Sicherheit überprüft werden kann.<br />
Der Verlust an naturwissenschaftlichem Sammlungsgut innerhalb der letzten 50 Jahre übertrifft<br />
weit die Verluste, die durch Kriegseinwirkung zu beklagen sind. Auch bei den Museen beobachten<br />
wir einen Prozeß der Konzentration von Sammlungen in wenigen großen Häusern, damit geht jedoch<br />
ein erheblicher Verlust an Neuzugängen und Diversität im engeren Sinn des Wortes verloren.<br />
Auf den Wert und die Bedeutung biologischer Sammlungen ist in jüngster Zeit wiederholt hingewiesen<br />
worden (KULL 1992; SCHMINKE 1996). Es ist unsere Pflicht, die Öffentlichkeit auf diese Gefahren<br />
hinzuweisen, die sich aus einer weiteren Vernachlässigung der naturkundlichen Sammlungen<br />
ergeben, damit ihnen endlich der Stellenwert zuerkannt wird, den sie aufgrund der in ihnen ruhenden<br />
Werte für die Zukunft besitzen.<br />
Als Hauptursache für die 2. Biodiversitätskrise im obigen Sinn betrachte ich die egozentrische<br />
Selbstüberschätzung des Menschen bei der Bewertung von Kunst - und was dafür gehalten wird -<br />
bei gleichzeitiger Mißachtung der ihn umgebenden, von ihm genutzten aber nicht geschaffenen<br />
biologischen Vielfalt. Man vergleiche als Beleg für diese Aussage nur den zahlenmäßigen Rückgang<br />
der naturkundlichen Museen/Abteilungen sowie die sehr unterschiedlichen Höhen im Etat<br />
der einzelnen Museen für Personal, Ankauf und Pflege. Auf konkrete Beispiele darf ich hier verzichten,<br />
jeder wird sie kennen. Unsere Zukunftsverantwortung ist heute, da wir um die Komplexität<br />
der Biodiversität, auch mit all ihren Folgen für die weitere ökonomische Entwicklung der Völker,<br />
wissen, größer als früher, zumal die Neben- und Spätfolgen der technischen Zivilisation allgegenwärtig<br />
sind, zugleich aber auch immer weiter in die Zukunft reichen.<br />
Literatur<br />
• BARTHEL, M. (1983): Pflanzenfossilien als Kulturgut. - Neue Museumskunde 26: 4 - 13<br />
• BÄTHE, R. (1999): Der Steinsperling, Petronia petronia (L.), in Thüringen - Dokumentation über eine in<br />
Mitteleuropa ausgestorbene Vogelart. - Thüring. Ornithol. Mitt. 48: 16 -37
Dietrich v. Knorre: Die 2. „Biodiversitätskrise“: Probleme des Erhalts, der Pflege und der Erschließung naturkundlicher Sammlungen<br />
• BECHSTEIN, J. M. (1807): Gemeinnützige Naturgeschichte Deutschlands nach allen drey Reichen.<br />
Zweite vermehrte und verbesserte Auflage. Bd. 3 , Leipzig.<br />
• BREHM, CH. L. (1826): Die einheimischen Wasserspitzmäuse. - Ornis (Hrsg.C.L.Brehm). Heft 2: 25 - 56<br />
• BODSWORTH, F. (1977): Der letzte Eskimobrachvogel. Berlin - Weimar<br />
• CABRERA, A. (1907): Three new Spanish insectivores. - Ann. Mag. Nat. Hist. (7) 20: 214<br />
• DE LATTIN, G. (1967): Grundriss der Zoogeographie. Jena<br />
• ERFURT, J. (1986): Nachweis der Schabrackenspitzmaus (Sorex coronatus MILLET, 1828) für die DDR.<br />
- Säugetierkdl. Inf. (Jena) 10: 337 - 339<br />
• ERFURT, J. & STUBBE, M. (1986): Die Areale ausgewählter Kleinsäugerarten in der DDR. - Hercynia<br />
N.F. 23: 257 - 304<br />
• FLINT, V. I., BEME, R. L., KOSTIN, Ju, V. & KUZNECOV, A. A. (1968): Die Vögel der UdSSR. Moskau<br />
(russisch)<br />
• GLEICH, A. M., MAXEINER, D., MIERSCH, M. & NICOLAY, F. (<strong>2000</strong>): Life Counts - Eine globale Bilanz<br />
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• GLUTZ von BLOTZHEIM, U. & BAUER, K. M. (1988): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Bd. 11/II Passeriformes<br />
(2.Teil). Wiesbaden<br />
• HAUSSER, J. (1990): Sorex coronatus MILLET, 1882 - Schabrackenspitzmaus. In: NIETHAMMER, J. &<br />
KRAPP, F. Handbuch der Säugetiere Europas. Bd. 3/1 Insektenfresser - Insectivora, Herrentiere - Primates.<br />
Wiesbaden<br />
• INTERNATIONAL TRUST FOR ZOOLOGICAL NOMENCLATURE (Hrsg.) (1999): International Code of<br />
Zoological Nomenclature. Fourt Edition, London<br />
• IVANOV, A. I. (1976): Katalog der Vögel der UdSSR. Leningrad (russisch)<br />
• KLEIN, R. & BUCHHEIM, A. (1997): Die westliche Schwarzmeerküste als Kontaktgebiet zweier Großmöwenformen<br />
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• KLEINSCHMIDT, O. (1934): Die Singvögel der Heimat. 7.Aufl. Leipzig<br />
• KNORRE, D.V. (1987): C.L.Brehms Verkäufe von Vogelpräparaten an zoologische Sammlungen der Universitärtsstadt<br />
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• KNORRE, D. V. (1990): Die Bedeutung zoologischer Präparate als Kulturgut. - Inform.Museen in der<br />
DDR. Jg. 22(3/4): 100 - 104<br />
• KNORRE, D.V. (1998): Wie sicher können Wald- (Sorex araneus) und Schabrackenspitzmaus (Sorex<br />
coronatus) bei Gewöllanalysen erkannt werden? - Naturschutz u.Landschaftspflege in Brandenburg 7<br />
(1): 55 -57<br />
• KULL, U. (1992): Wert von biologischen Sammlungen in Museen. - Naturwiss. Rundschau 45: 453<br />
• LIEBERS, D. & HELBIG, A. J. (1999): Phänotypische Charakterisierung und systematische Stellung der<br />
Armenienmöwe, Larus armenicus. - Limicola 13: 281 - 321<br />
• LIEDTKE, K. (<strong>2000</strong>): Schönheit, die wir schützen müssen. - National Geographic Deutschland. Januar<br />
<strong>2000</strong>, S. 194<br />
• MOTTAZ, C. (1907): Préliminaires a nos "Etudes de Micromammalogie". Description du Neomys milleri,<br />
ssp. nova. - Mèm. Soc. zool. France 20: 20 - 32<br />
• NATHUSIUS, H. (1838): Beiträge zur Kenntnis der europäischen Spitzmäuse. Erster, historischer Teil. -<br />
Archiv Naturgeschichte 4: 19 - 47<br />
• NAUMANN, J. A. (1989): Johann Andreas Naumanns meistens selbst erfundene Fallen und Fänge zum<br />
Vogelstellen. - Nach dem Originalmanuskript von 1818 erstmals heraus- gegeben von L.Baege &<br />
J.Neumann. Köthen.<br />
• NAUMANN, J. F. (1905): Naturgeschichte der Vögel Mitteleuropas. Hrsg. C.R.HENNICKE. Bd. 1. Gera<br />
• NIETHAMMER, G., KRAMER, H. & WOLTERS, H. E. (1964): Die Vögel Deutschlands - Artenliste.<br />
Frankfurt/M. 138 S.<br />
• PAEPKE, H.-J. (1999) (Mskr.): Kustodie Fische (Ichthyologische Sammlung). In: Jahresbericht 1997/98 -<br />
Museum für Naturkunde - Humboldt-<strong>Universität</strong> Berlin.<br />
• SCHEU, S. (1999): Biologische Vielfalt und Ökosystemfunktionen. <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht 7/1999: S.3 -13<br />
• SCHMINKE, H. K. (1996): Naturkundliche Sammlungen - das vernachlässigte Erbe ? - Spektrum der<br />
Wissenschaft. Mai 1996 S. 116 - 119<br />
• SIMON, H.-R. (1998): Artenzahl und Biodiversität: Ausgewählte Beispiele zu Artenzalen im Tierreich (mit<br />
Anmerkungen zum Pflanzenreich). - <strong>IANUS</strong> Arbeitsbericht 2/1998: S.1 - 114<br />
• STEININGER, F.F. (Hrsg.) (1996): Agenda Systematik <strong>2000</strong> - Erschließung der Biosphäre. - Kleine Senckenberg-Reihe<br />
22, Frankfurt/M.
2.3 Genetische Sicherheit
Hartmut Meyer<br />
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
1 Überblick<br />
Eher selten feierten NGOs aus aller Welt den Abschluß eines internationales Abkommens mit einem<br />
Schluck Rum – so geschehen am 30.1.<strong>2000</strong> morgens um sechs in einem Zelt im winterlichen,<br />
verschneiten Montreal. Das Zelt bot in den letzten Tagen der Biosafety-Verhandlungen einigen<br />
Dutzend junger Menschen aus ganz Kanada Schutz während ihrer mehrtägigen Mahnwache vor<br />
dem Verhandlungsgebäude. Sie appellierten vor allem an ihre eigene Delegation, sich für die Erarbeitung<br />
eines starken Biosafety-Protokolls einzusetzen und diese entscheidenen Tage im Rio-<br />
Folgeprozeß nicht zur Farce verkommen zu lassen.<br />
Zwei Stunden vorher wurde das Cartagena Protocol on Biosafety – diese Sitzung in Montreal war<br />
ja nur eine Wiederaufnahme der unterbrochenen Sitzung im Februar 1999 in Cartagena/Kolumbien<br />
– als Protokoll des 1992 in Rio beschlossenen Übereinkommens über die biologische Vielfalt<br />
(Convention on Biological Diversity, CBD) verabschiedet. Der Entwurf aus Cartagena galt als akzeptabler<br />
Kompromiß bis auf drei zentrale Streitpunkte:<br />
� Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips,<br />
� Bestimmungen für den Transfer von gentechnisch veränderten Organismen, die als Nahrungs-<br />
und Futtermittel oder zur Verarbeitung bestimmt sind,<br />
� Verhältnis dieses Protokolls als Umweltabkommen der UN zu den Freihandelsabkommen der<br />
WTO.<br />
In einer dramatischen Nacht gelang es den Entwicklungsländern und der EU unterstützt von Gruppe<br />
der mittel- und osteuropäischen Staaten sowie der sogenannten Kompromiß-Gruppe (mit<br />
bündnisfreien Staaten wie Norwegen, Schweiz, Südkorea) die Serie von Erpressungsversuchen<br />
seitens der Miami-Gruppe (USA, Kanada, Argentinien (die 1999 99% aller Gensaaten anbauten),<br />
Australien, Chile, Uruguay) im wesentlichen abzuwehren. Nach den Verhandlungen hinter verschlossenen<br />
Türen rief der ethiopische Verhandlungsleiter der Entwicklungsländer kurz vor der<br />
Schlußsitzung deren Delegationen im Saal in aller Öffentlichkeit zusammen und bat sie eindringlich<br />
und erfolgreich, dem erzielten Kompromiß zuzustimmen. So zäh und langwierig die Verhandlungen<br />
waren, so überraschend schnell wurde das Protokoll verabschiedet. Nur einen winzigen<br />
Augenblick wartete der kolumbianische Umweltminister Juan Mayr Maldonado, bis er nach seiner<br />
abschließenden Frage: ”Irgendwelche Gegenstimmen?” mit seinem Hammerschlag den Vertragstext<br />
verabschiedete.
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
Kurze Geschichte des Biosafety-Protokolls<br />
Die Rio-Dokumente befassen sich auch mit dem Thema Gentechnologie und Patentierung genetischer<br />
Ressourcen. Sowohl die Agenda 21 als auch die CBD enthalten Abschnitte über die Vermeidung<br />
oder Verringerung der Risiken, die von gentechnisch veränderten Organismen (GVO) ausgehen.<br />
Die zum Teil widersprüchlichen Vorgaben der Riodokumente über den Umgang mit den Risiken<br />
der Gentechnologie begründen sich in den unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben in Europa<br />
und den USA. Die CBD - und die Rio-Deklaration - berufen sich in Übereinstimmung mit der europäischen<br />
Umwelt- und Gesundheitsschutzpolitik auf die weitgehende Berücksichtigung des Vorsorgeprinzips.<br />
Dieser Grundsatz wird jedoch im Kapitel 16 der Agenda 21 durchbrochen. Dieses Kapitel<br />
preist die Gentechnologie zur Verbesserung der Versorgung mit Nahrungs- und Futtermitteln sowie<br />
nachwachsende Rohstoffen, als Mittel zum Umweltschutz und zur Verbesserung der menschlichen<br />
Gesundheit. In Analogie zur US-Gesetzgebung wird das Prinzip der Vertrautheit - die Akzeptanz<br />
der bestehenden Risiken bis zum wissenschaftlichen Nachweis eines Schadens - als einzig konkrete<br />
Leitlinie zur Risikoanalyse benannt. Zukünftige Vereinbarungen im Bereich Biosafety sollen<br />
direkt zwischen den betroffenen Staaten oder eventuell durch unverbindliche, freiwillige Leitlinien<br />
getroffen werden (Absatz 16.34). Als Gegengewicht zum Kapitel 16 der Agenda 21 wurde auf Initiative<br />
der G77-Staatengruppe der Artikel 19.3 ”Umgang mit Biotechnologie und Verteilung der daraus<br />
entstehenden Vorteile” in die CBD aufgenommen. Artikel 19.3 eröffnet die Chance, ein internationales<br />
rechtsverbindliches Protokoll zur biologischen Sicherheit (Biosafety-Protokoll), das Regeln über<br />
den sicheren Umgang mit sowie den Transfer von gentechnisch modifizierten Organismen festlegen<br />
soll, zu verhandeln. Das Biosafety-Protokoll soll neben dem Vorsorgegedanken ein ”Advance Informed<br />
Agreement”-Verfahren verwirklichen: Der Import eines GVO unterliegt einem Genehmigungsverfahren,<br />
welches verbindlich eine Information des Importlandes durch den Exporteur und<br />
eine anschließende Risikoanalyse vorsieht. Die Aufnahme der Verhandlungen wurden auf Druck einiger<br />
Entwicklungsländer mit der Unterstützung von NGOs aus dem Süden und Norden 1995 beschlossen,<br />
jedoch ein erfolgreicher Abschluß bislang durch die drei Hauptexportstaaten für gentechnisch<br />
veränderte Agrarprodukte USA, Kanada, Argentinien verhindert.<br />
1.1 Bedeutung des Protokolls<br />
Der erfolgreiche Abschluß des Cartagena Protocol on Biosafety wird von Umwelt– und Entwicklungsverbänden<br />
als ein bedeutender und begrüßenswerter Fortschritt im Rio-Prozeß betrachtet.<br />
Das Biosafety-Protokoll der Vereinten Nationen (UN) setzt völkerrechtliche Maßstäbe für weitere<br />
internationale Umweltabkommen, da es in weltweit debatierten Fragen deutliche Aussagen trifft:<br />
� es schreibt verbindlich den Vorsorgegrundsatz als Leitlinie im politischen Entscheidungsprozeß<br />
über den Import von GVO fest,<br />
� es definiert als erstes internationales Umweltabkommen das Vorsorgeprinzip, indem es die<br />
Umstände beschreibt, unter denen Staaten Schutzmaßnahmen treffen dürfen, ohne auf einen<br />
endgültigen wissenschaftlichen Beweis der Ursachen und Wirkungsketten warten zu müssen,<br />
� es stellt sich auf die gleiche Stufe wie die Freihandelsabkommen der Welthandelsorganisation<br />
(WTO).<br />
Neben diesen positiven Aspekten enthält der Text eine Reihe von Punkten, die weit hinter den<br />
Forderungen der Verbände zurückbleiben und nach einer ersten Einschätzung den tatsächlichen<br />
Einfluß des Protokolls deutlich abschwächen können. Eine Zwischenbilanz in der weltumspannenden<br />
Auseinandersetzung über den Einsatz der Gentechnik in Landwirtschaft und Nahrungsmittelproduktion<br />
kann lauten:<br />
� das Biosafety-Protokoll setzt entscheidende Maßstäbe für Schutzbemühungen im Bereich<br />
Umwelt- und (eingeschränkt) Gesundheitsschutz,<br />
� es trifft aber in etlichen Fragen – besonders im Forschungs- und Nahrungsmittelbereich –<br />
(noch) keine Entscheidungen,
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
� es kann gut von Bürgerinnen und Bürgern sowie ihren Interessensvertretungen benutzt werden,<br />
um ihre Forderungen nach Schaffung bzw. Revision von nationalen Gesetzen zum vorsorglichen<br />
Schutz vor den Gefahren der Gentechnologie zu stützen.<br />
Wer die mühsame Geschichte des Biosafety-Protokolls verfolgt hat, wird zustimmen, daß im Grunde<br />
schon die Tatsache, daß es nun ein völkerrechtlich verbindliches Regelwerk gibt, ein gewaltiger<br />
Erfolg ist. Die jetzt erzielten positiven Ergebnisse erschienen bis 1998 vielen Beobachtern als nicht<br />
erreichbar. Es können vier Gründe für den Erfolg ausgemacht werden:<br />
Verabschiedung des Biosafety-Protkoll:<br />
Anzahl anwesender Staaten – Organisationen – Teilnehmer a<br />
Gruppen / Untergruppen Anzahl Teilnehmer<br />
Mitgliedsstaaten b 128 481<br />
Nicht-Mitgliedsstaaten c 4 35<br />
Miami-Gruppe 6 86<br />
EU/EC 16 148<br />
Internationale Organisationen 10 18<br />
Nicht-<br />
106 199<br />
Regierungsorganisationen<br />
”Grüne” NRO ca. 50 ca. 100<br />
NRO der Industrie 6 8<br />
Industrie 32 45<br />
a) laut offizieller Teilnehmerliste (UNEP/CBD/ExCOP/1/Inf.4)<br />
b) Die CBD hat derzeit 175 Mitgliedsstaaten.<br />
c) Zehn Staaten haben die CBD nur unterschrieben, aber nicht ratifiziert, davon waren in Montreal die<br />
USA und Thailand anwesend. Als Nichtunterzeichner nahmen Saudi Arabien und der Vatikan an den<br />
Verhandlungen teil.<br />
� die intensive Zusammenarbeit von NRO aus dem Norden und Süden,<br />
� die kontinuierliche Unterstützung der Positionen der Entwicklungsländer,<br />
� die breite Ablehnung von Gen-Food durch die Verbraucher in Europa, Japan, aber auch die<br />
zunehmende Kritik in Entwicklungsländern wie in Indien oder Thailand,<br />
� die nicht erfüllten Versprechen der Genindustrie und die zunehmenden Bedenken gegen die<br />
propagierte Sicherheit von GVO und Gen-Food.<br />
1.2 Was steht im Protokoll?<br />
Der englische Text des Biosafety Protokolls kann auf der Internetseite der CBD (www.biodiv.org)<br />
gefunden werden, Friends of the Earth Europe haben ein detailiertes Tagesprotokoll veröffentlicht<br />
(FoEE Biotech Mailout Volume 6, Issue 1: http://www.foeeurope.org/biotechnology/about.htm). Im<br />
folgenden werden die englischen Texte wiedergegeben, die amtliche deutsche Übersetzung wird<br />
einige Zeit in Anspruch nehmen.<br />
2 Ziel und Anwendungsbereich des Protokolls<br />
2.1 Was regelt das Protokoll – was nicht?<br />
Im Gegensatz zu zahlreichen Medienberichten ist das Biosafety-Protokoll kein Regelwerk, das den<br />
internationalen Handel mit Nahrungsmitteln aus gentechnisch veränderten Organismen leiten wird.<br />
Schon in den Rio-Verhandlungen und im zugrunde liegenden Artikel 19.3 der CBD wurde dem Biosafety-Protkoll<br />
eine andere Funktion zugewiesen. Es soll international verbindliche Sicherheitsstandards<br />
für den grenzüberschreitenden Verkehr von gentechnisch veränderten Organismen<br />
(GVO) setzen, Vorgaben zur Abschätzung der Risiken dieser GVO auf die biologische Vielfalt un-
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
1992: Artikel 19.3 der CBD<br />
Die Vertragsparteien prüfen die Notwendigkeit und die<br />
näheren Einzelheiten eines Protokolls über geeignete<br />
Verfahren, insbesondere einschließlich einer vorherigen<br />
Zustimmung in Kenntnis der Sachlage, im Bereich der<br />
sicheren Weitergabe, Handhabung und Verwendung der<br />
durch Biotechnologie hervorgebrachten lebenden modifizierten<br />
Organismen, die nachteilige Auswirkungen auf<br />
die Erhaltung und nachhaltige Nutzung der biologischen<br />
Vielfalt haben können.<br />
ter Berücksichtigung der menschlichen<br />
Gesundheit liefern und den Mitgliedsstaaten<br />
die Möglichkeit garantieren,<br />
nach einer frühzeitigen Information über<br />
den Import von GVO eigenständige Entscheidungen<br />
über die Genehmigung des<br />
Importes treffen zu dürfen. Diese GVO<br />
können natürlich Nahrungsmittel sein.<br />
Wichtig ist: Nahrungsmittel, die zwar<br />
GVO-Material enthalten, aber keine lebenden<br />
Organismen sind, werden nicht<br />
vom Protokoll abgedeckt! Hier sind weiterhin<br />
die Nationalstaaten gefragt, mit<br />
entsprechenden ”Novel Food” Gesetzen für die Sicherheit der Menschen zu sorgen, ohne sich dabei<br />
direkt auf internationale Abkommen beziehen zu können.<br />
2.2 Was ist das Ziel des Biosafety-Protokolls?<br />
Der englische Text kann folgendermaßen übersetzt werden: Das Biosafety-Protokoll soll in Übereinstimmung<br />
mit dem Vorsorgegrundsatz aus Grundsatz 15 der Rio-Deklaration für ein angemessenes<br />
Schutzniveau bei der Weitergabe, Handhabung und Verwendung von GVO sorgen, die<br />
nachteilige Auswirkungen auf die Erhaltung und nachhaltige Nutzung biologischer Vielfalt haben<br />
können, wobei Risiken für die menschliche Gesundheit berücksichtigt werden und der Schwerpunkt<br />
auf den grenzüberschreitenden Verkehr gelegt wird.<br />
Damit können durch dieses Abkommen<br />
Ziel des Biosafety-Protokolls<br />
Article 1 OBJECTIVE<br />
In accordance with the precautionary approach contained<br />
in Principle 15 of the Rio Declaration on Environment<br />
and Development, the objective of this Protocol<br />
to contribute to ensuring an adequate level of<br />
protection in the field of the safe transfer, handling<br />
and use of living modified organisms resulting from<br />
modern biotechnology that may have adverse effects<br />
on the conservation and sustainable use of biological<br />
diversity, taking also into account risks to human<br />
health, and specifically focusing on transboundary<br />
movements.<br />
Mindeststandards für Risikoanalysen und<br />
Sicherheitsmaßnahmen beim grenzüberschreitendem<br />
Verkehr mit GVO gesetzt<br />
werden, was vor allem dann Bedeutung hat,<br />
wenn die Importstaaten (noch) keine Gentechnik-Gesetzgebung<br />
besitzen. Somit wird<br />
das Biosafety-Protokoll vor allem als ein Instrument<br />
zum Schutz der biologischen Vielfalt<br />
in Entwicklungsländern angesehen, was<br />
auch deren intensiven Einsatz für ein starkes<br />
Protokoll erklärt. Aber auch in Staaten<br />
mit Gentechnik-Gesetzgebung kann das<br />
Biosafety-Protokoll genutzt werden. Unterschreibt<br />
eine Regierung etwa das Protokoll,<br />
berücksichtigt aber in den nationalen Gentechnik-Gesetzen<br />
nicht den Vorsorgegrundsatz,<br />
bietet das Protokoll Bürgerinnen und<br />
Bürgern einen guten Ansatzpunkt, eine entsprechende Revision dieser Gesetze einzufordern.<br />
2.3 Auf welche GVO wird das Biosafety-Protokoll angewendet?<br />
Im Vergleich zum Cartagena-Text wurde der Anwendungsbereich erweitert. Artikel 4 besagt, daß<br />
grundsätzliche alle GVO unter das Protokoll fallen, auch für den Fall, daß sie ein Land nur im<br />
Transit passieren oder zur Verwendung im geschlossenen System bestimmt sind. Eine Ausnahmeregelung<br />
trifft Artikel 5, in dem GVO, die als Medikamente zugelassen sind, ausgeschlossen werden.<br />
Das betrifft vor allem gentechnisch veränderte Viren als Lebensimpfstoffe. Mit dieser Bestimmung,<br />
von allen Industriestaaten gegen den Widerstand der Entwicklungsstaaten eingesetzt, sollte<br />
eine drohende Kontroverse mit dem gros der Pharmakonzernen verhindert werden. Die Auseinandersetzung<br />
mit ihren drei ”life science”-Unternehmen Monsanto, Novartis und AgrEvo reichte den<br />
Industriestaaten offenbar aus.
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
Für GVO im Transit oder für das geschlossene System setzt der Artikel 6 aber die entscheidende<br />
Aufgabe des Biosafety-Protokolls aus: diese GVO fallen nicht unter die Bestimmungen des AIA-<br />
Verfahrens - die Zustimmung über den Import nach einer frühzeitigen Information. Damit werden<br />
die Exporteure dieser GVO von der Verpflichtung freigesprochen, Risikoanalysen vorzulegen, die<br />
u.a. die Gegebenheiten in den Importländern berücksichtigen. Die (finanzielle) Last, solche Analysen<br />
dennoch durchzuführen, wird den Importstaaten aufgebürdet. Die Entwicklungsstaaten versuchten<br />
vergebens, gegen diese Aushöhlung des Grundgedankens des Biosafety-Protokolls anzugehen.<br />
Die Industriestaaten rechtfertigten diese Ausnahme mit den Argumenten, daß im Transit<br />
und geschlossenen System Kontakte der GVO mit der Umwelt und somit mögliche Schäden per<br />
Definition ausgeschlossen oder minimiert seien.<br />
2.3.1 Spezialfall Transit<br />
Article 3 USE OF TERMS<br />
For the purposes of this Protocol:<br />
(b) "Contained use" means any operation,<br />
undertaken within a facility, installation<br />
or other physical structure, which involves<br />
living modified organisms that are<br />
controlled by specific measures that effectively<br />
limit their contact with, and their<br />
impact on, the external environment.<br />
Diese formaljuristische Argumentation ergäbe im Beispiel<br />
des Transit nur einen Sinn, wenn Transportbehältnisse<br />
und Umschlagvorrichtungen den Ansprüchen<br />
des geschlossenen Systems entsprächen. Die<br />
Praxis zeigt, daß dies nicht so ist – Häfen und Bahnhöfe<br />
sind z.B. bevorzugte Orte für die erfolgreiche<br />
Ausbreitung neuer Arten. Die EU war nicht bereit, sich<br />
innerhalb des Biosafety-Protokolles für entsprechende<br />
Transportstandards einzusetzen – das ginge denn<br />
doch zu weit. Die im wesentlichen betroffenen Länder<br />
– zahlreiche kleine Inselstaaten mit einem regen Umschlag<br />
internationaler Seegüter – hatten keine Chance,<br />
ihre Standpunkte in den Vertragstext einzubringen.<br />
2.3.2 Spezialfall geschlossenes System<br />
Als einen der entscheidensten Schwachpunkte des Biosafety-Protokolls im Hinblick auf seine Umsetzung<br />
und seinen tatsächlichen Einfluß muß der Ausschluß von GVO für das geschlossenen System<br />
von dem AIA-Verfahren in Zusammenhang mit der Definition des geschlossenen Systems<br />
betrachtet werden. Als Begründung für diese Ausnahme wurde ebenfalls der fehlende Kontakt der<br />
GVO zur Umwelt angeführt. Der wesentlich stärkere, politische Beweggrund für die Industriestaaten,<br />
in diesem Punkt keine Verhandlungsbereitschaft zu zeigen, ist die Absicht, den internationale<br />
Austausch von GVO zwischen Forschunglaboren, die als geschlossenes System definiert werden,<br />
in keinster Weise mit Formularen oder sogar Risikoanalysen zu belasten. So versprach das Bundesgesundheitsministerium<br />
auf einer Anhörung im August 1998 den Vertretern der deutschen Forschung,<br />
daß es für entsprechende Ausnahmeklauseln eintreten wird. Mit dieser Haltung konnte ein<br />
zweiter starker Sektor aus den Verhandlungen herausgehalten werden: die Forschungsverbände.<br />
Grundsätzlich öffnet Artikel 6 der Einflußnahme und Korruption sowie dem bewußten Verstoß gegen<br />
den Geist des Biosafety-Protokolls Tür und Tor. Exporteure von GVO geben an, daß die Saaten<br />
ausschließlich für das Gewächshaus bestimmt sind. Schon in der nächsten Vegetationsperiode<br />
kann dann die eigentlich beabsichtigte Freisetzung im Importland durchgeführt werden. Mit dem<br />
kleinen Unterschied: nun ist das Importland selbst für die Risikoanalyse zuständig. Die Verantwortung<br />
wird in vielen Fällen auf das schwächste Glied in der Kette abgewälzt – die Umweltministerien<br />
in Entwicklungsländern. Als extrem gefährlich wird der erfolgreiche Vorstoß der USA in der Sitzung<br />
in Cartagena gewertet, die Definition des geschlossenen Systems um der Zusatz ”physical structures”<br />
zu erweitern. Das allgemein gültige Konzept des Labor- oder Fabrikgebäudes und Gewächshaus<br />
als Ort des geschlossenen Systems – fragwürdig genug – ist damit durchbrochen. Die Praxis<br />
wird zeigen, ob in Zukunft Exporteure von GVO Saatgut für Feldversuche mit z.B. einem Hanfstreifen<br />
oder Bastmatten als Pollenfänger sich auf Artikel 6 berufen und diese Freilandversuche als geschlossenes<br />
System deklarieren! Artikel 6 schafft ein Schlupfloch für den Industriesektor, dessen<br />
Aktivitäten Hauptziel des Protokolls sein sollte: der Agrargentechnik- und Saatgutkonzerne.
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
2.4 Was ist ein GVO?<br />
Während des Rio-Gipfels 1992 wurde durch die USA versucht, in internationalen Abkommen zu<br />
verankern, daß Gentechnologie und konventionelle Züchtungsmethoden auf derselben Ebene der<br />
Eingriffstiefe in einen Organismus stehen. Alle gezüchteten Organismen seien ”genetisch verändert”<br />
und sollten als ”living modified organisms (LMO)”, manipuliert durch Methoden der Biotechnologie,<br />
definiert werden – analog zur ebenfalls 1992 beschlossenen US-amerikanischen Rechtslage.<br />
Diese undifferenzierten Begriffe finden wir in allen Rio-Dokumenten. Die Staaten der EU, in<br />
Definition eines GVO<br />
Art. 3 (Use of Terms)<br />
(g) ”Living modified organism” means any living organism<br />
that possesses a novel combination of genetic<br />
material, obtained through the use of modern biotechnology.<br />
(h) ”Living organism” means any biological entity<br />
capable of transferring or replicating genetic material,<br />
including sterile organisms, viruses and viroids.<br />
(i) ”Modern biotechnology” means the application<br />
of:<br />
(i) In vitro nucleic acid techniques, including recombinant<br />
deoxyribonucleic acid (DNA) and direct<br />
injection<br />
of nucleic acid into cells or organ-<br />
elles, or<br />
(ii) Fusion of cells beyond the taxonomic family<br />
that overcome natural physiological reproductive<br />
or recombination barriers and that are not techniques<br />
used in traditional breeding and selection.”<br />
denen eine völlig andere Rechtslage existierte,<br />
meldeten sich damals in dieser Diskussion<br />
kaum zu Wort. Bei der Ausarbeitung des<br />
Verhandlungsmandates im November 1995<br />
während der zweiten Vertragsstaatenkonferenz<br />
der CBD in Jakarta durch einige Entwicklungsländern<br />
gegen den starken Widerstand<br />
der USA, der EU und anderer Industriestaaten<br />
konnten die Korrekturen dieser<br />
anfänglichen Fehler eingeleitet werden: inzwischen<br />
entspricht der ”LMO” dem ”GVO”.<br />
Gentechnologie wird als ”modern biotechnology”<br />
angesprochen und von traditionellen<br />
Züchtungsmethoden und klassischen Biotechniken<br />
abgegrenzt. Einen kleinen Erfolg<br />
konnten Nichtregierungsorganisationen<br />
(NRO) verbuchen, indem sie durch intensive<br />
Arbeit dazu beitrugen, daß grundsätzlich Methoden<br />
der Zellfusion als ”modern biotechnology”<br />
definiert werden. Um die Opposition vor<br />
allem Japans, das sich stark im Gebiet der<br />
Zellfusion engagiert, zu überwinden, sah der<br />
Kompromiß schließlich vor, erst Zellfusionen<br />
oberhalb der taxonomischen Ebene der Familie in die Definition aufzunehmen.<br />
3 Die großen Konflikte<br />
3.1 Anwendung des Vorsorgeprinzips<br />
Das Biosafety-Protokoll bezieht sich an vier Stellen auf das Vorsorgeprinzip:<br />
1) Präambel<br />
2) Artikel 1 (Ziele)<br />
3) Anhang II (Risikoanalyse)<br />
4) Artikel 10 und 11 (Entscheidung im Zustimmungsverfahren)<br />
Während die ersten drei Bezüge schon in Cartagena abgesegnet wurden, bekämpfte die Miami-<br />
Gruppe vehement die vierte Textstelle. Mit einer solchen Definition, unter welchen Voraussetzungen<br />
das Vorsorgeprinzip angewendet werden darf, die zudem noch in einem völkerrechtlich verbindlichen<br />
Text – sog. ”hard law” im Gegensatz zu dem ”soft law” wie die politische Absichtserklärung<br />
der Rio-Deklaration – steht, würde Neuland betreten. Damit könnte das Biosafety-Protokoll<br />
die Regeln der WTO unterhöhlen. Unglücklich nur, daß ausgerechnet das Abkommen über sanitäre<br />
und phytosanitäre Maßnahmen der WTO ebenfalls eine Definition des Vorsorgeprinzips enthält!<br />
Während in Cartagena die Verhandlungsführung der EU im letzten Moment diese Verankerung
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
Ausgewählte Beispiele erfolgreicher Fusionen planzlicher Zellen (Stand Aug. 98)<br />
Fusionspartner Oberhalb<br />
Familie<br />
Innerhalb<br />
Familie<br />
Überschreitung<br />
nat. Fortpflan-<br />
Neue Eigenschaften der<br />
lebensfähigen Hybride<br />
1) Karotte X Gers- Bedecktsamer<br />
zungsgrenzen<br />
ja Karotten mit erhöhter<br />
te<br />
Salzresistenz (aus Gerste)<br />
2) Reis X Karotte Bedecktsamer ja nicht angegeben<br />
3) Raps X Amerik.<br />
Klappertopf<br />
Kreuzblütler ja fortpflanzungsfähig<br />
4) Reis X Gerste Süßgräser ja neue Genkombinationen,<br />
die nicht in den Eltern<br />
auftreten<br />
5) Futteresparsette<br />
Schmetter- ja nicht angegeben<br />
X Luzerne<br />
lingsblütler<br />
1) H. Kisaka & T. Kameya, 1998, Breeding Science 48: 11-15<br />
H. Kisaka et al. 1997, Theor. & Appl. Genetics 94: 221-226<br />
2) H. Kisaka et al., 1996, Breeding Science 46: 221-226<br />
3) M. Skarzhinskaya et al., 1996, Theor. & Appl. Genetics 93: 1242-1250<br />
4) H. Kisaka et al., 1998, Plant Cell Reports 17: 362-367<br />
5) X. Ziqin & J. Jingfen, 1997, Sci. in China, Ser. C, Life Sci. 40: 363-370<br />
Voraussetzung zur Anwendung des Vorsorgeprinzips bei der Importentscheidung<br />
Article 10 DECISION PROCEDURE<br />
Article 11 PROCEDURE FOR LIVING MODIFIED ORGANISMS INTENDED FOR DIRECT USE<br />
ASFOOD OR FEED, OR FOR PROCESSING<br />
6. ODER 8. Lack of scientific certainty due to insufficient relevant scientific information and acknowledge<br />
regarding the extent of the potential adverse effects of a living modified organism on the conservation<br />
and sustainable use of biological diversity in the Party of import, taking also into account risks to<br />
human health, shall not prevent that Party from taking a decision, as appropriate, with regard to the import<br />
of the living modified organism<br />
[Art. 10] in question as referred to in paragraph 3 above,<br />
[Art. 11] intended for direct use as food or feed, or for processing<br />
in order to avoid or minimize such potential adverse effects.<br />
Erklärung des Vorsorgeprinzip in der naturwissenschaftlichen<br />
Risikoanalyse<br />
Annex II RISK ASSESSMENT UNDER<br />
ARTICLE 15<br />
4. Lack of scientific knowledge or scientific<br />
consensus should not necessarily be<br />
interpreted as indicating a particular level<br />
of risk, an absence of risk, or an acceptable<br />
risk.<br />
Grundsatz 15 der Rio-Deklaration<br />
Zum Schutz der Umwelt wenden die Staaten<br />
im Rahmen ihrer Möglichkeiten weitgehend<br />
den Vorsorgegrundsatz an. Drohen schwerwiegende<br />
oder bleibende Schäden, so darf<br />
ein Mangel an vollständiger wissenschaftlicher<br />
Gewißheit kein Grund dafür sein, kostenwirksame<br />
Maßnahmen zur Vermeidung<br />
von Umweltverschlechterungen aufzuschieben.<br />
des Vorsorgeprinzips im operationellen Teil des Protokoll zur Disposition stellte, war die Sache nun<br />
in Montreal klar. Die angereisten 10 Umweltminister und die Umweltkommissarin versicherten den<br />
NRO, daß sie auf keinen Fall auf diesen Passus verzichten werden.
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
Etwas verwirrend ist die Tatsache, daß das Biosafety-Protokoll nicht das Vorsorgeprinzip, sondern<br />
den Vorsorgegrundsatz in seinem Text erwähnt. Die Benutzung des Wortes Vorsorgeprinzip scheiterte<br />
am Widerstand der USA, Australien und anderer Staaten. So wurde schon im Sommer 1998<br />
der Begriff Vorsorgegrundsatz – ein direktes Zitat der Rio-Deklaration – vorgeschlagen. Diesen<br />
Begriff konnte nun kein Staat ablehnen, da sie 1992 alle die Rio-Deklaration unterschrieben hatten!<br />
In den folgenden Verhandlungen gelang es den Entwicklungsländern und der EU, den Begriff des<br />
Vorsorgegrundsatzes mit ihren inhaltlichen Vorstellungen zum Vorsorgeprinzip zu füllen.<br />
3.2 Verhältnis zum Welthandelsabkommen<br />
Neben dem Vorsorgeprinzip betonten die Umweltminister der EU, daß sie auf keinen Fall eine Unterordnung<br />
des Biosafety-Protokoll unter die Regeln des Welthandelsorganisation (World Trade<br />
Organisation, WTO) dulden würden. Diese Position teilten sie mit den Delegationen der Entwicklungsländer,<br />
der mittel- und osteuropäischen Staaten sowie den bündnisfreien Staaten. Die Miami-<br />
Gruppe setzte sich mit allen Mitteln für eine solche Unterordnung ein, die zugleich das Vorsorgeprinzip<br />
als politische Entscheidungsrichtschnur entwertet. Sie betrachten die WTO als Bollwerk<br />
gegen ”ungerechtfertigte” Importeinschränkungen bezüglich der GVO. Solche Einschränkungen<br />
dürften erst nach bewiesenen Schäden und Ursachenketten ausgesprochen werden, nicht schon<br />
”auf Verdacht” hin. In dieser Position sahen sie sich durch die versammelten Industrievertreter unterstützt.<br />
In den Verhandlungen ging es konkret um die Streichung des Artikels 31, der eine solche Unterordnung<br />
vorsah. Wenn ein internationaler Vertrag keine Aussage zu seiner Stellung zu anderen<br />
Verträgen trifft, gelten die Regeln des Wiener Abkommens über internationales Vertragsrecht von<br />
1969, die besagen, daß das jüngere Abkommen über dem älteren steht sowie daß das spezifischere<br />
Abkommen das allgemeinere übertrifft. Beides träfe für das Biosafety-Protokoll zu. Als<br />
Kompromiß wurde eine Lösung ausgehandelt, in der das Verhältnis zwischen den Abkommen in<br />
der Präambel angesprochen wird. Die Präambel stellt drei Sachverhalte klar:<br />
1) Handels- und Umweltabkommen sollten sich wechselseitig unterstützen, um eine nachhaltige<br />
Entwicklung zu erreichen.<br />
2) Das Biosafety-Protokoll darf nicht so verstanden werden, daß es eine Veränderung der Rechte<br />
und Pflichten unter anderen Abkommen bedeutet.<br />
3) Diese Vorgaben beabsichtigen keine Unterordnung des Protokolls unter andere Verträge.<br />
Vorgaben der Präambel zum Verhaltnis des Biosafety-<br />
Protkolls zur WTO<br />
Recognizing that trade environment agreements should<br />
be mutually supportive with a view to achieving sustainable<br />
development,<br />
Emphasizing that this Protocol shall not be interpreted<br />
as implying a change in the rights and obligations of a<br />
Party under any existing international agreements,<br />
Understanding that the above recital is not intended to<br />
subordinate this Protocol to other international agreements,<br />
Der Wortlaut entspricht den Vorstellungen<br />
der der Mehrzahl der Staaten sowie den<br />
Vorschlägen der Verbände und muß als<br />
großer Erfolg in der Sache angesehen<br />
werden. Die Absicht der USA – aber<br />
natürlich auch zahlreicher Wirtschaftministrien<br />
der übrigen Industrieländer – die<br />
Abkommen der WTO über Umwelt-, Gesundheits-<br />
und Verbraucherschutzabkommen<br />
zu stellen und sie gegen vorsorgliche<br />
Politik abzuschotten, konnten sich in<br />
Montreal nicht durchsetzen. Inwiefern die<br />
formale Gleichstellung des Protokolls mit<br />
den WTO-Abkommen im Falle einer Importeinschränkung<br />
und anschließenden<br />
Klage vor dem WTO-Gerichtshof tatsäch-<br />
lich Bestand hat, bleibt abzuwarten. Denn es bleibt unbestritten, daß die WTO mit ihrer eingebauten<br />
Gerichtsbarkeit, die millionenschwere Strafen aussprechen kann, strukturell erheblich stärker<br />
ist als die Abkommen aus den Rio-Verhandlungen, die Verstöße gegen ihre Vorgaben nicht gerichtlich<br />
ahnden können.
Hartmut Meyer: Das Cartagena Protocol on Biosafety<br />
3.3 Berücksichtigung der Agrarmassengüter<br />
Im Laufe der Biosafety-Verhandlungen wurde eine ganz neue Kategorie von GVO geschaffen: der<br />
LMO-FFP (living modified organism for food, feed or processing). Damit wurde ganz bewußt eine<br />
Unterscheidung zwischen GVO als Saatgut sowie Nahrungs- und Futtermittel hergestellt. Im Laufe<br />
der letzten 1,5 Jahre traten die internationalen Agrarhändler mit großem Einsatz in die Verhandlungen<br />
ein. Sie traten für einen Ausschluß von GVO für Nahrungs- und Futterzwecke aus dem Protokoll<br />
ein. Diese Position ließ sich nicht durchsetzen. Die Unterhändler aus den Entwicklungsländern<br />
sowie der EU konnten ihre gemeinsame Position – LMO-FFP hinein ins Protokoll – festschreiben.<br />
Die Forderung der Entwicklungsländer nach Einbeziehung dieser GVO in das AIA und<br />
die Risikoanalyse wurde von den Industriestaaten abgelehnt. Die Argumentation der Länder des<br />
Südens, daß z.B. in Notsituationen GVO für Nahrungszwecke vermutlich auch als Saatgut benutzt<br />
werden und damit unweigerlich freigesetzt werden, stieß auf taube Ohren.<br />
Das Protokoll schließt in Artikel 7.2 die LMO-FFP vom regulären Genehmigungsverfahren aus und<br />
arbeitet in Artikel 11 ein ”AIA-light” aus. Danach sollen alle Mitglieder des Protokoll ihre nationalen<br />
Marktzulassungen und Risikoanalysen von GVO einer zentralen Informationsstelle zugänglich machen.<br />
Dieses Büro informiert nun wiederum alle anderen Mitglieder. Diese sollen sich nun einen<br />
Überblick beschaffen und im Falle, daß ihnen die Unterlagen für die Situation in ihrem Land nicht<br />
ausreichen, die Möglichkeit haben, eigene Risikountersuchungen durchzuführen. Ihnen wird das<br />
Recht zugestanden, aufgrund (noch zu schaffender) nationaler Gesetze den Import eines LMO-<br />
FFP prophylaktisch zu untersagen, über den tatsächlichen Zeitpunkt eines Importes müssen sie<br />
aber nicht unterrichtet werden. Mit dieser Regelung werden die Entwicklungsländer stark belastet -<br />
es ist ein ”Informations-Overkill” absehbar.<br />
Artikel 11.9 fordert eine Kooperation zwischen den Staaten im Hinblick auf finanzielle und technische<br />
Unterstützung beim Aufbau von Behörden und Regelwerken. Diese Maßnahmen liegen ganz<br />
auf der Linie der USA und Kanada, die schon immer Geld in die Ausbildung von Behörden in den<br />
Entwicklungsländern investiert haben – und dabei ihre eigenen Vorstellungen über ”effektive” Biosafety-Regeln<br />
gelehrt haben. Nach dem Ende der Verhandlungen ist vor allem die EU aufgerufen,<br />
Fortbildung in Sachen Biosafety nach Maßgabe des Protokolls zu finanzieren, damit ihr Verhandlungserfolg<br />
auch in der Praxis Bestand hat! Der Abschluß des Biosafety-Protokolls hat ganz nebenbei<br />
auch den Tod der unverbindlichen Biosafety-Richtlinien der UNEP eingeläutet. Der Sekretär<br />
der CBD erwähnte die Richtlinien in seinem Eingangsstatement ganz entgegen den Gepflogenheiten<br />
früherer Verhandlungen mit keinem Wort. Diese Regeln wurden 1995 durch Gentechnik-<br />
Experten vor allem der Industriestaaten erarbeitet und verzichten z.B. auf die Erwähnung des Vorsorgeprinzipes.<br />
Es ist zu hoffen, daß nun kein Geld mehr in breit angelegte Kampagnen gesteckt<br />
wird, diese UNEP-Richtlinien zu propagieren, die in ihren politische Absichten dem völkerrechtlich<br />
verbindlichen Biosafety-Protkoll widersprechen.<br />
3.3.1 Kennzeichnung und Trennung von Agrarmassengütern<br />
Kurz vor Mitternacht in der Schlußphase startete Argentinien im Namen der Miami-Gruppe seinen<br />
letzten Versuch, die Verhandlungen platzen zu lassen. Im Gegensatz zu allen anderen Entwicklungsländern<br />
spielte es die ”arme-Länder-Karte” aus und behauptete, daß ihm weder Finanzen<br />
noch Personal zur Verfügung ständen, die Regeln aus Artikel 18 über die verbindliche Deklaration<br />
von GVO für Nahrungs- und Futterzwecke erfüllen zu können. Die Delegation verlangte eine fünfjährige<br />
Übergangsfrist – eine zweijährige Frist wurde schließlich zugestanden. In dieser Zeit müssen<br />
klare Regeln erarbeitet werden. Damit stand der Kompromiß, ein Protokoll schien in greifbarer<br />
Nähe! Diese Lösung wurde durch die nächste Forderung unterwandert: die eindeutige Kennzeichnungsregelung<br />
müsse ersetzt werden durch die Möglichkeit, LMO-FFP mit ”kann GVO enthalten”<br />
zu deklarieren. Damit entfällt der Zwang zur Trennung von transgenem und nichttransgenem Erntegut.<br />
Durch die Zustimmung zu dieser Klausel durch – ironischerweise - die Gruppe der Entwicklungsländer<br />
konnte der Text verabschiedet werden. Das Nachgeben wurde durch die Tatsache erleichtert,<br />
daß die großen Abnehmer von GVO – die EU und Japan – schon eigene Gesetze besitzen,<br />
die eine eindeutige Kennzeichnung vorschreiben und daß die großen Handelsunternehmen<br />
inzwischen Systeme zur Trennung der Ernten ausarbeiten. Im Bereich Kennzeichnung und Trennung<br />
ist ein internationaler Vertrag noch am ehesten verzichtbar, hier können Verbraucher durch<br />
ihre Marktmacht regulierend eingreifen!
3. Ansatz zur Konfliktlösung
Horst Freiberg<br />
Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />
Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über<br />
die biologische Vielfalt.<br />
1. Aufgaben und Entwicklung des CHM<br />
Für die „Förderung der wissenschaftlichen und technologischen Zusammenarbeit” sowie die Vermittlung<br />
und den Zugriff auf Informationen und Daten, die mit der Umsetzung der Ziele des Übereinkommens<br />
über die biologische Vielfalt (ÜBV) (Convention on Biological Diversity - CBD) und<br />
der Beschlüsse seiner Vertragsstaatenkonferenzen zusammenhängen, haben sich die Vertragsstaaten<br />
den Clearing-House Mechanismus (CHM) in Artikel 18(3) des Übereinkommens geschaffen.<br />
Der CHM ist damit die zentrale Informations- und Kommunikationsdrehscheibe des Übereinkommens<br />
über die biologische Vielfalt. Der CHM soll dezentral, schrittweise und in unmittelbarer<br />
Anlehnung an den Bedürfnissen seiner Nutzer und den anfallenden Erfahrungen entwickelt werden.<br />
In ihrer 1.Vertragsstaatenkonferenz (VSK) sollten die Vertragsstaaten festlegen, wie ein CHM<br />
zur Förderung der wissenschaftlichen und technischen Zusammenarbeit eingerichtet werden soll.<br />
Die 1.VSK 1994 auf den Bahamas hat demzufolge entschieden den CHM einzurichten. Alle Aktivitäten<br />
des CHM sollten vom Haushaltsbudget des Sekretariats und von freiwilligen Zahlungen der<br />
Vertragsstaaten abgedeckt werden. Die 2.VSK 1995 in Jakarta, Indonesien forderte, daß der CHM<br />
neben dem Internet auch noch andere Formen der Informationsvermittlung nutzen sollte. Die<br />
3.VSK 1996 in Buenos Aires, Argentinien entschied, daß die 3-jährige Pilot-Phase des CHM im<br />
Dezember 1998 enden sollte. Die 4.VSK 1998 in Bratislava, Slowakien rief nochmals alle Vertragsstaaten<br />
auf, ausreichend finanzielle Unterstützung für den Aufbau und die Entwicklung des<br />
CHM bereit zu stellen, einschließlich für nationale, regionale und sub-regionale Aktivitäten.<br />
Mit dem CHM sind grundsätzlich drei Ziele verbunden, von denen alle drei wichtig für die Erreichung<br />
der Ziele des ÜBV sind:<br />
• Zusammenarbeit - die Förderung und die Erleichterung von wissenschaftlicher und technischer<br />
Zusammenarbeit,<br />
• Informationsaustausch - die Entwicklung eines weltweiten Systems zum Austausch und zur Integration<br />
von Informationen über die biologische Vielfalt,Aufbau des CHM-Netzwerks - der<br />
Aufbau der nationalen CHM Kontaktstellen und ihrer Partner<br />
Evolution: vom „Clearing-House“ zur „Informations- und Kommunikationsdrehscheibe“<br />
In der mehrsprachigen Übersetzung des CBD-Textes wird in Artikel 18(3) vom „Clearing-House<br />
Mechanismus“(E), „Centre d´Échange“(F) und vom „Vermittlungsmechanismus“(D) gesprochen.<br />
Die originäre Bedeutung des Wortes Clearing-House ist der englischen Bedeutung der Clearing-<br />
Stelle, einer früher im Bankwesen mit der Verrechnung von Gut- und Lastschriften beauftragten<br />
Einrichtung, entlehnt. Einige Länder sehen gerne den CHM in der Rolle eines Maklers, der Angebot<br />
und Nachfrage in Verbindung zu bringen versucht. Die Mehrheit der Länder lehnen jedoch diese<br />
Makler-Rolle („brokerage-function“) ab und befürworten, daß der CHM transparent und dezentral<br />
organisiert wird, auf Meta-Datenebene funktioniert und nur auf öffentlich verfügbare Informationen<br />
verweist. Auf der 2. Vertragsstaatenkonferenz der CBD im November 1995 wurde beschlossen,<br />
den „Clearing-House“ daher nicht zum Brokerinstrument, sondern zur „Informationsdrehscheibe“<br />
für das Übereinkommen zu entwickeln. Zu Beginn der Verhandlungsrunden sah man die<br />
Aufgabe des Clearing-House in der Förderung des Technologie-Transfers mit einem eigens eingerichteten<br />
Finanzierungs-Fonds. Erst Anfang 1992 - kurz vor dem Abschluß der Verhandlungen -<br />
einigte man sich auf die Förderung der technischen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit als<br />
die eigentliche Aufgabe des CHM und fand letztlich im Artikel 18 („<strong>Technische</strong> und wissenschaftliche<br />
Zusammenarbeit“) den geeigneten Platz für die Beschreibung seiner Aufgaben.
Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />
2. Deutschland und der CHM<br />
Von Seiten der Bundesregierung, vertreten durch das Bundesumweltministerium<br />
(BMU) wird dieser Entwicklungsprozeß des CHM seit der 2.VSK im Rahmen eines<br />
Forschungs- und Entwicklungsvorhabens (F&E), für das das IGR der ZADI<br />
Auftragnehmer ist, mit fachlicher Betreuung durch das Bundesamt für Naturschutz<br />
(BfN) aktiv unterstützt. Über dieses F&E-Vorhaben wurden bisher mehrere international<br />
anerkannte Beiträge geleistet, u.a.: die Entwicklung eines CHM-Logos, das heute weltweit den<br />
CHM visualisiert.<br />
Das Logo enthält drei Elemente:<br />
1. Die drei grünen Blätter der Konvention der biologischen Vielfalt<br />
2. Zwei ineinandergreifende rote Pfeile, die den globalen Informationsaustausch symbolisieren,<br />
und<br />
3. Die blaue Weltkugel mit den am CHM beteiligten Vertragsstaaten.<br />
Anforderungen an den CHM<br />
Auf der 4. Vertragsstaatenkonferenz (VSK) in Bratislava, im Mai 1998 wurden weitere Anforderungen<br />
an den CHM formuliert, die besonders die Bereiche:<br />
• Technologietransfer und Capacity Building<br />
• „decision support function” für die Vertragsstaaten u.a. im Bereich des “continuing reporting”<br />
(also der nationalen Berichtspflichetn) und der Trendbeobachtung zur Veränderung der biologischen<br />
Vielfalt<br />
• Einbindung des Privat-Sektors<br />
• der Entwicklung des CHM zum Informationsinstrument für alle biodiversitätsrelevanten<br />
Konventionen (u.a. CMS, CITES, Ramsar)<br />
• der Entwicklung von „interaktiven” Nutzungsmöglichkeiten und<br />
• Nutzung des CHM als Instrument der Bewußtseinsbildung bei der Bevölkerung für die Ziele der<br />
Konvention.<br />
betreffen.<br />
Dies erfordert von allen Vertragsstaaten Anstrengungen, ganz gezielt konkrete Beispiele aus ihrer<br />
nationalen Arbeit zur Umsetzung der Beschlüsse der VSK sowohl zu den einzelnen Artikeln, den<br />
wichtigen Themen und den übergeordneten Zielen der Konvention vorzulegen. Diese werden dann<br />
über den CHM allen Staaten verfügbar gemacht.<br />
Die 3 Informationssäulen der deutschen CHM Homepage<br />
Die Homepage des deutschen CHM http://www.biodiv-chm.de (Abb. 1) soll dem Nutzer möglichst<br />
einen für ihn „intuitiven“ Zugang zu den vorhandenen Informationsquellen der biologischen
Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />
Vielfalt in Deutschland, aber auch weltweit, gestatten (Abb. 1). Die deutsche Homepage ist zweisprachig<br />
aufgebaut. Die Originalstartseite ist deutschsprachig mit einem Hinweis auf die englischsprachige<br />
Kopie.<br />
Die zentralen Informationsfelder der Startseite sind in die drei Säulen:<br />
• Informationsdienste<br />
• Die Konvention<br />
• Dialog & Kooperation<br />
aufgeteilt.<br />
Sie werden für die künftige Entwicklung des CHM als richtungsweisend betrachtet. Ein wichtiger<br />
Eckpfeiler zur aktiveren Ausgestaltung des CHM-Angebotes eröffnet die konzeptionelle Einbindung<br />
der sogenannten Aarhus Konvention. Diese Konvention verfolgt das Ziel, die Öffentlichkeit unmittelbarer<br />
an umweltbezogenen Entscheidungsprozessen sowohl auf nationaler und europäischer<br />
Ebene teilhaben zu lassen. Der deutsche CHM hat hier einen Vorschlag erarbeitet, der über die<br />
von dem Übereinkommen und seinen Gremien behandelten „Themen“, jedem Interessierten die<br />
Möglichkeit bietet, sich direkt über<br />
(i) den derzeitigen Diskussionsstand,<br />
(ii) das Sitzungs- und das Beschlußdokument zum Thema sowie<br />
(iii) die Schlußfolgerungen nach Abschluß der Verhandlungen über dieses Thema zeitnah<br />
zu informieren. Weiterführende Informationsquellen vertiefen den themenbezogenen<br />
Wissensraum.<br />
Zentrale Serviceangebote im deutschen CHM:<br />
Die VSK-Entscheidungsdokumentendatenbank<br />
Zur nutzerfreundlichen Recherche in den 80 bisherigen Vertragsstaatenbeschlüssen wurde eine<br />
Volltext-Datenbank mit den entsprechenden englischsprachigen Originaldokumenten aufgebaut.<br />
Die Datenbank erlaubt die Suche in den entsprechenden VSK-Beschlüssen:<br />
im Freitext<br />
nach festen Stichworten (Artikelname und Thema)<br />
nach Gesamt-Vertragsstaatenbeschlüssen, und<br />
nach alphabetischer Suchabfrage.<br />
Die alphabetische Suchabfrage erlaubt dem Nutzer, jedes beliebige Wort aus allen 80 Entscheidungen<br />
per Mausklick aus einer alphabetischen Wortliste auszuwählen. Durch Mausklick auf eines<br />
der Worte werden alle Dokumente aufgelistet, in denen dieses Wort gefunden wurde. Mit Hilfe eines<br />
kleinen “blauen” Navigationspfeiles, springt der Nutzer zielgenau auf die Textstelle im Dokument,<br />
an der das gesuchte Wort steht.<br />
Der on-line Veranstaltungskalender zur Biodiversität in Deutschland<br />
Auf Anregung der deutschen CHM-Arbeitsgruppe wurde ein Veranstaltungskalender zur biologischen<br />
Vielfalt mit Terminen aus dem deutschsprachigen Raum in das Informationsangebot des<br />
deutschen CHM aufgenommen. Nutzer des Veranstaltungskalenders können zum einen nach Veranstaltungen<br />
selbst suchen. Sie können aber auch selbst Termine und die damit verbundenen<br />
Veranstaltungen in ein elektronisches Formblatt eintragen und in den Kalender aufnehmen lassen.<br />
Die Forschungsförderdatenbank<br />
Das GMD-Forschungszentrum Informationstechnik entwickelt gemeinsam mit der <strong>Universität</strong> Bochum<br />
eine online Forschungsförderdatenbank in der alle Förderprogramme, die in Deutschland<br />
genutzt werden können, künftig abgebildet sein sollen. Für die CHM-Nutzer soll auch eine Möglichkeit<br />
entwickelt werden, diese Datenbank für Suchabfragen zu Forschungsfördermöglichkeiten<br />
im Bereich der Biologischen Vielfalt zu erschließen. Hierzu wurde in die überarbeitete Version der
Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />
Datenbank bereits der Querschnittsbegriff der “Biologischen Vielfalt” bzw “Biodiversität” aufgenommen.<br />
Bilaterale Zusammenarbeit – Förderung der wissenschaftlichen Kooperation durch den CHM<br />
Durch das Sektorvorhaben “Umsetzung der Biodiversitätskonvention” der GTZ werden zwei bilaterale<br />
TZ-Vorhaben mit Kamerun und Kolumbien zum Aufbau ihrer nationalen CHM-Sekretariate gefördert.<br />
Beide bilaterale Vorhaben sollen als aktiver und praktischer Ansatz dazu beitragen, den<br />
Bedarf, die Anforderungen und Erwartungen von Entwicklungsländern mit Mega-Biodiversität und<br />
von Hochtechnologieländern an den CHM besser zu erfassen. Damit ist beabsichtigt, diesem Informationsmechanismus<br />
auch die erwartete praktische Nutzanwendung zu verleihen. Im Mittelpunkt<br />
der Projektaktivitäten zwischen dem kolumbischen und dem deutschen CHM stehen die<br />
praktische Ausgestaltung der Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit. Hierfür wurde<br />
eine gemeinsame „Ideenbank für Forschungskooperationen“ eingerichtet, in der sich bereits 25<br />
deutsche und kolumbianische Wissenschaftler mit ihren Forschungsideen eingetragen haben.<br />
Zugriffsstatistik<br />
Die Zugriffe auf die deutschen CHM-Seiten liegen zwischen 4.500 und 6.500 pro Monat. Etwa 40%<br />
der Zugriffe kommen aus Deutschland, und da insbesondere aus dem Hochschulbereich und privater<br />
Web-Nutzer und etwa 40% aus dem US-amerikanischen Raum spezifiziert durch die Internetendungen<br />
ORG, COM, EDU; die weiteren 20% verteilen sich auf das europäische und außereuropäische<br />
Ausland (ohne US). Die Reihenfolge der 10 wichtigsten Nutzerländer des deutschen<br />
CHM-Internetangebotes im Monat April lautet: USA, DE, A, CH, UK, CO, NL, JP, AU und F. Die<br />
am häufigsten besuchten Web-Seiten waren: Datenbanken, deutsch-kolumbische Kooperation,<br />
Nationalbericht, Artikel & Themen sowie Gesetzestexte.<br />
4. Europa und Clearing-House Mechanismus (EC-CHM)<br />
http://biodiversity-dev.eea.eu.int/ (Abb. 2)<br />
Die Europäische Kommission ist, wie die derzeit 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union, ebenfalls<br />
Zeichnerstaat des Übereinkommens über die Biologische Vielfalt. Wie die einzelnen Mitglieds-
Horst Freiberg: Entwicklung des deutschen Clearing-House-Mechanismus (CHM) als<br />
Informations- und Kommunikationssystem des Übereinkommens über die biologische Vielfalt.<br />
länder auch, ist sie daher gefordert, biodiversitätsrelevante Informationen über einen eigenen CHM<br />
zugänglich zu machen. Die Kommission tut dies seit August 1999 mit Unterstützung der Europäischen<br />
Umweltagentur unter Nutzung eines hierfür eingerichteten Projektes. Im Rahmen dieses<br />
von der Generaldirektion Umwelt betreuten Projektes wird, in enger Abstimmung mit den europäischen<br />
nationalen CHM-Kontaktstellen der sogenannte „European Community Clearing-House Mechanismus<br />
– EC-CHM“ entwickelt (Abb. 2).<br />
Ziel ist es, über den EC-CHM alle relevanten Informationen zur Biodiversität aus den Verwaltungseinrichtungen<br />
der Kommission sowie den politischen Vertretungen insbesondere dem Europäischen<br />
Parlament zugänglich zu machen.<br />
5. Der deutsche CHM – Teil eines deutschen Informationssystems zur biologischen<br />
Vielfalt<br />
Der CHM ist in erster Linie ein Meta-Informationssystem. Er verweist und verbindet virtuell bestehende<br />
Informationsquellen die relevant für die biologische Vielfalt und deren Umsetzung auf nationaler<br />
aber auch internationaler Ebene sind. Über den CHM soll auch der Zugriff auf diese Informationsbestände<br />
erleichtert werden. Gerade in Deutschland entstehen umfassende Informationsräume<br />
und –systeme, die einen engen Bezug zum ÜBV und ihren Themen haben. Der CHM wird<br />
deshalb in Zukunft auch Abfragemöglichkeiten über genetische, taxonomische und naturschutzrelevante<br />
Informationen und Daten anbieten. Hier versteht sich der CHM als Teil eines deutschen Informationssystems<br />
zur biologischen Vielfalt in dem bestehende Informationssysteme wie das Informationssystem<br />
für Genetische Ressourcen (GENRES), oder auch das in Entwicklung stehende<br />
Bundesinformationsystem für Genetische Ressourcen (BIG) mit anderen sektoralen Informationsstrukturen,<br />
wie dem FloraWeb des Bundesamtes für Naturschutz (BfN) virtuell verbunden werden.<br />
Eine Aufgabe in der weiteren Entwicklung des deutschen CHM wird es deshalb sein, den virtuellen<br />
Aufbau eines nationalen Informationssystems der biologischen Vielfalt weiter zu unterstützen und<br />
Synergien für die Informationsnachfrager zu nutzen. Darüber hinaus liegen die künftigen Entwicklungsarbeiten<br />
in der (i) Forschungsförderung, (ii) Förderung der wissenschaftlichen Zusammenarbeit,<br />
(iii) der Dokumentation der Umsetzung der Beschlüsse auf nationaler Ebene, (iv) der Förderung<br />
des Erfahrungsaustausches, (v) der Entwicklung von Konzepten zum „continuing reporting“<br />
und der (vi) verstärkten Nutzung des CHM zur Öffentlichkeitsarbeit.
Verzeichnis der Autoren:<br />
• Dr. Horst Freiberg, Informationszentrum für Genetische Ressourcen (IGR) der Zentralstelle<br />
für Agrardokumentation und –information (ZADI), Villichgasse 17, 53177 Bonn<br />
• Thomas Gladis, ZADI Abt. IGR, Villichgasse 17, 53177 Bonn, bzw. INK der GhK, FB 11,<br />
Steinstr. 19, 37213 Witzenhausen<br />
• Ali Hensel, Werkhof e.V., Rundeturmstraße 16, 64283 <strong>Darmstadt</strong><br />
• Gerold Kier, Botanisches Institut der <strong>Universität</strong> Bonn, Meckenheimer Allee 170, 53115 Bonn<br />
• Dr. Dietrich von Knorre, Friedrich-Schiller-<strong>Universität</strong> Jena, Biolog.-Pharm.- Fakultät, Phyletisches<br />
Museum, Vor dem Neutor 1, 07743 Jena<br />
• Dr. Hartmut Meyer, Koordinator AG Biologische Vielfalt, Forum Umwelt & Entwicklung,<br />
Kleine Wiese 6, 38116 Braunschweig<br />
• Jens Mutke, Botanisches Institut der <strong>Universität</strong> Bonn, Meckenheimer Allee 170, 53115 Bonn<br />
• Prof. Dr. Jürgen Pohlan, Rheinische Friedrich-Wilhelms-<strong>Universität</strong> Bonn, Institut für Obst-<br />
und Gemüsebau, Abt. Tropenpflanzenbau, Auf dem Hügel 6, 53121 Bonn<br />
• Dr. Stefan Schneckenburger, Botanischer Garten der TU <strong>Darmstadt</strong>, Schnittspahnstraße 5,<br />
64287 <strong>Darmstadt</strong><br />
• Dr. Thomas Wagner, Zoologisches Forschungsinstitut und Museum Alexander König, Adenauerallee<br />
160, 53113 Bonn