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<strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

Nagarjuna und Alfred North Whitehead<br />

über das zwischen den Dingen Liegende.<br />

Denkweisen aus Asien und Europa<br />

1


Abstract<br />

In diesem Text geht es zunächst um eine Zurückweisung eines<br />

indologischen Interpretationsmusters und Klischees, nach dem in<br />

Nagarjunas Philosophie den Dingen eine fehlende Existenz zugeschrieben<br />

wird. Das halte ich für einen Versuch, den Buddhismus auf die Stufe<br />

eines Aberglaubens herabzustufen. Weiterhin geht es um das zwischen<br />

den Dingen Liegende und um den Begriff der Abhängigkeit und um<br />

zahlreiche ganz ähnliche Begriffe, die der Philosoph A. N. Whitehead<br />

verwendet, um ein Prinzip zum Ausdruck zu bringen, das von ihm auch als<br />

die Verflochtenheit der Dinge bezeichnet wird. Ein viel früherer Hinweis<br />

auf das zwischen den Dingen Liegende stammt von dem indischen<br />

Philosophen Nagarjuna. Bei beiden Philosophen gibt es Dutzende von<br />

Begriffen und Bildern, die sich vom Denken an ein Objekt lösen, um sich<br />

mehr auf das zu konzentrieren, was zwischen den Dingen passiert, auf<br />

Zwischenräume und Zwischenzustände. Solch ein Zwischenzustand lässt<br />

sich nicht auf einen einzigen Begriff festnageln, der die Vielfalt der<br />

Beziehungen zum Ausdruck bringen könnte.<br />

2


1.Vorbemerkung<br />

„Wenn wir es nun, Sokrates, bei der Beantwortung so vieler Fragen über<br />

die Götter und die Entstehung des Universums nicht schaffen, eine<br />

Geschichte zu finden, die völlig in sich übereinstimmend und in allen<br />

Punkten ganz genau ist, solltest du nicht verwundert sein; denn es sollte<br />

schon genügen, wenn unsere Geschichte nicht weniger plausibel als andere<br />

ist. Wir müssen nämlich immer daran denken, dass wir alle bloß Menschen<br />

sind, ich, der ich sie erzähle, und ihr, die ihr sie hört, und dass uns<br />

deshalb bei diesen Fragen wohl eine wahrscheinliche Geschichte genügen<br />

muss…“ (Platon, Timaios).<br />

3


2. Vorbemerkung<br />

Whitehead schreibt in seinem Buch Abenteuer der Ideen über<br />

Ähnlichkeiten von Ideen, die auf den ersten Blick nicht zu erkennen sind,<br />

weil sie in unterschiedlichen Sprechweisen formuliert wurden. Und damit<br />

möchte ich in mein Thema einführen: Gibt es eine Entsprechung von<br />

asiatischen und europäischen Denkweisen?<br />

„Selbst scharfen Denkern fällt es mitunter schwer, die Entsprechungen<br />

zwischen Ideen zu sehen, die in unterschiedlichen Sprechweisen<br />

formuliert und durch unterschiedliche Beispiele illustriert worden sind.<br />

Manchmal ist es zwischen Philosophen, die genau die gleiche Idee auf<br />

verschiedene Weise formuliert hatten, zum erbitterten Streit<br />

gekommen. Deshalb muss man, wenn man in der Religion einen neuen<br />

Anfang machen will, der auf Ideen von profunder Allgemeinheit basiert,<br />

darauf gefasst sein, dass es tausend Jahre dauert, bis er sich<br />

durchsetzen kann. Religionen sind in dieser Beziehung wie die Spezies im<br />

Tierreich: keine von ihnen entsteht durch einen spontanen Schöpfungsakt<br />

in endgültiger Gestalt“ (A.N. Whitehead, Abenteuer der Ideen, Suhrkamp<br />

Verlag Frankfurt am Main 1971, S. 323).<br />

4


3. Vorbemerkung<br />

Vorprägung. Können wir heute, im 21. Jahrhundert den indischen<br />

buddhistischen Philosophen aus dem 2. Jahrhundert verstehen? Werden<br />

wir nicht durch unsere eigenen Vorprägungen daran gehindert? In seinen<br />

Heraklit-Studien hat sich der fast 100-jährige Philosoph Hans-Georg<br />

Gadamer genau mit dieser Frage beschäftigt. Gadamer schreibt dort:<br />

„Unsere eigene Vorprägung sitzt so tief, dass sie im Verständnis anderer<br />

Kulturen und Geschichtswelten uns behindert. Um zu besserem<br />

Verständnis zu gelangen, muss man sich seiner eigenen Vorprägung<br />

bewusst zu werden versuchen“ Hans-Georg Gadamer, Der Anfang des<br />

Wissens, Philipp Reclam, Stuttgart 1999, S. 67). Meine Vorprägung, mit<br />

der ich die Philosophie Nagarjunas zu verstehen suche, ist durch die<br />

Auseinandersetzung mit Whiteheads Schriften entstanden und<br />

umgekehrt. Beide Philosophen haben sich von dem Begriff des Absoluten<br />

und von dem Begriff der Subjektivität verabschiedet, beide haben das<br />

zwischen den Dingen Liegende als eine Grundlage angesehen.<br />

5


4. Vorbemerkung<br />

A. N. Whitehead, Denkweisen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main<br />

2001: “Philosophische Wahrheiten sind daher eher in den<br />

Voraussetzungen der Sprache als in ausdrücklichen Feststellungen zu<br />

suchen”(S. 45). “Verbundenheit ist das Wesen jeglicher Art von Dingen”.<br />

(...) „Keine Tatsache ist nur sie selbst”.(...) “Dies bedeutet, dass immer<br />

da, wo ein Einzelfaktum erörtert wird, eine Voraussetzung unterschlagen<br />

wird, nämlich die Koordination mit der Umgebung, die erforderlich ist für<br />

die Existenz dieses Faktums”. (S.54) “Die Tatsache ist eine Abstraktion,<br />

zu der man gelangt, wenn man das Denken auf rein formale Beziehungen<br />

beschränkt, die schließlich als endliche Realität maskiert werden. Darum<br />

fällt Wissenschaft in ihrer Perfektion auf das Studium von<br />

Differentialgleichungen zurück. Die wirkliche Welt ist der Wissenschaft<br />

durch das Netz gegangen”. (S. 62) “Philosophie ist die Kritik der<br />

Abstraktionen, die spezifische Denkweisen beherrschen”. (S.89) “Diese<br />

gegenseitige Durchdringung ist eine fundamentale Erfahrungstatsache”.<br />

(S. 93) “Die Definition der Umgebung ist genau das, was in speziellen<br />

Abstraktionen übergangen wird”. (S. 95) “So suggerieren zum Beispiel<br />

einzelne Wörter, jeweils in ihrer lexikalischen Bedeutung, und einzelne<br />

Sätze, abgetrennt durch Schlusspunkte, die Möglichkeit, vollständig von<br />

jeglicher Umwelt abstrahierbar zu sein. So kann man durchaus sagen,<br />

dass das Problem der Philosophie darin besteht, wechselseitige<br />

Verbindungen von Dingen zu verstehen, die auch ohne Bezug zueinander<br />

verstanden werden können. Aber eben diese Voraussetzung ist irrig. Wir<br />

6


sollten uns von ihr verabschieden und davon ausgehen, dass jede Entität –<br />

welcher Art auch immer – notwendigerweise über eine für sie wesentliche<br />

Verbindung mit dem Universum der Dinge verfügt. Diese Verbindung kann<br />

als die Seinsweise betrachtet werden”. (S. 105) “Alles, was in irgendeinem<br />

Sinne existiert, hat zwei Seiten, sein individuelles Selbst und seine<br />

Signifikanz im Universum. Und jeder dieser Aspekte ist ein Faktor des<br />

anderen”. (S. 146) “Die Umwelt dringt in die Natur jedes einzelnen Dings<br />

ein”. (S. 170)<br />

7


1. Einleitung<br />

In der Geschichte des Buddhismus ist der indische Philosoph Nagarjuna,<br />

der wahrscheinlich im 2. Jahrhundert lebte, besonders durch zwei<br />

Schlüsselbegriffe seiner Philosophie bekannt geworden, es sind die<br />

Sanskritworte ‚Sunyata‘ und ‚pratityasamutpada‘. Auf diese Begriffe<br />

haben sich nicht etwa europäische Philosophen, sondern ausgerechnet<br />

europäische und amerikanische Philologen, also Sprachwissenschaftler,<br />

Indologen, gestürzt. Kurzgefasst ist Indologie das Folgende:<br />

„Schwerpunkt der klassischen Indologie war seit ihren ersten Anfängen<br />

die Sanskrit-Philologie, bereits in der ersten Hälfte des 19.<br />

Jahrhunderts kamen Studien der mittelindischen Sprachen (Pali und<br />

Prakrit-Dialekte) hinzu. Viele von der klassischen Indologie erstellte<br />

Übersetzungen oder Fachartikel bereicherten andere Wissenschaften<br />

wie zum Beispiel die vergleichende Sprach- und Religionswissenschaft<br />

oder Archäologie. Auch für die Zukunft bleiben noch zahlreiche<br />

Aufgaben, so etwa die deutsche Übersetzung wichtiger Sanskrit-Texte,<br />

die bislang nur in – oft unvollkommener – englischer Übertragung<br />

vorliegen.“ Die Quelle dieses Zitats ist Wikipedia.<br />

http://de.wikipedia.org/wiki/Indologie<br />

Indologen haben den Schlüsselbegriff Sunyata meistens mit dem deutschen<br />

Wort ‚Leerheit‘ übersetzt und pratityasamutpada mit der Bezeichnung<br />

‚abhängiges Entstehen‘. Diese Übersetzungen von einzelnen Wörtern,<br />

jeweils in ihrer lexikalischen Bedeutung, ohne Rücksicht auf den<br />

8


Textzusammenhang und auf die ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen<br />

philosophischen Ideen, die dem Text zugrunde liegen und darüber<br />

hinaus zahllose philologische Interpretationen haben den Eindruck hervorgerufen,<br />

Nagarjuna hätte die Dinge für leer, nicht real, nicht existierend<br />

gehalten, für eine Halluzination oder Fiktion.<br />

An dieser Stelle möchte ich an die philosophische Kurzdefinition einer<br />

Fiktion erinnern: „Das menschliche Vorstellungsgebilde der Welt ist ein<br />

ungeheures Gewebe von Fiktionen voll logischer Widersprüche, d. h. von<br />

wissenschaftlichen Erdichtungen zu praktischen Zwecken bzw. von inadäquaten,<br />

subjektiven, bildlichen Vorstellungsweisen, deren Zusammentreffen<br />

mit der Wirklichkeit von vornherein ausgeschlossen ist.“ Hans<br />

Vaihinger: Philosophie des Als Ob, 1911, S. 14<br />

Stellvertretend und symptomatisch für die Indologie möchte ich hier nur<br />

zwei herausragende, bedeutende Gelehrte nennen, Lambert Schmithausen<br />

und Etienne Lamotte. Schmithausen schreibt, über den Begriff<br />

Sunyata bei Nagarjuna: „Das Zustandekommen in Abhängigkeit von anderem<br />

läuft somit auf [In-Wahrheit] Nichtzustandekommen, auf [In-Wahrheit]<br />

Nichtexistieren hinaus, die Eigenwesenlosigkeit [nihsvabhavata] auf<br />

Sunyata im Sinne von Nichtigkeit“ ( L. Schmithausen, in: Historisches<br />

Wörterbuch der Philosophie, Joachim Ritter, Karlfried Gründer [Hg.]; Bd.<br />

10, Basel 1998, S. 629). Demnach soll Sunyata das Nichtzustandekommen,<br />

die Nichtexistenz oder die Nichtigkeit der Gegebenheiten [dharma] bezeichnen.<br />

9


Hier möchte ich nur in ganz kurzgefasster Form in Erinnerung rufen,<br />

dass wir in der Philosophie unter den Begriffen der Substanz oder des<br />

Seins oder des Wesens der Dinge keineswegs eine chemische Substanz<br />

oder materielle Existenz oder die einfache Tatsächlichkeit oder das<br />

Dasein der Dinge verstehen, sondern die immaterielle Idee oder das<br />

Urbild eines Dings, etwas Absolutes, das dauerhaft und unveränderlich,<br />

unabhängig von jeder Art von Fremdbestimmung, aus sich selbst heraus<br />

existiert, das körperlos ist, alle Dinge durchdringt und das eigene Sein<br />

der Dinge ausmachen soll. In der traditionellen griechischen Philosophie<br />

wurde es bereits von Platon mit dem griechischen Begriff ousia, eigenes<br />

Sein, oder dem Begriff der Idee bezeichnet oder auch mit noch anderen<br />

Begriffen, ohne eine Festlegung in der Wortwahl. Im Gegensatz dazu war<br />

für Platon die Existenz der Dinge nicht mehr als ein schattenartiges,<br />

scheinhaftes Abbild, eine zweitklassige Imitation der Idee oder des<br />

eigenen Seins.<br />

Der englische Philosoph Henry More (1614-1687) hat die Bedeutung des<br />

Begriffs von einem idealen Sein oder von einem substantiellen Etwas in<br />

der traditionellen europäischen Substanzmetaphysik zusammenfassend<br />

gekennzeichnet. Er sagt von Gott und dem Raum, sie seien „eins, einfach,<br />

unbeweglich, ewig, perfekt, unabhängig, aus sich selbst heraus<br />

existierend, durch sich selbst bestehend, unverfälscht, notwendig,<br />

unermesslich, unerschaffen, unbegreiflich, allgegenwärtig, körperlos, alle<br />

Dinge durchdringend und umfassend, wesentliches Sein, wirkliches Sein,<br />

reine Wirklichkeit“ ( Henry More, zitiert in: Edwin Arthur Burtt, The<br />

10


Metaphysical Foundations of Modern Physical Science, London 1925,<br />

Seite 140 ).<br />

Die traditionellen indischen Philosophien bezeichneten ein derartiges<br />

eigenes Sein mit dem Terminus ‚svabhava‘. Beide extreme Vorstellungen;<br />

die von einem eigenen Sein, aber auch die entgegengesetze Vorstellung<br />

von einer schattenartigen, scheinhaften Fiktion der Dinge, wird von der<br />

buddhistischen Philosophie zurückgewiesen. Doch keineswegs wird die<br />

Mitte zwischen diesen extremen Vorstellungen zurückgewiesen, nämlich<br />

die materielle Existenz der Dinge, das bloße Dasein oder die Welt, in der<br />

wir leben.<br />

Allerdings muss bei dem Begriff des Seins der Hinweis des Philosophen<br />

Hans-Georg Gadamers bedacht werden, der bemerkte: „Was das Sein<br />

eigentlich meint, das auf diese Weise zustande gekommen sein soll, haben<br />

sie nicht gesagt“ .(Hans-Georg Gadamer, Der Anfang des Wissens,<br />

Stuttgart 1999, S. 147) Dabei ist zu beachten: All diese Sätze dienen nur<br />

der Bestimmung des Seins und des Absoluten. Sie sind natürlich ohne<br />

Rücksicht formuliert worden, ob es auch wirklich etwas gibt, das diesen<br />

Bestimmungen entspricht. Mit diesen Worten vom Sein ist noch nichts<br />

über die Wirklichkeit des Seins gesagt. Wir haben es nur mit Worten zu<br />

tun.<br />

Selbst unsere besten Ideen haben Grenzen, die nicht überschritten<br />

werden dürfen. Auch der Begriff von Sunyata, der die Substanzlosigkeit<br />

11


der Dinge und das Fehlen eines eigenen Seins bezeichnet, hat nicht den<br />

Rang eines Grundbegriffs für alles. Sunyata ist ein eingeschränkter, nur<br />

für eine spezielle Fragestellung brauchbarer Begriff. Er bezieht sich auf<br />

die spezielle Fragestellung nach einem eigenen Sein oder nach etwas<br />

Absolutem, was in der Geschichte der Philosophie auch mit dem Begriff<br />

Substanz bezeichnet wurde. Es ist extrem voreilig, einfach bedenkenlos<br />

zu verallgemeinern und es ist eine unzulässige und unhaltbare<br />

Verallgemeinerung, die philosophische Idee der fehlenden Substanz der<br />

Dinge aufzublasen und nun alles als nichts zu erklären. Der Begriff<br />

Sunyata kann nicht auf die Existenz der Dinge ausgedehnt werden. Mit<br />

dieser Idee kann man nicht das Dasein in seiner einfachen<br />

Tatsächlichkeit in Abrede stellen. Das ist nicht nur ein<br />

Übersetzungsfehler, sondern ein kolossaler philosophischer Fehlschlag,<br />

der die Philosophie Nagarjunas zu einem Aberglauben macht und zu einer<br />

zurückgebliebenen Schwärmerei, durch die wir das Vertrauen in den<br />

gesunden Menschenverstand, in jedes systematische philosophische<br />

Denken und in unsere sinnliche Wahrnehmung verlieren würden, wenn wir<br />

solch einer unhaltbaren und plumpen Verallgemeinerung Glauben<br />

schenken. Wir müssten jede moderne und traditionelle Philosophie<br />

aufgeben und zum mythologischen Denken der Frühzeit als Vorstufe zum<br />

rationalen Denken zurückkehren, um von dem Aberglauben an die<br />

Nichtexistenz der Dinge überzeugt zu sein.<br />

Das mythologische Denken in der Frühgeschichte der Menschheit<br />

lieferte eine vorstellbare Weltdeutung, die weder belegt noch begründet<br />

12


werden muss. Es wurde in der modernen Welt als eine kindliche Vorstufe<br />

zum begrifflichen Denken bezeichnet, bei dem es keine Unterscheidung<br />

zwischen vorgestellter und wirklicher Wahrnehmung gibt. Der Philosoph<br />

Ernst Cassirer hat es kurz zusammengefasst: „Mythos ist immer als das<br />

Ergebnis einer unbewussten Tätigkeit und als ein freies Produkt der<br />

Einbildungskraft bezeichnet worden“.<br />

In seinen philosophischen Kerngedanken über die Wirklichkeit, die<br />

meines Erachtens in den zahlreichen Gleichnissen über die Wirklichkeit<br />

zu sehen sind, in denen der Buddha die Wirklichkeit mit einem<br />

Regenbogen, einer Wolke, einem Tautropfen, einem Spiegelbild, einer<br />

Kerzenflamme oder einer Schaumblase vergleicht, spielen schwer zu<br />

belegende oder zu beweisende Mythen wie Karma, Geist, Seele keine<br />

Rolle. Nagarjunas Philosophie beschäftigt sich in seiner Philosophie<br />

überhaupt nicht mehr mit solchen mythologischen Fragen. Damit will ich<br />

die buddhistische Philosophie nicht von dem Ganzen der buddhistischen<br />

Lehren trennen. Das wäre einfach lächerlich. Tiefere philosophische<br />

Wahrheiten haben immer einen Hauch von Mythos, von dem sie nicht<br />

getrennt werden können. Zwischen buddhistischen Philosophien und<br />

buddhistischen religiösen Mythen gibt es keine klare Trennung, es gibt<br />

überhaupt nirgendwo klare Trennungen, denn auch tiefere philosophische<br />

Wahrheiten sind ungesicherte, mögliche Geschichten, wie sie Platon<br />

genannt hatte.<br />

A. N. Whitehead hat sich immer wieder gegen derartige Trennungen<br />

13


ausgesprochen. Er hat sich auch gegen eine Trennung von Philosophie und<br />

Mystik ausgesprochen und schreibt im Epilog seines Spätwerks<br />

Denkweisen über den Zusammenhang von Philosophie und Mystik auf den<br />

Seiten 201- 202: „Wenn man es so nennen will, dann ist Philosophie<br />

mystisch. Denn Mystik ist der direkte Einblick in bisher noch<br />

unausgesprochene Tiefen. Aber der Zweck der Philosophie ist es, Mystik<br />

zu rationalisieren: Nicht indem sie diese weg erklärt, sondern indem sie<br />

neue verbale Charakterisierungen einführt, die auf rationale Weise<br />

koordiniert werden“.<br />

Neben dem philosophischen Kerngedanken über die Wirklichkeit gibt es<br />

für den Buddhismus als Ganzes, als Religion solche mythologischen Lehren<br />

wie die vom Karma, oder von einem Zwischenzustand zwischen Leben und<br />

Tod, den die tibetische Tradition 'Bardo' nennt oder solche<br />

buddhistischen Lehren, die tiefe Bereiche des Geistes und des<br />

Bewusstsein betreffen, wie bodhi, Bodhisattva, Buddha, Bodhicitta etc.<br />

Solche buddhistischen, religiösen Vorstellungen können durchaus mit dem<br />

mythischen Denken der alten indischen Weisheit in Verbindung gebracht<br />

werden, die wir in all ihrer Totalität nicht definieren und nicht rational<br />

erklären können. Sie gehören je<strong>doc</strong>h nicht zum eigentlichen Kernbereich<br />

der Philosophie. Sie sind nicht das eigentliche Thema der Philosophie oder<br />

der Wissenschaften. Ich spreche hier von Philosophie, wie sie von<br />

Edmund Husserl, Ernst Cassirer und A.N. Whitehead verstanden wurde,<br />

als einer 'Wissenschaft' oder besser gesagt, von der Nähe der<br />

14


Philosophie zu den Wissenschaften. Whitehead kommt immer wieder auf<br />

diese Nähe zu sprechen. So schreibt er in Abenteuer der Ideen:<br />

„Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, eine Zusammenordnung von<br />

Ideen auszuarbeiten, die sich in den konkreten Fakten der realen Welt<br />

manifestieren soll. Sie sucht nach den allgemeinen Zügen, die die<br />

vollständige Realität eines Faktums charakterisieren und ohne die jedes<br />

Faktum den Charakter einer Abstraktion annehmen müsste. Die<br />

Wissenschaft dagegen abstrahiert und begnügt sich damit, das Faktum<br />

nicht in seiner Vollständigkeit, sondern nur im Hinblick auf gewisse<br />

wesentliche Aspekte zu verstehen. Die Wissenschaft und die Philosophie<br />

kritisieren sich wechselseitig, und die eine regt immer das<br />

Vorstellungsvermögen der anderen an. Philosophische Systeme haben die<br />

Aufgabe, die konkreten Fakten zu erleuchten, von denen die<br />

Einzelwissenschaften abstrahieren. Und die Einzelwissenschaften sollten<br />

ihre Prinzipien in den konkreten Fakten finden, die das philosophische<br />

System ihnen präsentiert. Die Geschichte des Denkens ist die Geschichte<br />

der Fehlschläge und Erfolge dieses gemeinsamen Unternehmens“ (Alfred<br />

North Whitehead, Abenteuer der Ideen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt<br />

1971 S. 286)<br />

Ein weiterer Sprachwissenschaftler, Etienne Lamotte, ein<br />

herausragender und hoch qualifizierter Übersetzer der Werke<br />

Kumarajivas, dem wir mehrere bedeutende, umfassende Übersetzungen<br />

aus dem Chinesischen ins Französische verdanken, hatte Nagarjuna<br />

15


folgendermaßen verstanden: „Nicht aufgrund einer Leerheit sind die<br />

Wesen und Gegebenheiten leer, sondern sie sind leer, weil sie nicht sind“<br />

( Etienne Lamotte, Der Mahayana-Buddhismus, in: Heinz Becher &<br />

Richard Gombrich, Die Welt des Buddhismus, München 2002, S. 93).<br />

Dadurch wollen uns zwei einflussreiche Gelehrte und mit ihnen zahlreiche<br />

indologisch geschulte Sprachwissenschaftler überzeugen, in den<br />

philosophischen Arbeiten Nagarjunas ginge es um den Begriff des Nichts,<br />

um die Nichtexistenz und Unwirklichkeit der Dinge, sie würden im<br />

buchstäblichen Sinn Leere und Abwesenheit von Inhalt illustrieren.<br />

Gewiss, der Begriff ‚Sunyata‘ steht im Zentrum der Philosophie<br />

Nagarjunas, mit dem eng umgrenzten Geltungsbereich, sich von der<br />

Vorstellung von einem eigenen Sein oder von etwas Absolutem zu lösen.<br />

Dieser beschränkte Geltungsbereich wird durch das<br />

Interpretationsmuster von Schmithausen und Lamotte über die Maßen<br />

ausgedehnt. Nach ihrer Interpretation soll von Nagarjunas Philosophie<br />

nicht nur die Vorstellung von einem ideellen Sein, von einer ideellen<br />

Essenz der Dinge, sondern auch die ganze materielle Existenz der Dinge<br />

bestritten werden.<br />

„Die Neigung zu übertriebenen Behauptungen ist schon immer eines der<br />

Grundlaster der Wissenschaft gewesen, und so hat man denn zahlreichen,<br />

16


innerhalb strikter Grenzen unzweifelhaft wahren, Aussagen, dogmatisch<br />

eine nicht bestehende universelle Gültigkeit beigemessen“ (Whitehead).<br />

Immer wenn ich höre und lese, Buddha Sakyamuni oder Nagarjuna sollen<br />

die Dinge dieser Welt als ein Nichts oder als eine Fiktion und Einbildung<br />

erklärt haben, deren Zusammentreffen mit der Wirklichkeit von<br />

vornherein ausgeschlossen ist, überfällt mich ein Gefühl der Lähmung, von<br />

Misstrauen, Argwohn und Skepsis über solch verdrehte, absurde<br />

Beleidigungen des gesunden Menschenverstandes und der sinnlichen<br />

Wahrnehmung. Solch ein Amalgam von philosophischen Begriffen, solch<br />

einen verkorksten Tiefsinn und Aberglauben soll Nagarjuna gelehrt<br />

haben?<br />

Der Begriff 'Aberglaube' hat eine lange Geschichte, nach einer<br />

modernen Definition des Sozialpsychologen Judd Marmor bezeichnet er<br />

heute Glaubenssätze und Praktiken, die wissenschaftlich unbegründet<br />

sind und nicht dem erreichten Kenntnisstand einer Gesellschaft<br />

entsprechen.. Dagegen kann man die meisten Philosophien, auch die<br />

Philosophie Nagarjunas, als einen Versuch beschreiben, ein kohärentes,<br />

logisches, notwendiges System allgemeiner Ideen zu finden, durch das<br />

alle Bestandteile unseres Erlebens interpretierbar werden (Whitehead).<br />

Leider sind derartige philologischer Fehlschläge zu einem dogmatischen<br />

Interpretationsmuster der vergangenen 100 Jahren geworden. Soll ‚das<br />

17


Nichts‘ die philosophische zentrale Idee und die Kernaussage Nagarjunas<br />

sein? Soll das seinem Geist und seinen Absichten entsprechen? Wollte<br />

Nagarjuna die Außenwelt leugnen? Müssen wir jetzt etwa die Außenwelt<br />

philosophisch beweisen, bevor wir sie anerkennen? Die Existenz der<br />

Welt, in der wir leben, ist evident, man sieht sie, wir leben in ihr, wir sind<br />

ein Teil von ihr. Der gesunde Menschenverstand reicht vollkommen aus<br />

für eine Zurückweisung des Glaubens an ‚das Nichts‘. Wir brauchen kein<br />

Philosophiestudium, um an die Realität der Außenwelt zu glauben.<br />

Die Welt, in der wir leben, wird eigentlich nur von extremen<br />

subjektivistischen Philosophien geleugnet. Doch haben solche extremen<br />

Sichtweisen nur einen geringen Erklärungswert über die Welt, wenn sie<br />

überhaupt einen haben. Deswegen sollten wir uns von solchen extremen<br />

Subjektivisten einfach nur verabschieden. Sie haben die gleiche scharfe<br />

Trennung zwischen Geist und Materie akzeptiert, die sie bei ihren<br />

'materialistischen' Gegnern bemerkt haben. Während für ihre<br />

'materialistischen' Gegner die physische Natur die einzige Realität und<br />

der Geist eine Randerscheinung ist, ist für sie die die physische Natur<br />

reine fiktive Erscheinung und das Bewusstsein die einzige Realität. Bei<br />

Subjektivisten gibt es keine Verschmelzung von beidem.<br />

Durch ihr Interpretationsmuster ist Nagarjuna von Schmithausen und<br />

Lamotte in die Nähe des idealistischen Philosophen George Berkeley<br />

(1685-1753) gerückt worden. Berkeley lehrte, dass eine vom<br />

18


Wahrnehmen und Denken unabhängige Außenwelt nicht existiert. Sollte<br />

Nagarjuna, der Begründer eines mittleren Weges, der alle extremen<br />

Denkweisen zurückgewiesen hat, selber ein extremer subjektivistischer<br />

Philosoph gewesen sein, der die Außenwelt infrage stellt? Wollte er<br />

zurückweisen, was offensichtlich existiert? Wollte Nagarjuna die Welt in<br />

der wir leben, leugnen? Oder war Nagarjuna ein 'Nihilist'? War er blind<br />

oder wollte er einfach nicht seinen Augen trauen?<br />

Zu derartig exotischen, absurden und zurückgebliebenen, altmodischen<br />

subjektivistischen Schlussfolgerungen und Unterstellungen können wir<br />

kommen, wenn wir die Bedeutung von einem zentralen Begriff übersetzen,<br />

ohne nach den Ideen zu fragen, die dem Begriff und dem ganzen Text<br />

zugrunde liegen. Solche indologischen Unterstellungen über ‚das Nichts‘<br />

haben die Diskussion um einen bedeutenden buddhistischen Philosophen<br />

vergiftet. Eine philosophische Interpretation und Diskussion beginnt<br />

nicht mit der Übersetzung von Begriffen, die man nicht verstanden hat,<br />

sondern mit Fragen nach den Ideen, die einem Begriff und dem ganzen<br />

Text zugrunde liegen. Mit solchen Fragen sind wir nicht am Ende, sondern<br />

am Anfang eines philosophischen Verstehens angekommen.<br />

Der Buddhismus hatte von Anfang an einen negativen Ruf, der ihm<br />

unterstellte, die Existenz der Welt zu leugnen. Das ist ein grobes<br />

Missverständnis, weil ja für Budddha Sakyamuni gerade in der Erkenntnis<br />

19


der wolkenartigen, regenbogenartigen, spiegelartigen und nebulösen<br />

Wirklichkeit die Voraussetzung besteht, sich von der Welt zu befreien<br />

und alle Bindungen an diese Welt aufzugeben. Befreiung ist erst dann<br />

möglich, so lehrte Buddha Sakyamuni, wenn wir die Bodenlosigkeit und<br />

Grundlosigkeit der Dinge sehen, ihre Bindungen untereinander. Auch wir<br />

Menschen hängen gierig an den Dingen, solange wir nicht sehen, dass wir<br />

einer Fata Morgana nachjagen. Das sind die philosophischen<br />

Kerngedanken Buddha Sakyamunis über die Wirklichkeit.<br />

Nagarjuna betont ebenso den flüchtigen, fragmentarischen,<br />

verschwommenen, sich in Luft auflösenden, zusammengesetzten<br />

Charakter der Dinge, wenn er von ihnen sagt, sie seien nicht zusammen<br />

aber fallen auch nicht auseinander. Weder sind die Dinge zusammen, noch<br />

sind sie nicht zusammen, [MMK 6.8], sagt Nagarjuna wörtlich in seinem<br />

Hauptwerk. Davon wird im 3. Teil dieses Textes die Rede sein.<br />

Vom Nichts zu sprechen, ist eine grobe Irreführung, der es an<br />

Feinfühligkeit und feiner Wahrnehmung von Zwischenzuständen,<br />

Zwischenstufen, Übergängen, Zwischenbereichen, Zwischendingen,<br />

Zwischenräumen, Zwischenergebnissen und Zwischenlösungen fehlt. Ich<br />

denke dabei auch an die unendliche Vielfalt von allem, was beinahe oder<br />

ganz ähnlich ist oder an etwas, das fast verschwunden ist oder noch nicht<br />

ganz in Erscheinung getreten ist. Auf solche Übergänge und<br />

20


Ähnlichkeiten hat uns besonders der italienische Mathematiker Paolo<br />

Zellini in seinem historischen Überblick des mathematischen Denkens<br />

hingewiesen.<br />

Den Buddhismus und besonders Nagarjunas Begriff von ‚Sunyata‘ in die<br />

Nähe ‚des Nichts‘ zu rücken entspricht einem Denken, das Klischees<br />

verhaftet geblieben ist. Klischees sind vorgeprägte Wendungen,<br />

abgegriffene und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder,<br />

Ausdrucksweisen, Redeschemata, die ohne individuelle Überzeugung<br />

einfach unbedacht übernommen werden (Gero von Wilpert).<br />

Sprachwissenschaftler überschreiten ihre lexikale Kompetenz, wenn es<br />

um eine philosophische Interpretation der grundlegenden Ideen<br />

Nagarjunas geht.<br />

Der Buddhismus wäre schon längst nichts weiter als nur ein Glaube oder<br />

Aberglaube, wenn er nicht von seinen Anfängen bis zur Gegenwart in<br />

Verbindung mit einer intellektuellen Bewegung gestanden hätte, mit einer<br />

Liebe nach Weisheit, wie wir die Philosophie nennen können, mit einer<br />

Anstrengung der Vernunft, ein mehr oder weniger vollständiges<br />

philosophisches System zu formulieren.<br />

Dieses Streben nach Rationalität ist auch eine Grundlage der<br />

Religionsphilosophie, die sich im 18. Jahrhundert entwickelte, aus dem<br />

Bemühen, das Wesen und die Wahrheit des religiösen Glaubens aus der<br />

21


Vernunft zu begreifen, ohne Rücksicht auf Offenbarungsansprüche.<br />

Dabei schließe ich mich den Religionswissenschaftlern Richard Otto und<br />

Mircea Eliade an, die als einen Einheitsbegriff ‚das Heilige‘ ausgewählt<br />

hatten, um das in der religiösen Erfahrung ursprünglich Erscheinende zu<br />

bezeichnen. 'Das Heilige' ist auch für die buddhistische Religion ein<br />

Kennzeichen, das über den philosophischen Kern hinausführt.<br />

Einige Sprachwissenschaftler setzen sich über diesen rationalen Kern der<br />

buddhistischen Philosophie einfach hinweg. Durch ihre willkürlichen,<br />

irrationalen Fehlschläge der Übersetzungen eines Schlüsselbegriffs ist<br />

die Philosophie Nagarjunas erheblich geschwächt worden. Solche<br />

indologischen Sprachwissenschaftler haben ein vollständig veraltetes Bild<br />

von der buddhistischen Philosophie geschaffen. Sie haben den<br />

Buddhismus auf eine Art mystischen Singsang über das Nichts und über<br />

eine uneinsehbare Welt reduziert und zu einem zurückgebliebenen<br />

Aberglauben herabgestuft.<br />

Ich möchte den buddhistischen Kerngedanken über die Realität an dieser<br />

Stelle mit drei traditionellen Gleichnissen von einer Bananenstaude, einem<br />

Nebel und einem Spiegelbild belegen:<br />

22


23


Bananenstaude.<br />

Foto: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=16940722<br />

Kommentar: Bananen gehören zu einer Pflanzengattung in der Familie der<br />

Bananengewächse. Eine Banadenstaude hat keinen Stamm. Was wir für<br />

einen Stamm halten könnten ist ein Scheinstamm, der aus massiven<br />

Blattstielen besteht, die nicht verholzen. Das ist ein häufig genanntes<br />

Beispiel im frühen Buddhismus. Wir sollen alle Dinge so betrachten, ohne<br />

einen festen Kern, ohne eine Substanz. Von einer fehlenden Existenz der<br />

Bananenstaude ist im Buddhismus überhaupt nicht die Rede.<br />

24


Die Realität ist wie ein Nebel<br />

Foto: By Taken byfir0002 | flagstaffotos.com.auCanon 20D + Tamron 28-75mm f/2.8 - Own work, GFDL 1.2,<br />

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=205768<br />

Kommentar: Auch Nebel ist ein traditionelles Gleichnis im frühen<br />

Buddhismus. Im Nebel erscheint alles weniger wirklich Von einem Nichts<br />

oder von einer kompletten Unwirklichkeit der Dinge im Nebel ist nicht die<br />

Rede.<br />

25


26


Spiegelbild<br />

Foto: https://de.wikipedia.org/wiki/Flo%C3%9Fteich<br />

Kommentar: Auch ein Spiegelbild ist nicht ein Nichts, auch ist es nicht<br />

leer. Es existiert, es ist da. Es gibt ein Spiegelbild in einem Spiegel oder<br />

in einem See. Nur besteht es eben aus Licht, es stellt keine Verdoppelung<br />

der materiellen Wirklichkeit dar, es täuscht eine Verdoppelung vor. Es<br />

existiert in einem Zwischenbereich zwischen dem Nichts und einer<br />

materiellen Wirklichkeit. Es ist wie eine Erscheinung, die nicht sie selbst<br />

ist. Vor allen Dingen ist es nicht greifbar. Wir können es nicht festhalten.<br />

Es fesselt uns nicht an diese Welt und wir können uns eher von unserer<br />

Gier nach etwas Festem und Haltbarem befreien. Wenn wir alle Dinge<br />

wie ein Spiegelbild betrachten, können wir das Loslassen lernen.<br />

Deswegen wurde im frühen Buddhismus das Spiegelbild gelehrt.<br />

27


Wie sollten Nagarjunas Schlüsselbegriffe übersetzt werden? Für ganz<br />

ähnliche Fragen der Übersetzung und Interpretation ist der<br />

Bibelübersetzer Martin Luther (1483 – 1546) bekannt geworden. In der<br />

Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 29. April 2015 schreibt Reinhard<br />

Binger über eine Korrektur der Lutherbibel durch die Evangelische<br />

Kirche Deutschlands und nennt die Gründe, warum Theologen im Jahre<br />

2015 an unzähligen Stellen zum Deutsch Martin Luthers zurückkehren.<br />

Binger schreibt:<br />

„Charakteristisch für Luthers Übersetzung war insgesamt, dass er recht<br />

frei mit den einzelnen Wörtern der Urtexte umging. ‚Die Grammatik soll<br />

nicht über die Bedeutung herrschen‘, sagte Luther einmal. Übersetzung<br />

war für den Reformator immer auch Auslegung. Nicht die Bedeutung<br />

einzelner Worte, sondern die Theologie eines Textes wollte er so präzise<br />

und prägnant wie möglich ins Deutsche übertragen. Vom Ergebnis sind die<br />

in Leipzig versammelten Fachleute noch immer angetan“.<br />

Nagarjuna hat bisher keinen philosophischen Übersetzer vom Rang<br />

Martin Luthers gefunden, wir sind durch philologische Methoden des<br />

Übersetzens noch immer mit dem Ergebnis konfrontiert, dass<br />

Nagarjunas Philosophie als nihilistisch, schwierig, dunkel und bestenfalls<br />

exotisch gilt. Auch werden ihr viele paradoxe und nebulöse<br />

Tiefsinnigkeiten unterstellt, mit denen uns Nagarjuna Rätsel aufgegeben<br />

haben soll. Dadurch wollen uns Sprachwissenschaftler dann weismachen,<br />

Nagarjunas Philosophie könne mit europäischen philosophischen Ideen<br />

28


kaum verstanden, verglichen und interpretiert werden.<br />

Während Nagarjuna bei Indologen und Sprachwissenschaftlern seit zwei<br />

oder drei Generation eine Hochkonjunktur erlebt, haben sich europäische<br />

Philosophen in den letzten 200 Jahren nur ganz selten mit indischen<br />

Philosophien auseinander gesetzt. Indische Philosophien waren für sie<br />

bestenfalls Weisheitslehren, aber nicht Philosophie. Darauf ist der<br />

Philosophie-Historiker Elmar Holenstein in seinem Philosophie-Atlas<br />

eingegangen. Holenstein schreibt:<br />

„Der Forschungsstand ist heute ein anderer als in den Jahrzehnten<br />

unmittelbar vor und nach 1800. Zu viele der wahrhaft großen Philosophen<br />

außerhalb Europas waren Kant (1724 -1804) und Hegel (1770 – 1831) wohl<br />

noch nicht einmal dem Namen nach vertraut, etwa Nagarjuna,<br />

Vasubandhu, Bhartrihari, Dharmakirti, Shankara, Gangesha in Süd-Asien,<br />

Xun Zi, Wang Bi, Fazang Zhu Xi, Wang Yangming, Yi Hwang und Ogyu<br />

Sorai in Ostasien“. (…) Von der Mehrzahl dieser Gelehrten sind Texte<br />

überhaupt erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts in europäische Sprachen<br />

zugänglich gemacht worden“(1).<br />

Eine bedeutende Ausnahme war übrigens der Philosoph Karl Theodor<br />

Jaspers (1883 – 1969).<br />

Wie bereits erwähnt: Was Whitehead immer wieder über seine eigene<br />

Philosophie sagt, ist auch für Nagarjunas Philosophie ein Kennzeichen:<br />

„Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, eine Zusammenordnung von<br />

29


Ideen auszuarbeiten, die sich in den konkreten Fakten der realen Welt<br />

manifestieren soll. Sie sucht nach den allgemeinen Zügen, die die<br />

vollständige Realität eines Faktums charakterisieren, und ohne die jedes<br />

Faktum den Charakter einer Abstraktion annehmen müsste.“ (Abenteuer<br />

der Ideen, S. 286).<br />

Nagarjuna hat seine Idee von der Wirklichkeit keineswegs nur in den<br />

Begriffen 'Sunyata' und 'Pratityasamutpada' zum Ausdruck gebracht.<br />

Diese beiden Sanskrit-Begriffe sind in seinem Hauptwerk [MMK] nur eine<br />

zusammenfassende Verallgemeinerung von 25 Gleichnissen, mit denen er<br />

die Wirklichkeit untersucht, dargestellt und verglichen hat.<br />

Welche Ideen liegen diesen 25 Gleichnissen zugrunde? Der Kerngedanke<br />

Nagarjunas besteht in dem Hinweis auf das zwischen den Dingen<br />

Liegende und wird mit verschiedenen Begriffen bezeichnet, mit dem<br />

Begriff des Zusammenhangs der Dinge, mit dem Begriff der<br />

Abhängigkeit und des Zusammenseins. Das sind alles vage Begriffe, die<br />

schwer in konkrete Worte zu fassen sind. Auch ergänzende und ähnliche<br />

Begriffe aus anderen Philosophien und aus dem Alltag können nicht ohne<br />

weiteres die vage Bedeutung auflösen. Ich meine solche Begriffe wie<br />

beispielsweise Bindungen, Verschränkungen, Zwischenräume,<br />

Verwicklungen, Verflochtenheit, Wechselspiel, oder die wechselseitige<br />

Verbundenheit der Dinge. Oder Gobertis Hinweise auf die Mitte, die<br />

Vereinigung, auf den Durchgang, den Übergang, den Weitergang, den<br />

Abstand, die Entfernung, das Band und auf den Kontakt. (2)<br />

Diese und zahlreiche weitere Begriffe bringen etwas andere Aspekte von<br />

30


dem, was zwischen den Dingen passiert, zum Ausdruck. Bis heute gibt es<br />

keinen einzelnen, einzigen oder zusammenfassenden Begriff für die etwas<br />

schwerfällige Bezeichnung von dem zwischen den Dingen Liegendem, den<br />

ich von Albert Einstein übernommen habe, als er von einem Feld sprach.<br />

Es ist nicht immer von genau demselben Sachverhalt die Rede. Die<br />

Worte Sunyata und Pratityasamutpada können nur als Sammelbegriffe<br />

für das zwischen den Dingen Liegende verstanden werden. Sunyata und<br />

Pratityasamutpada lassen sich nicht durch ein einziges Wort übersetzen,<br />

auf einen einzigen, konkreten Begriff festnageln.<br />

Die Hauptströmungen der europäischen Philosophien haben sich nicht mit<br />

dem beschäftigt, was zwischen den Dingen passiert. Sie sind ganz andere<br />

Wege gegangen. Sie haben vor allem seit Platon (428 – 348 vor Christus)<br />

die extremen Ideen des Absoluten, des Seins und der Substanz oder<br />

aber seit René Descartes (1596 – 1650) das gegenteilige Extrem, das<br />

unabhängige Subjekt thematisiert. Sie konnten seit Aristoteles (384 –<br />

322 vor Christus) mit Zwischenzuständen gar nichts anfangen. Denn<br />

bereits Aristoteles hatte ein logisches Prinzip formuliert nach dem ein<br />

Sachverhalt entweder besteht oder nicht, tertium non datur, ein Drittes<br />

gibt es nicht. Es ist ein Denken in einem Schwarz-Weiß-Schema ohne<br />

Zwischenbereiche. Es durchzieht die europäische Philosophiegeschichte<br />

und Wissenschaftsgeschichte wie ein roter Faden, von Aristoteles bis<br />

heute.<br />

Hier möchte ich das Schwarz-Weiß-Schema durch einige Bilder<br />

31


zurückweisen, die das Dritte darstellen, den Zwischenzustand zwischen<br />

Tag und Nacht.<br />

32


1. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

Der Abend liegt zwischen Tag und Nacht. Er ist ein Zwischenzustand.<br />

33


2. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

Kommentar: Der Abend verbindet Tag und Nacht. Er hat keine eigene<br />

Existenz, zum Teil ist er Tag, zum Teil ist er Nacht.<br />

34


3. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

Kommentar: Der Abend, zwischen Tag und Nacht, ohne eine Grundlage.<br />

35


4. Abend.<br />

Foto: Till Leeser<br />

„Wie für die Leidenschaft ist damit für alle Dinge erwiesen: Weder sind<br />

sie zusammen, noch sind sie nicht zusammen“. ( Nagarjuna MMK 6.10).<br />

Das trifft auch für Tag und Nacht zu. Weder sind sie zusammen, noch<br />

sind sie nicht zusammen.<br />

36


5. Abend<br />

Foto: Till Leser<br />

„Die Objekte sind weder richtig getrennt, noch richtig mit einander<br />

verbunden“ (Der Mathematiker Roger Penrose über verschränkte<br />

Quantenobjekte).<br />

37


6. Abend.<br />

Foto: Till Leeser<br />

Tag und Nacht sind Gegensätze, die sich anscheinend völlig ausschließen.<br />

Durch den Abend werden diese Gegensätze zu einer Einheit verbunden.<br />

„Die Menschen haben sich für zwei Gestalten der seienden Dinge<br />

entschieden und sie mit zweierlei Ausdrücken fest benannt. Damit haben<br />

sie freilich einen grundlegenden Irrtum begangen, nämlich die beiden<br />

Gestalten so zu trennen, statt es mit dem einen Sein zu belassen“<br />

(Gadamer/Parmenides)<br />

38


7. Abend.<br />

Foto: Till Leeser<br />

Der Abend stellt einen Zusammenhang zwischen Tag und Nacht und eine<br />

Beziehung zwischen dem Tag und der Nacht her.<br />

39


8. Abend.<br />

Foto: Till Leeser<br />

Tag und Nacht sind weder zusammen, noch nicht zusammen. Der Abend<br />

befindet zwischen Tag und Nacht. Der Abend ist mit dem Tag und mit<br />

der Nacht verbunden und verschränkt.<br />

40


9. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

„Die Mitte, die Verbindung, die Vereinigung, der Durchgang, der<br />

Übergang, der Weitergang, der Abstand, die Entfernung, das Band, der<br />

Kontakt“ (Vincenzo Gioberti).<br />

41


10. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

„Die Mitte ist das Zusammenkommen zweier Verschiedenheiten und<br />

Gegensätze zu einer Einheit“ (Vincenzo Gioberti).<br />

42


11. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

„Es bedurfte eines kühnen Gedankensprunges, um zu erkennen, dass nicht<br />

das Verhalten von Körpern, sondern das von etwas zwischen ihnen<br />

Liegendem, das heißt, das Verhalten des Feldes, für die Ordnung und das<br />

Verständnis der Vorgänge maßgebend sein könnte“. (Albert Einstein)<br />

43


12. Abend.<br />

Foto: <strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

„Abhängigkeit, Vernetzung, Verbundenheit, Relation, wechselseitige<br />

Zusammenhänge, universelle Bezogenheit, Zusammenwirken, Geflecht,<br />

Beziehungsfeld, Glieder eines Systems, Wechselwirkung,<br />

Funktionszusammenhang, Kraftfeld“ (A.N. Whitehead).<br />

44


Ich komme auf Aristoteles zurück. Aristoteles hatte ein logisches Prinzip<br />

gelehrt: Entweder besteht ein Sachverhalt oder es besteht nicht, ein<br />

Drittes gibt es nicht. Diesem grundlegenden logischen Prinzip des<br />

Aristoteles wagten erst im 20. Jahrhundert einige Mathematiker und<br />

Physiker zu widersprechen. Für die Mathematik war es besonders Jan<br />

Brouwer (1881 – 1966). Für die Physik begann die Loslösung bereits mit<br />

Faraday (1791-1867) und Maxwell (1831-1879). Aber darauf soll an<br />

dieser Stelle nicht näher eingegangen werden.<br />

45


Magnetfeld.<br />

Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/Magnet#/media/File:Magnet0873.png<br />

„Es bedurfte eines kühnen Gedankensprunges, um zu erkennen, dass nicht<br />

das Verhalten von Körpern, sondern das von etwas zwischen ihnen<br />

Liegendem, das heißt, das Verhalten des Feldes, für die Ordnung und das<br />

Verständnis der Vorgänge maßgebend sein könne“ [Albert Einstein,<br />

Leopold Infeld, Die Evolution der Physik, Rowohlt, Hamburg 1957, Seite<br />

194].<br />

46


Allerdings gibt es in der europäischen Philosophie des 20. Jahrhunderts<br />

vereinzelte Ansätze, die in die gleiche Richtung weisen, in die Nagarjuna<br />

vor fast 2000 Jahren gegangen ist. Es sind Ansätze, die durchaus mit<br />

Zwischenzuständen und Zwischenräumen etwas anfangen können. Ein<br />

Ansatz ist von A.N. Whitehead (1861 – 1947) vertreten worden. Er soll in<br />

kurz gefasster Form mit Nagarjunas Ansatz verglichen werden.<br />

47


2. Alfred North Whitehead<br />

A. N. Whitehead (1861-1947) war in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts ein außerordentlicher Mathematiker, Philosoph und<br />

Wissenschaftsphilosoph, der die philosophische Tradition Europas als<br />

eine Reihe von Fußnoten zu Platon charakterisierte und sie gegen den<br />

Strich bürstete. Whitehead war ein historischer Philosoph, es ging ihm<br />

je<strong>doc</strong>h nicht um die geschichtlichen Ablauf der Philosophie, ihm ging es<br />

darum, die erhellenden Potentiale der betrachteten Philosophen für die<br />

gegenwartsbezogene Diskussion bestimmter philosophischer Sachfragen<br />

zu erkunden. Seine Rückblicke waren problembezogene Prüfungen dessen,<br />

was von der Vergangenheit zu lernen ist. Whitehead integrierte sich<br />

selber in diese philosophische Tradition Europas, um die beiden<br />

grundlegenden Ideen der europäischen Philosophie, die Idee des<br />

Absoluten und des unabhängigen Subjekts, abzuschütteln und hinter<br />

sich zu lassen. Damit hat Whitehead den europäischen Denkweisen eine<br />

neue Richtung gegeben. Welche Richtung? Auf das zwischen den Dingen<br />

Liegende, wie es Albert Einstein (1879-1955) für die Physik seit Faraday<br />

formulierte, auf die Mitte, die Vereinigung, den Durchgang, den<br />

Übergang, auf die Beziehung und das Band zwischen den Dingen, auf den<br />

Kontakt, wie es ein recht unbekannter Gelehrter, Vincenzo Gioberti 1864<br />

in Neapel formulierte (2). Wir verdanken die Hinweise auf Goberti dem<br />

italienischen Mathematiker Paolo Zellini (Eine kurze Geschichte der<br />

Unendlichkeit.)<br />

Whiteheads organistische Prozessphilosophie ist von Christoph Kann<br />

48


zusammengefasst worden und soll hier nicht noch einmal dargestellt<br />

werden. Doch dient seine gelungene Darstellung als eine bequeme<br />

Grundlage für diesen kleinen Überblick: Christoph Kann, Fußnoten zu<br />

Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead. Felix Meiner Verlag<br />

Hamburg 2001.<br />

In seinem Spätwerk Denkweisen schreibt Whitehead im Jahre 1938<br />

gleich zu Beginn, wie man mit einer philosophischen Auseinandersetzung<br />

anfangen sollte, nämlich durch eine Sammlung der wichtigsten Begriffe<br />

und nicht durch eine systematische Darstellung: „Philosophie kann nichts<br />

ausschließen. Sie sollte folglich niemals mit einer Systematisierung<br />

beginnen. Ihr anfänglicher Zustand kann nur „Sammlung“ genannt werden.<br />

Das ist natürlich ein nie endender Prozess. Alles was erreicht werden<br />

kann ist die Betonung einiger weniger umfangreicher Begriffe, zusammen<br />

mit der Erlangung einer Aufmerksamkeit für das Facettenreichtum<br />

anderer Ideen, die im Zusammenspiel eben dieser Begriffe hervortreten,<br />

die vorgängig ausgewählt worden sind“ (S. 47). Diese Hinweise setzt<br />

Whitehead fort und schreibt auf der Seite 50: „Wir müssen das Thema<br />

im Groben erfassen, bevor wir es glätten und formen“. Darum geht es mir<br />

in der folgenden Sammlung von wichtigen Begriffen, die sich wie ein roter<br />

Faden durch die Werke Whiteheads ziehen. Allerdings ohne einen<br />

Vollständigkeitsanspruch.<br />

49


Hier soll an einen wichtigen Punkt der Philosophie Whiteheads erinnert<br />

werden. Ich meine vor allem den Begriffe der wechselseitigen<br />

Abhängigkeiten der Dinge oder der wechselseitigen Verbundenheit der<br />

Dinge und ganz ähnliche Begriffe, die ich ohne einen<br />

Vollständigkeitsanspruch darstellen möchte. Sie lassen sich nicht auf<br />

einen Begriff bringen. Whitehead verwendet immer wieder andere<br />

Begriffe, er lässt sich nicht auf einen Begriff festnageln, „denn der<br />

voreilige Gebrauch irgendeines geläufigen Worts muss unweigerlich dazu<br />

führen,“ meint Whitehead in Abenteuer der Ideen, „dass wir den<br />

angestrebten Grad von Allgemeinheit nicht erreichen“. „Wir brauchen die<br />

Ausdrücke „zusammen“, „das immanent Schöpferische“, „die<br />

Konkreszenz“, „das Erfassen“, „das Fühlen“, „die subjektive Form“, „die<br />

Gegebenheiten“, „Wirklichkeit“, „Werden“ und „Prozess“, sagt<br />

Whitehead.<br />

Relationalität oder die wechselseitige Abhängigkeit der Dinge. Für diese<br />

und ähnliche Begriffe hat sich weder bei Whitehead selber noch in seiner<br />

Wirkungsgeschichte ein einzelner Begriff durchgesetzt. Wie beiläufig<br />

taucht der Begriff der Abhängigkeit auf, wenn eine unabhängige,<br />

unbewegliche, starre Existenz der Dinge negiert wird (Seite 66 bei<br />

Christoph Kann). Wie ein roter Faden durchzieht er Whiteheads<br />

Gesamtwerk. Wirkliche, konkrete Dinge sind abhängig von anderen<br />

konkreten Dingen, sie befinden sich in einer Vernetzung mit ihrer realen<br />

Welt (Seite 196). Whitehead spricht von einer offensichtlichen<br />

Verbundenheit des Universums (Seite 201). An einer anderen Stelle ist<br />

50


von Relationen die Rede, sie bezeichnen die Beziehungen oder auch die<br />

inneren Relationen, die alle Realität aneinander binden (Seite 208).<br />

Bei unseren Anschauungen - macht Whitehead gegenüber Immanuel Kant<br />

geltend – geht es nicht nur um abstrakte Daten. Den Daten entsprechen<br />

wechselseitige Zusammenhänge der Realisierung (Seite 229) in einem<br />

mehrstufigen Empfindungsprozess. Christoph Kann fasst Whitehead's<br />

Sichtweise zusammen: „Initiiert durch die Aristotelische<br />

Substanzmetaphysik hat für Whitehead die Philosophie einen Weg<br />

eingeschlagen, der den Gesichtspunkt einer universellen Bezogenheit der<br />

Erfahrungswirklichkeit sowie den platonisch Grundgedanken vom Sein als<br />

Werden preisgegeben hat“ (Seite 239).<br />

Bei der Substanzmetaphysik bleibe - nach Whitehead – die Frage nach<br />

Zusammenhängen und Beziehungen zwischen den Dingen außerhalb der<br />

Betrachtung, eine Welt, in der es Beziehungen zwischen realen Individuen<br />

gibt, wird „schlechthin unverständlich“ (Seite 126).<br />

Whitehead meint, auch bei den mathematischen Grundlagen der Physik<br />

Isaak Newtons lassen sich keine inneren Gründe des Zusammenwirkens<br />

angeben (Seite 181). Es fehlen reale Beziehungen zu realen Subjekten<br />

und realen Objekten (Seite 171). Auch fehlt die Kategorie des<br />

Bezogenseins der Dinge, schreibt Whitehead an einer anderen Stelle mit<br />

ganz ähnlichen Worten (Seite 132). Denn gemäß unserem natürlichen<br />

Bewusstsein und unserer Selbsterfahrung erscheint die Natur nicht als<br />

ein Nebeneinander isolierter Materieteilchen, sondern als ein Geflecht<br />

organisch verbundener Wesenheiten (Seite 182).<br />

51


Geflecht.<br />

Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:00172_Franz%C3%B6sisch_Geflecht,_Frisuren,_Sanok_2013.JPG?<br />

uselang=de<br />

52


Dieses Geflecht zwischen den Dingen, taucht unter verschiedenen<br />

Bezeichnungen auf. Whitehead nennt es auch Beziehungsfeld (Seite 183),<br />

manchmal ist von einer notwendigen Kohärenz oder Bezogenheit aller<br />

Glieder eines Systems die Rede (Seite 108) oder von einem Kraftfeld<br />

(Seite 185) oder von elementaren Prozesseinheiten, die den materiellen<br />

Dingen zugrunde liegen, statt der überholten Idee eines leeren Raumes<br />

(Seite 185).<br />

Whitehead weist darauf hin, in der neuen Physik gebe es eine<br />

Wechselwirkung mit der Umgebung (Seite 186), atomare Einheiten<br />

werden von einem Feld umfasst, das zugleich das Feld anderer<br />

Organismen ist (Seite 187). Hier wird deutlich, wie Whitehead Einheiten<br />

der Physik zum Modell für seinen Begriff einer organistischen<br />

Wirklichkeit nimmt, wie Christoph Kann zutreffende betont (S. 188). Es<br />

geht Whitehead immer wieder um die wesentliche Verbundenheit der<br />

Dinge (S. 127) und um den Strukturzusammenhang der Geschehnisse (S.<br />

187), was manchmal nexus oder Funktionszusammenhang genannt wird<br />

(Seite 188). Damit schließe ich diese kurzgefasste Übersicht ab, ohne<br />

diese Begriffe noch einmal zusammen zu fassen. Sie lassen sich einfach<br />

nicht auf einen Begriff festnageln. Selbst der etwas holprige<br />

Einsteinsche Begriff von dem 'zwischen den Dingen Liegendem' stellt nur<br />

einen unvollständigen, fragmentarischen Sammelbegriff dar.<br />

53


3. Nagarjuna<br />

„Wenn Darwin oder Einstein Theorien verkünden, die unsere Ideen<br />

modifizieren, dann ist das ein Triumph der Wissenschaft. Wir sagen<br />

nicht, dass die Wissenschaft schon wieder eine Niederlage erlitten hat,<br />

weil ihre alten Ideen aufgegeben wurden. Wir wissen, dass ein weiterer<br />

Schritt der wissenschaftlichen Einsicht gelungen ist. Die Religion wird<br />

ihre alte Kraft nicht wieder erlangen, solange sie Veränderungen nicht in<br />

demselben Geiste begegnen kann wie die Wissenschaft. Ihre Prinzipien<br />

mögen zeitlos sein, aber der Ausdruck dieser Prinzipien verlangt eine<br />

kontinuierliche Weiterentwicklung“. [A.N. Whitehead. Wissenschaft und<br />

moderne Welt. 219]<br />

Nagarjuna war ein bedeutender und einflussreicher buddhistischer<br />

Philosoph Indiens. Wahrscheinlich lebte er im 2. Jahrhundert. In seinem<br />

Hauptwerk, Mulamadhyamaka-Karika, Lehrstrophen über die<br />

grundlegenden Lehren des Mittleren Weges [MMK (2)], war die erste<br />

Frage nicht die nach dem Geist oder dem Bewusstsein, sondern nach den<br />

Dingen der Welt, in der wir leben. Besonders hat Nagarjuna auf die<br />

Abhängigkeit der physischen Objekte von anderen Objekten hingewiesen.<br />

Dadurch hatte er eine neue Sichtweise für das zwischen den Dingen<br />

Liegende eröffnet.<br />

Hier ein Überblick von einigen Bildern von abhängigen, an einander<br />

gebundenen Objekten, die Nagarjuna in den 25. Kapiteln der MMK<br />

untersucht. Seine Bilder, Metaphern, Allegorien oder symbolische<br />

54


Beispiele haben eine Frische und Realitätsnähe, die abstrakte<br />

philosophische Ideen und Begriffe nie erreichen können:<br />

1. Ein Ding und seine Ursache. 2. Der Geher, das Gehen und die begangene<br />

Strecke. 3. Der Seher und das Sehen. 4. Ursache und Wirkung. 5.<br />

Kennzeichen und Zu-Kennzeichnendes. 6. Leidenschaft und der von<br />

Leidenschaft Ergriffene. 7. Entstehen, Bestehen und Vergehen. 8. Tat<br />

und Täter. 9. Der Sehende und das Sehen. 10. Feuer und Brennstoff. 11.<br />

Anfang und Ende. Leid und Ursachen des Leids. 13. Der Junge und der<br />

Alte, süße Milch und saure Milch. 14. Etwas und etwas anderes. 15. Der<br />

Begriff des Seins und der Begriff des Nichts. 16. Bindung und Befreiung.<br />

17. Tat und ihre Frucht. 18. Der Begriff der Identität und der Begriff<br />

der Verschiedenheit. 19. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. 20. Der<br />

Grund und die Frucht. 21. Entstehen und Vergehen. 22. Der Gedanke ‚den<br />

Buddha gibt es über den Tod hinaus’ und der Gedanke ‚es gibt ihn nicht’.<br />

23. Das Reine und das Unreine. 24. Der Buddha und bodhi [Erwachen]. 25.<br />

Nirvana und das Seiende.<br />

Mein Kommentar: Ein Ding ist nicht unabhängig von seinen Bedingungen,<br />

aber auch nicht identisch mit ihnen, ein Geher existiert nicht ohne eine<br />

begangene Strecke, aber er ist auch nicht eins mit ihr. Bei einem Seher<br />

gibt es weder eine Identität mit dem Sehen, noch eine Trennung vom<br />

Sehen. Es gibt keine Ursache ohne eine Wirkung und keine Wirkung ohne<br />

eine Ursache. Der Begriff ‚Ursache’ hat keine Bedeutung ohne den<br />

55


ergänzenden Begriff der ‚Wirkung’. Ursache und Wirkung sind nicht eins,<br />

aber sie fallen auch nicht in zwei getrennte Begriffe auseinander. Ohne<br />

ein Kennzeichen können wir nicht von einem Zu-Kennzeichnenden<br />

sprechen und umgekehrt. Wie sollte es einen von Leidenschaft<br />

Ergriffenen geben, ohne Leidenschaft? Ohne eine Tat gibt es keinen<br />

Täter, ohne Brennstoff kein Feuer.<br />

Bei diesen Bildern, die meistens aus Zwei-Körper-Systemen, manchmal<br />

aus zwei oder drei Begriffen bestehen, sind die Körper oder Begriffe<br />

nicht eins, aber sie fallen auch nicht auseinander. Die Körper sind<br />

abhängig von einander, sie sind aneinander gebunden. Sie befinden sich in<br />

einem Zwischenzustand, in dem sie weder richtig zusammen, noch richtig<br />

getrennt sind. Etwas passiert zwischen ihnen. Das ist der erste und<br />

wichtigste Aspekt der Philosophie Nagarjunas. Er soll uns öffnen für das<br />

zwischen den Dingen Liegende und für einen Umgang mit den Dingen, bei<br />

denen wir nicht immer auf Granit beißen müssen, bei dem wir das<br />

Loslassen lernen können.<br />

56


Abb. 1. MMK, 1. Kapitel : Ursache und Wirkung. Eine<br />

Hochgeschwindigkeits-Photographie von Harold E. Edgerton. Foto:<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Shockwave.jpg?uselang=de<br />

Kommentar: Ein Geschoss, das gerade eine Druckwelle durchdringt, die<br />

es selber verursacht hat. Das Geschoss ist die Ursache der<br />

Druckwelle und fliegt mit beinahe gleicher Geschwindigkeit durch sie<br />

hindurch. Ursache und Wirkung sind hier wieder vereint. Beide<br />

Prozesse sind nicht dasselbe, aber es sind auch nicht zwei getrennte<br />

Prozesse. Die zwei Prozesse sind abhängig von einander. Sie sind<br />

aneinander gebunden. Sie befinden sich in einem Zwischenzustand, in<br />

dem sie weder zusammen, noch getrennt sind (etwas passiert zwischen<br />

ihnen).<br />

57


58


Abb. 2. MMK, 2. Kapitel: Ein Läufer und die gelaufene Strecke.<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Usain_Bolt_Olympics_Celebrati<br />

on.jpg Kommentar: Usain Bolt. Ein Mensch ist nicht unabhängig von seinen<br />

Bedingungen, aber auch nicht identisch mit ihnen. Ein Läufer existiert<br />

nicht ohne eine gelaufene Strecke, aber er ist auch nicht eins mit ihr. Ein<br />

Läufer und die gelaufene Strecke sind weder eins noch zwei getrennte<br />

59


Körper. Das wichtigste Kennzeichen der Körper ist ihre Interdependenz,<br />

ihr fehlendes eigenes Sein oder ihre fehlende unabhängige Existenz.<br />

60


Abb. 3. MMK, 8. Kapitel: Tat und Täter: Clay and Sonny Liston. Foto:<br />

https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Championship_fight_between_C<br />

assius_Clay_and_Sonny_Liston_Miami_Beach,_Florida.jpg<br />

Kommentar: Wenn es keine Tat gibt, gibt es auch keinen Täter. Beide<br />

existieren nicht für sich alleine. Tat und Täter sind keine isolierten<br />

Komponenten. Sie entstehen nur in Abhängigkeit von einander. Sie sind<br />

aneinander gebunden. Nicht das Verhalten von Körpern, sondern das<br />

zwischen ihnen Liegende, das Zusammenspiel, das motorische<br />

Nervensystem, zwischen einem Täter, dem Boxer, und seiner Tat, dem<br />

Schlag, ist entscheidend.<br />

61


Abb. 4. MMK.10. Kapitel: Feuer und Brennstoff.<br />

http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/f/fa/Lightmatter_fire<br />

breath.jpg<br />

Kommentar: Ohne Feuer gibt es keinen Brennstoff oder brennenden<br />

Stoff. Ohne Brennstoff oder einen brennenden Stoff gibt es kein Feuer.<br />

Die materiellen oder immateriellen Komponenten eines Zwei-Körper-<br />

Systems existieren nicht isoliert, sie sind nicht eins und existieren <strong>doc</strong>h<br />

nicht unabhängig voneinander. Etwas passiert zwischen diesen Körpern<br />

und deswegen sind sie nicht unabhängig, haben sie keine Substanz, kein<br />

eigenes Sein. Nagarjuna betont eine zentrale Idee: Die Körper sind nicht<br />

getrennt und sie sind nicht eins. Das wichtigste Kennzeichen der Körper<br />

ist ihre Abhängigkeit von einander und ihre Bindung aneinander.<br />

62


4. Ergebnis<br />

Nagarjuna und Whitehead haben es abgelehnt, sich auf einen einzigen<br />

Begriff festzulegen, der das zwischen den Dingen Liegende bezeichnet.<br />

Sogar solche wichtigen Bezeichnungen wie Zwischenzustände der Dinge,<br />

die Zwischenräume, die Zwischenbereiche und die verflochtenen<br />

Zusammenhänge sind nicht umfassend.<br />

Die Dinge können mit einem Regenbogen oder mit einer schwebenden,<br />

luftigen, leichten Wolke verglichen werden. Durch ihre Bindungen haben<br />

sie auch etwas Unwirkliches an sich, das sich schwer in Worten aber<br />

vielleicht etwas leichter in Bildern darstellen lässt. Bei einem<br />

Zwischenzustand verklumpen die Dinge nicht miteinander, aber sie sind<br />

auch nicht getrennt voneinander, ganz ähnlich wie bei einem<br />

Vogelschwarm die Einheit nicht durch einen Zusammenprall der einzelnen<br />

Vögel hergestellt wird. Welch ein befreiender Anblick!<br />

1. https://www.youtube.com/watch?v=XH-groCeKbE<br />

2.http://www.weltderphysik.de/gebiete/fluide/news/2013/rollendeschwärme-mikrokugeln-organisieren-sich-selbst/5<br />

63


Anhang I<br />

A. N. Whitehead: „Abenteuer der Ideen“.<br />

Einige Textpassagen aus Whiteheads Buch „Abenteuer der Ideen“ [A.N.<br />

Whitehead. Abenteuer der Ideen. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main<br />

1971] sollen die eben erwähnten einzelnen Begriffe zusammenhängend<br />

darstellen und seine philosophischen Methoden kurz erläutern.<br />

Whitehead schreibt dort: „Die Aufgabe der Philosophie besteht darin,<br />

eine Zusammenordnung von Ideen auszuarbeiten, die sich in den<br />

konkreten Fakten der realen Welt manifestieren soll. Sie sucht nach den<br />

allgemeinen Zügen, die die vollständige Realität eines Faktums<br />

charakterisieren, und ohne die jedes Faktum den Charakter einer<br />

Abstraktion annehmen müsste. Die Wissenschaft dagegen abstrahiert<br />

und begnügt sich damit, das Faktum nicht in seiner Vollständigkeit,<br />

sondern nur im Hinblick auf gewisse wesentliche Aspekte zu verstehen.<br />

Die Wissenschaft und die Philosophie kritisieren sich wechselseitig, und<br />

die eine regt immer das Vorstellungsvermögen der anderen an.<br />

Philosophische Systeme haben die Aufgabe, die konkreten Fakten zu<br />

erleuchten, von denen die Einzelwissenschaften abstrahieren. Und die<br />

Einzelwissenschaften sollten ihre Prinzipien in den konkreten Fakten<br />

finden, die das philosophische System ihnen präsentiert. Die Geschichte<br />

des Denkens ist die Geschichte der Fehlschläge und Erfolge dieses<br />

gemeinsamen Unternehmens“(S. 286).<br />

Etwas später lesen wir: „Die griechische Auffassung vom gegliederten<br />

Zusammenhang der Harmonie ist durch den Fortschritt des Denkens<br />

64


gerechtfertigt worden. Aber die lebhafte Vorstellungskraft der<br />

Griechen neigte auch dazu, jeden Faktor des Universums mit einer ganz<br />

eigenständigen Individualität auszustatten, wie sie sich z. B. in dem<br />

selbstgenügsamen Reich der Ideen beobachten lässt, das in Platons<br />

frühem Denken dominierte und hin und wieder auch in seinen späteren<br />

Dialogen noch durchschlägt. Man kann den Griechen aus dieser exzessiven<br />

Individualisierung keinen Vorwurf machen. Denn schließlich baut ja unser<br />

ganzes Sprechen auf dem gleichen Irrtum auf. Wir sprechen habituell<br />

von Steinen, Planeten und von Tieren, ganz so, als ob es möglich wäre,<br />

dass ein individuelles Ding auch nur einen Augenblick lang losgelöst von<br />

seiner Umwelt existieren könnte, die in Wahrheit <strong>doc</strong>h ein notwendiger<br />

Bestandteil seines eigenen Wesens ist. Diese Weise des Abstrahierens<br />

ist einfach eine Denknotwendigkeit, bei der die entsprechende<br />

systematisch geordnete Umwelt stillschweigend vorausgesetzt und in den<br />

Hintergrund verdrängt wird. Das ist eine Feststellung, der man nicht<br />

widersprechen kann“(S. 297).<br />

„Die Newtonsche Physik“, so schreibt Whitehead einige Seiten danach,<br />

„beruht auf der Vorstellung, dass jedes Stück Materie eine vollkommen<br />

unabhängige Individualität besitzt: jeder Stein müsste sich danach<br />

absolut vollständig beschreiben lassen, ohne dass man auf irgendeinen<br />

anderen materiellen Körper einzugehen brauchte. Es wäre denkbar, dass<br />

er sich - gleichsam als der einzige Bewohner des Universums – allein in<br />

einem überall gleichförmigen Raum befände und immer noch der gleiche<br />

Stein wäre, der er jetzt ist. Und es wäre auch nicht nötig, bei seiner<br />

65


Beschreibung auf seine Vergangenheit oder Zukunft einzugehen: er lässt<br />

sich immer jetzt, in diesem Augenblick, vollkommen adäquat begreifen.<br />

Das ist die konsequente Newtonsche Grundvorstellung, die im Lauf der<br />

Entwicklung der modernen Physik Stück für Stück verschwand und<br />

preisgegeben wurde. Sie beruht ganz und gar auf der Annahme der<br />

‚eindeutigen Lokalisierbarkeit‘ (simple location) und der ‚Äußerlichkeit‘<br />

aller Beziehungen zwischen Körpern ( external relations), wobei es<br />

allerdings im letzteren Punkt zu einigen Meinungsverschiedenheiten kam.<br />

Newton neigte dazu, diese Beziehungen als Druck und Stoß zwischen sich<br />

berührenden Körpern aufzufassen; seine unmittelbaren Nachfolger – so<br />

z.B. Roger Cotes – fügten dem noch den Begriff der Fernwirkung hinzu.<br />

In beiden Fällen aber blieb das, was vorlag, ein rein in der Gegenwart<br />

aufgehendes Faktum, nämlich das Bestehen einer äußerlichen Beziehung<br />

zwischen Körpern, die sich entweder berührten oder voneinander<br />

entfernt waren.<br />

Die gegenteilige Auffassung, nach der Beziehungen ‚intern‘<br />

beziehungsweise wesenszugehörig sind, ist in ihrer Darstellung meist<br />

durch eine Sprache verzerrt worden, die die Äußerlichkeit der<br />

Beziehungen im Sinne Newtons als Voraussetzung enthält. Den meisten<br />

Vertretern dieser Auffassung, selbst F.H. Bradley, ist es so gegangen.<br />

Man muss sich hier darüber klar werden, dass nicht nur Beziehungen die<br />

durch sie zueinander in Beziehung gesetzten Dinge modifizieren, sondern<br />

dass auch das Umgekehrte gilt und die Dinge das Wesen der zwischen<br />

ihnen bestehenden Beziehungen modifizieren. Eine Beziehung ist nichts<br />

66


Abstrakt – Universales, sondern genauso konkret wie die Dinge, zwischen<br />

denen sie besteht.<br />

Das ist eine Wahrheit, die z.B. durch den Gedanken, dass die Ursache der<br />

Wirkung immanent bleibt, illustriert wird. Wir werden ein Verständnis<br />

der Natur finden müssen, in dem diese konkrete Verbundenheit<br />

physischer und geistiger Funktionen ihren Ausdruck findet, ebenso wie<br />

die Verbundenheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart und der<br />

konkrete Zusammenhang unter physischen Realitäten, die für sich<br />

betrachtet individuell verschieden sind.<br />

Die moderne Physik hat den Standpunkt der eindeutigen Lokalisierbarkeit<br />

aufgegeben. Die physischen Dinge, die wir als Sterne, Planeten,<br />

Felsbrocken, Moleküle, Elektronen, Protonen und Energiequanten<br />

bezeichnen, muss man sich als Modifikationen eines Feldes vorstellen, das<br />

sich über die Gesamtheit von Raum und Zeit erstreckt. Diese<br />

Modifikation ist in einem bestimmten Bereich besonders intensiv, und das<br />

ist nach normalem Sprachgebrauch der Ort, wo sich der fragliche<br />

Gegenstand befindet. Aber sie bereitet sich von dort – mit endlicher<br />

Geschwindigkeit – bis in die entferntesten Raum – Zeitbereiche aus. Es<br />

ist selbstverständlich ganz natürlich und für gewisse Zwecke auch<br />

vollkommen angemessen, wenn man diesen Zentralbereich der Erregung<br />

als das Ding selbst anspricht, das sich dort befindet. Aber man kommt in<br />

Schwierigkeiten, wenn man diese Denkweise zu lange durchhält. Denn in<br />

der Physik ist das Ding mit dem identisch, was es tut, und was es tut, ist<br />

eben genau diese Ausbreitung eines Erregungsvorgangs. Und man kann<br />

67


den Zentralbereich auch nicht von den entfernteren Bereichen der<br />

Erregungsausbreitung trennen. Das Ding widersetzt sich hartnäckig dem<br />

Versuch, es als ein rein gegenwärtiges Faktum aufzufassen“(S. 301 –<br />

303).<br />

Die folgenden Zitate sind dem Kapitel ‚Zur philosophischen Methode‘<br />

entnommen: „Unbestreitbar ist in der Philosophie der Einfluss der<br />

früheren Literatur viel größer als in allen anderen Wissenschaften, und<br />

mit Recht. Aber die Ansicht, dass sich in ihr ein technisches Vokabular<br />

herausgebildet hätte, das für alle Zwecke und für alle vorkommenden<br />

Bedeutungsnuancen hinreichend wäre, ist vollkommen unbegründet.<br />

Tatsächlich ist die philosophische Literatur ja so ungeheuer umfangreich<br />

und die Vielzahl der philosophischen Schulen so groß, dass sich überall<br />

eine Fülle von Belegen für die – höchst verständliche und endschuldbare –<br />

Unkenntnis irgendeines bestimmten Sprachgebrauchs finden lässt“(S.<br />

406 – 407).<br />

Whitehead schreibt einige Seiten später: „Diese Bezeichnungsweisen<br />

sind so gewählt worden, um der Bedingung Genüge zu tun, dass die<br />

Sprechweise einer sich entwickelnden Theorie nach Möglichkeit zwanglos<br />

aus der Sprechweise der großen Meister hervorwachsen sollte, die ihre<br />

Grundlagen gelegt haben. Der Sprachgebrauch, der zu einer bestimmten<br />

Zeit in bestimmten philosophischen Schulen herrscht, bildet immer nur<br />

einen kleinen Ausschnitt aus dem Gesamtvokabular der philosophischen<br />

Tradition“. (…) „Mit Hilfe der gerade gängigen Sprechweisen kann man<br />

immer nur die Lehrmeinungen der gerade herrschenden Schule und ihrer<br />

68


anerkannten Varianten zum Ausdruck bringen“. Und die Forderung, dass<br />

eine andere Lehrmeinung, die in anderen Teilen der Tradition wurzelt,<br />

sich ebenfalls auf diese Sprachauswahl beschränken müsste, läuft auf<br />

nichts anderes hinaus als auf den dogmatischen Anspruch, dass gewisse<br />

Vorannahmen niemals revidiert werden dürften. Dann sind nur die<br />

Lehrmeinungen zulässig, die sich mit Hilfe des geheiligten Vokabulars zum<br />

Ausdruck bringen lassen. Was man vernünftigerweise fordern darf ist,<br />

dass jede Lehrmeinung sich in ihren Sprechweisen auf die eigene<br />

Tradition gründen sollte. Und wenn in dieser Beziehung Vorsorge<br />

getroffen worden ist, kann man in der lauten Entrüstung über<br />

eingeführte Neologismen nicht mehr sehen als ein Maß für den<br />

unbewussten Dogmatismus des Entrüsteten“ (415).<br />

Die Methoden der Philosophie. Immer wieder kommt Whitehead auf die<br />

Rolle zu sprechen, die der Philosophie und ihren Methoden zukommen. Er<br />

schreibt: „Das Hauptverfahren der Philosophie im Umgang mit ihren<br />

Gegebenheiten ist die Methode der beschreibenden<br />

Verallgemeinerung“(S. 416).<br />

Auf diese Methode der beschreibenden Verallgemeinerung ist Whitehead<br />

immer wieder zurückgekommen. So schreibt er beispielsweise in seinem<br />

Werk Prozess und Realität: „Die wichtigste Methode der Mathematik ist<br />

Deduktion; die der Philosophie ist deskriptive Verallgemeinerung“<br />

( Zitiert in: Christoph Kann, op. cit., S.144).<br />

Auch für die Metaphysik macht Whitehead in Prozess und Realität<br />

Verallgemeinerungen geltend: „Metaphysische Kategorien sind nicht<br />

69


dogmatische Feststellungen des Offensichtlichen, sie sind vorläufige<br />

Formulierungen der allgemeinen Prinzipien“ (Zitiert in: Christoph Kann: op.<br />

cit. S. 145). Für die Forschungsmethode spielt die Verallgemeinerung auch<br />

eine Rolle. Die wahre Forschungsmethode „geht aus von der Grundlage<br />

einzelner Beobachtungen, wodurch Anwendbarkeit gewährleistet werden<br />

soll. In einem zweiten Schritt hebt die Methode von diesem<br />

Ausgangspunkt ab, ‚schwebt durch die dünne Luft phantasievoller<br />

Verallgemeinerung und versenkt sich dann wieder in neue Beobachtungen,<br />

die durch rationale Interpretation geschärft sind‘“(Christoph Kann, op.<br />

cit. S. 110).<br />

Das Allgemeine. Später lesen wir bei Whitehead über das Allgemeine:<br />

„Schon das erste undeutliche Aufdämmern eines großen Prinzips pflegt<br />

von einer ungeheuren emotionalen Kraftentfaltung begleitet zu sein. Die<br />

turbulente Fülle der einzelnen Handlungen, die aus solchen komplexen,<br />

einen Kern tiefer Intuition umgebenden Gefühlen entspringen, fällt in<br />

primitiven Zeiten oft abstoßend und bestialisch aus. Schließlich aber<br />

bildet sich in der zivilisierten Sprache eine ganze Gruppe von Wörtern<br />

heraus, von denen jedes die allgemeine Idee in irgendeiner speziellen<br />

Form verkörpert. Wenn wir das Allgemeine erkennen wollen, das in diesen<br />

speziellen Ausprägungen enthalten ist, müssen wir die ganze Gruppe der<br />

entsprechenden Wörter einer vergleichenden Betrachtung unterziehen,<br />

in der Hoffnung, das ihnen gemeinsame Element zu entdecken. Das ist ein<br />

für die Zwecke der philosophischen Verallgemeinerung unbedingt<br />

notwendiges Vorgehen; denn der voreilige Gebrauch irgendeines<br />

70


geläufigen Worts muss – infolge der mit seiner üblichen Konnotationen –<br />

unweigerlich dazu führen, dass wir den von uns angestrebten Grad von<br />

Allgemeinheit nicht erreichen“(S. 417).<br />

„Um also durch philosophische Verallgemeinerung – als Verallgemeinerung<br />

des Erlebnisakts zu verstehen – zum Begriff des fundamentalen, konkret<br />

Wirklichen (final actuality) zu gelangen, bedarf es einer scheinbaren<br />

Redundanz von Ausdrucksformen: und zwar weil wir darauf angewiesen<br />

sind, dass die jeweils verwendeten Wörter sich wechselseitig korrigieren.<br />

Wir brauchen die Ausdrücke ‚zusammen‘, ‚das immanent Schöpferische‘,<br />

‚die Konkreszenz‘, ‚das Erfassen‘, ‚das Fühlen‘, ‚die subjektive Form‘, ‚die<br />

Gegebenheiten‘, ‚Wirklichkeit‘, ‚Werden‘ und ‚Prozess‘ (S. 419).<br />

71


6. Anhang II<br />

Denken und Sehen: Ein Zusammenspiel<br />

1. „Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen“. Ist eine solche<br />

Bemerkung im 21, Jahrhundert noch denkbar, ist darin noch irgendeine<br />

Erkenntnis enthalten, widersprechen nicht alle Philosophien und<br />

Wissenschaften einer solchen naiven Aussage? Welche Philosophie oder<br />

Wissenschaft interessiert sich heute noch für das Sehen? Max Planck<br />

hatte 1941 in einem Vortrag in Berlin bemerkt, dass vom Sehen, Hören,<br />

Tasten im wissenschaftlichen Weltbild nicht die Rede sei. [1] Der<br />

Aristotelesforscher Ingemar Düring sagte uns im Jahre 1966: Nach einer<br />

Meinung die schon Aristoteles mit fast allen Philosophiekollegen teilte,<br />

sei das philosophische Denken die höchste menschliche Aktivität und der<br />

oberste Wert [2]. Wer wollte dem widersprechen? Denkweisen,<br />

besonders philosophische und wissenschaftliche Denkweisen, können<br />

nicht vom Sehen infrage gestellt werden. Auch die Väter des modernen<br />

wissenschaftlichen Denkens, Kopernikus, Kepler, Galilei, Descartes und<br />

Newton haben seit dem Jahre 1500 Aristoteles nicht widersprochen,<br />

jedenfalls nicht in der Frage des Denkens. Sie haben das<br />

wissenschaftliche, abstrakte Denken noch einmal eine Stufe höher<br />

gehoben. Sie haben es in eine mathematische Form gegossen. Galilei<br />

sprach für ein ganzes wissenschaftliches Zeitalter, als er sagte, das Buch<br />

der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben.<br />

Mathematische Formeln und geometrische Formen, Naturgesetze, all das<br />

72


konnte niemand sehen. Mit dem Sehen konnte man nicht die Fallgesetze<br />

bestätigen oder widerlegen. Mit den Augen konnte man nur die Sonne<br />

täglich aufgehen sehen. Man konnte nicht sehen, dass sich die Erde um<br />

ihre eigene Achse dreht. Aber man konnte so etwas denken und<br />

mathematisch berechnen. Dementsprechend ist der Satz von René<br />

Descartes wahrscheinlich der bekannteste Satz der Philosophie und<br />

Wissenschaft der modernen Welt: Ich denke, darum bin ich. Denken ist<br />

wichtig, meinte René Descartes, das Sehen und die anderen Formen der<br />

Wahrnehmung spielen beim Verstehen der Welt keine Rolle.<br />

2. Und eine zweite Selbstverständlichkeit wurde von nun an behauptet:<br />

Denken und Sehen sind zwei getrennte Dinge, sie haben nichts mit<br />

einander zu tun. Die Wahrnehmung und die wahrgenommen Dinge wurden<br />

seit dem 16. Jahrhundert abgewertet. Das Sehen und die gesehenen<br />

Natur, farbige Vögel und bunte Landschaften, sich immer wieder neu<br />

bildende Wasserwellen, helle und dunkle Gegenstände im Licht, diese<br />

unendliche Vielfalt der konkreten Bilder, die wir mit unseren Augen<br />

sehen, sie wurden abgewertet. Sie sollten eine geringere Bedeutung und<br />

Wirklichkeit haben, die mehr den Bereichen der Träume, Visionen,<br />

Fiktionen, Illusionen und Phantasien, zugeordnet wurden. Bis heute<br />

nennen wir solche inneren Dinge Phänomene. Das war nur ein anderes<br />

Wort für Erscheinungen. Ganze Philosophien und Wissenschaften wurden<br />

nach diesem schillernden Begriff genannt: Phänomenologie. Von nun an<br />

wurden die Menschen in eine Welt der Erscheinungen versetzt. Die<br />

73


konkrete Welt, in der wir leben, hieß nun Erscheinung und die konkreten<br />

Dinge dieser Welt wurden nur noch als subjektive, abstrakte Phänomene<br />

zur Kenntnis genommen. Es war keine Welt für Menschen, die sich auf<br />

das Sehen verlassen hatten. Viele wissenschaftliche Denkweisen<br />

versuchten uns nun eines Besseren zu belehren. Man braucht nur ein<br />

beliebiges Physikbuch über Farben aufzuschlagen, um zu erfahren, dass<br />

die Welt farblos sein soll. Farben, so behauptete schon Isaac Newton,<br />

gibt es nicht in dieser Welt. Farben gibt es nur in unserem Bewusstsein<br />

(‚in our minds’, wie Newton es formulierte). Farben, so belehrte uns Isaac<br />

Newton, sind nur die Dispositionen von Dingen, bestimmte Lichtstrahlen<br />

zu reflektieren [3]. Farben, so belehrte uns Newton, gibt es nur im<br />

menschlichen Wahrnehmungsapparat, im Bewusstsein. Wo dieser Ort<br />

genau liegen soll ist keine ausgemachte Sache, jedenfalls nicht da<br />

draußen, in der Natur. Das Sehen spielt keine Rolle mehr beim<br />

philosophischen oder wissenschaftlichen Erkennen der Welt. Es war<br />

vollkommen getrennt vom begrifflichen Denken. Es konnte dem Denken<br />

nicht mehr in die Quere kommen, wenn es darum ging, die Welt zu<br />

erkennen und zu verstehen. Das Sehen hatte in den physikalischen<br />

Wissenschaften und in den verschiedensten Spielarten der<br />

Phänomenologie abgewirtschaftet.<br />

3. Allerdings wagten in Europa einige Seher und Querdenker zu<br />

widersprechen. Sie widersprachen beiden grundlegenden Annahmen<br />

europäischer Philosophien und Wissenschaften, die das Denken und die<br />

74


die dualistische Trennung von Sehen und Denken betrafen. Ohne<br />

Vollständigkeitsanspruch möchte ich einige Hinweise auf solche<br />

Querdenker geben. Der erste europäische Physiker, der das Sehen<br />

wieder aufwertete, war meines Erachten der Physiker Michael Faraday.<br />

Sein Kollege, der berühmte mathematische Physiker James Clerk Maxwell<br />

schreibt über Faraday in der Einleitung seines Werkes 'Treatise on<br />

Electricity and Magnetism' im Jahre 1873: « Faraday sah beispielsweise<br />

vor seinem geistigen Auge Kraftlinien, die den gesamten Raum<br />

durchdringen, wo Mathematiker Kraftzentren sahen, die sich über eine<br />

Entfernung hinweg anziehen; er gewahrte ein Medium, wo jene nichts<br />

anderes als Distanz sahen « [4].<br />

4. Auch über den Philosophen Ludwig Wittgenstein haben wir Hinweise,<br />

die von dem Philosophen Ray Monk im Sommer 2012 stammen, nach denen<br />

es Ludwig Wittgenstein mehr um das Sehen, als um das Denken ging. Er<br />

dachte offenbar in Bildern [5].<br />

5. Der Philosoph Hans Blumenberg hat sein Leben einem Gebiet gewidmet,<br />

das man vielleicht einen Zwischenbereich zwischen dem Sehen und dem<br />

philosophischen Denken in abstrakten Begriffen nennen könnte : Es ist<br />

das Denken in Metaphern oder sollten wir sagen, das Sehen von Metaphern<br />

? [6]<br />

6. Der Gehirnforscher und Neurobiologe Semir M. Zeki ist nach intensiven<br />

Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass Sehen sich nicht<br />

vom Verstehen trennen lässt. Er widerspricht nachdrücklich der dualisti-<br />

75


schen Konzeption Immanuel Kants, nach der Wahrnehmen und Verstehen<br />

zwei grundverschiedene Fähigkeiten seien [7].<br />

7. Mit anderen Methoden als mit den Methoden der Neurobiologie ist Irvin<br />

Rock in seinen psychologischen Studien über die Wahrnehmung zu<br />

ganz ähnlichen Ergebnissen gekommen, wenn er am Ende seiner vielfältigen<br />

Untersuchungen schreibt : « Trotz der Autonomie der Wahrnehmung<br />

gegenüber dem Bewußtsein würde ich sie als intelligent betrachten : Intelligent<br />

drückt dabei Fähigkeiten aus, wie sie in ähnlicher Form für<br />

Denkprozesse typisch sind : Beschreibung, Schluss und Problemlösung »<br />

[8].<br />

8. Als ein letztes Beispiel für die Aufwertung des Sehens möchte ich einen<br />

bedeutenden Maler zu Wort kommen lassen : Cy Twombly (1928-<br />

2011) : ‘The image cannot be dispossessed of a primordial freshness<br />

which ideas can never claim’. ‚Dem Bild kann eine ursprüngliche Frische<br />

nicht genommen werden, die Ideen niemals für sich beanspruchen können’.<br />

[9]<br />

Anmerkungen zum Anhang II<br />

[1] Vgl. Max Planck. Sinn und Grenzen der exakten Wissenschaft.<br />

München 1971, S.22<br />

[2]. Ingemar Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966, S. 220.<br />

[3]. Isaac Newton, Optics., zitiert in: Edwin Arthur Burtt, The Metaphysical<br />

Foundations of Modern Physical Science, Kegan Paul, London<br />

1925, p. 233. Newton schreibt: “so colours in the object are nothing but a<br />

76


disposition to reflect this or that sort of rays more copiously than the<br />

rest“.<br />

[4] James Clerk Maxwell, Treatise on Electricity and Magnetism zitiert<br />

in: Giulio Pruzzi: Maxwell: Der Begründer der Elektrodynamik, Spektrum<br />

der Wissenschaft, 2/2000, Heidelberg 2000, Seite 48<br />

[5] Vgl.Ray Monk : http://www.newstatesman.com/culture/art-and-design/2012/08/ludwig-wittgenstein’s-passionlooking-not-thinking<br />

[6] Vgl. Hans Blumenberg, Quellen, Ströme, Eisberge, Herausgegeben von<br />

Ulrich von Bülow und Doris Krusche, Suhrkamp Verlag Berlin 2012. Blumenberg<br />

schreibt in seinem Nachlass, Seite 258 :« Die Metapher erfrischt<br />

den Verstand ; aber sie bedarf auch der Auffrischung durch den<br />

Verstand ».<br />

[7] Semir M. Zeki. Das geistige Abbild der Welt. In : Gehirn und Bewußtsein.<br />

Mit einer Einführung von Wolf Singer. Spektrum. Akademischer<br />

Verlag. Heidelberg 1994, S. 332<br />

[8] Irvin Rock. Wahrnehmung. Vom visuellen Reiz zum Sehen und Erkennen.<br />

Spektrum. Akademischer Verlag. Heidelberg 1998, S. 198<br />

[9] Hier die ursprüngliche Formulierung des Satzes von Cy Twombly, er<br />

ist von John Crowe Ransom (1888-1974) http://quotes.dictionary.com/the_image_cannot_be_dispossessed_of_a_primordialhttp://www.full-stop.net/wp-content/uploads/2011/07/twombly6.jpg<br />

77


Cy Twombly.<br />

Foto:By museum in progress, Cy Twombly, CC BY-SA 3.0 de,<br />

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=15817660<br />

78


7. Anmerkungen<br />

(1) Elmar Holenstein, Philosophie-Atlas: Orte und Wege des Denkens.<br />

Amman Verlag, Zürich 2004, S. 19<br />

(2) Vgl. Paolo Zellini, Eine kurze Geschichte der Unendlichkeit. Verlag<br />

C.H. Beck. München 2010, S. 71<br />

(3) Nagarjuna: Die Philosophie der Leere: Nagarjunas Mulamadhyamakakarikas.<br />

Übersetzung des buddhistischen Basistextes mit<br />

kommentierenden Einführungen / Bernhard Weber-Brosamer, Dieter M.<br />

Back. Wiesbaden Harrassowitz 1997 [ MMK ]<br />

(4) A.N. Whitehead, Abenteuer der Ideen. Suhrkamp Verlag AG, 2000<br />

79


8. Literaturauswahl<br />

a) Vorsokratiker<br />

Geoffrey S. Kirk, Die vorsokratischen Philosophen: Einführung, Texte und<br />

Kommentare von Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malkom Schonfield,<br />

Stuttgart 1994<br />

Hans-Georg Gadamer, Der Anfang der Philosophie, Stuttgart 1996<br />

Hans-Georg Gadamer, Der Anfang des Wissens, Stuttgart 1999<br />

b) Platon<br />

Hans-Georg Gadamer, Wege zu Plato, Stuttgart 2001<br />

Carl Friedrich von Weizsäcker, Ein Blick auf Platon, Stuttgart 1988<br />

c) Aristoteles<br />

Ingemar Düring, Aristoteles, Heidelberg 1966<br />

d) Geschichte der Metaphysik<br />

Heinrich Schmidinger, Metaphysik. Ein Grundkurs, Stuttgart, Berlin Köln<br />

2000<br />

e) Klassische Mechanik<br />

Edwin Arthur Burtt, The Metaphysical Foundations of Modern physical<br />

Science, London 1925<br />

Stephen Shapin, Die wissenschaftliche Revolution, Frankfurt am Main<br />

1998<br />

K. Simonyi, Kulturgeschichte der Physik, Leipzig/Jena/Berlin 1980<br />

Alexandre Koyré, Galilei, Berlin 1988<br />

f) Philosophie<br />

80


Clément Rosset, Le réel et son double. Essai sur l'illusion, Gallimard 1984<br />

A.N. Whitehead. Wissenschaft und moderne Welt. Suhrkamp Frankfurt<br />

1988<br />

A.N. Whitehead, Abenteuer der Ideen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am<br />

Main 1971<br />

A. N. Whitehead, Denkweisen, Suhrkampverlag, Frankfurt 2001<br />

Christoph Kann, Fußnoten zu Platon, Philosophiegeschichte bei A.N.<br />

Whitehead, Hamburg 2001<br />

g) Nagarjuna<br />

Nagarjuna, Die Philosophie der Leere, Nagarjunas Mulamadhyamaka-Karikas,<br />

Bernhard Weber-Brosamer/Dieter M. Back [Hg.], Wiesbaden 1997<br />

Etienne Lamotte, Traité de la Grande Vertue de Sagesse de Nagarjuna,<br />

Mahaprajnaparamita-sastra, Tome I-V, Louvain 1944 ff.<br />

h) Etwas ausführlichere Literaturangaben in:<br />

<strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong>, Buddhismus und Quantenphysik: Schlussfolgerungen<br />

über die Wirklichkeit, Windpferdverlag, Oberstdorf 2013<br />

<strong>Christian</strong> <strong>Thomas</strong> <strong>Kohl</strong><br />

Email: kohl12345@gmail.com<br />

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