04.06.2016 Aufrufe

Knox und Marston - 2008 - Humangeographie

Knox und Marston - 2008 - Humangeographie

Knox und Marston - 2008 - Humangeographie

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Paul L. <strong>Knox</strong>, Saille A. <strong>Marston</strong><br />

<strong>Humangeographie</strong><br />

Herausgegeben von'^<br />

Hans Gebhardt, Peter Meusburger, Doris Wastl-Walter<br />

Aus dem Englischen übersetzt von<br />

Henriette Joseph <strong>und</strong> Peter Wittmann<br />

4. Auflage<br />

S lp d c t r u m<br />

AKADEMISCHER VERLAG


Titel der Originalausgabe: Places and Regions in Global Context - Human Geography, 4th Edition by <strong>Knox</strong>,<br />

Paul L.; <strong>Marston</strong>, Sallie A.<br />

Aus dem Englischen übersetzt von Henriette Joseph <strong>und</strong> Peter Wittmann<br />

(An der Übersetzung der vorherigen Auflage waren außerdem beteiligt: Bettina Metz, Dietlinde Mühlgassner<br />

<strong>und</strong> Joachim Schüring)<br />

Deutsche Übersetzung herausgegeben von Hans Gebhardt, Peter Meusburger <strong>und</strong> Doris Wastl-Walter<br />

Amerikanische Originalausgabe erschienen bei Pearson Education, Inc. publishing as Prentice Hall<br />

© 2007<br />

Wichtiger Hinweis für den Benutzer<br />

Der Verlag, der Herausgeber <strong>und</strong> die Autoren haben alle Sorgfalt walten lassen, um vollständige <strong>und</strong> akkurate<br />

Informationen in diesem Buch zu publizieren. Der Verlag übernimmt weder Garantie noch die juristische Verantwortung<br />

oder irgendeine Haftung für die Nutzung dieser Informationen, für deren Wirtschaftlichkeit oder fehlerfreie<br />

Funktion für einen bestimmten Zweck. Der Verlag übernimmt keine Gewähr dafür, dass die beschriebenen<br />

Verfahren, Programme usw. frei von Schutzrechten Dritter sind. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen,<br />

Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der<br />

Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- <strong>und</strong> Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten<br />

wären <strong>und</strong> daher von jedermann benutzt werden dürften. Der Verlag hat sich bemüht, sämtliche Rechteinhaber<br />

von Abbildungen zu ermitteln. Sollte dem Verlag gegenüber dennoch der Nachweis der Rechtsinhaberschaft<br />

geführt werden, wird das branchenübliche Honorar gezahlt.<br />

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;<br />

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />

Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media<br />

springende<br />

4. Auflage <strong>2008</strong><br />

. cjWät'<br />

© Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg <strong>2008</strong><br />

Spektrum Akademischer Verlag ist ein Imprint von Springer / c ' v \ i<br />

08 09 10 11 12 5 4 3 2 1<br />

- — 5 . h A<br />

5 5<br />

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jedeverwertung außerhalb der engen<br />

Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig <strong>und</strong> strafbar. Das gilt insbesondere<br />

für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen <strong>und</strong> die Einspeicherung <strong>und</strong> Verarbeitung<br />

in elektronischen Systemen.<br />

Zuschriften <strong>und</strong> Kritik an: Merlet Behncke-Braunbeck, merlet.braunbeck@springer.com<br />

Planung <strong>und</strong> Lektorat: Merlet Behncke-Braunbeck, Martina Mechler<br />

Index: André Walter<br />

Redaktion: Christiane Martin<br />

Herstellung: Katrin Frohberg<br />

Umschlaggestaltung: SpieszDesign, Neu-Ulm<br />

Titelbild: Das Titelbild veranschaulicht die künstliche Helligkeit des Nachthimmels über Europa.<br />

© P. Cinzano, Thiene, Italien<br />

Satz: Mitterweger & Partner, Plankstadt<br />

Druck <strong>und</strong> Bindung: Grafos S.A., Barcelona<br />

Printed in Spain<br />

ISBN 978-3-8274-1815-9<br />

^


Vorwort zur<br />

, deutschen Ausgabe<br />

Das Lehrbuch Human Geography von Paul <strong>Knox</strong> <strong>und</strong><br />

Sallie <strong>Marston</strong> hatten wir vor einigen Jahren Spektrum<br />

Akademischer Verlag für eine Übersetzung<br />

ins Deutsche empfohlen <strong>und</strong> überarbeitet, weil es<br />

ein inhaltliches Konzept verfolgt, das in dieser<br />

Form bisher (noch) in keinem deutschsprachigen<br />

Einführungslehrbuch verwirklicht wurde; eine Ordnung<br />

des Stoffes der allgemeinen <strong>Humangeographie</strong><br />

im Spannungsfeld von weltweiter Globalisierung<br />

einerseits <strong>und</strong> Regionalisierung/Fragmentierung andererseits.<br />

In Konzeption <strong>und</strong> Aufbau ergänzte es<br />

die erhältlichen einführenden Werke, die überwiegend<br />

in der Tradition deutschsprachiger Lehrbücher<br />

stehen. In diesem neuen Buch sollten die Studierenden<br />

im Stil amerikanischer Einführungen für das<br />

Fach Geographie begeistert werden, die Inhalte bauen<br />

weitgehend auf Alltagserfahrungen auf, <strong>und</strong> theoretische<br />

Konzepte werden so eingebracht, dass sie leicht<br />

verständlich rezipiert werden können.<br />

Im Kontext der Globalisierungsdebatte <strong>und</strong> der<br />

Umweltproblematik steigt das Interesse an Geographie<br />

im deutschen Sprachraum seit einigen Jahren<br />

auch bei einem größeren Publikum. Hier konnte<br />

das Buch eine Lücke schließen, da es explizit von<br />

den globalen Zusammenhängen ausgeht <strong>und</strong> auch<br />

die Beispiele weltweit gewählt sind. Das Buch ermöglichte<br />

so auch Nichtgeographinnen, sich mit den aktuellen<br />

Inhalten des Faches Geographie vertraut zu<br />

machen.<br />

Mittlerweile ist die 1. Auflage der <strong>Humangeographie</strong><br />

vergriffen; die Neubearbeitung baut auf der inzwischen<br />

vorliegenden 4. Auflage von Human Geography<br />

auf, ergänzt diese aber wiederum durch zahlreiche<br />

europäische Beispiele, neuere Statistiken <strong>und</strong><br />

entsprechendes Kartenmaterial, neue Exkurse sowie<br />

ein völlig neu eingefügtes Kapitel zur Sozialgeographie<br />

(Kapitel 5). Neben aktuellen theoretischen<br />

<strong>und</strong> methodischen Ansätzen sind inhaltliche Neuorientierungen<br />

der <strong>Humangeographie</strong> ergänzt. Generell<br />

dominiert im Buch die anschauliche Beschreibung<br />

von Phänomenen <strong>und</strong> deren Illustration mit<br />

Beispielen gegenüber theoretischen Konzepten <strong>und</strong><br />

methodologisch-wissenschaftstheoretischer Reflexion.<br />

In <strong>Humangeographie</strong> ist die gr<strong>und</strong>legende <strong>und</strong><br />

weiterführende deutschsprachige Literatur aufgenommen<br />

<strong>und</strong> die englischsprachige ergänzt. Damit<br />

soll eine weiterführende Vertiefung der einzelnen<br />

Themenbereiche erleichtert werden.<br />

Wir sind der Meinung, dass mit der Neuauflage<br />

wiederum gerade für Studierende der Geographie<br />

ein packender Lesestoff als Einführung in das faszinierende<br />

Wissenschaftsgebiet der Geographie bereitsteht.<br />

Danksagung<br />

Spektrum Akademischer Verlag, insbesondere Frau<br />

Merlet Behncke-Braunbeck <strong>und</strong> Frau Martina Mech-<br />

1er, danken wir für die gute Zusammenarbeit. Den<br />

Übersetzern <strong>und</strong> der Außenlektorin, insbesondere<br />

Herrn Peter Wittmann, Frau Henriette Joseph sowie<br />

Frau Christiane Martin, sei gedankt, deren ausgezeichnetes<br />

journalistisches Gespür sich in diesem<br />

Buch niederschlägt.<br />

Für die deutsche Bearbeitung haben die nachfolgenden<br />

Kolleginnen <strong>und</strong> wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen<br />

wertvolle inhaltliche Unterstützung geleistet:<br />

Elisabeth Bäschlin (Universität Bern)<br />

Nicolai Freiwald (Universität Heidelberg)<br />

Tim Freytag (Universität Heidelberg)<br />

Rüdiger Göbel (Universität Heidelberg)<br />

Caroline Kramer (Universität Heidelberg)<br />

Andrea Ch. Kofler (Universität Bern)<br />

Christoph Mager (Universität Heidelberg)<br />

Claudia Michel (Universität Bern)<br />

Olivier Rosenfeld (Universität Bern)<br />

Thomas Schwan (Universität Heidelberg)<br />

Jeannine Wintzer (Universität Bern)<br />

Edgar W<strong>und</strong>er (Universität Heidelberg)<br />

Günter Wolkersdorfer (Universität Münster)<br />

Alexander Zipf (Universität Bonn)<br />

Ein Lehrbuch gibt in einzelnen Punkten sicherlich<br />

Anlass zu Kritik. Bitte machen Sie uns auf Fehler<br />

<strong>und</strong> Ungenauigkeiten, Fehlendes <strong>und</strong> Überflüssiges<br />

aufmerksam. Wir sind auf Ihre Mithilfe angewiesen,<br />

um <strong>Humangeographie</strong> zu optimieren. Schreiben Sie<br />

uns bitte auch, wenn Ihnen dieses Lehrbuch gefällt<br />

<strong>und</strong> Ihnen bei Lehrveranstaltungen oder der Prüfungsvorbereitung<br />

nützlich ist. Vielen Dank!<br />

Neuere Informationen zu diesem Buch werden wir<br />

Ihnen auf der Spektrum-Homepage unter www.spektrum-verlag.de<br />

(unter „<strong>Humangeographie</strong>“) zur Verfügung<br />

stellen. ><br />

Heidelberg, Dezember 2007<br />

Hans Gebhardt<br />

Peter Meusburger<br />

Doris Wastl-Walter


L<br />

Vorwort zur<br />

4. amerikanischen Auflage<br />

„Bildung dient entweder als Instrument, um der jüngeren<br />

Generation die Integration in das gegenwärtige<br />

Gesellschaftssystems zu erleichtern <strong>und</strong> damit zu<br />

Konformität zu führen, oder sie wird zur Praxis<br />

der Freiheit, zu den Mitteln, mit denen Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen kritisch <strong>und</strong> kreativ mit der Realität umgehen<br />

<strong>und</strong> erkennen, wie sie sich an der Veränderung<br />

ihrer Welt beteiligen können.“<br />

Paulo Freire<br />

Die meisten Menschen wissen genau über ihre eigenen<br />

Lebensverhältnisse Bescheid <strong>und</strong> haben eine gute<br />

Vorstellung davon, wie es in ihrer näheren Umgebung<br />

aussieht, <strong>und</strong> vielleicht kennen sie sogar die<br />

größere Stadt <strong>und</strong> den Staat, in dem sie leben, recht<br />

genau. Obwohl die Verflechtungen zwischen den<br />

Ländern <strong>und</strong> Regionen der Erde immer enger <strong>und</strong><br />

vielfältiger werden, weiß die Mehrzahl von uns letztlich<br />

außerordentlich wenig über das Leben anderer<br />

Menschen im eigenen Land oder in anderen Gesellschaften<br />

oder auch darüber, wie deren Leben mit dem<br />

unsrigen zusammenhängt. Wenn wir nun versuchen,<br />

unser Verständnis von der Welt zu erweitern <strong>und</strong> sie<br />

zu einem lebenswerteren Platz für alle Menschen<br />

zu gestalten, müssen wir mehr als unsere eigene kleine<br />

Welt kennen lernen <strong>und</strong> verstehen. Wir müssen das<br />

Ganze in den Blick nehmen. Dazu hilft uns die <strong>Humangeographie</strong><br />

mit ihren weit gefächerten Unterdisziplinen.<br />

Sie erschließen die gesamte Welt, in<br />

der unsere eigenen Welten nur kleine Puzzelstücke<br />

sind.<br />

Dieses Buch ist eine Einführung in die <strong>Humangeographie</strong>,<br />

die Möglichkeiten aufzeigen möchte,<br />

mit denen junge Menschen ein kritisches Verständnis<br />

für die Welt entwickeln können, in der sie leben.<br />

<strong>Humangeographie</strong> zu studieren bedeutet, vereinfacht<br />

gesprochen, sich mit den dynamischen <strong>und</strong> komplexen<br />

Beziehungen zwischen Menschen <strong>und</strong> Lebensräumen<br />

zu beschäftigen. Das vorliegende Buch hat<br />

das Ziel, Studierenden die gr<strong>und</strong>legenden geographischen<br />

Techniken <strong>und</strong> Konzepte zu vermitteln, die sie<br />

benötigen, um die Komplexität von Orten <strong>und</strong> Regionen<br />

zu erfassen, die Wechselbeziehungen zwischen<br />

ihrem eigenen Leben <strong>und</strong> dem Leben von Menschen<br />

in anderen Teilen der Erde richtig einschätzen zu<br />

können <strong>und</strong> die Erde zu einem lebenswerten Ort<br />

zu machen.<br />

, Ziele <strong>und</strong> Vorgehensweise<br />

Das Buch soll in das Studium der <strong>Humangeographie</strong><br />

einführen, indem nicht nur Wissen vermittelt wird,<br />

sondern auch ein Verständnis geschaffen werden<br />

soll für die Wechselwirkungen zwischen Orten <strong>und</strong><br />

Regionen in einer von Globalisierung geprägten<br />

Welt. Die Herangehensweise ist darauf ausgerichtet,<br />

die geistigen Gr<strong>und</strong>lagen für ein geographisches Vorstellungsvermögen<br />

zu schaffen, das uns ein Leben<br />

lang begleitet <strong>und</strong> das ein essentielles Hilfsmittel<br />

für die Studenten von heute ist, die mit den globalen,<br />

nationalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen Herausforderungen<br />

von morgen konfrontiert werden<br />

Das Buch verwendet einen humangeographischen<br />

Ansatz, der den bedeutenden Veränderungen der<br />

letzten Jahrzehnte Rechnung trägt. Diese Veränderungen<br />

umfassen eine Vielzahl von Prozessen <strong>und</strong><br />

Phänomenen, zum Beispiel die Globalisierung der Industrie,<br />

den damit zusammenhängenden schnellen<br />

Aufstieg Chinas <strong>und</strong> Indiens zu wirtschaftlichen<br />

Machtzentren, die Zunahme ethnischer Regionalismen<br />

im Gefolge von Dekolonisation <strong>und</strong> der Entstehung<br />

neuer Staaten, die weltweiten Wanderungen<br />

von Menschen auf der Suche nach einem besseren<br />

Platz zum Leben, die physische Umstrukturierung<br />

von Städten, die Transformation traditioneller Agrartechniken<br />

in großen Teilen der Welt, die globalen<br />

Umweltveränderungen <strong>und</strong> die Nachhaltigkeitsbewegung,<br />

den Ausbruch von Kriegen <strong>und</strong> das Ringen um<br />

Frieden sowie die Bedeutungszunahme länderübergreifender<br />

politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher Organisationen.<br />

Der hier verfolgte Ansatz führt nicht nur zu<br />

einem Verständnis neuer Vorstellungen, Konzepte<br />

<strong>und</strong> Theorien hinsichtlich der genannten Veränderungen,<br />

sondern erschließt darüber hinaus die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der <strong>Humangeographie</strong>: die Prinzipien,<br />

Konzepte, das theoretische Gerüst <strong>und</strong> das Basiswissen,<br />

die für weiterführende, speziellere Studien benötigt<br />

werden.<br />

Der gewählte Ansatz zeichnet sich insbesondere<br />

dadurch aus, dass er dem Konzept des geographischen<br />

Maßstabs folgt <strong>und</strong> die Interdependenz sowohl<br />

von Orten als auch von Prozessen in verschiedenen<br />

Teilen der Welt auf unterschiedlichen räumlichen<br />

Maßstabsebenen in den Mittelpunkt rückt. Allgemein<br />

gesprochen ist die methodische Vorgehensweise darauf<br />

ausgerichtet, Beziehungen zwischen dem Globalen<br />

<strong>und</strong> dem Lokalen sowie die Auswirkungen dieser<br />

Beziehungen sichtbar zu machen. Hinsichtlich des<br />

systematischen Aufbaus dieses Buches folgt daraus,<br />

dass der Frage nach dem Einfluss der Globalisierung<br />

auf die sozialen <strong>und</strong> kulturellen Strukturen bestimm-


VIII<br />

Vorwort zur 4. amerikanischen Auflage<br />

W -■<br />

i<br />

ter Orte <strong>und</strong> Regionen auf verschiedenen räumlichen<br />

Maßstabsebenen größte Bedeutung beigemessen<br />

wird.<br />

Dieser Ansatz bietet eine Reihe von Vorteilen.<br />

• Er erfasst Aspekte der <strong>Humangeographie</strong>, die in<br />

der heutigen Zeit zu den vordringlichsten zählen<br />

- zum Beispiel die geographischen Gr<strong>und</strong>lagen<br />

kultureller Vielfalt <strong>und</strong> deren Auswirkungen auf<br />

das alltägliche Leben.<br />

• Er schließt die wesentlichen Aspekte neuer humangeographischer<br />

Forschungsrichtungen ein -<br />

zum Beispiel die neue Betonung von Nachhaltigkeit<br />

<strong>und</strong> deren Einfluss auf die soziale Konstruktion<br />

von Räumen <strong>und</strong> Orten.<br />

• Er ermöglicht ein leichteres Erkennen der engen<br />

Verknüpfungen zwischen lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Phänomenen, indem Prozesse, die diesen Verbindungen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen, in den Mittelpunkt des<br />

Interesses gerückt werden - zum Beispiel technologische<br />

Innovation <strong>und</strong> die unterschiedliche Art<br />

<strong>und</strong> Weise, wie verschiedene Menschen an spezifischen<br />

Orten Technologie annehmen <strong>und</strong> modifizieren.<br />

• Er erleichtert Vergleiche zwischen verschiedenen<br />

Teilen der Welt - zum Beispiel, auf welche Weise<br />

die von den Kernregionen der Weltwirtschaft ausgehende<br />

Industrialisierung der Landwirtschaft die<br />

Geschlechterbeziehungen innerhalb von Familien<br />

sowohl in den Industriestaaten als auch in den Entwicklungsländern<br />

prägt.<br />

Das Lehrbuch legt den Schwerpunkt auf geographische<br />

Prozesse <strong>und</strong> ermöglicht dem Leser, räumliche<br />

Beziehungen zu verstehen, ohne die Einzigartigkeit<br />

<strong>und</strong> Unverwechselbarkeit von Orten <strong>und</strong> Regionen<br />

aus dem Auge zu verlieren.<br />

Verschiedene wichtige, in den allgemeinen methodischen<br />

Ansatz integrierte Themen sind in die einzelnen<br />

Kapitel eingeb<strong>und</strong>en;<br />

• die Beziehungen zwischen global wirksamen Prozessen<br />

<strong>und</strong> deren lokalen Erscheinungsformen;<br />

• die Interdependenz von Menschen <strong>und</strong> Orten, insbesondere<br />

die Wechselbeziehungen zwischen<br />

Kernregionen <strong>und</strong> peripheren Regionen;<br />

• der fortlaufende Wandel, dem sowohl die politische<br />

Ökonomie des Weltsystems als auch Nationen,<br />

Regionen, Städte <strong>und</strong> Lokalitäten unterliegen;<br />

• die sozialen <strong>und</strong> kulturellen LInterschiede, die Bestandteil<br />

humangeographischer Gegebenheiten<br />

sind (insbesondere Unterschiede bezüglich Rasse,<br />

ethnischer Zugehörigkeit, sozialem Geschlecht,<br />

Lebensalter <strong>und</strong> Gesellschaftsschicht).<br />

Inhaltliche Gliederung<br />

Der Inhalt des Buches ist so strukturiert, dass der<br />

theoretische Rahmen - die Frage nach der Bedeutung<br />

von Geographie in einer Welt der Globalisierung - in<br />

den Kapiteln 1 <strong>und</strong> 2 kurz dargelegt <strong>und</strong> in den darauf<br />

folgenden thematischen Kapiteln (3 bis 12) weiter<br />

vertieft wird. Kapitel 13 bietet eine Zusammenfassung<br />

der in den vorangegangenen Textteilen erläuterten<br />

Schlüsselsätze, indem ausgehend von den Kenntnissen<br />

derzeitiger geographischer Prozesse <strong>und</strong> Trends<br />

aufgezeigt wird, wie sich geographische Gegebenheiten<br />

zukünftig entwickeln könnten. Anders als sonst<br />

üblich hat dieses Buch nicht ein Einführungskapitel,<br />

sondern zwei. Das erste beschreibt die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

einer geographischen Perspektive gegenüber der<br />

Welt, im zweiten werden die Bedeutung <strong>und</strong> Vorteile<br />

des auf das Thema der Globalisierung ausgerichteten<br />

Ansatzes erläutert.<br />

Die Kapitelgliederung orientiert sich am Prinzip<br />

des Voranschreitens von einfacheren zu komplexeren<br />

sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Organisationsformen,<br />

wobei der Interaktion zwischen Menschen <strong>und</strong> der<br />

sie umgebenden Welt jeweils besondere Beachtung<br />

geschenkt wird. Das erste thematische Kapitel<br />

(Kapitel 3) widmet sich der Bevölkerungsgeographie.<br />

Die Behandlung dieses Themas im vordersten Teil<br />

des Lehrbuches spiegelt die zentrale Bedeutung wider,<br />

die dem Menschen beim Verständnis von Geographie<br />

zukommt. Kapitel 4 behandelt die Beziehungen zwischen<br />

Menschen <strong>und</strong> der durch Technologie vermittelten<br />

Umwelt. Das Kapitel berücksichtigt das<br />

wachsende Interesse an Umweltfragen <strong>und</strong> führt<br />

ein zentrales Thema ein: dass alle humangeographischen<br />

Fragen letztlich zu tun haben mit dem Umgang<br />

des Menschen mit seiner Umwelt, sei es der natürlichen<br />

oder der von ihm gestalteten.<br />

Auf die Ausführungen über Natur, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Technologie folgt in Kapitel 6 die Kulturgeographie.<br />

Das Kapitel wurde bewusst an dieser Stelle<br />

innerhalb der Gliederung aufgenommen, um der<br />

herausragenden Bedeutung von Kultur als Medium<br />

Ausdruck zu verleihen, durch welches Menschen<br />

ihre Stellung in der Welt definieren <strong>und</strong> begreifen.<br />

Kapitel 7 beschäftigt sich mit den Auswirkungen<br />

kultureller Prozesse auf Räume <strong>und</strong> Landschaften.<br />

Ferner geht es darin um das Wechselspiel zwischen<br />

kultureller Globalisierung <strong>und</strong> regionaler Identität.<br />

Kapitel 8 markiert mit der Erörterung ökonomischer<br />

Entwicklungsprozesse den Übergang zu komplexeren<br />

Konzepten <strong>und</strong> Systemen menschlicher Organisation.<br />

Kapitel 9 ist agrargeographischen Themen<br />

gewidmet, wobei wiederum Aspekte der Globalisie­


Vorwort zur 4. amerikanischen Auflage<br />

IX<br />

rung, die unter anderem zu einer Industrialisierung<br />

der Landwirtschaft bei gleichzeitiger Verdrängung<br />

traditioneller Agrarsysteme <strong>und</strong> -techniken geführt<br />

haben, eine besondere Beachtung finden. Die Platzierung<br />

dieses Kapitels nach den Ausführungen zur wirtschaftlichen<br />

Entwicklung reflektiert die in allen Bereichen<br />

ablaufenden Globalisierungsprozesse.<br />

Die drei letzten thematischen Kapitel beschäftigen<br />

sich mit Politischer Geographie (Kapitel 10), Verstädterung<br />

(Kapitel 11) <strong>und</strong> der inneren Struktur von<br />

Städten (Kapitel 12). Dass dem Thema der Stadtgeographie<br />

nicht, wie allgemein üblich, ein Kapitel, sondern<br />

gleich zwei gewidmet sind, trägt der wachsenden<br />

Bedeutung von Urbanisierung innerhalb einer globalisierten<br />

Welt Rechnung. Das Schlusskapitel über zukünftige<br />

Perspektiven der Geographie (Kapitel 13)<br />

soll eine Vorstellung vermitteln, inwiefern geographische<br />

Betrachtungsweisen praktische Bedeutung im<br />

Zusammenhang mit Chancen <strong>und</strong> Problemen des<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>erts erlangen können.<br />

Besondere Elemente des<br />

I Buches_______________<br />

Im Buch wird der Text durch weitere Elemente ergänzt.<br />

Hierzu gehört eine neuartige Gestaltung der<br />

thematischen Karten sowie die Einführung der gesonderten<br />

Rubriken „Geographie in Bildern“, „Geographie<br />

in Beispielen“ <strong>und</strong> „Fenster zur Welt“. Daneben<br />

enthält es auch die in didaktisch orientierten Lehrbüchern<br />

üblichen Bausteine wie kurze Zusammenfassungen<br />

<strong>und</strong> Definitionen von Begriffen.<br />

Geographie in Beispielen: Die in gesonderten<br />

Kästen stehenden Texte <strong>und</strong> Abbildungen erläutern<br />

an ausführlich vorgestellten Beispielen die Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Konsequenzen eines der innerhalb des jeweiligen<br />

Kapitels behandelten Schlüsselthemen. Dadurch soll<br />

Studierenden verdeutlicht werden, dass <strong>Humangeographie</strong><br />

eine Disziplin ist, die sich mit konkreten Problemen<br />

der realen Welt beschäftigt.<br />

Geographie in Bildern: Bei dieser Rubrik handelt<br />

es sich um Kästen, in denen Schlüsselthemen des jeweiligen<br />

Kapitels in Form von Fotoessays behandelt<br />

werden. Diese sollen Studierenden helfen, die reale<br />

Landschaft als etwas zu erkennen, das sichtbare Zeugnisse<br />

der Auswirkungen von Globalisierungsprozessen<br />

auf Menschen <strong>und</strong> Räume beinhaltet.<br />

Fenster zur Welt: Diese Kästen erläutern jeweils<br />

einen Schlüsselbegriff <strong>und</strong> zeigen seine Anwendung<br />

an einem ausgewählten Schauplatz. Diese Rubrik ermöglicht<br />

es den Studierenden, die Bedeutung geographischer<br />

Konzepte für das weltweite Geschehen zu erfassen<br />

<strong>und</strong> erleichtert ihnen die Vorstellung <strong>und</strong> das<br />

Verständnis für weit entfernte Orte.<br />

Didaktischer Aufbau der Kapitel: Jedes Kapitel<br />

beginnt mit einer kurzen Einführung über das Thema<br />

<strong>und</strong> veranschaulicht warum eine geographische Ansatz<br />

wichtig ist. Darauf folgt eine Aufzählung der jeweiligen<br />

Schlüsselsätze. Abbildungen mit umfangreichen<br />

Erläuterungen sorgen für die Einbindung der Illustrationen<br />

in den Text. Jedes Kapitel schließt mit<br />

einem Fazit ab, in dem die wesentlichen Themen<br />

<strong>und</strong> Begriffe zusammengefasst sind. Schließlich folgt<br />

eine Zusammenstellung weiterführender Literatur zu<br />

den Inhalten des Kapitels.<br />

, Neues in der vierten Auflage<br />

Die vierte Auflage von <strong>Humangeographie</strong> stellt eine<br />

gründliche Überarbeitung dar. Alle Teile des Buches<br />

wurden sorgfältig durchgesehen, Inhalte <strong>und</strong> Daten<br />

aktualisiert sowie die Lesbarkeit von Text <strong>und</strong> Grafiken<br />

verbessert.<br />

Bei der Bearbeitung der vierten Auflage war uns<br />

insbesondere daran gelegen, sämtliche Daten, Karten<br />

<strong>und</strong> Abbildungen des Buches auf den neuesten Stand<br />

zu bringen. Die Änderungen betreffen vor allem das<br />

kartographische Programm.<br />

Neben der Verbesserung der Darstellungen <strong>und</strong><br />

Karten wurde auch der Text an vielen Stellen ergänzt<br />

<strong>und</strong> neue Inhalte hinzugefügt. Insbesondere die Ausführungen<br />

zu den Themen geographische Visualisierung,<br />

GIS <strong>und</strong> GPS, Regionalforschung <strong>und</strong> Regionalisierung,<br />

Landschaft, Emotionale Ortsbezogenheit<br />

<strong>und</strong> soziale Konstruktion von Orten, Globalisierung<br />

<strong>und</strong> die Unterschiede zwischen Kernregionen <strong>und</strong><br />

peripheren Räumen, räumliche Verbreitung von<br />

HIV/AIDS, grenzüberschreitende Migranten <strong>und</strong><br />

Binnenflüchtlinge, das Altern der weltweiten Bevölkerung,<br />

Globalisierung der Umwelt <strong>und</strong> die anthropogenen<br />

Einflüsse auf den Klimawandel, Nachhaltigkeit,<br />

der Zusammenstoß von islamischer <strong>und</strong> westlicher<br />

Welt, internationaler Handel, internationale Hilfe<br />

<strong>und</strong> internationale Verschuldung, flexible Produktionssysteme,<br />

das weltweite Ernährungssystem, genetisch<br />

veränderte Agrarprodukte <strong>und</strong> Fragen von Nahrungsmittelknappheit<br />

<strong>und</strong> Unterernährung, städtische<br />

Landwirtschaft, neue Geographien von Krieg<br />

<strong>und</strong> Frieden, grenzüberschreitende Steuerung, Globalisierung<br />

<strong>und</strong> neue Formen <strong>und</strong> Anrechte der<br />

Staatsangehörigkeit, Technologie <strong>und</strong> ihre Auswirkungen<br />

auf die Kultur, globale Umweltpolitik, Globalisierung<br />

<strong>und</strong> ungleiche städtische Entwicklung, Terrorismus<br />

in Städten <strong>und</strong> Bioterrorismus, zersiedelte


Vorwort zur 4. amerikanischen Auflage<br />

r-..\ _<br />

'<br />

Landschaften <strong>und</strong> packaged landscapes in der polyzentrischen<br />

Siedlungsstruktur.<br />

Durch die Überarbeitung <strong>und</strong> Erweiterung der Kapitel<br />

soll sichergestellt werden, dass die Inhalte dem<br />

neuesten wissenschaftlichen Stand der <strong>Humangeographie</strong><br />

entsprechen.<br />

Der Aufbau (des Buches wurde seit der dritten<br />

Auflage in den Gr<strong>und</strong>zügen nicht wesentlich geändert)<br />

wurde aus didaktischen Erwägungen geändert,<br />

um eine noch bessere Übersichtlichkeit <strong>und</strong> Verständlichkeit<br />

für Studierende zu erzielen. Am Beginn<br />

jedes Kapitels findet sich weiterhin ein Abschnitt mit<br />

den Schlüsselsätzen der innerhalb des jeweiligen Kapitels<br />

behandelten Themen. Und schließlich enthält<br />

nun jedes Kapitel eine Liste empfohlener, weiterführender<br />

Literatur.<br />

Abschließende Bemerkungen<br />

Die Idee zu diesem Buch entstand aus Diskussionen<br />

der Autoren mit Kollegen über die Frage, wie <strong>Humangeographie</strong><br />

an Schulen <strong>und</strong> Universitäten unterrichtet<br />

werden sollte. Unser Anliegen war es, einen<br />

Weg zu finden, die dramatischen Veränderungen,<br />

die aus diesen resultierende Umgestaltung der Landschaften<br />

der Erde <strong>und</strong> die Neuordnung der räumlichen<br />

Beziehungen zwischen Menschen zu erfassen<br />

<strong>und</strong> darzustellen sowie gleichzeitig die Bedeutung<br />

des Studiums geographischer Inhalte überzeugend<br />

aufzuzeigen. Darüber hinaus war es unser Ziel zu vermitteln,<br />

weshalb geographisches Vorstellungsvermögen<br />

wichtig ist, wie dieses zu einem Verständnis der<br />

Welt <strong>und</strong> der die Welt ausmachenden Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

führen kann <strong>und</strong> welche praktische Bedeutung<br />

dieses Fähigkeit in vielen Lebensbereichen besitzt.<br />

Als die erste Auflage dieses Buchs entstand, befand<br />

sich eine wichtige Reformphase hinsichtlich geographischer<br />

Bildungsziele gerade auf ihrem Höhepunkt.<br />

Ein wesentliches Ergebnis dieser Reform in den USA<br />

war die Aufnahme des Faches Geographie als Kernthema<br />

in Goals 2000: Educate America Act (Public Law<br />

103-227), ein anderes die Veröffentlichung einer<br />

Reihe nationaler geographischer Standards für die<br />

K-12 education {Geography for Life, herausgegeben<br />

von National Geographie Research and Education<br />

for the American Geographical Society, Association<br />

of American Geographers, National Council for Geographie<br />

Education <strong>und</strong> National Geographie Society,<br />

1994). Die vorliegende vierte Auflage baut auf diesen<br />

Reformen auf <strong>und</strong> bietet einen neuen <strong>und</strong> fesselnden<br />

Zugang zur Hochschulgeographie.<br />

Danksagung<br />

Zahlreichen Personen, die uns während der Arbeit an<br />

diesem Buch unterstützt <strong>und</strong> mit Rat <strong>und</strong> konstruktiver<br />

Kritik geholfen haben, sind wir zu Dank verpflichtet.<br />

Unter denen, die verschiedene Entwürfe<br />

zur vierten Auflage dieses Buches kritisch kommentiert<br />

haben, sind die folgenden Professoren <strong>und</strong> Dozenten<br />

zu nennen:<br />

Christopher A. Airriess (Ball State University)<br />

Stuart Aitken (University of California, San Diego)<br />

Kevin Archer (University of South Florida)<br />

Brian L L. Berry (University of Texas, Dallas)<br />

Brian W. Blouet (College of William and Mary)<br />

George O. Brown (Boston College)<br />

Michael P. Brown (University of Washington)<br />

Henry W. Bullamore (Frostburg State University)<br />

Edm<strong>und</strong>s V. Bunske (University of Delaware)<br />

Craig Campbell (Youngstown State University)<br />

Dylan Clark (University of Colorado)<br />

David B. Cole (University of Northern Colorado)<br />

Jerry Crampton (George Mason University)<br />

Christine Dando (University of Nebraska, Omaha)<br />

Fiona M. Davidson (University of Arkansas)<br />

Vernon Domingo (Bridgewater State College)<br />

Patricia Ehrkamp (Miami University)<br />

Nancy Ettlinger (The Ohio State University)<br />

Paul B. Frederic (University of Maine)<br />

Kurtis G. Fuelhart (Shippensburg University)<br />

Gary Fuller (University of Hawaii, Manoa)<br />

Wilbert Gesler (University of North Carolina)<br />

Melissa Gilbert (Temple University)<br />

Jeffrey Allman Gritzner (University of Montana)<br />

Douglas Heffington (Middle Tennessee State University)<br />

Andrew Herod (University of Georgia)<br />

Peter Hugill (Texas A&M University)<br />

David Jcenogle (Auburn University)<br />

Mary Jacob (Mount Holyoke University)<br />

Douglas L. Johnson (Clark University)<br />

Colleen E. Keen (Minnesota State University)<br />

Paul Kelley (University of Nebraska-Lincoln)<br />

Thomas Klak (Miami University)<br />

James Kus (California State University, Fresno)<br />

David Lanegran (Macalester College)<br />

James Lindberg (University of Iowa)<br />

John C. Lowe (George Washington University)<br />

James McCarthy (Penn State University)<br />

Byron Miller (University of Cincinnati)<br />

Roger Miller (University of Minnesota)<br />

John Milbauer (Northeastern State University)<br />

Don Mitchell (Syracuse University)<br />

Woodrow W. Nichols, Jr. (North Carolina Central University)


Vorwort zur 4. amerikanischen Auflage<br />

XI<br />

Richard Pillsbury (Georgia State University)<br />

James Proctor (University of California, Santa Barbara)<br />

Mark Purcell (University of Washington)<br />

Jeffrey Richetto (University of Alabama)<br />

Andrew Schoolmaster (University of North Texas)<br />

David Schul (The Ohio State University-Marion)<br />

Alex Standish (Rutgers, University)<br />

Debra Straussfogel (University of New Hampshire)<br />

Johnathan Walker (James Madison University)<br />

Gerald R. Webster (University of Alabama)<br />

Joseph S. Wood (George Mason University)<br />

Wilbur Zelinsky (Penn State University)<br />

Des Weiteren danken wir Michael Wishart (World<br />

Bank Photo Library), Earthline Harried (Photography<br />

Division, U. S. Department of Agriculture),<br />

Teri Stratford für ihre fre<strong>und</strong>liche Unterstützung<br />

bei der Suche nach geeignetem Bildmaterial. Besonderer<br />

Dank gilt auch unserer Lektorin Ginger Birkeland,<br />

unserer Herstellerin Patty Young sowie Sara<br />

Smith (University of Arizona) <strong>und</strong> Jennifer Woodward<br />

(University of Kentucky) für ihre exzellente<br />

<strong>und</strong> anregende Hilfe bei der Recherche.<br />

Außerdem möchten wir unseren besonderen Dank<br />

dem Cheflektor Daniel Kaveney aussprechen. Es ist<br />

unmöglich, die richtigen Worte zu finden, um uns<br />

für die glückliche Zusammenarbeit mit Dan zu bedanken.<br />

Sein Respekt vor unseren Ideen <strong>und</strong> sein Einsatz<br />

für deren Umsetzung, sein geographisches Wissen<br />

<strong>und</strong> sein Interesse für die Disziplin, sein Augenmerk<br />

auf das Gesamt werk aber auch auf kleine Details<br />

<strong>und</strong> sein Sinn für Qualität haben die Arbeit an dieser<br />

<strong>und</strong> den vorangegangenen Ausgaben nicht nur möglich<br />

gemacht, sondern zu einem intellektuellen Genuss<br />

werden lassen.<br />

Schließlich haben sich viele Kollegen Zeit für uns<br />

genommen <strong>und</strong> uns mit Sachverstand, wertvollen<br />

Hinweisen <strong>und</strong> Materialien beim Ordnen unserer Gedanken<br />

geholfen: Alejandro A. Alonso (University of<br />

Southern California), Michael Bonine (University of<br />

Arizona), Michael Brown (University of Washington),<br />

Martin Cadwallader (University of Wisconsin),<br />

Judith Carney (University of California, Los Angeles),<br />

Sarah Elwood (University of Arizona), Kim Elmore<br />

(Centers of Disease Control), Efiong Etuk (Virginia<br />

Tech), Antonio Luna Garcia (Universitas de Pompen<br />

Fabra)^ Rudi Gandió (University of Arizona), George<br />

Henderson (University of Arizona), John Paul Jones<br />

III (University of Arizona), Miranda Joseph (University<br />

of Arizona), Cindi Katz (City University of New<br />

York), Diana Livermann (Oxford University), Elaine<br />

Mariolle (University of Arizona), Beth Mitchneck<br />

(University of Arizona), Natalie Oswin (University<br />

of British Colombia), Mark Nichter (University of<br />

Arizona), Mimi Nichter (University of Arizona),<br />

Asli Ceylan Oner (Virginia Tech), Gearóid O Tuathail<br />

(Virginia Tech), Mark Patterson (Kennesaw State<br />

University), Leland Pederson (University of Arizona),<br />

David Plane (University of Arizona), Paul Robbins<br />

(University of Arizona), Dereka Rushbrook (University<br />

of Arizona), Ralph Sa<strong>und</strong>ers (California State<br />

University at Dominguez Hills), Neil Smith (City<br />

University of New York), Matthew Sparke (University<br />

of Washington), Dick Walker (University of California,<br />

Berkeley), Marv Waterstone (University of<br />

Arizona), Michael Watts (University of California,<br />

Berkeley), Clyde Woods (University of Maryland),<br />

Keith Woodward (University of Arizona), Emily<br />

Young (San Diego Fo<strong>und</strong>ation), Chris Uejio (University<br />

of Arizona), and Hannes Gerhandt (University of<br />

Arizona).<br />

Paul L. <strong>Knox</strong><br />

Sallie A. <strong>Marston</strong>


über die Autoren<br />

Paul L <strong>Knox</strong><br />

Paul <strong>Knox</strong> promovierte<br />

an der<br />

University of Sheffield<br />

(England) im<br />

Fach Geographie.<br />

Nach mehrjähriger<br />

Lehrtätigkeit<br />

in Großbritannien<br />

übernahm er 1985<br />

eine Professur für<br />

Urban Affairs and<br />

Planning am Virginia<br />

Tech. Seine<br />

Schwerpunkte in<br />

der Lehre liegen<br />

auf dem Gebiet der Stadt- <strong>und</strong> Regionalentwicklung<br />

mit einem Fokus auf vergleichenden Studien. Im Jahre<br />

1989 erhielt er einen akademischen Preis für die<br />

herausragende Qualität seiner Lehre. Er ist Verfasser<br />

mehrerer Bücher, die sich mit wirtschafts- <strong>und</strong> sozialgeographischen<br />

Themen <strong>und</strong> Fragen der Urbanisierung<br />

befassen, sowie im Editorial Board verschiedener<br />

Fachzeitschriften <strong>und</strong> emer Buchreihe zum<br />

Thema Weltstädte. 1996 erhielt er den Ruf zum<br />

Distinguished Professor am Virginia Tech, war dort<br />

von 1997 bis 2006 Dekan <strong>und</strong> ist zurzeit als Professor<br />

am College of Architecture and Urban Studie stätig.<br />

Sally A. <strong>Marston</strong><br />

Sallie <strong>Marston</strong> promovierte<br />

an der<br />

University of Colorado,<br />

Boulder<br />

(USA) im Fach<br />

Geographie. Seit<br />

1986 ist sie Fakultätsmitglied<br />

der<br />

University of Arizona.<br />

Themengebiete<br />

ihrer Lehrtätigkeit<br />

sind historische,<br />

soziale<br />

<strong>und</strong> kulturelle Aspekte<br />

der Urbanisierung<br />

in den Vereinigten Staaten, insbesondere hinsichtlich<br />

Rassen, Gesellschaftsschichten, Geschlechterrollen<br />

<strong>und</strong> ethnischen Themen. 1989 erhielt sie<br />

den College of Social and Behavioral Sciences Outstanding<br />

Teaching Award. Sie ist Autorin zahlreicher<br />

Fachartikel <strong>und</strong> im Editorial Board verschiedener<br />

wissenschaftlicher Zeitschriften. In den Jahren<br />

1994/95 war sie Interimsdirektorin des Fachbereichs<br />

Women’s Studies <strong>und</strong> des Southwest Institute for Research<br />

on Women. Gegenwärtig leitet Sie als Professorin<br />

das Department of Geography and Regional<br />

Development.


über die Herausgeber<br />

L4<br />

m<br />

Kl<br />

Hans Gebhardt<br />

Hans Gebhardt hat<br />

an der Universität<br />

Tübingen studiert<br />

<strong>und</strong> promoviert,<br />

er arbeitete anschließend<br />

an<br />

ji' der Universität<br />

zu Köln als wissenschaftlicher<br />

Assistent <strong>und</strong> hat<br />

sich dort habilitiert.<br />

Im Jahre<br />

1990 wurde er<br />

auf eine Professur<br />

für Geographie in<br />

Tübingen berufen, 1996 auf den Lehrstuhl für Anthropogeographie<br />

an der Universität Heidelberg.<br />

Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Geographie<br />

der Verdichtungsräume <strong>und</strong> der Politischen<br />

Geographie, regional in Südostasien <strong>und</strong> im Vorderen<br />

Orient. Er ist Direktor des Geographischen Instituts<br />

der Universität Heidelberg <strong>und</strong> hat zahlreiche<br />

Funktionen in der akademischen Selbstverwaltung<br />

inne.<br />

Peter Meusburger<br />

Peter Meusburger<br />

wurde an der Universität<br />

Innsbruck<br />

promoviert, wo er<br />

sich auch habilitierte.<br />

Im Jahre<br />

1983 wurde er<br />

auf den Lehrstuhl<br />

für Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Sozialgeographie<br />

der Universität<br />

Heidelberg<br />

m.<br />

berufen. Innerhalb<br />

der Sozialgeographie<br />

liegen<br />

seine Forschungsschwerpunkte vor allem auf dem<br />

Gebiet der Geographie des Bildungs- <strong>und</strong> Qualifikationswesens,<br />

innerhalb der Wirtschaftsgeographie auf<br />

dem Gebiet der regionalen Arbeitsmarktforschung<br />

<strong>und</strong> der Transformationsforschung. Neben vielen anderen<br />

Funktionen in der akademischen Selbstverwaltung<br />

war er u. a. Präsident der Deutschen Gesellschaft<br />

für Geographie, sowie Dekan, Prorektor <strong>und</strong> Senatssprecher<br />

der Universität Heidelberg.<br />

I Doris Wastl-Walter<br />

Doris Wastl-Walter<br />

studierte an<br />

den Universitäten<br />

Wien, Grenoble<br />

<strong>und</strong> Klagenfurt,<br />

wo sie auch habilitierte,<br />

<strong>und</strong> ist<br />

seit 1997 Professorin<br />

für <strong>Humangeographie</strong><br />

an der<br />

Universität Bern.<br />

Sie hat an den<br />

Universitäten<br />

Klagenfurt, Trier,<br />

Bern, Lausanne<br />

<strong>und</strong> Chandigarh unterrichtet. Ihre Forschungsschwerpunkte<br />

liegen im Bereich Sozialgeographie,<br />

Politische Geographie <strong>und</strong> Gender Studies. Neben<br />

zahlreichen Funktionen in der Hochschulpolitik<br />

war sie Vizerektorin der Universität Klagenfurt.<br />

Seit 2000 ist sie Direktorin des Interdisziplinären<br />

Zentrums für Geschlechterforschung der Universität<br />

Bern <strong>und</strong> Chair der IGU Commission on Geography<br />

and Public Policy, seit 2006 auch Direktorin des Geographischen<br />

Institutes der Universität Bern.


Inhalt<br />

1 B e d e u tu n g u n d G e g e n s tä n d e d e r G e o g r a p h i e .................... i<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 2<br />

Der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von O rten.................................................... 2<br />

Wechselwirkungen zwischen Orten.............................................................. 7<br />

Wechselwirkungen zwischen räumlichen Maßstabsebenen...................... 7<br />

Interdependenz als rückgekoppelter Prozess............................................... 9<br />

Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung............................................. 11<br />

Sichtweisen von Globalisierung <strong>und</strong> Interdependenz..................................... 11<br />

Schlüsselfragen in einer globalisierten W e lt............................................... 15<br />

Geographie <strong>und</strong> Globalisierung................................................................... 21<br />

<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach................................................................... 21<br />

Gr<strong>und</strong>legende Arbeitstechniken <strong>und</strong> M ethoden........................................ 23<br />

Basiskonzepte der Raumanalyse................................................................... 23<br />

Regionalanalyse.............................................................................................. 34<br />

Entwicklung von geographischen Vorstellungen........................................ 40<br />

Differenzierung: die Stärke der Geographie.................................................... 43<br />

Die Bedeutung geographischer Bildung <strong>und</strong> Erziehung........................... 43<br />

Angewandte Geographie............................................................................... 43<br />

Fazit....................................................................................................................... 45<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 46<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 47<br />

Exkurs 1.1 Geographie in Beispielen - Them enorte..................................... 5<br />

Exkurs 1.2 Geographie in Beispielen -<br />

Der kontroverse Diskurs um die Globalisierung............................................. 12<br />

2 G lo b a le r W a n d e l .................................................................................... 49<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 49<br />

Auswirkungen der Telekommunikation............................................................ 50<br />

Die Welt der Vormoderne.................................................................................. 53<br />

Ursprungsgebiete der Ackerbaukultur......................................................... 53<br />

Der Aufstieg der frühen W eltreiche............................................................ 56<br />

Die Geographie der Welt in der V orm oderne.......................................... 61<br />

Entwurf einer neuen Geographie der W e lt.................................................... 64<br />

Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht.............................. 70<br />

Die Industrialisierung in den Kernregionen der W elt.............................. 71<br />

Die innere Entwicklung der Kernregionen.................................................. 84<br />

Die Organisation peripherer R egionen....................................................... 90<br />

Globalisierung heute............................................................................................ 99<br />

Ursachen <strong>und</strong> Folgen der Globalisierung.................................................... 101<br />

Globalisierung <strong>und</strong> Unterschiede zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie . . 109<br />

Fazit....................................................................................................................... 117<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführeiide Literatur.............................................................. 118<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 119<br />

Exkurs 2.1 Geographie in Bildern - Das Erbe des römischen Weltreiches 58<br />

Exkurs 2.2 Geographie in Beispielen -<br />

Die Entwicklung geographischen Denkens....................................................... 60


XVI<br />

Inhalt<br />

Exkurs 2.3 Geographie in Beispielen -<br />

Geographie im Zeitalter der Entdeckungsreisen............................................... 66<br />

Exkurs 2.4 Geographie in Beispielen -<br />

Die Anfänge der modernen Geographie............................................................ 72<br />

Exkurs 2.5 Geographie in Beispielen -<br />

Theoriediskussion über die Globalisierung......................................................... 74<br />

Exkurs 2.6 Geographie in Bildern -<br />

Eisenbahnen <strong>und</strong> geographischer Wandel in den Vereinigten Staaten. . . . 88<br />

Exkurs 2.7 Geographie in Beispielen -<br />

Globalisierung der Wissenschaften..................................................................... 96<br />

Exkurs 2.8 Geographie in Beispielen - Produktketten..................................... 102<br />

Exkurs 2.9 Geographie in Beispielen - Internationale Einanzzentren<br />

als dynamische Knotenpunkte der Weltwirtschaft............................................ 104<br />

3 B e v ö lk e r u n g s g e o g r a p h ie ..................................................................... 123<br />

Schlüsselsätze.......................................................................................................... 123<br />

Das methodische Instrumentarium der Bevölkerungswissenschaften.......... 124<br />

Volkszählungen <strong>und</strong> andere Quellen für Bevölkerungsdaten................... 124<br />

Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur......................................... 129<br />

Bevölkerungsverteilung................................................................................... 129<br />

Bevölkerungsdichte <strong>und</strong> Bevölkerungszusammensetzung........................... 131<br />

Alterspyramiden................................................................................................ 132<br />

Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse............................................ 138<br />

Geburtenraten beziehungsweise Fertilitätsraten............................................ 138<br />

Sterberaten beziehungsweise Mortalitätsraten.............................................. 145<br />

Die Theorie des demographischen Übergangs............................................ 148<br />

Bevölkerungsbewegungen................................................................................... 151<br />

Mobilität <strong>und</strong> M igration................................................................................. 152<br />

Freiwillige internationale M igration............................................................. 155<br />

Erzwungene internationale M igration........................................................... 158<br />

Freiwillige Binnenwanderung.......................................................................... 162<br />

Erzwungene Binnenwanderung....................................................................... 170<br />

Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik............................................... 171<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> Ressourcen.......................................................................... 171<br />

Bevölkerungspolitik <strong>und</strong> Bevölkerungsprogramme..................................... 173<br />

Nachhaltige Entwicklung, gender <strong>und</strong> Bevölkerungsfragen........................ 181<br />

F azit........................................................................................................................ 182<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur................................................................ 183<br />

Literatur zu den Exkursen.............................................................................. 183<br />

Exkurs 3.1 Geographie in Beispielen - Der Babyboom <strong>und</strong> die<br />

Überalterung der Gesellschaft in den USA........................................................ 134<br />

4 N a tu r - G e s e lls c h a ft - T e c h n o lo g ie ............................................ 185<br />

Schlüsselsätze.......................................................................................................... 188<br />

Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> N a tu r..................................... 188<br />

Natur als kulturelles Konzept........................................................................ 190<br />

Kulturökologie.................................................................................................. 192<br />

Religiöse Gr<strong>und</strong>haltungen gegenüber der N atur.......................................... 193<br />

Umweltphilosophien <strong>und</strong> N aturschutz....................................................... 196<br />

Technologisch-wissenschaftlicher Fortschritt <strong>und</strong> Wandel des<br />

Naturverständnisses........................................................................................... 202


Inhalt<br />

X V II<br />

Umweltveränderungen durch den frühen Menschen..................................... 202<br />

Umwelteinwirkungen des steinzeitlichen M enschen................................ 203<br />

Errungenschaften <strong>und</strong> Umwelteinflüsse des neolithischen Menschen . . 205<br />

Der Einfluss früher menschlicher Siedlungen auf die U m w elt............... 206<br />

Europäische Expansion....................................................................................... 208<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Entvölkerung in den spanischen Kolonien................. 208<br />

Der Austausch von Pflanzen<br />

<strong>und</strong> Tieren zwischen Europa <strong>und</strong> der Neuen W elt................................... 210<br />

Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Z e it................................ 213<br />

Die Auswirkungen des Energieverbrauchs auf die Umwelt...................... 215<br />

Alternative Lösungen: Wasserkraft, Sonnen- <strong>und</strong> Windenergie,<br />

Erdwärme <strong>und</strong> G ezeiten............................................................................... 223<br />

Die Auswirkung von Landnutzungsänderungen auf die Umwelt............ 226<br />

Das Klima wandelt sich.................................................................................. 231<br />

Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichtes zwischen Mensch<br />

<strong>und</strong> N atu r............................................................................................................. 233<br />

Globale Umweltpolitik.................................................................................... 233<br />

Umweltverträglichkeit.................................................................................... 236<br />

Fazit....................................................................................................................... 236<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 237<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 238<br />

Exkurs 4.1 Geographie in Beispielen -<br />

Kulturökologie <strong>und</strong> Politische Ö kologie......................................................... 194<br />

Exkurs 4.2 Geographie in Beispielen -<br />

Die Folgen der Urangewinnung <strong>und</strong> -Verarbeitung für Ozeanien............... 214<br />

5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie............................................. 24i<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 242<br />

Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage......................... 243<br />

Welche Raumkonzepte werden in der Sozialgeographie verwendet? . . , 243<br />

Warum kehrt das Räumlich-Materielle in das Soziale zurück?............... 244<br />

Warum ist das Erkennen von Mustern oder das „Spurenlesen“<br />

so wichtig?........................................................................................................ 246<br />

Wie wird Wissen zwischen A <strong>und</strong> B kommuniziert?................................ 247<br />

Vielfalt an theoretischen Konzepten, Methoden <strong>und</strong> M aßstäben............ 250<br />

Ist die Mikroebene aussagekräftiger als die Meso- oder Makroebene?. . 250<br />

Entankerung <strong>und</strong> Ortsgeb<strong>und</strong>enheit............................................................ 253<br />

Wie ist die Wirkung eines räumlichen Kontexts zu verstehen?................. 256<br />

Gibt es Sozialräume <strong>und</strong> Kulturräume?....................................................... 259<br />

Ursachen <strong>und</strong> Formen der sozialen Ungleichheit.......................................... 261<br />

Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der<br />

Sozialgeographie................................................................................................... 266<br />

Die Chicagoer Schule der Sozialökologie.................................................... 269<br />

Alfred Rühl - ein Pionier der Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftsgeographie,<br />

der erst spät Anerkennung fand................................................................... 271<br />

Bobek <strong>und</strong> Hartke - der Wendepunkt für die deutschsprachige<br />

Sozialgeographie.............................................................................................. 272<br />

Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen<br />

der Sozialgeographie............................................................................................ 274<br />

Auf dem Weg zur Wissensgesellschaft......................................................... 274<br />

Wechselbeziehungen zwischen Wissen <strong>und</strong> M acht................................... 277<br />

Funktionen des Sachwissens.......................................................................... 277


XVIII<br />

Inhalt<br />

Funktionen des Orientierungswissens......................................................... 279<br />

Orientierungswissen als M achtinstrument................................................. 281<br />

Das Aufeinanderprallen verschiedener Systeme von Orientierungswissen<br />

als Ursache von Konflikten.............................................................. 284<br />

Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten.................................................. 286<br />

Räumliche Disparitäten der Arm ut................................................................... 289<br />

Kriminalität als Thema der Sozialgeographie................................................. 297<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit - Zeitgeographie..................................................................... 303<br />

Fazit....................................................................................................................... 309<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 309<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 313<br />

6 K u ltu rg e o g r a p h ie .................................................................................... 317<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 318<br />

Kultur als geographischer Prozess..................................................................... 318<br />

Rückblicke........................................................................................................ 319<br />

Cultural studies................................................................................................ 323<br />

Kultur <strong>und</strong> Globalisierung............................................................................. 325<br />

Kulturelle System e.............................................................................................. 330<br />

Geographie <strong>und</strong> Religion............................................................................... 330<br />

Geographie <strong>und</strong> Sprache............................................................................... 335<br />

Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft...................................................................................... 342<br />

Kultureller Nationalismus............................................................................. 344<br />

Islam <strong>und</strong> Islamismus.................................................................................... 347<br />

Die Bewahrung kultureller Trennlinien am Beispiel USA/Kanada .... 352<br />

Kultur <strong>und</strong> Identität........................................................................................... 353<br />

Gender-Geographien...................................................................................... 353<br />

Geographie der Sexualität............................................................................. 355<br />

Geschlecht, soziale Schicht <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit..................................... 359<br />

Ethnizität <strong>und</strong> sozialräumliches Handeln .................................................. 362<br />

Geographie des Hungers <strong>und</strong> das Konzept der Verw<strong>und</strong>barkeit................. 363<br />

Ethnie <strong>und</strong> lokale Umgebung........................................................................ 364<br />

Globalisierung <strong>und</strong> kultureller W andel........................................................... 365<br />

Amerikanisierung <strong>und</strong> Globalisierung......................................................... 366<br />

Eine globale Kultur?....................................................................................... 367<br />

Fazit....................................................................................................................... 368<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 369<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 371<br />

Exkurs 6.1 Geographie in Beispielen - Die Hip-Hop-Kultur...................... 326<br />

Exkurs 6.2 Geographie in Beispielen - Sprache <strong>und</strong> Ethnizität in Afrika. . 336<br />

Exkurs 6.3 Fenster zur Welt - Separatismus in der Provinz Quebec..........342<br />

Exkurs 6.4 Geographie in Beispielen - Wandel religiöser Traditionen<br />

in Lateinamerika <strong>und</strong> der Karibik..................................................................... 348<br />

7 I n te r p r e ta tio n e n v o n L a n d s c h a fte n ,<br />

O rte n u n d R ä u m e n ............................................................................... 373<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 374<br />

Handeln, Wissen <strong>und</strong> menschliche Umwelten............................................... 374<br />

Landschaft - ein vom Menschen geschaffenes System................................... 377<br />

Landschaft - was ist das?.................................................................................... 377<br />

Landschaft als Text......................................................................................... 381


Inhalt<br />

X IX<br />

Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten....................................................... 382<br />

Erfahrung <strong>und</strong> Bedeutung............................................................................. 382<br />

Menschen <strong>und</strong> O rte ....................................................................................... 383<br />

Vorstellungsbilder <strong>und</strong> Handeln ................................................................ 384<br />

Emotionale Ortsbezogenheit........................................................................ 386<br />

Territorium, Territorialität <strong>und</strong> Grenzen.................................................... 390<br />

Die Vermarktung von O rte n ........................................................................ 392<br />

Semiotik <strong>und</strong> Kulturlandschaft..................................................................... 398<br />

Sakrale R äum e................................................................................................. 402<br />

Postmoderne Räume............................................................................................ 404<br />

Moderne <strong>und</strong> Postmoderne.......................................................................... 405<br />

Globalisierung <strong>und</strong> Postm oderne................................................................. 408<br />

Die Kulturgeographie des Cyberspace......................................................... 414<br />

F azit....................................................................................................................... 416<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 417<br />

Exkurs 7.1 Geographie in Bildern - Vermarktung von Orten<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Umorientierung................................................................. 394<br />

Exkurs 7.2 Geographie in Beispielen - Jerusalem, die Heilige S ta d t..........410<br />

8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung.................... 42i<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 421<br />

Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ ........................... 422<br />

Die räumliche Ungleichheit wirtschaftlicher Entwicklung...................... 422<br />

Ressourcen <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung............................................. 441<br />

Die ökonomische Struktur von Ländern <strong>und</strong> Regionen........................... 450<br />

Internationaler Handel, Entwicklungshilfe <strong>und</strong> Verschuldung............... 457<br />

Stadien wirtschaftlicher Entwicklung ......................................................... 464<br />

Alles an seinem Platz: Die Prinzipien des Standorts..................................... 467<br />

Standortprinzipien für Industrie <strong>und</strong> Handel............................................. 467<br />

Ökonomische Interdependenz: Agglomerationseffekte.............................. 469<br />

Wege der Entwicklung....................................................................................... 476<br />

Bildung regionaler Wirtschaftszentren......................................................... 477<br />

Die Veränderlichkeit der Beziehungen zwischen Zentrum<br />

<strong>und</strong> Peripherie................................................................................................. 481<br />

Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung................................... 485<br />

Die globale Fertigungsstraße.......................................................................... 487<br />

Das globale B ü ro ............................................................................................ 495<br />

Die Peripherie als Urlaubsparadies: Tourismus <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Entwicklung...................................................................................................... 503<br />

Fazit....................................................................................................................... 512<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 513<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 515<br />

Exkurs 8.1 Geographie in Beispielen - Wie Politik <strong>und</strong> Kultur die<br />

wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen......................................................... 423<br />

Exkurs 8.2 Geographie in Beispielen -<br />

Wachsende Einkommensdifferenzierung in Deutschland.............................. 430<br />

Exlcurs 8.3 Geographie in Beispielen —Nachhaltige Entwicldung............... 450<br />

Exkurs 8.4 Fenster zur Welt - Chinas wirtschaftliche Entwicklung............. 454<br />

Exkurs 8.5 Geographie in Beispielen - Fairer H andel................................... 464<br />

Exkurs 8.6 Geographie in Beispielen -<br />

Die wechselhafte Geographie der Bekleidungsindustrie................................ 496


Exkurs 8.7 Geographie in Beispielen - Briefkastenfirmen in Liechtenstein 504<br />

Exkurs 8.8 Geographie in Beispielen - Städtetourismus in Europa............ 509<br />

9 L a n d w ir ts c h a ft u n d N a h r u n g s m itte ls e k to r ........................... 5i7<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 518<br />

Traditionelle Agrargeographie.......................................................................... 519<br />

Shifiing cultivation - Wanderfeldbau........................................................... 521<br />

Intensive Subsistenzlandwirtschaft................................................................ 525<br />

Weidewirtschaft.............................................................................................. 527<br />

Agrarrevolution <strong>und</strong> Industrialisierung........................................................... 531<br />

Die erste Agrarrevolution............................................................................... 532<br />

Die zweite Agrarrevolution.......................................................................... 532<br />

Die dritte Agrarrevolution............................................................................ 533<br />

Die Industrialisierung der Landwirtschaft.................................................. 535<br />

Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme.......................................... 539<br />

Antriebskräfte der Globalisierung................................................................ 539<br />

Veränderungen in der Landwirtschaft <strong>und</strong> Entwicklungspolitik<br />

in Lateinamerika.............................................................................................. 542<br />

Die Organisation des agroindustriellen Sektors.......................................... 543<br />

Ernährungsregimes......................................................................................... 549<br />

Globale Veränderungen der Landwirtschaft als Auslöser<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> technologischen Wandels............................................. 552<br />

Zwei Beispiele des sozialen W andels........................................................... 552<br />

Biotechnologische Verfahren in der Landwirtschaft................................ 554<br />

Die Beziehungen zwischen Umwelt <strong>und</strong> industrialisierter Landwirtschaft . 556<br />

Einflüsse der Umwelt auf die Landwirtschaft............................................. 556<br />

Einflüsse der Landwirtschaft auf die Umwelt............................................. 557<br />

Die Ernährung der Weltbevölkerung; Probleme <strong>und</strong> Aussichten............... 559<br />

Hunger <strong>und</strong> Unterernährung........................................................................ 560<br />

Genetisch veränderte Organismen <strong>und</strong> das globale Ernährungssystem . 562<br />

Urbane Landwirtschaft.................................................................................. 563<br />

F azit....................................................................................................................... 570<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende L iteratur............................................................... 571<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 572<br />

Exkurs 9.1 Geographie in Beispielen - Die Grüne Revolution.................... 544<br />

Exkurs 9.2 Fenster zur Welt - Neue Strukturen der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> des Nahrungsmittelsektor in N euseeland............................................... 550<br />

10 D ie G e o g ra p h ie p o litis c h e r T e rrito rie n u n d G re n z e n . . 575<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 576<br />

Die Entwicklung der Politischen Geographie.................................................. 577<br />

Das geopolitische Modell des Staates........................................................... 577<br />

Politische Grenzen <strong>und</strong> Grenzzonen............................................................. 581<br />

Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung.............................................................................. 587<br />

Staaten <strong>und</strong> N ationen...................................................................................... 587<br />

Theorie der Geopolitik <strong>und</strong> geopolitische Praxis der Staaten................... 594<br />

Internationale <strong>und</strong> supranationale Organisationen sowie Formen<br />

der Global Governance........................................................................................... 618<br />

Transnationale politische Integration............................................................. 618<br />

Globalisierung, transnationale Governance <strong>und</strong> ihre Einflüsse<br />

auf den S taat.................................................................................................... 621


Inhalt<br />

XXI<br />

Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie......................... 624<br />

Die Politik der G eographie.......................................................................... 624<br />

Die Geographie der Politik <strong>und</strong> die räumliche Strukturierung<br />

politischer Systeme......................................................................................... 631<br />

Fazit....................................................................................................................... 634<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 635<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 636<br />

Exkurs 10.1 Geographie in Beispielen - Imperialismus, Kolonisation<br />

<strong>und</strong> das Ende der Apartheid in Südafrika....................................................... 602<br />

Exkurs 10.2 Fenster zur Welt -<br />

Afghanistan: Vom Kalten Krieg zur neuen Weltordnung.............................. 612<br />

Exkurs 10.3 Geographie in Beispielen -<br />

Terrorismus am Beispiel Tschetscheniens....................................................... 616<br />

Exkurs 10.4 Fenster zur Welt - Der israelisch-palästinensische<br />

Konflikt.................................................................................................................. 626<br />

11 V e r s t ä d t e r u n g ......................................................................................... 639<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 640<br />

Stadtgeographie <strong>und</strong> Verstädterung................................................................... 640<br />

Frühe städtische Siedlungen............................................................................... 644<br />

Ursprünge <strong>und</strong> Ausweitung des europäischen Städtewesens.................... 647<br />

Industrialisierung <strong>und</strong> Verstädterung......................................................... 649<br />

Verstädterung in heutiger Z eit.......................................................................... 651<br />

Regionale Trends <strong>und</strong> Prognosen................................................................ 652<br />

Städtische Siedlungssysteme............................................................................... 654<br />

Wachstumsprozesse von S täd ten ..................................................................... 662<br />

Verstädterung <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung........................................ 664<br />

Deindustrialisierung <strong>und</strong> Dezentralisierung............................................... 665<br />

Counterurbanisierung <strong>und</strong> Reurbanisierung............................................... 665<br />

Globalisierung <strong>und</strong> Splintering tirbanism ......................................................... 666<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer: mega cities <strong>und</strong><br />

Überlastungsprobleme.................................................................................... 669<br />

Das Vordringen der Verstädterung in Grenzregionen der<br />

Besiedlung........................................................................................................ 673<br />

Fazit....................................................................................................................... 676<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 676<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 677<br />

Exkurs 11.1 Fenster zur Welt - Terroristische Akte in S täd ten ................. 662<br />

Exkurs 11.2 Fenster zur Welt - Die erweiterte Metropolregion<br />

Pearl River Delta in China.................................................................................. 670<br />

12 R a u m s y s te m S ta d t: S tr u k tu r e n u n d P r o z e s s e .................. 679<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 680<br />

Flächennutzung <strong>und</strong> räumliche Organisation der Stadt................................ 680<br />

Erreichbarkeit <strong>und</strong> Flächennutzung.............................................................. 680<br />

Territorialität, Kongregation <strong>und</strong> Segregation............................................. 682<br />

Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich................................................. 683<br />

Die nordamerikanische S tadt........................................................................ 684<br />

Die europäische S tadt.................................................................................... 691<br />

Die islamisch-orientalische S ta d t..................................................................... 700<br />

Städte in Ländern der Peripherie................................................................ 704


XXII<br />

Inhalt<br />

Neue städtische Raumstrukuren: Polyzentrische Metropolregionen............ 713<br />

Ausuferndes Städtewachstum in den Vereinigten S taaten ...................... 715<br />

Packaged landscapes......................................................................................... 718<br />

Globalisierung <strong>und</strong> die Fragmentierung städtischer R äum e.................... 720<br />

F azit....................................................................................................................... 722<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur.............................................................. 723<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 723<br />

Exkurs 12.1 Fenster zur Welt - Megalopolis-Regionen................................ 716<br />

Exkurs 12.2 Fenster zur Welt - Die Globalisierung von Suburbia............ 720<br />

13 G e o g ra p h ie n d e r Z u k u n ft.............................................................. 725<br />

Schlüsselsätze........................................................................................................ 725<br />

Blick in die Z ukunft........................................................................................... 726<br />

Ressourcen, Technologien <strong>und</strong> räumlicher W andel..................................... 729<br />

Transporttechnologien.................................................................................... 731<br />

Biotechnologie................................................................................................ 734<br />

Neue Werkstoffe.............................................................................................. 735<br />

Informationstechnologien............................................................................. 735<br />

Regionale Aussichten........................................................................................... 738<br />

Ungleiche wirtschaftliche Entwicklung......................................................... 738<br />

Eine neue Weltordnung?............................................................................... 739<br />

Herausforderungen <strong>und</strong> B edrohungen........................................................... 749<br />

Globalisierte Kultur <strong>und</strong> kulturelle Gegensätze.......................................... 750<br />

Sicherheit.......................................................................................................... 752<br />

Nachhaltigkeit................................................................................................ 755<br />

F azit....................................................................................................................... 756<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende L iteratur.............................................................. 759<br />

Literatur zu den Exkursen............................................................................. 759<br />

Exkurs 13.1 Geographie in Beispielen - Gehen wir dunklen<br />

Zeiten entgegen?................................................................................................... 727<br />

Exkurs 13.2 Geographie in Beispielen - Das Image der USA.<br />

in der W e lt.......................................................................................................... 742<br />

Exkurs 13.3 Geographie in Beispielen - Die „braune Wolke Asiens“ .... 756<br />

A n h a n g :<br />

K a rte n u n d G e o g ra p h is c h e I n f o r m a tio n s s y s te m e ................. 763<br />

Karten.................................................................................................................... 763<br />

Kartenmaßstäbe.............................................................................................. 765<br />

Kartenprojektionen <strong>und</strong><br />

Netzentwürfe................................................................................................... 765<br />

Geographische Informationssysteme (GIS)....................................................... 771<br />

Anwendungen von G IS.................................................................................. 772<br />

Google E arth ................................................................................................... 777


,ltJm<br />

ß<br />

Jinjntur<br />

(¡¡iJUl<br />

J U Á<br />

jtVTW-£ju<br />

(tiofumUili-<br />

C3<br />

M<br />

1 Bedeutung <strong>und</strong><br />

Gegenstände<br />

der Geographie<br />

J4BK IWfUJT“<br />

%<br />

ei/-»<br />

itr^'<br />

■R 1E ^i, ‘<br />

r A 1.1S<br />

r/nh*ww;/D.,<br />

• Ú»A¿£ »!<br />

In der Welt von heute werden Räume - das heißt Standorte, Regionen <strong>und</strong><br />

Staaten - zunehmend voneinander abhängig <strong>und</strong> miteinander vernetzt.<br />

Immer mehr Menschen kommen durch Globalisierung <strong>und</strong> Massentourismus<br />

mit fremden Kulturen in Berührung <strong>und</strong> sollten diese verstehen.<br />

Daher ist es außerordentlich wichtig, mehr über diese Wechselbeziehungen<br />

<strong>und</strong> gegenseitigen Beeinflussungen sowie über geographische Fakten,<br />

Methoden <strong>und</strong> Konzepte zu wissen. Erinnern wir uns zum Beispiel an einige<br />

der wichtigsten Nachrichten im Jahr 2005. Bis auf den Umstand, dass<br />

uns Berichte von Erfolgen, Konflikten oder Katastrophen aus den verschiedensten<br />

Teilen der Welt erreichten, schienen diese auf den ersten Blick<br />

nicht allzu viel mit Geographie zu tun zu haben: Die reichsten Länder<br />

der Erde - die Gruppe der Acht (G8) - haben vereinbart, den 18 ärmsten<br />

Ländern, zumeist afrikanischen Staaten, Schulden in Höhe von 40 Milliarden<br />

US-Dollar zu erlassen; Syrien zog seine Truppen aus dem Libanon<br />

zurück <strong>und</strong> ebnete dadurch den Weg für die ersten freien Wahlen im Libanon<br />

seit 1976; der Entwurf einer gemeinsamen Verfassung für die Europäische<br />

Union wurde durch Referenden in Frankreich <strong>und</strong> den Niederlanden<br />

vorläufig gestoppt; es gab anhaltende Besorgnis über die Atomprogramme<br />

in Iran <strong>und</strong> Nordkorea; <strong>und</strong> Schlagzeilen <strong>und</strong> Berichte über den<br />

Krieg im Irak beherrschten weltweit die Medien. Abseits der Titelseiten<br />

lasen wir von dem beängstigenden Wirtschaftswachstum in China, von<br />

Sorgen über die Folgen der globalen Klimaerwärmung, von Kontroversen<br />

über gentechnisch veränderte Nahrungsmittel <strong>und</strong> die anhaltende Ausweitung<br />

der HIV/AIDS-Epidemie.<br />

Die meisten dieser Ereignisse besitzen eine bedeutende geographische<br />

Dimension. Die Ausbreitung von HIV/AIDS zum Beispiel ist sowohl ein<br />

geographisches als auch ein soziales <strong>und</strong> kulturelles Phänomen, denn die<br />

HIV/AIDS-Epidemie hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten nach<br />

einem ganz bestimmten Muster, das heißt regelhaft, ausgebreitet. Die zunehmende<br />

Privatisierung beispielsweise der Stadtentwicklung (Kapitel 12),<br />

der Wasserversorgung oder der Ges<strong>und</strong>heitsversorgung in vielen Ländern<br />

hat ebenfalls wichtige räumliche Folgen, die von Ort zu Ort unterschiedlich<br />

gravierend sind. Medienberichte über ungleiche wirtschaftliche Entwicklung,<br />

über regionale Territorialstreitigkeiten, ethnische Konflikte oder<br />

die globale Erwärmung haben allesamt wichtige geographische Aspekte.<br />

<strong>Humangeographie</strong> handelt von der Beobachtung, der Erklärung <strong>und</strong><br />

vom Verständnis der Abhängigkeiten <strong>und</strong> Wechselbeziehungen zwischen<br />

Standorten <strong>und</strong> Regionen; sie sucht dabei nach Regelhaftigkeiten, ohne die<br />

Individualität <strong>und</strong> Einzigartigkeit dieser Räume aus dem Blick zu verlieren.<br />

Orte oder Standorte (places) sind spezifische geographische Umgebungen<br />

oder Milieus mit bestimmten physischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Merkmalen.<br />

Regionen schließen viele Orte oder Standorte ein, wobei alle oder


1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

die meisten von ihnen gemeinsame Merkmale besitzen,<br />

die sich von den Merkmalen anderer Orte oder<br />

Standorte unterscheiden. Geographen verfügen über<br />

spezifische Forschungsperspektiven <strong>und</strong> Methoden,<br />

die sie dazu befähigen, die Welt auf die oben beschriebene<br />

Weise zu erforschen. Geographen lernen die<br />

Welt verstehen, indem sie danach fragen, warum<br />

sich wo welche Dinge ereignen, <strong>und</strong> indem sie räumliche<br />

Muster von Indikatoren <strong>und</strong> Fakten interpretieren.<br />

Für die Darstellung <strong>und</strong> Erklärung räumlicher<br />

Strukturen <strong>und</strong> Prozesse spielen zunächst Karten<br />

eine wichtige Rolle. Bei vielen Themen stellen sie<br />

einen ersten Einstieg in den geographischen Forschungsprozess<br />

dar.<br />

Schlüsselsätze<br />

Geographie ist wichtig, denn es sind spezifische,<br />

individuelle, einmalige Orte, die unser Alltagsleben<br />

bestimmen.<br />

Orte <strong>und</strong> Regionen sind in hohem Maße voneinander<br />

abhängig, wobei sie jeweils spezifische Funktionen<br />

in einem komplexen <strong>und</strong> sich ständig wandelnden<br />

Netzwerk erfüllen.<br />

Ursprünglich beschränkten sich diese Netzwerke<br />

für die überwiegende Mehrheit der Menschen<br />

auf die lokale <strong>und</strong> regionale Ebene, seit der Kolonialzeit<br />

wurden sie zunehmend global.<br />

Die humangeographische Betrachtungsweise ist<br />

geeignet. Orte, Regionen <strong>und</strong> räumliche Beziehungen<br />

als Ergebnis einer Reihe sich gegenseitig beeinflussender<br />

Kräfte zu erkennen, die ihren Ursprung<br />

in der natürlichen Umwelt, im kulturellen Umfeld<br />

<strong>und</strong> im individuellen Handeln des Menschen haben.<br />

Eine Gr<strong>und</strong>regel der Geographie besagt, dass fast<br />

alle Dinge untereinander in Beziehung stehen.<br />

Neben dem Faktor Distanz spielt Konnektivität<br />

eine wichtige Rolle, denn Kontakt <strong>und</strong> Interaktion<br />

hängen von Übertragungs- <strong>und</strong> Transportwegen<br />

ab. Allerdings bestehen große Unterschiede zwischen<br />

materiellen Gütern <strong>und</strong> Informationen.<br />

L<br />

Der Einfluss <strong>und</strong> die<br />

Bedeutung von Orten<br />

Die <strong>Humangeographie</strong> befasst sich mit der räumlichen<br />

Organisation menschlichen Handelns <strong>und</strong><br />

den Beziehungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Umwelt.<br />

Ziel der Disziplin ist es seit jeher, die Vielfalt <strong>und</strong> Verschiedenheit<br />

von Menschen <strong>und</strong> Orten zu erfassen<br />

<strong>und</strong> zu verstehen. Nahezu jeder hat ein natürliches<br />

Interesse an solchen Themen. Zeitschriften wie<br />

GEO oder National Geographie vermitteln H<strong>und</strong>erttausenden<br />

von Lesern einen Eindruck von der Vielgestaltigkeit<br />

der Landschaften <strong>und</strong> Lebensgemeinschaften,<br />

die auf der Erde existieren. Manche dieser<br />

Magazine haben sich im Lauf der Zeit zu einer nationalen<br />

Institution entwickelt.<br />

Dennoch ergab eine Studie in den Vereinigten<br />

Staaten, dass 70 Prozent der jüngeren erwachsenen<br />

Amerikaner nicht in der Lage sind, ihr Land auf einer<br />

Weltkarte zu finden. In einer im Jahr 2002 durchgeführten<br />

Untersuchung zur geographischen Bildung,<br />

in die 3 000 junge Erwachsene in Kanada, Frankreich,<br />

Deutschland, Großbritannien, Italien, Japan, Mexiko,<br />

Schweden <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten einbezogen<br />

waren, landeten die Amerikaner auf dem vorletzten<br />

Platz.* Am besten schnitten junge Erwachsene in<br />

Schweden, Deutschland <strong>und</strong> Italien ab. Trotz der täglichen<br />

Nachrichtenflut aus Nahost, Zentralasien <strong>und</strong><br />

anderen Krisenregionen der Erde konnten junge<br />

Amerikaner Afghanistan, Irak oder Israel auf einer<br />

Karte nicht lokalisieren. Weiter zeigte die Studie,<br />

dass fast 30 Prozent der jungen Amerikaner nicht wissen,<br />

wo sich das größte Weltmeer, der Pazifische Ozean,<br />

befindet. Über die Hälfte von ihnen waren nicht in<br />

der Lage, Indien zu lokalisieren, <strong>und</strong> nur 19 Prozent<br />

konnten vier Länder nennen, die offiziell Atomwaffen<br />

besitzen. Diese mangelnde geographische Bildung hat<br />

Auswirkungen darauf, wie US-Amerikaner ihr Land<br />

<strong>und</strong> seine Rolle in der Welt wahrnehmen: Laut einer<br />

Umfrage im Jahr 2004 glaubt die Mehrheit der Bevölkerung,<br />

die Vereinigten Staaten würden mehr als 20<br />

Prozent ihres Budgets für Entwicklungshilfe ausgeben<br />

—tatsächlich flössen im Jahr 2003 gerade 0,14 Prozent<br />

des Bruttonationaleinkommens in die Hilfe für ärmere<br />

Länder. Damit waren die USA Schlusslicht unter<br />

den reichen Industriestaaten.<br />

Roper, ASW, 2002, Global Geographie Literacy Survey. Washington,<br />

DC: National Geographie - Roper ASW, 2002


Der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von Orten<br />

Place <strong>und</strong> space<br />

ln diesem Kapitel tauchen im englischen Original häufig die<br />

Begriffe place <strong>und</strong> space auf, welche Schlüsselbegriffe der anglo-amerikanischen<br />

Geographie darstellen, im Deutschen aber<br />

nur etwas hölzern mit „Ort“ <strong>und</strong> „Raum“ beziehungsweise etwas<br />

freier mit „Standort“ <strong>und</strong> „Region“ übersetzt werden können,<br />

in Einzelfällen auch mit „Land“. Place meint in diesem<br />

Verständnis nicht nur einen dinglichen Ort, sondern auch sozial<br />

konstruierte symbolische Orte oder Landschaften, welche<br />

durch das Zusammentreffen sozialer Beziehungen erst entstehen.<br />

Die Spezifika eines Ortes werden kontinuierlich reproduziert<br />

<strong>und</strong> transformiert, der sense o f place entsteht durch die<br />

fortwährenden sozialen Beziehungen. Jeder Ort im Sinne von<br />

place konstituiert sich relational durch eine mindestens mittelfristig<br />

deutlich wahrnehmbare Differenz zu anderen Orten.<br />

Langfristig gesehen haben Orte also keine festgeschriebene<br />

einzigartige oder einmalige Bedeutung, sondern sie sind fragmentiert<br />

<strong>und</strong> multipel, sind dynamisch <strong>und</strong> haben variable<br />

Grenzen.<br />

H. Gebhardt<br />

Solche Formen „geographischen Analphabetismus“<br />

sind nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt.<br />

In unserer zunehmend globalisierten <strong>und</strong><br />

vernetzten Welt können wir uns diese Form von Unkenntnis<br />

nicht mehr leisten, sowohl aus ökonomischen<br />

Gründen als auch, weil wir mit dem „Fremden“<br />

zunehmend in unserer Alltagswelt konfrontiert werden.<br />

Migranten aus verschiedensten Ländern der<br />

Erde wohnen heute oft in Nachbarschaft zur „einheimischen“<br />

Bevölkerung. Wir müssen uns mit solchen<br />

Veränderungen in unserer Lebensumwelt aktiv <strong>und</strong><br />

kreativ auseinandersetzen.<br />

Fremde Länder üben auf viele Menschen eine starke<br />

Faszination aus, aber nur wenige besitzen genauere<br />

oder gar systematische Kenntnisse über diese; <strong>und</strong><br />

kaum jemand hat eine Vorstellung davon, wie unterschiedliche<br />

Räume zu dem wurden, was sie sind, oder<br />

auf welche Weise sie in übergeordnete funktionale<br />

Zusammenhänge eingeb<strong>und</strong>en sind. Dieses Verständnis<br />

ist insofern wichtig, als geographisches Wissen<br />

es uns ermöglicht, über den flüchtigen Eindruck<br />

einer von Natur aus faszinierenden Vielfalt an Völkern<br />

<strong>und</strong> Regionen hinaus zu gelangen.<br />

Da es immer schwieriger wird, eine Welt zu verstehen,<br />

die in zunehmendem Maße von globaler<br />

Kommunikation, unüberschaubaren internationalen<br />

Verflechtungen, überraschenden lokalen oder regionalen<br />

Veränderungen <strong>und</strong> wachsenden Umweltbeeinträchtigungen<br />

geprägt ist, gewinnt das Fach Geographie<br />

zunehmend an Bedeutung. In den Vereinigten<br />

Staaten bietet daher heute eine viel größere Zahl<br />

von Schulen als noch vor 10 Jahren Kurse in Geographie<br />

an, <strong>und</strong> das US-amerikanische College Board hat<br />

das Fach in ihr Advanced Placement Program aufgenommen.<br />

Arbeitgeber erkennen zunehmend den<br />

Wert von Mitarbeitern mit Kenntnissen in der geographischen<br />

Analyse <strong>und</strong> einem Verständnis der Einzigartigkeit,<br />

des Einflusses <strong>und</strong> der gegenseitigen<br />

Wechselbeziehungen von Orten.<br />

In Deutschland, das ansonsten gerne auf das USamerikanische<br />

Hochschulwesen blickt, steht allerdings<br />

ein solches „Revival“ der Geographie derzeit<br />

noch aus, insbesondere wenn man sich die Entwicklung<br />

der Lehrpläne in den weiterbildenden Schulen in<br />

den letzten Jahren ansieht. Während in der weltweit<br />

renommierten Harvard University in Massachusetts<br />

die Wiederetablierung der Geographie betrieben<br />

wird, werden in Deutschland Geographische Institute,<br />

unter anderem in Bayern <strong>und</strong> Baden-Württemberg,<br />

geschlossen. Geographie kann in Deutschland<br />

derzeit an gut 60 Hochschulen studiert werden. Konzentrationen<br />

von Standorten bestehen vor allem in<br />

Nordrhein-Westfalen, aber auch in Hessen <strong>und</strong> in<br />

Baden-Württemberg. In den Flächenstaaten Bayern<br />

<strong>und</strong> Niedersachsen ist die Standortdichte dagegen geringer,<br />

<strong>und</strong> in den neuen B<strong>und</strong>esländern sind viele<br />

Institute <strong>und</strong> Einrichtungen erst nach der Wende<br />

wieder neu aufgebaut worden.<br />

In Österreich hat man an den Universitäten Wien,<br />

Graz, Klagenfurt, Salzburg <strong>und</strong> Innsbruck die Möglichkeit,<br />

Geographie zu studieren. Die Institute haben<br />

unterschiedliche Schwerpunkte <strong>und</strong> variieren stark in<br />

der Größe. Darüber hinaus gibt es das Institut für<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeographie der Wirtschaftsuniversität<br />

Wien, das in den Lehr- <strong>und</strong> Forschungsbetrieb<br />

dieser Universität integriert ist.<br />

In der Schweiz gibt es Geographische Institute in<br />

Basel, Bern, Freiburg/Fribourg, Genf, Lausanne,<br />

Neuenburg/Neuchätel <strong>und</strong> an der Universität Zürich<br />

sowie die Forschungsstelle für Wirtschaftsgeographie<br />

<strong>und</strong> Raumordnungspolitik (FWR) an der Hochschule<br />

St. Gallen.<br />

Auch die Größe, die thematischen Schwerpunkte<br />

<strong>und</strong> die unterschiedliche Gewichtung der einzelnen<br />

Studiengänge variieren sehr stark zwischen den Instituten.<br />

Orte unterliegen einem ständigen Wandel. Aufgr<strong>und</strong><br />

des Zusammenspiels verschiedenster physio-


1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

Was ist Geographie?<br />

Geographie ist eine der wenigen Wissenschaften, welche naturwissenschaftliche<br />

Fragestellungen (zum Beispiel Ursachen<br />

von Naturkatastrophen) mit gesellschaftlichen Problemstellungen<br />

(zum Beispiel unterschiedliche Folgen von Katastrophen<br />

in verschiedenen Staaten <strong>und</strong> Regionen) verknüpft.<br />

Geographie ist eine der wenigen Wissenschaften, welche<br />

die unterschiedlichen Maßstabsebenen von global bis lokal<br />

miteinander verknüpft, das heißt die globale Umweltsituation<br />

<strong>und</strong> die ökologische Zukunft unseres Planeten ebenso in den<br />

Blick nimmt wie die alltägliche Armut <strong>und</strong> deren Bestimmungsgründc<br />

in einem Dorf der „Dritten Welt“. Geographie handelt<br />

von der Erklärung <strong>und</strong> vom Verständnis der Abhängigkeiten<br />

<strong>und</strong> Wechselbeziehungen zwischen Standorten <strong>und</strong> Räumen,<br />

sie befasst sich mit der räumlichen Organisation menschlichen<br />

Handelns <strong>und</strong> den Beziehungen zwischen Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Umwelt.<br />

Geographie lebt damit vom Perspektivenwechsel. Geographen<br />

versetzen sich in andere Rollen; sie dekonstruieren viele<br />

Vorurteile unseres alltäglichen „Weltbildes“, all die Vorstellungen<br />

des kulturell „Eigenen“ <strong>und</strong> des „Fremden“. Geographisches<br />

Wissen erlaubt damit eine kritische Reflexion vieler<br />

in den Medien vermittelter Vorstellungen <strong>und</strong> ermöglicht politisches<br />

Engagement. Die Geographie stellt anwendungsorientiertes<br />

Wissen zum Umgang mit natürlichen wie politischen<br />

Ereignissen bereit, seien es Naturkatastrophen oder die politischen<br />

Großereignisse unserer Gegenwart wie der internationale<br />

Terrorismus.<br />

Geographie ist eine der wenigen Wissenschaften, welche<br />

aktuelle Ereignisse mit langfristigen Entwicklungen verknüpft,<br />

zum Beispiel die aktuelle Flutkatastrophe mit lang andauernden<br />

tektonischen Prozessen <strong>und</strong> Veränderungen auf unserem<br />

Planeten (Stichwort Global Change). Geographie hat auch auf<br />

der „Zeitschiene“ einen „langen Atem“, Prozesse von geographischer<br />

Relevanz reichen von kurzfristigen Ereignissen - seien<br />

es katastrophenartige natürliche Prozesse wie Vulkanausbrüche,<br />

Lawinen, Wirbelstürme oder kurzatmige kulturelle<br />

„Events“ einer Konsum- <strong>und</strong> Freizeitgesellschaft - bis hin<br />

zu den langsamen Entwicklungen, beispielsweise ökonomischen<br />

Entwicklungszyklen der Menschheit, langen geschichtlichen<br />

Phasen der Entwicklung von Städten, globalen klimatischen<br />

Veränderungen oder aber der Prozesse der Formung<br />

der Erdoberfläche.<br />

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Raum. Dieser wird als<br />

genuiner Forschungsgegenstand unserer Disziplin für die<br />

Menschen <strong>und</strong> ihre Gesellschaft auf unterschiedlichen Ebenen<br />

relevant. Er ist sozusagen mehrdeutig.<br />

Raum ist zunächst die materielle Anordnung unserer natürlichen<br />

<strong>und</strong> anthropogenen Umwelt. Auf dieser Ebene fragen<br />

Geographen danach, warum sich wo welche Dinge ereignen,<br />

<strong>und</strong> interpretieren räumliche Muster, sie versuchen gleichartige<br />

oder verschiedenartige Räume voneinander abzugrenzen.<br />

Dabei kann es sich um primär naturwissenschaftlich definierte<br />

Räume handeln, um wirtschafts- <strong>und</strong> sozialräumliche<br />

Einheiten oder aber um politische Räume. Die Geographie versucht<br />

dabei, die Welt oder Teile von ihr in Gedanken räumlich<br />

zu ordnen, um sie übersichtlicher <strong>und</strong> verstehbarer zu machen.<br />

Der Raum ist für die Geographie aber noch mehr als eine<br />

Art strukturelle Ordnungsmatrix. Räume sind in mannigfaltiger<br />

Weise aufgeladen mit symbolischer Bedeutung, das heißt, sie<br />

haben eine Funktion, die über die physisch-materielle Struktur<br />

hinausweist. Auschwitz ist eben nicht nur ein Dorf in Südwestpolen,<br />

New York nicht nur eine große Stadt an der Ostküste<br />

der USA. Architekten <strong>und</strong> Bauherren beispielsweise haben zu<br />

allen Zeiten nicht nur gebaut, sondern in ihren Bauten Bedeutung<br />

zu evozieren <strong>und</strong> Macht zu symbolisieren versucht, angefangen<br />

von den Prachtbauten im alten Rom bis zu den monströsen<br />

Stadtplanungen eines Albert Speer im Nationalsozialismus.<br />

Auch in mittelalterlichen Domen <strong>und</strong> Kirchen oder in<br />

den „Kathedralen der Moderne“, den hoch aufstrebenden<br />

World Trade Centers oder Banktürmen in New York <strong>und</strong> Frankfurt,<br />

ist Macht kodiert. Der Streit in Berlin um den Abriss des<br />

ehemaligen Palastes der Republik <strong>und</strong> den möglichen Wiederaufbau<br />

des Berliner Stadtschlosses zeigt, wie hier Raum symbolisch<br />

„instandbesetzt“ wird. Hier geht es nicht um Sandsteinsockel,<br />

Betonquader oder Flachdächer, sondern um die<br />

symbolische Bedeutung von Raum. Raum ist mit seiner vielfältigen<br />

symbolischen Bedeutung nicht nur ein Medium sozialer<br />

Kommunikation, er ist unverzichtbarer Baustein gesellschaftlicher<br />

Strukturierung <strong>und</strong> Identität.<br />

H. Gebhardt<br />

<strong>und</strong> anthropogeographischer Faktoren sind ihre<br />

Eigenschaften <strong>und</strong> Merkmale ebenso veränderlich<br />

wie ihre Grenzen. Diese Dynamik <strong>und</strong> Komplexität<br />

sind es, welche die Faszination der Geographie ausmachen.<br />

Und wichtiger noch: Sie bestimmen das Leben<br />

jedes Einzelnen <strong>und</strong> beeinflussen Geschwindigkeit<br />

<strong>und</strong> Richtung von Veränderungen. Orte bilden<br />

den Rahmen <strong>und</strong> die Kulisse für das alltägliche Leben<br />

<strong>und</strong> die sozialen Beziehungen (Interaktionsmuster<br />

zwischen Familienmitgliedern, in Beruf <strong>und</strong> Freizeit,<br />

hinsichtlich gesellschaftlicher <strong>und</strong> politischer Aktivitäten).<br />

Sie sind das Umfeld, in dem Menschen erfahren,<br />

wer <strong>und</strong> wo sie sind, wie sie denken <strong>und</strong> handeln<br />

sollen <strong>und</strong> was sie von ihrem Leben erwarten können.<br />

Regionen <strong>und</strong> Standorte beeinflussen auf unterschiedlichste<br />

Weise das physische Wohlbefinden<br />

von Menschen, ihre Entfaltungsmöglichkeiten <strong>und</strong><br />

Lebensgestaltung. In einer von petrochemischer Industrie<br />

geprägten Kleinstadt ist beispielsweise die<br />

Wahrscheinlichkeit relativ hoch, mit belasteter Luft<br />

<strong>und</strong> verschmutztem Wasser in Berührung zu kommen.<br />

Außerdem können junge Leute nur unter einer


Der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von Orten<br />

Exkurs 1.1<br />

Geographie in Beispielen - Themenorte<br />

Auch von Räumen, die wir selbst nicht kennen oder die gar<br />

nicht in der „Wirklichkeit“ existieren, haben wir ein relativ genaues<br />

Bild, da sie „aufgeladen“ sind mit Vorstellungen, mit<br />

Geschichte, mit Erinnerungen, mit Sehnsüchten, Wünschen<br />

<strong>und</strong> Ängsten: die Klagemauer <strong>und</strong> der Felsendom in Jerusalem<br />

für Juden <strong>und</strong> Muslime, Neuschwanstein <strong>und</strong> Heidelberger<br />

Schloss für amerikanische <strong>und</strong> Japanische Touristen <strong>und</strong><br />

so weiter.<br />

Zu Themenorten in diesem Sinne werden auch gängige<br />

Landschaftsräume wie „der Urwald“, „die Wüste“, „die<br />

Oase“ oder „die Südsee“. Die Alpen sind nicht nur ein Hochgebirge,<br />

sondern auch „Heidiland“, „Sonnenterrasse“ <strong>und</strong><br />

„Wasserschloss“ Europas, während in Transsilvanien der<br />

Schreckensmythos Draculas wütet. Stigmatisierte Räume<br />

wie die Orte der Konzentrationslager der Nazizeit gehören<br />

ebenso dazu wie die Themenorte der postmodernen Spaß-<br />

<strong>und</strong> Freizeitgesellschaft (Disneyland, Las Vegas).<br />

H. Gebhardt<br />

begrenzten Zahl von Ausbildungsgängen <strong>und</strong> Berufen<br />

\vählen. Der allgemeine Mangel an Freizeiteinrichtungen,<br />

kulturellen Angeboten, Fachgeschäften <strong>und</strong><br />

Restaurants schränkt darüber hinaus die Spannbreite<br />

möglicher Lebensstile ein. In den Zentren der Ballungsgebiete<br />

existiert dagegen für den Einzelnen<br />

eine Fülle von Angeboten <strong>und</strong> Möglichkeiten, Beruf<br />

<strong>und</strong> Privatleben nach den eigenen Vorstellungen zu<br />

gestalten. Allerdings sind die Bewohner von Großstädten<br />

wiederum direkter mit dem Problem der Kriminalität<br />

konfrontiert.<br />

Orte tragen auch zu kollektivem Erinnern bei <strong>und</strong><br />

können emotionalen oder kulturellen Symbolcharakter<br />

annehmen. So besitzen Lokalitäten wie das Brandenburger<br />

Tor in Berlin, die Champs-Elysées in Paris,<br />

der Times Square in New York oder der Trafalgar<br />

Square in London eine starke Ausstrahlungskraft (Exkurs<br />

1.1 „Geographie in Beispielen - Themenorte“).<br />

Aber auch gewöhnliche Orte, sei es die Gegend, in der<br />

man aufgewachsen ist, die Schule oder Universität,<br />

ein Fußballstadion oder ein Ferienziel, können für<br />

den Einzelnen besondere Bedeutung erlangen. In<br />

der Überlagerung verschiedener Bedeutungsebenen<br />

spiegelt sich die Tatsache wider, dass Orte als soziale<br />

Konstruktionen entstehen, indem ihnen von Individuen<br />

oder Gruppen aus unterschiedlichen Motiven<br />

verschiedene Bedeutungen zugemessen werden.<br />

Orte existieren <strong>und</strong> werden konstruiert aus der subjektiven<br />

Sicht ihrer Bewohner. Die Bedeutungen, mit<br />

denen ein Ort „aufgeladen“ wird, können so stark<br />

sein, dass sie zum zentralen Bestandteil der Identität<br />

desjenigen werden, der an diesem Ort lebt. Die Identität<br />

der Bewohner ist die Bedeutung, die diese durch<br />

ihr subjektives Empfinden sich selbst verleihen. Dieses<br />

subjektive Empfinden wiederum speist sich aus<br />

Alltagserfahrungen <strong>und</strong> der Gesamtheit der sozialen<br />

Beziehungen. Derselbe Ort wird durch Außenstehende<br />

in der Regel vollkommen anders konstruiert werden.<br />

Das eigene Wohnumfeld zum Beispiel ist gewöhnlich<br />

mit starken persönlichen Empfindungen<br />

<strong>und</strong> Bedeutungen aufgeladen. Dieselbe nähere Umgebung<br />

oder Nachbarschaft kann jedoch auf Außenstehende<br />

ganz anders, vielleicht sogar unsympathisch<br />

wirken. Das Beispiel macht deutlich, dass für das Verstehen<br />

von Räumen <strong>und</strong> Orten sowohl die Perspektive<br />

des Insiders (der Person, die normalerweise an<br />

einem bestimmten Ort lebt) wichtig ist als auch die<br />

Sichtweise von Außenstehenden (Outsider), zu denen<br />

auch Geographen zählen.<br />

Schließlich sind es auch Orte, an denen sich Innovationen<br />

<strong>und</strong> Veränderungen vollziehen, an denen<br />

Kreativität gefördert oder behindert wird, an denen<br />

Widerstand geleistet <strong>und</strong> Konflikte ausgetragen werden.<br />

Die besonderen Bedingungen eines bestimmten<br />

Ortes können Voraussetzung sein für neue Agrartechniken,<br />

beispielsweise für den Übergang zu Ackerbau<br />

<strong>und</strong> Viehzucht oder die Verwendung von Pflug<br />

<strong>und</strong> Zugtieren - Entwicklungen, die in prähistorischer<br />

Zeit im Vorderen Orient die erste Agrarrevolution<br />

auslösten (Kapitel 9). Sie können neue Wirtschaftsformen<br />

stimulieren, zum Beispiel die Hightech-Revolution,<br />

die im späten 20. lahrh<strong>und</strong>ert in Silicon<br />

Valley ausgelöst wurde, neue kulturelle Strömungen,<br />

zum Beispiel die Punk-Bewegung, die in<br />

Großbritannien in benachteiligten Wohnvierteln entstand,<br />

oder neue Lebensstile, zum Beispiel die Hippie-Bewegung,<br />

die sich in den späten 1960er-Iahren<br />

in San Francisco entwickelte.


1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

m<br />

1.1 Hiphop in Deutschland Musikalische Trends können<br />

sich rasch über die ganze Welt ausbreiten. Dabei kommt es oft<br />

zu Modifikationen des originären Musikstils, dem neue Elemente<br />

hinzugefügt werden. So gibt es in Deutschland inzwischen<br />

eine differenzierte Hiphop-Szene, die ihren Anfang in<br />

großstädtischen Zentren wie Hamburg nahm. Bushido ist ein<br />

deutsch-tunesischer Rapper aus Berlin, dessen Stil sich an den<br />

amerikanischen Gangsta-Rap anlehnt.<br />

Die Bedeutung von Orten ist jedoch keineswegs<br />

auf zufällige Innovationsprozesse beschränkt. Aufgr<strong>und</strong><br />

der unterschiedlichen Eigenschaften von Orten<br />

kommt es an diesen zu Modifikationen wirtschaftlicher,<br />

kultureller <strong>und</strong> politischer Trends. So war eine<br />

globale kulturelle Strömung, der Rock ’n’ Roll, auf<br />

Jamaika Auslöser für die Entstehung des Reggae, während<br />

in Iran <strong>und</strong> Nordkorea Rock ’n’ Roll von staatlicher<br />

Seite unterdrückt wurde - mit dem Ergebnis,<br />

dass dieser für die dort lebenden Menschen einen<br />

vollkommen anderen Stellenwert <strong>und</strong> eine andere Bedeutung<br />

erlangt hat. Ein weiteres Beispiel ist Bhangra,<br />

eine Art „world beat“, den in London lebende indische<br />

Bevölkerungsgruppen aus Elementen der traditionellen<br />

Punjabi-Musik, der in Mumbai (Bombay) produzierten<br />

Filmmusik <strong>und</strong> westlicher Diskomusik entwickelten<br />

(Abbildung 1.1). Aus der Vermischung mit<br />

lokalen Musikkulturen in New York <strong>und</strong> Los Angeles<br />

ist ein neue Stilrichtung, Bhangra-Rap, hervorgegangen.<br />

Ein ganz anderes Beispiel ist die Art <strong>und</strong> Weise, in<br />

der sich manche Gemeinden zu „atomwaflfenfreien<br />

Zonen“, also zu Orten erklärt haben, an denen Atomwaffen<br />

<strong>und</strong> Kernkraftwerke unerwünscht oder sogar<br />

gesetzlich verboten sind. Durch die Ausweisung solcher<br />

Zonen versuchen bestimmte Gruppen gemäß<br />

dem Motto „global denken, lokal handeln“ eine breite<br />

Bewegung gegen die friedliche <strong>und</strong> militärische Nutzung<br />

der Kernenergie zu initiieren. Ähnlich haben<br />

manche Gruppen gentechnikffeie Zonen etabliert,<br />

um so ihrer ablehnenden Haltung gegenüber gentechnisch<br />

veränderten Feldfrüchten <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />

Ausdruck zu verleihen (Abbildung 1.2). Sie<br />

hoffen dadurch Denkprozesse anzustoßen <strong>und</strong> laufende<br />

Entwicklungen umzukehren.<br />

W I L L K O M M E N<br />

I N<br />

i n<br />

,PT UNl<br />

STADT Ü B E R U N G E N ■<br />

micmiiEimsEHmM<br />

i<br />

#<br />

1.2 Lokal handeln Die Stadt Überlingen<br />

am Bodensee hat sich zur „gentechnikfreien<br />

Zone“ erklärt. Auf dem Foto<br />

ist Cornelia Wiethaler zu sehen. Sie hat<br />

die Bewegung ins Leben gerufen, um<br />

gentechnisch veränderte Feldfrüchte <strong>und</strong><br />

Nahrungsmittel aus der Region zu verbannen.


Der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von Orten<br />

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Orte<br />

Schauplätze sozialer Interaktion sind, die unter anderem<br />

• den ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Alltag der Menschen<br />

strukturieren <strong>und</strong> damit Weichen für zukünftige<br />

Lebensläufe stellen,<br />

• sowohl Möglichkeiten wie Einschränkungen bezüglich<br />

der Befriedigung langfristiger sozialer Bedürfnisse<br />

vorgeben,<br />

• einen Rahmen liefern für Erfahrungen im gesellschaftlichen<br />

Miteinander <strong>und</strong> das Erlernen sozial<br />

verantwortlichen Verhaltens,<br />

• die Sozialisation, das heißt die Einordnung des<br />

Einzelnen in die Gesellschaft beeinflussen,<br />

• eine Arena darstellen, in welcher unterschiedliche<br />

gesellschaftliche Normen aufeinandertreffen.<br />

Wechselwirkungen zwischen<br />

Orten<br />

Zum einen haben Orte als solche Bedeutung, zum anderen<br />

spannt sich zwischen Orten meist ein Geflecht<br />

von Wechselwirkungen, wobei jeder Ort spezielle<br />

Funktionen innerhalb eines komplexen <strong>und</strong> sich<br />

ständig wandelnden geographischen Systems übernimmt.<br />

Die sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Beziehungen,<br />

die individuelle Orte unverwechselbar machen,<br />

wirken auch zwischen Orten. Manche der sozialen<br />

Beziehungen, die einen bestimmten Ort prägen, reichen<br />

über diesen hinaus. Solche den Raum durchziehenden<br />

sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Beziehungsgeflechte<br />

sind es, die Orte <strong>und</strong> ihre Bewohner mit anderen<br />

Orten <strong>und</strong> deren Bewohnern verbinden.<br />

So hat sich beispielsweise der New Yorker Stadtteil<br />

Manhattan zu einem weltweit bedeutenden Verwaltungs-,<br />

Geschäfts- <strong>und</strong> Finanzzentrum entwickelt,<br />

das gleichzeitig auf zahllose andere Orte angewiesen<br />

ist. Manhattan zieht Finanzexperten <strong>und</strong> Manager<br />

aus den besten Universitäten des In- <strong>und</strong> Auslands<br />

an, bietet vielen Arbeiterinnen <strong>und</strong> Arbeitern aus<br />

den umliegenden Gemeinden Arbeitsplätze an, ist<br />

ein Magnet für niedrig qualifizierte illegale Einwanderer<br />

aus Asien, <strong>und</strong> ein Engagement oder eine Ausstellung<br />

in dieser Stadt wird von vielen Künstlern als<br />

Höhepunkt ihrer Karriere gesehen. Manhattan bezieht<br />

Obst <strong>und</strong> Gemüse aus Florida, Milchprodukte<br />

aus dem Hinterland von New York sowie Spezialitäten<br />

aus Europa, Asien <strong>und</strong> der Karibik. Die Kraftwerke<br />

werden mit Kohle aus Südwestvirginia betrieben,<br />

in den Restaurants arbeiten Köche aus Dutzenden<br />

von Staaten aus allen Kontinenten, Konsumgüter<br />

werden von Betrieben aus allen Teilen der Welt angeliefert.<br />

Interdependenz bedeutet, dass Orte in umfassende<br />

Austauschprozesse eingeb<strong>und</strong>en sind, die sich in<br />

großräumigen geographischen Raummustern widerspiegeln.<br />

Die Anziehungskraft der Stadt New York auf<br />

Absolventen von Hochschulen zeigt sich in Wanderungsbewegungen,<br />

die sich in ihrer Gesamtheit in zunehmendem<br />

Maße auf die Größe <strong>und</strong> die Struktur<br />

des Arbeitsmarktes in allen Teilen der Vereinigten<br />

Staaten auswirken. So sind Wanderungsgewinne in<br />

New York an Wanderungsverluste anderswo geknüpft.<br />

Solche übergeordneten Prozesse <strong>und</strong> generellen<br />

Muster zu erkennen <strong>und</strong> zu verstehen, ohne die<br />

Individualität spezifischer Orte zu vernachlässigen,<br />

zählt zu den wichtigsten Aufgaben der <strong>Humangeographie</strong><br />

- <strong>und</strong> damit dieses Buchs. Dabei sind auch<br />

andere Arten von Wechselwirkungen zu berücksichtigen,<br />

nämlich Interdependenzen zwischen unterschiedlichen<br />

räumlichen Maßstabsebenen.<br />

Wechselwirkungen zwischen<br />

räumlichen Maßstabsebenen<br />

Verschiedene Aspekte der <strong>Humangeographie</strong> lassen<br />

sich am besten auf unterschiedlichen Maßstabsebenen<br />

erfassen <strong>und</strong> analysieren. Gleichzeitig stehen<br />

diese Aspekte miteinander in Beziehung <strong>und</strong> hängen<br />

voneinander ab. Geographen müssen daher in Lage<br />

sein, Phänomene <strong>und</strong> Gegenstände verschiedener<br />

Maßstabsebenen im Zusammenhang zu sehen. Bevor<br />

wir uns diesem Thema zuwenden, soll zunächst geklärt<br />

werden, was „Maßstab“ bedeutet.<br />

Geographische Maßstabsebenen werden sinnvollerweise<br />

als Materialisation von realen Prozessen verstanden<br />

<strong>und</strong> nicht nur als Abstraktionsebenen oder<br />

zweckmäßiges Mittel, um zwischen der Betrachtung<br />

globaler Zusammenhänge <strong>und</strong> lokaler Details zu<br />

wechseln. In diesem Sinn stellt der Maßstab eine<br />

konkrete Aufteilung des Raums dar, in dem verschiedene<br />

Prozesse - zum Beispiel ökonomische, soziale<br />

oder politische - ablaufen. Diese Aufteilung wiederum<br />

erzeugt häufig dominante Raumstrukturen<br />

<strong>und</strong> Organisationsmuster, zumindest so lange, bis<br />

ein gr<strong>und</strong>legender Wandel eintritt. Die Industrielle<br />

Revolution hat beispielsweise nicht nur den Charakter<br />

der ökonomischen Entwicklung (von der agrarischen<br />

zur gewerblichen) verändert, sondern auch die<br />

räumlichen Maßstabsebenen, auf welchen industrielle<br />

Produktion <strong>und</strong> Verbrauch organisiert sind (von<br />

der lokalen zur nationalen <strong>und</strong> internationalen).


8 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

WELTWIRTSCHAFT<br />

WELT­<br />

REGIONEN<br />

STAATEN<br />

SIEDLUNGEN<br />

Erfahrungsraum:<br />

Q y Gemeinschaft<br />

Zuhause<br />

Körper<br />

ry \ . ^ n ^‘^adm\n\s'<br />

>Si<br />

in Kernte^'<br />

ioP''<br />

'^Pherie <strong>und</strong><br />

1.3 Räumliche Maßstabsebenen Geographische Phänomene<br />

lassen sich auf verschiedenen räumlichen Maßstabsebenen<br />

identifizieren, analysieren <strong>und</strong> erklären. Das Schaubild<br />

zeigt einige der wichtigsten Maßstabsebenen, auf die sich<br />

geographische Untersuchungen in der Regel beziehen.<br />

Zu jedem Zeitpunkt lässt sich eine Reihe bestimmter<br />

Maßstäbe identifizieren, auf welchen jeweils verschiedene<br />

räumliche Prozesse in signifikanter Weise Z u ­<br />

sammenwirken. Der globale Maßstab wird heute<br />

durch internationale oder Weltregionen - große,<br />

aber relativ homogene Räume mit unterschiedlichen<br />

ökonomischen, kulturellen <strong>und</strong> demographischen<br />

Merkmalen - repräsentiert (Abbildung 1.3). Weltregionen<br />

sind geographische Räume von kontinentaler<br />

Dimension. Sie basieren auf physiogeographischen<br />

Milieus, die große Bevölkerungsgruppen mit weitgehend<br />

ähnlichen kulturellen Merkmalen einschließen.<br />

Beispiele sind Europa, Lateinamerika <strong>und</strong> Südasien.<br />

Diese Regionen entwickeln sich kontinuierlich weiter,<br />

indem sowohl natürliche Ressourcen als auch Technologien<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Einschränkungen schaffen,<br />

auf welche die Gesellschaften reagieren.<br />

Überlagert werden diese Regionen, wenn auch in<br />

manchen Fällen nur näherungsweise, von den dejure-<br />

Territorien der Nationalstaaten. Staaten sind eigenständige<br />

politische Einheiten, deren Grenzen von anderen<br />

Staaten anerkannt werden (Kapitel 10). De jure<br />

bedeutet nichts anderes als rechtlich anerkannt. Von<br />

formalen, rechtlich anerkannten Grenzen umschlossene<br />

Territorien oder Raumeinheiten - Nationalstaaten,<br />

Provinzen, B<strong>und</strong>esländer, Regierungsbezirke,<br />

Gemeinden <strong>und</strong> so weiter - werden als dejure-Räume<br />

oder de jwre-Regionen (administrative Raumeinheiten)<br />

bezeichnet. Nationale Regierungen verfügen<br />

über Steuerungsinstrumente insbesondere hinsichtlich<br />

der Waren-, Geld- <strong>und</strong> Informationsströme,<br />

welche die Verhältnisse in einem Land maßgeblich<br />

bestimmen. Nationalstaaten stellen daher oft eine<br />

sehr wichtige geographische Maßstabsebene dar.<br />

Nationalstaaten werden gewöhnlich etabliert, um<br />

die zum Zeitpunkt ihrer Gründung bestmöglichen<br />

ökonomischen Bedingungen zu schaffen. Die Grenzen<br />

zahlreiche Nationalstaaten auf dem Boden ehemaliger<br />

europäischer Kolonien wurden jedoch mit<br />

dem Lineal am Schreibtisch gezogen <strong>und</strong> durchschneiden<br />

ehemals zusammengehörige Räume. Hieraus<br />

resultieren bis heute Regionalkonflikte <strong>und</strong> Bürgerkriege.<br />

Sind Grenzen - als Ausdruck nationaler Souveränität<br />

- einmal gezogen, werden sie von der Bevölkerung<br />

leicht als natürlich gegeben <strong>und</strong> unveränderlich<br />

betrachtet. Nationalstaaten können jedoch auf veränderte<br />

wirtschaftliche Bedingungen reagieren, indem<br />

sie ihre Grenzen neu justieren oder andere Wege<br />

der wirtschaftlichen Anpassung suchen, beispielsweise<br />

indem sie überstaatlichen Bündnissen oder Organisationen<br />

beitreten. Überstaatliche oder supranationale<br />

Organisationen sind Zusammenschlüsse unabhängiger<br />

Staaten, die gemeinsame wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong>/oder politische Ziele verfolgen <strong>und</strong> zugunsten<br />

gemeinsamer Interessen ihre individuelle Souveränität<br />

in gewissem Umfang einschränken. Beispiele supranationaler<br />

Organisationen sind die Europäische<br />

Union (EU), die Nordamerikanische Freihandelszone<br />

(North American Free Trade Association, NAFTA)<br />

oder die Vereinigung Südostasiatischer Staaten (Association<br />

of South East Asian Nations, ASEAN).<br />

Innerhalb der meisten Nationalstaaten <strong>und</strong> aller<br />

internationaler Regionen existieren kleinere funktionale<br />

Raumeinheiten. Regionen dieser geographischen<br />

Maßstabsebene bilden sich im Umfeld bestimmter<br />

Ressourcen <strong>und</strong> Industrien mit ihren Netzwerken<br />

aus Produzenten, Versorgungseinrichtungen, Zulieferbetrieben,<br />

Großhändlern <strong>und</strong> Vertriebsstrukturen<br />

sowie den damit verb<strong>und</strong>enen sozialen, kulturellen<br />

<strong>und</strong> politischen Identitäten heraus. Sie stellen die<br />

klassischen funktionalen Regionen der traditionellen<br />

Regionalen Geographie dar: der amerikanische Weizengürtel,<br />

die argentinische Pampa, die schottischen<br />

Kohlenfelder, Japans pazifischer Korridor oder die<br />

russische Industrieregion im Ural.<br />

Für die meisten von uns umfasst jedoch der Erfahrungsraum<br />

die Maßstabsebene menschlicher Siedlungen.<br />

Diese lokale Maßstabsebene wird gebildet<br />

durch die Art <strong>und</strong> Weise, wie Bewohner ihr Leben<br />

durch Arbeit, Konsum <strong>und</strong> Freizeit organisieren.


Der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von Orten<br />

Sie fällt im Wesentlichen mit einer anderen wichtigen<br />

Maßstabsebene von de ;wre-Territorien zusammen:<br />

lokalen Gemeinden, die den Rahmen bilden für<br />

die öffentliche Verwaltung <strong>und</strong> den „kollektiven<br />

Konsum“ bestimmter Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

wie öffentlichen Verkehr, Bildung, Wohnungsbau<br />

oder Freizeiteinrichtungen.<br />

Innerhalb des Erfahrungsraums gibt es andere bedeutende<br />

Maßstabsebenen (Abbildung 1.3). Unter<br />

diesen ist die Maßstabsebene der Gemeinschaft<br />

die wichtigste <strong>und</strong> zugleich die am schwierigsten zu<br />

fassende. Es ist die Maßstabsebene der sozialen Interaktion<br />

—der zwischenmenschlichen Beziehungen <strong>und</strong><br />

des Alltagslebens. Sie hängt in hohem Maß von den<br />

ökonomischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Merkmalen<br />

lokaler Bevölkerungsgruppen ab. Wesentlich schärfer<br />

Umrissen ist die Maßstabsebene des Zuhauses. Es ist<br />

ein wichtiger geographischer Ort, denn er stellt die<br />

physische Umgebung dar, innerhalb derer sich Struktur<br />

<strong>und</strong> Dynamik von Familie <strong>und</strong> Flaushalt konstituieren.<br />

Schließlich bilden der Körper <strong>und</strong> das Selbst die<br />

kleinste Maßstabsebene, mit der Geographen zu<br />

tun haben. Der Körper ist für Geographen von Interesse,<br />

weil er diejenige Maßstabsebene darstellt, auf<br />

welcher Unterschiede letztlich definiert werden -<br />

nicht nur durch physische Merkmale wie Flaare,<br />

Hautfarbe oder Gesichtsschnitt, sondern auch durch<br />

gesellschaftliche <strong>und</strong> persönliche Normen, bevorzugte<br />

körperliche Ausdrucksformen <strong>und</strong> akzeptiertes<br />

sexuelles Verhalten. Besonders wichtig ist die<br />

Art <strong>und</strong> Weise, wie - in vielen Kulturen - Geschlechterrollen<br />

konstruiert werden <strong>und</strong> welche Handlungsmöglichkeiten,<br />

aber auch -einschränkungen daraus<br />

entstehen.<br />

Daraus resultiert der Umstand, dass Männer <strong>und</strong><br />

Frauen unterschiedliche Geographien schaffen <strong>und</strong><br />

erfahren - Frauenwelt <strong>und</strong> Männerwelt. Das Selbst<br />

ist von Interesse, weil es die operationale Ebene repräsentiert,<br />

auf welcher Kognition, Wahrnehmung, Vorstellungsvermögen,<br />

freier Wille <strong>und</strong> Verhalten angesiedelt<br />

sind. Da es notwendig ist, die Beziehungen<br />

zwischen Natur, Kultur <strong>und</strong> der Gestaltung von Orten<br />

<strong>und</strong> Regionen durch menschliche Individuen zu<br />

verstehen, ist das Selbst zu einer wichtigen Maßstabsebene<br />

der geographischen Analyse geworden.<br />

Die vielleicht wichtigste Schlussfolgerung aus den<br />

oben angestellten Überlegungen zum Maßstab ist,<br />

dass bestimmte Phänomene sich am besten erfassen<br />

<strong>und</strong> erklären lassen, wenn man die spezifischen<br />

räumlichen Maßstabsebenen berücksichtigt. Andererseits<br />

sind soziale, kulturelle, politische <strong>und</strong> ökonomische<br />

Phänomene fließend, sie entstehen fortwährend<br />

neu, verstärken sich, werden abgeschwächt<br />

<strong>und</strong> wiederhergestellt. Und obwohl bestimmte Maßstabsebenen<br />

konkrete Prozesse repräsentieren, lässt<br />

die Welt sich letztlich nur verstehen als das Ergebnis<br />

von sich wechselseitig beeinflussenden Phänomenen<br />

unterschiedlicher räumlicher Maßstabsebenen.<br />

In der heutigen Welt werden die wichtigsten Beziehungen<br />

zwischen verschiedenen geographischen<br />

Maßstabsebenen durch die Verflechtungen zwischen<br />

der globalen <strong>und</strong> der lokalen Ebene erzeugt. Die <strong>Humangeographie</strong><br />

untersucht jedoch nicht nur die Auswirkungen<br />

globaler Entwicklungen auf lokale Gegebenheiten,<br />

sondern fragt auch, in welcher Weise lokale<br />

Ereignisse räumliche Prozesse <strong>und</strong> Strukturen an<br />

anderen Orten beeinflussen.<br />

Am Beispiel von New York können beide Aspekte<br />

dieser wechselseitigen Beziehung aufgezeigt werden.<br />

Makler <strong>und</strong> Anleger an den New Yorker Wertpapierbörsen<br />

müssen das globale Geschehen im eigenen Interesse<br />

jederzeit im Auge behalten. Die Summe der<br />

Entscheidungen, die sie tagtäglich treffen, beeinflusst<br />

weltweit die Aktien- <strong>und</strong> Wechselkurse. Gleichzeitig<br />

haben diese Entscheidungen oftmals unmittelbare<br />

Auswirkungen auf lokaler Ebene. Veränderungen<br />

der Wechselkurse können über eine Verteuerung<br />

von Produkten dazu führen, dass diese auf den Auslandsmärkten<br />

nicht mehr konkurrenzfähig sind, sodass<br />

in der Folge Betriebe geschlossen <strong>und</strong> Arbeitskräfte<br />

entlassen werden müssen. Da andere Unternehmen<br />

durch dieselben Veränderungen Wettbewerbsvorteile<br />

auf dem Weltmarkt erlangen können,<br />

entstehen anderswo möglicherweise neue Arbeitsplätze.<br />

Andererseits können sich lokale Ereignisse<br />

auf die New Yorker Börsen- <strong>und</strong> Kapitalmärkte auswirken<br />

<strong>und</strong> damit wiederum globale Effekte hervorrufen.<br />

So können politische Instabilitäten in einer Region,<br />

die einen unentbehrlichen Rohstoff erzeugt,<br />

weltweite Verschiebungen des Preisgefüges verursachen<br />

<strong>und</strong> Auswirkungen auf die Aktienkurse vieler<br />

Unternehmen haben.<br />

Interdependenz als<br />

, rückgekoppelter Prozess<br />

Orte sind nicht nur Ergebnis, sondern auch Bestandteil<br />

geographischer Prozesse. Dies lässt sich anhand<br />

eines beliebigen Stadtviertels verdeutlichen. Die jeweils<br />

spezifische Mischung unterschiedlichster Gebäude,<br />

Arbeitsplätze <strong>und</strong> Bewohner resultiert aus<br />

einem ganzen Bündel von Prozessen. Hierzu gehören<br />

Erschließungsmaßnahmen, Bauvorschriften, Kon-


10 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1.4 Von Menschen geschaffene Räume Menschen entwickeln Daseins- <strong>und</strong> Wirtschaftsformen entsprechend der Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen, die durch die physischen Umweltbedingungen an einem Ort gegeben sind. Auf diese Weise bilden sich regional<br />

unterschiedliche Kulturlandschaften heraus. Die Fotos zeigen den Reisanbau in Thailand. Reisbaulandschaften sind durch das<br />

jahrh<strong>und</strong>ertelange Zusammenspiel von Mensch <strong>und</strong> Natur entstanden; sie sind überaus fruchtbar, das Klima in den wechselfeuchten<br />

Tropen ermöglicht vielerorts eine Fruchtfolge mit zwei Reisernten <strong>und</strong> einem zwischengeschalteten Winterweizenoder<br />

Brachzyklus. Überdies werden in den Reisfeldern Fische gehalten. Für das Pflügen wird inzwischen meist der sogenannte<br />

iron buffalo eingesetzt, der immer mehr die traditionellen Wasserbüffel ersetzt.<br />

zepte der Stadtplanung, politische Verhältnisse, Eigentums-<br />

<strong>und</strong> Mietstrukturen, Veränderungen des<br />

lokalen Wohnungsmarktes, zeitlich wechselnde Belegungen<br />

<strong>und</strong> Nutzungen von Wohn- <strong>und</strong> Geschäftsgebäuden<br />

durch unterschiedliche gesellschaftliche<br />

Gruppen, die Bereitstellung <strong>und</strong> Instandhaltung öffentlicher<br />

Einrichtungen durch die Stadt <strong>und</strong> vieles<br />

andere mehr. Im Lauf der Zeit führen solche Prozesse<br />

nicht nur zu einem unverwechselbaren baulichen Erscheinungsbild,<br />

sondern auch zu einem spezifischen<br />

Bevölkerungsprofil, zu unterschiedlich ausgeprägter<br />

sozialer Segregation, einem bestimmten sozialen Klima<br />

<strong>und</strong> einem besonderen Image. Die charakteristischen<br />

Merkmale eines Viertels beeinflussen ihrerseits<br />

wiederum dessen zukünftige bauliche <strong>und</strong> strukturelle<br />

Entwicklung, den örtlichen Wohnungsmarkt sowie<br />

die Zu- <strong>und</strong> Abwanderung in das beziehungsweise<br />

aus dem Gebiet.<br />

Orte sind folglich dynamische Phänomene. Menschen<br />

schaffen <strong>und</strong> gestalten Orte entsprechend den<br />

Möglichkeiten <strong>und</strong> Einschränkungen, die sich aus<br />

den jeweiligen Umweltbedingungen ergeben. Indem<br />

Menschen an Orlen arbeiten <strong>und</strong> leben <strong>und</strong> diesen<br />

ein Image verleihen, verändern sie die Umwelt, passen<br />

sie nach <strong>und</strong> nach ihren eigenen Bedürfnissen an<br />

<strong>und</strong> machen sich diese auf verschiedenste Weise zunutze.<br />

Umgekehrt passen sich auch Menschen<br />

schrittweise sowohl an ihre äußere Umwelt als<br />

auch an diejenigen an, mit denen sie eine Gemeinschaft<br />

bilden. Es vollzieht sich somit ein kontinuierlicher<br />

rückgekoppelter Prozess, in welchem Menschen<br />

Orte gestalten <strong>und</strong> modifizieren <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

von der Umgebung, in der sie leben <strong>und</strong> arbeiten,<br />

in ihren Zielen <strong>und</strong> Handlungen beeinflusst werden<br />

(Abbildung 1.4).<br />

Orte unterliegen ständigen geographischen Wandlungsprozessen,<br />

Veränderungen <strong>und</strong> Modifikationen,<br />

sodass deren Umgestaltung ein kontinuierlicher Vorgang<br />

ist, der auf verschiedenen Maßstabsebenen<br />

gleichzeitig abläuft. Geographen müssen deshalb<br />

ein feines Gespür für Interdependenzen besitzen, andererseits<br />

dürfen sie nicht den Fehler begehen, zu<br />

stark zu verallgemeinern, an einfache deterministische<br />

Beziehungen zu glauben oder die Vielfalt individueller<br />

Erscheinungen, den zentralen Gegenstand der<br />

<strong>Humangeographie</strong>, aus dem Blick zu verlieren. Geographen<br />

sollten sich auch davor hüten. Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

als Singularitäten oder isolierte Einzelerscheinungen<br />

zu betrachten <strong>und</strong> das Forschungsinteresse<br />

ausschließlich auf diese selbst zu richten.


Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung 11<br />

Interdependenz im Zeitalter<br />

^ der Globalisierung<br />

Als beobachtende <strong>und</strong> analysierende Wissenschaft<br />

hat die Geographie entscheidend sowohl zum Verständnis<br />

der Welt als auch zur Entwicklung der Weitsicht<br />

beigetragen. Auch im heutigen Informationszeitalter,<br />

in dem die globalen Strukturen immer komplexer<br />

werden <strong>und</strong> sich die Welt rascher denn je wandelt,<br />

hat die Geographie nichts von ihrer Bedeutung<br />

verloren. Die geographische Sicht lässt uns nicht nur<br />

die Fülle <strong>und</strong> Vielfalt von Orten <strong>und</strong> Lebensgemeinschaften<br />

sowie deren Verflechtungen erkennen <strong>und</strong><br />

schätzen, sondern sie schafft darüber hinaus wichtige<br />

Gr<strong>und</strong>lagen für zukünftige Entwicklungen auf lokaler,<br />

nationaler <strong>und</strong> globaler Ebene.<br />

In der heutigen Zeit, die von rasanten Veränderungen<br />

der wirtschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong> politischen<br />

Verhältnisse gekennzeichnet ist, kommt geographischem<br />

Fachwissen größere Bedeutung zu als jemals<br />

zuvor. Geographische Untersuchungen tragen in<br />

einer sich rasch wandelnden Welt, in der das Leben<br />

jedes Einzelnen mehr <strong>und</strong> mehr von Entwicklungen<br />

in anderen Regionen der Welt beeinflusst wird, zu<br />

einem besseren Verständnis gegenseitiger Abhängigkeiten<br />

bei. Die Darstellung der Interdependenzen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Orten ist daher ein zentrales<br />

Anliegen dieses Buchs.<br />

Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Thema der<br />

Globalisierung. (Kapitel 2). Unter Globalisierung<br />

versteht man die Zunahme weltweiter Verflechtungen<br />

infolge der globalen Reichweite <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

ökonomischer, ökologischer, politischer <strong>und</strong> kultureller<br />

Prozesse. Das Phänomen einer internationalen<br />

Ökonomie existiert bereits seit einigen Jahrh<strong>und</strong>erten.<br />

Mit deren Erscheinen bildete sich ein übergreifender<br />

Bezugsrahmen souveräner Nationalstaaten sowie<br />

ein internationales System der Produktion <strong>und</strong><br />

des gegenseitigen Austauschs heraus, das sich im<br />

Lauf der Zeit mehrfach gewandelt hat. Jede dieser<br />

Umbruchsphasen brachte nicht nur gravierende Veränderungen<br />

der weltweiten Verflechtungen mit sich,<br />

sondern wirkte sich auch auf die Situation <strong>und</strong> die<br />

Perspektiven konkreter Orte aus.<br />

Art <strong>und</strong> Tempo des Globalisierungsprozesses haben<br />

sich in jüngster Zeit stark gewandelt <strong>und</strong> dazu<br />

geführt, dass weltweite Verflechtungen stark zugenommen<br />

haben. Neue Telekommunikationstechnologien,<br />

neue Unternehmensstrategien <strong>und</strong> neue institutioneile<br />

Rahmenbedingungen bilden ein dynamisches<br />

Bezugssystem für räumliche Entwicklungsprozesse<br />

in der Welt. Durch neue Informationstechnologien<br />

entstand ein internationales Finanzsystem mit<br />

hochtourig um die Welt zirkulierendem Kapital.<br />

Transnationale Unternehmen sind heute ohne Weiteres<br />

in der Lage, auf veränderte Wettbewerbsbedingungen<br />

wie auf neue Transport- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien<br />

zu reagieren, indem sie Produktionsstätten<br />

von einem Teil der Welt in einen anderen<br />

verlagern (Kapitel 8). Diese Standortflexibilität hat<br />

heute zu einem hohen Maß an funktionaler Integration<br />

zwischen zunehmend im Raum verteilten<br />

Wirtschaftsaktivitäten geführt. Produkte, Märkte<br />

<strong>und</strong> Organisationen sind einerseits über den gesamten<br />

Globus verstreut, andererseits aber auch weltweit<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en. In dem Bemühen, auf<br />

die Folgen der Globalisierung zu reagieren, suchen<br />

Regierungen nach neuen Wegen, zu denen auch<br />

die Bildung neuer politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Allianzen, zum Beispiel der Nordamerikanischen<br />

Freihandelszone NAFTA oder der EU (Kapitel 10),<br />

zu rechnen sind.<br />

Die mit dem Prozess der Globalisierung verb<strong>und</strong>enen<br />

Interdependenzen können ganz unterschiedlicher<br />

Natur sein. Oft sind sie asymmetrisch, wie im<br />

Fall transnationaler Unternehmen, die ihren Hauptsitz<br />

in einem Land haben <strong>und</strong> von den niedrigen Arbeitskosten<br />

in anderen Ländern profitieren. In anderen<br />

Fällen scheinen die Beziehungen Vorteile für alle<br />

Beteiligten mit sich zu bringen - wie bei Ländern, die<br />

Kosten <strong>und</strong> Zuständigkeiten des Ressourcenmanagements<br />

über Grenzen hinweg untereinander teilen.<br />

Fast immer bieten jedoch die Auswirkungen der im<br />

Zuge der Globalisierung zunehmenden geographischen<br />

Verflechtungen breiten Spielraum für Interpretationen:<br />

Wer „gewinnt“ <strong>und</strong> wer „verliert“ hängt wesentlich<br />

vom Standpunkt des Betrachters <strong>und</strong> der<br />

geographischen Maßstabsebene ab.<br />

Sichtweisen von Globalisierung<br />

I <strong>und</strong> Interdependenz__________<br />

Ein wichtiger Aspekt von Globalisierung ist die weit<br />

verbreitete Wahrnehmung, dass die Welt aufgr<strong>und</strong><br />

ökonomischer <strong>und</strong> technologischer Faktoren sich zunehmend<br />

zu einem politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Raum entwickelt, in welchem Ereignisse in einer Region<br />

Auswirkungen auf alle anderen haben, egal, ob<br />

nah oder fern. Wenn ökonomische <strong>und</strong> technologische<br />

Faktoren bewirken, dass Barrieren innerhalb<br />

<strong>und</strong> auch zwischen Orten zunehmend verschwinden<br />

- wird die jüngste Phase des Globalisierungsprozesses


1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

Exkurs 1.2<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Der kontroverse Diskurs um die Globalisierung<br />

Globalisierung lässt sich als Prozess der Intensivierung \weltweiter<br />

wirtschaftlicher wie auch kultureller <strong>und</strong> sozialer Beziehungen<br />

verstehen, als zunehmende Integration von Märkten,<br />

Wirtschaftssektoren <strong>und</strong> Produktionssystemen in der Folge<br />

des strategischen Handelns mächtiger Akteure wie insbesondere<br />

der transnationalen Unternehmen (TNU) oder einzelner<br />

Nationalstaaten (Giddens 1995). Typische statistische Indikatoren<br />

des Globalisierungsprozesses sind unter anderem die<br />

Zunahme des um die Welt „zirkulierenden“ Finanzkapitals beziehungsweise<br />

der häufig herangezogene Indikator der zunehmenden<br />

ausländischen Direktinvestitionen.<br />

Für die Geographie ist Globalisierung zunächst ein fachspezifisches<br />

Thema, da es sich um einen nach Ort, Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

differenziert ablaufenden Prozess handelt. Als Akteure dieses<br />

Prozesses stehen neben den TNU Staaten <strong>und</strong> Regierungen<br />

im Mittelpunkt der Diskussion. Zunehmend organisieren<br />

sich aber auch deren Gegenspieler, die transnationalen Lobbies,<br />

also Nicht-Regierungsorganisationen verschiedenster<br />

Art wie Greenpeace oder Amnesty International, in weltweiten<br />

Netzwerken. Neben der häufig primär gesehenen ökonomischen<br />

Globalisierung interessieren im Rahmen der <strong>Humangeographie</strong><br />

auch die weiteren Ebenen einer gesellschaftlichen,<br />

politischen, kulturellen <strong>und</strong> ökologischen Globalisierung.<br />

Viele Autoren betonen den engen „Kausalnexus“ zwischen<br />

einerseits Prozessen der Globalisierung <strong>und</strong> andererseits lokalen<br />

Spezifika. „Global“ <strong>und</strong> „lokal“ bilden jedoch keinen Gegensatz,<br />

sondern zwei Seiten einer Medaille. Danielzyk <strong>und</strong> Ossenbrügge<br />

(1998) gehen auf drei verschiedene Facetten des<br />

Verhältnisses von global <strong>und</strong> lokal näher ein:<br />

In einem ersten Verständnis bedeutet es, dass heute das<br />

Globale, der „Sachzwang Weltmarkt“, die städtischen <strong>und</strong><br />

regionalen Verhältnisse steuert. In diesem sehr passiven<br />

Verständnis können regionale oder lokale Akteure letztlich<br />

nur versuchen, die schwerwiegenden Nachteile der Globalisierung<br />

zu verhindern oder abzuschwächen (neostruktura-<br />

listische Sicht).<br />

Die zweite Variante sieht Globalisierung <strong>und</strong> Regionalität in<br />

einem dialektischen Verhältnis zueinander: Je wirksamer<br />

die Prozesse der Globalisierung ökonomische, politische<br />

<strong>und</strong> kulturelle Momente beeinflussen, desto mächtiger<br />

werden Gegentendenzen auf der lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Ebene. Aus diesen Gründen entstehen Forderungen nach<br />

territorialer Eigenständigkeit in Hinblick auf die Gestaltung<br />

der Wirtschaft, der Politik <strong>und</strong> kultureller Aspekte.<br />

Die dritte Variante schließlich weist auf einen Bedeutungsgewinn<br />

regionaler Kontexte wegen der heute vorhandenen<br />

globalen Steuerungs- <strong>und</strong> Kontrollmöglichkeiten hin, die<br />

besonders transnational agierende Unternehmen aufweisen.<br />

Orts- <strong>und</strong> regionalspezifische Ausstattungsunterschiede<br />

werden dann wichtiger, wenn die raumzeitlichen <strong>und</strong><br />

rechtlich-institutionellen Barrieren an Bedeutung verlieren.<br />

Somit erzeugt die Tendenz zur Homogenisierung des Wirtschaftsraums<br />

gerade eine neue Bedeutung der Städte <strong>und</strong><br />

Regionen, welche sich in verschiedenen Formen der regionalen<br />

Spezialisierung ausdrückt <strong>und</strong> damit unterschiedliche<br />

regionale <strong>und</strong> lokale Kompetenzen umfasst (zum<br />

Beispiel innovative oder kreative Milieus oder lernende<br />

Regionen).<br />

dann dazu führen, dass manche regionalen Verbindungen<br />

sich verstärken <strong>und</strong> andere sich abschwächen,<br />

oder dass Regionen insgesamt irrelevant werden?<br />

Oder wird die Globalisierung manche Regionen<br />

- zum Beispiel die Kernregionen der Erde - in die<br />

Lage versetzen, das innerhalb des Weltsystems bereits<br />

bestehende Wohlstands- <strong>und</strong> Machtgefälle weiter zu<br />

verstärken? Die Einschätzungen von Experten können<br />

helfen, das komplexe Beziehungsgefüge zwischen<br />

dem Globalen <strong>und</strong> dem Regionalen besser zu verstehen.<br />

Die Zahl der Veröffentlichungen zum Prozess der<br />

Globalisierung <strong>und</strong> seinen Auswirkungen auf die Regionen<br />

der Erde ist in den vergangenen 15 Jahren<br />

enorm angestiegen. In jeder gut sortierten Buchhandlung<br />

finden sich H<strong>und</strong>erte von Publikationen zu diesem<br />

Thema, oft mit ganzen Abteilungen zu Fragen<br />

der Globalisierung in Politikwissenschaft, Soziologie,<br />

Geographie, Wirtschaftswissenschaft, Medienwissenschaften,<br />

Betriebs- <strong>und</strong> Volkswirtschaft. Die wichtigsten<br />

Standpunkte in der aktuellen Debatte lassen sich<br />

drei großen Gruppen zuordnen; Hyperglobalisierern,<br />

Skeptikern <strong>und</strong> Transformationalisten. Die von diesen<br />

drei „Lagern“ vertretenen Positionen decken zwar<br />

nicht das gesamte Spektrum des Globalisierungsdiskurses<br />

ab, erlauben jedoch, einen guten Überblick darüber<br />

zu gewinnen, in welchen Fragen die Experten<br />

übereinstimmen <strong>und</strong> in welchen sic unterschiedlicher<br />

Auffassung sind.


Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung 13<br />

In den frühen 1990er-Jahren herrschte eine eher optimistische<br />

Sicht der Globalisierung vor, welche von interkulturellem Austausch<br />

<strong>und</strong> zunehmender Auflösung räumlicher Unterschiede<br />

im „globalen Dorf“ der Weltgesellschaft träumte (Weidenfeld<br />

1999). Auf wirtschaftlichem Gebiet wurde Globalisierung<br />

als „all winners game“ verstanden. Eine geoökonomische<br />

Weltkonstellation zunehmend zusammenwachsender Kommunikation<br />

jenseits von Nationalstaaten <strong>und</strong> politischen Systemen<br />

entwickelte besonders Castells mit seinem Entwurf einer<br />

„Netzwerkgesellschaft“. Er sieht, wie nicht wenige ökonomische<br />

Theoretiker der Globalisierung, die Zukunft der Welt<br />

weniger in territorialen Einheiten (space o f places) als vielmehr<br />

in Netzwerken verfasst (space o f flows), welche die<br />

neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften bilden <strong>und</strong><br />

prinzipiell in der Lage sind, grenzenlos zu expandieren (Castells<br />

2001).<br />

Inzwischen jedoch wird der Globalisierungsdiskurs, anders<br />

noch als Anfang der 1990er-Jahre, zunehmend kritisch geführt<br />

<strong>und</strong> die Doppelbödigkeit der Globalisierung erkennbar. Immer<br />

größere Teile der Welt scheiden aus der regulären Ökonomie<br />

aus <strong>und</strong> „shiften“ in den Bereich informeller <strong>und</strong> krimineller<br />

Ökonomien beispielsweise des Drogenhandels. Weltweit bildet<br />

inzwischen der informelle Sektor, die „Schattenwirtschaft“,<br />

die Lebenswelt des größten Teils der erwerbsfähigen<br />

Bevölkerung, nach Schätzung der Internationalen Arbeitsorganisation<br />

(ILO) 4 Milliarden Menschen (Lock 2004). Das globale<br />

„Bruttokriminalprodukt“, von dem knapp die Hälfte auf Drogengeschäfte<br />

entfällt, wird auf jährlich 1500 Milliarden US-<br />

Dollar geschätzt (ebd.).<br />

Diese unterschiedlichen Ökonomien werden im Zuge der<br />

Globalisierung zunehmend miteinander vernetzt <strong>und</strong> damit<br />

indirekt in die reguläre Ökonomie integriert. Schattenaktivitäten<br />

wie Geldwäsche, Drogenhandel <strong>und</strong> illegale Migration<br />

werden zu einer spezifischen Form der Teilhabe an Globalisierung.<br />

Allerdings zu einer einseitigen <strong>und</strong> abhängigen Form. Die<br />

„Sieger“ der Globalisierung sitzen eindeutig in den Industriestaaten.<br />

Über die entfesselten Kapitalflüsse üex „network economy"<br />

laufen spektakuläre Raubzüge, die von Hedgefonds <strong>und</strong><br />

anderen Institutionen des Finanzkapitals betrieben werden. So<br />

trieben zum Beispiel in den späten 1990er-Jahren Hedgefonds<br />

durch die Herbeiführung einer Liquiditätskrise in Südostasien<br />

eigentlich profitable Unternehmen in 6\e„Asien Cr/s/s“ <strong>und</strong> leiteten<br />

eine massive Überführung von südostasiatischem Eigentum<br />

ins Ausland (in die USA, nach Japan <strong>und</strong> Europa) ein, ein<br />

Prozess, den der bekannte englische Geograph David Harvey<br />

als „accumulation by disposession“ (Akkumulation durch Enteignung)<br />

bezeichnet (Harvey 2003). Dies führt zu einem stetigen<br />

Zufluss von Ressourcen in die Metropolen der Kernräume<br />

der Weltwirtschaft.<br />

Manche Globalisierungskritiker beziehen inzwischen in militanten<br />

Aktionen gegenüber den mächtigen Akteuren einer<br />

transnationalen Ökonomie Stellung (ATTAC, Protestaktionen<br />

bei Weltbank-, IWF- oder G8-Gipfeln). Sie sehen diesen Prozess<br />

als Projekt der sogenannten Ersten Weit zum Schaden<br />

der sogenannten Dritten Welt. Die Castell’sche Netzwerkgesellschaft<br />

im „globalen Dorf“ ist eben nicht für alle schön.<br />

Den Menschen auf der „Sonnenseite“ der Globalisierung „mit<br />

dem Geld auf der Plastikkarte, dem Handy am Ohr, dem Laptop<br />

im Rollkoffer <strong>und</strong> dem Designeranzug am gebräunten Luxuskörper“<br />

(Reuber & Wolkersdorfer 2005) steht das Millionenheer<br />

an Flüchtlingen aus den Hungerregionen Afrikas <strong>und</strong><br />

Asiens gegenüber, die immer vernehmlicher an die Pforten<br />

der „Wohlstandsinseln“ Europa oder Nordamerika klopfen<br />

oder sich in den Vorstädten von Paris <strong>und</strong> London notdürftig<br />

einrichten. Solche Menschen sind nicht Teil einer hochmobilen<br />

Netzwerkgesellschaft, vielmehr werden sie durch eine Vielzahl<br />

von gesetzlichen Bestimmungen <strong>und</strong> Grenzzäunen buchstäblich<br />

in ihre Schranken verwiesen.<br />

H. Gebhardt<br />

I<br />

Das Konzept der Hyperglobalisierung<br />

Nach dem Konzept der Hyperglobalisierung sorgen<br />

offene Märkte, freier Handel <strong>und</strong> die Möglichkeit<br />

zu Investitionen auf allen globalen Märkten dafür,<br />

dass die Zahl derer, die am Wohlstand einer wachsenden<br />

Weltwirtschaft teilhaben können, stetig zunimmt.<br />

Gemeinsame Interessen als Folge wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> politischer Verflechtungen helfen Konflikten<br />

vorzubeugen <strong>und</strong> fördern das Entstehen gemein-<br />

.samer Werte. Millionen von Menschen, so die These,<br />

werden durch eine auf Marktöffnung <strong>und</strong> freien Handel<br />

zielende neoliberale Politik in den Genuss von Demokratie<br />

<strong>und</strong> Menschenrechten kommen. Als neoliberale<br />

Politik bezeichnet man eine Wirtschaftspolitik,<br />

bei der die Rolle des Staates auf ein Minimum reduziert<br />

ist <strong>und</strong> freie Märkte als ideale Bedingung nicht<br />

nur für die Organisation der Wirtschaft, sondern<br />

auch für das politische <strong>und</strong> gesellschaftliche Leben<br />

angestrebt werden. Die Anhänger des Konzepts der<br />

Hyperglobalisierung glauben, dass in der gegenwärtigen<br />

Phase der Globalisierung sich der Anfang vom<br />

Ende der Nationalstaaten <strong>und</strong> die „Entstaatlichung“<br />

von Wirtschaft ankündigen. Damit ist gemeint,<br />

dass nationale Grenzen hinsichtlich ökonomischer<br />

Prozesse bedeutungslos werden <strong>und</strong> nationale Regierungen<br />

ihre vormals räumlich abgegrenzten Ökonomien<br />

nicht mehr kontrollieren, sondern stattdessen<br />

Verbindungen oder Bündnisse zwischen verschiedenen<br />

Teilen der Welt durch supranationale<br />

Organisationen wie NAFTA oder EU ermöglichen<br />

werden.


14 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

» Í<br />

Das Konzept der Hyperglobalisierung beinhaltet<br />

jedoch weit mehr, nämlich dass die Bedeutungsabnahme<br />

nationaler Regierungen, die nur noch als Vermittler<br />

weltweiter Kapitalströme <strong>und</strong> Investitionsflüsse<br />

fungieren, letztlich zu einer Welt ohne Grenzen<br />

führen wird. Anhänger der Hyperglobalisierung sind<br />

der Auffassung, dass an die Stelle der Nationalstaaten<br />

als Basis der gegenwärtigen Weltgesellschaft möglicherweise<br />

Institutionen einer Weltregierung treten<br />

werden, in welcher einzelne transnationale Loyalität<br />

im Sinne einer Verpflichtung auf neoliberale Gr<strong>und</strong>sätze<br />

des freien Handels <strong>und</strong> der ökonomischen Integration<br />

einfordern. Politisch werde die weltweite<br />

Verbreitung liberaldemokratischer Prinzipien die<br />

Entwicklung hin zu einer globalen Zivilisation mit<br />

eigenen Mechanismen einer globalen Regierung verstärken;<br />

die antiquierten Nationalstaaten werden<br />

durch globale Institutionen wie den Internationalen<br />

Währungsfond (IWF) oder die Welthandelsorganisation<br />

(WTO) ersetzt.<br />

I<br />

Die skeptische Sichtweise<br />

Ein anderes wichtiges Argument in der Globalisierungsliteratur<br />

stammt von Skeptikern, die glauben,<br />

dass die heute bestehende wirtschaftliche Integration<br />

keine neue Errungenschaft darstellt, <strong>und</strong> dass vieles,<br />

was in diesem Zusammenhang gesagt wird, übertrieben<br />

sei. Um ihre Position zu untermauern, verweisen<br />

sie auf das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> berufen sich auf Statistiken<br />

über die damaligen Ströme von Waren, Arbeitskräften<br />

<strong>und</strong> Investitionen. Sie argumentieren,<br />

dass die gegenwärtige ökonomische Integration weniger<br />

bedeutend ist als diejenige im späten 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

als fast alle Länder ein gemeinsames Währungssystem,<br />

den sogenannten Goldstandard, hatten. Die<br />

Skeptiker des Globalisierungsprozesses lehnen außerdem<br />

die Vorstellung ab, die Nationalstaaten seien im<br />

Niedergang begriffen. Sie wenden ein, dass nationale<br />

Regierungen von entscheidender Bedeutung für die<br />

Regulierung internationaler Wirtschaftsaktivitäten<br />

sind <strong>und</strong> dass die fortschreitende Liberalisierung<br />

der Weltwirtschaft nur durch die regulierende Macht<br />

nationaler Regierungen ermöglicht werden kann.<br />

Die Skeptiker behaupten, dass ihre Analyse der<br />

Wirtschaftsstrukturen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zeigen,<br />

dass wir gegenwärtig nicht Zeugen eines Prozesses<br />

der Globalisierung, sondern vielmehr der „Regionalisierung“<br />

sind - die Weltwirtschaft werde zunehmend<br />

von drei Hauptregionen oder -blöcken des<br />

Geld- <strong>und</strong> Warenverkehrs bestimmt: Europa, Nordamerika<br />

<strong>und</strong> Ostasien (insbesondere Japan). Nach<br />

Auffassung der Skeptiker stehen Regionalisierung<br />

<strong>und</strong> Globalisierung im Widerspruch zueinander.<br />

Sie glauben, dass aufgr<strong>und</strong> der Dominanz dieser<br />

drei bedeutendsten regionalen Blöcke die Welt gegenwärtig<br />

weniger integriert ist als in früherer Zeit, denn<br />

Europa, Nordamerika <strong>und</strong> Japan kontrollieren die<br />

Weltwirtschaft <strong>und</strong> beschränken den Zugang anderer<br />

Regionen zu ihr.<br />

I<br />

Die transformationalistische Sichtweise<br />

Nach der transformationalistischen Sichtweise sind<br />

die gegenwärtigen Prozesse der Globalisierung ohne<br />

Beispiel in der Geschichte. Niemals zuvor seien Regierungen<br />

<strong>und</strong> Menschen in allen Teilen der Welt mit<br />

der Abwesenheit einer klaren Unterscheidbarkeit<br />

zwischen dem Globalen <strong>und</strong> dem Lokalen, zwischen<br />

inneren <strong>und</strong> äußeren Angelegenheiten konfrontiert<br />

gewesen. Wie die Vertreter der Hyperglobalisierung<br />

versteht auch dieses Gruppe Globalisierung als eine<br />

transformative Kraft, die Gesellschaften, Ökonomien,<br />

Regierungsinstitutionen - kurz, die Weltordnung -<br />

verändert. Anders als die Hyperglobalisten <strong>und</strong> die<br />

Skeptiker treffen jedoch die Transformationalisten<br />

weder Aussagen über zukünftige Entwicklungen der<br />

Globalisierung, noch sehen sie die gegenwärtige Globalisierung<br />

als abgeschwächte Wiederholung des stärker<br />

„globalisierten“ 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Stattdessen verstehen<br />

sie Globalisierung als einen historischen Prozess,<br />

begleitet von Krisen <strong>und</strong> Rückschlägen, die eine<br />

Vorhersage unmöglich machen. Zudem glauben die<br />

Transformationalisten im Unterschied zu den Skeptikern,<br />

dass die gegenwärtigen Muster ökonomischer,<br />

technologischer, ökologischer, Migration betreffender,<br />

politischer <strong>und</strong> kultureller Entwicklungen alle<br />

Teile der Welt zu einem größeren globalen System<br />

verknüpft haben, in dem Freihandelsabkommen<br />

wie NAFTA dazu beitragen, Regionen in den globalen,<br />

neoliberalen wirtschaftlichen Rahmen einzubeziehen.<br />

In diesem Buch wird die transformationalistische<br />

Sichtweise bevorzugt. Die Autoren sind der Auffassung,<br />

dass wir auf eine Welt zusteuern, in der Standorte<br />

<strong>und</strong> Regionen infolge sich verstärkender Verbindungen<br />

mit anderen Teilen der Welt deutliche innere<br />

Veränderungen erfahren werden. Der vielleicht beunruhigendste<br />

Aspekt der transformationalistischen<br />

Sichtweise von Globalisierung ist die angenommene<br />

Verschärfung des Wohlstandsgefälles. Transformationalisten<br />

glauben, dass der Prozess der Globalisierung<br />

die sozialen Unterschiede verstärkt: Manche<br />

Staaten oder Gesellschaften seien enger mit der glo-


Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung 15<br />

der wechselseitigen Abhängigkeiten von Standorten<br />

<strong>und</strong> Regionen wirft indes zentrale Fragen bezüglich<br />

Umwelt, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Sicherheit auf.<br />

Schlüsseifragen in einer<br />

I globalisierten Welt<br />

I<br />

Umwelt<br />

1.5 Unterschiede im Alltag Die Lebenswelt <strong>und</strong> der Alltag<br />

von Menschen auf unserer Erde unterscheiden sich dramatisch.<br />

a) Die Aufnahme oben entstand im Stammesgebiet<br />

des östlichen Jemen. Ein Metzger mit Kalaschnikow verkauft<br />

Fleisch auf einem Feldmarkt, b) Hells Angels dokumentieren<br />

einen von der Mehrheitsgesellschaft der USA abweichenden<br />

Lebensstil, der sich in Kleidung <strong>und</strong> Verhaltensweisen äußert.<br />

balen Weltordnung verb<strong>und</strong>en, während andere zunehmend<br />

ins Abseits gerieten. Sie führen an, dass es<br />

keinerlei Belege für die These der Hyperglobalisten<br />

gibt, die neue globale Sozialstruktur könnte in eine<br />

globale Gesellschaft münden, in der alle Individuen<br />

gleich sind. Das Gegenteil sei der Fall, nämlich dass<br />

sich ein dreistufiges System - bestehend aus Eliten,<br />

Umkämpften <strong>und</strong> Marginalisierten - quer zu allen<br />

nationalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen Grenzen etablieren<br />

wird (Kapitel 13). Innerhalb von Staaten werde<br />

sich die Schere zwischen Arm <strong>und</strong> Reich - wie in vielen<br />

Ländern schon jetzt zu beobachten sei - weiter<br />

öffnen, <strong>und</strong> auch die Disparitäten zwischen Staaten<br />

werden zunehmen (Abbildung 1.5). Die Zunahme<br />

Allein der Umfang der Weltwirtschaft <strong>und</strong> deren<br />

Leistungsfähigkeit bringen es mit sich, dass der<br />

Mensch heute in der Lage ist, die Umwelt in globalem<br />

Maßstab zu verändern. Der „ökologische Fußabdruck“<br />

des Menschen erstreckt sich heute über<br />

mehr als vier Fünftel der Erdoberfläche (Abbildung<br />

1.6). Viele drängenden Probleme der modernen Gesellschaft<br />

resultieren aus Veränderungen unserer physischen<br />

Umwelt, seien sie beabsichtigt oder unbeabsichtigt.<br />

Der Mensch hat in einer Art <strong>und</strong> Weise in das<br />

natürliche Gleichgewicht eingegriffen, die in manchen<br />

Teilen der Erde zu wirtschaftlicher Prosperität,<br />

in anderen dagegen zu Problemen <strong>und</strong> Krisen geführt<br />

hat. So sichert beispielsweise die Umgestaltung von<br />

Naturlandschaften durch den Bau von Siedlungen,<br />

durch Bergbau <strong>und</strong> Landwirtschaft manchen Menschen<br />

Einkommen <strong>und</strong> Wohnung, verändert aber<br />

gleichzeitig physikalische Systeme, Bevölkerung,<br />

Tierwelt <strong>und</strong> Vegetation. Die unvermeidlichen Begleiterscheinungen<br />

- Abfall, Verschmutzung von<br />

Luft <strong>und</strong> Wasser, Sondermüll <strong>und</strong> so weiter - stellen<br />

für die Fähigkeit physikalischer Systeme, solche Einflüsse<br />

abzufedern <strong>und</strong> sich ihnen anzupassen, eine<br />

große Herausforderung dar. Neben dem Schreckgespenst<br />

der globalen Erwärmung - verursacht durch<br />

die Emission gasförmiger Stoffe in die Atmosphäre<br />

- zeigen sich weltweite Umweltbeeinträchtigungen<br />

auch in Form von Waldzerstörung, Desertifikation,<br />

saurem Regen, Verlust an Artenvielfalt, Smog, Bodenerosion,<br />

sinkenden Gr<strong>und</strong>wasserspiegeln <strong>und</strong><br />

Verschmutzung von Flüssen, Seen <strong>und</strong> Meeren.<br />

Der Baikalsee liefert hierfür ein lehrreiches Beispiel.<br />

Wegen seiner faszinierenden Schönheit auch<br />

als „Perle Sibiriens“ tituliert, stand der See lange<br />

Zeit als Sinnbild für diese unberührte Region in Russland.<br />

Doch nicht an die Umwelt angepasste Eingriffe<br />

<strong>und</strong> Maßnahmen brachten das einzigartige Ökosystem<br />

aus dem Gleichgewicht. Erste Anzeichen gab<br />

es in den 1950er-lahren, als die kommerziell genutzten<br />

Fischbestände rapide zurückgingen —teils durch<br />

Überfischung, teils durch den Bau des Irkutsk-Staudamms,<br />

der den Seespiegel erhöhte <strong>und</strong> flache Ufer-


16 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

t e i ?<br />

A-is<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Grad des<br />

ökologischen<br />

Fußabdrucks<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

%<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

10-20<br />

20-30<br />

30-40<br />

40-60<br />

60-80<br />

80-100<br />

1500 3000 Kdomsler<br />

Europa ;<br />

1.6 Der „ökologische Fußabdruck“ des Menschen Die von Wissenschaftlern der Wildlife Conservation Society <strong>und</strong> dem Columbia<br />

University’s Center for International Earth Science Information Network (CIESN) bearbeitete Karte zeigt die vom Menschen beeinflussten<br />

Gebiete der Erde, differenziert nach der Intensität ihrer Nutzung. In die Darstellung wurden Daten zu Bevölkerungsdichte,<br />

landwirtschaftlicher Nutzung, Anbindung an Straßen <strong>und</strong> Schifffahrtswege, Einrichtungen zur Stromgewinnung <strong>und</strong> -Versorgung<br />

<strong>und</strong> zur Verstädterung einbezogen. Je niedriger der Wert, desto geringer ist die Summe menschlicher Einflüsse in der betreffenden<br />

Region.<br />

Zonen, in denen die Fische Nahrung fanden, großräumig<br />

zerstörte. In den 1960er-Jahren spülte der Fluss<br />

Selenga, der r<strong>und</strong> die Hälfte des gesamten Wasserzustroms<br />

in den Baikalsee ausmacht, immer mehr<br />

Schadstoffe in den See. Die Selenga entspringt in<br />

den südlich gelegenen Bergketten, nimmt aber bis<br />

zu ihrer Einmündung in den Baikalsee die - überwiegend<br />

unbehandelten - Siedlungs- <strong>und</strong> Industrieabfälle<br />

mehrerer großer Städte auf. Über die Selenga<br />

<strong>und</strong> andere Flüsse gelangten zunehmend auch Agrochemikalien<br />

wie DDT <strong>und</strong> Polychlorierte Biphenyle<br />

(PCB) in den See. Unterdessen waren sowjetische<br />

Wirtschaftsplaner auf den Baikalsee aufmerksam geworden.<br />

Sie sahen in der Region einen geeigneten<br />

Standort für Industriebetriebe, die große Mengen<br />

sauberes Wasser benötigen. Anfang der 1960er-Jahre<br />

wurde die gewaltige Holz- <strong>und</strong> Papiermühle Baikalsk<br />

in Betrieb genommen, um hochwertige Zellulose für<br />

die russische Rüstungsindustrie zu produzieren. Die<br />

Mühle pumpte täglich 140 000 Tonnen Gifte <strong>und</strong> Abfälle,<br />

darunter tödliches Dioxin, in den See <strong>und</strong> blies<br />

an jedem Tag 23 Tonnen Schadstoffe in die Atmosphäre.<br />

In den vergangenen 40 Jahren entließ die<br />

Mühle mehr als 1 Milliarde Tonnen Abfall in den<br />

See. Im Jahr 1989 wurde der Betrieb teilweise privatisiert.<br />

Heute produziert die Mühle neben Zellulose<br />

vor allem Holzbrei für die Herstellung von geringwertigem<br />

Papier. Als im Jahr 1997 Tausende von Baikalrobben,<br />

einer an das Leben im Süßwasser angepassten<br />

Seeh<strong>und</strong>art, verendeten, wurde das empfindliche<br />

Ökosystem Ziel internationaler Untersuchungen<br />

<strong>und</strong> im Jahr 1998 schließlich von der UNESCO als<br />

Weltnaturerbe unter Schutz gestellt. Es bleibt jedoch<br />

abzuwarten, ob Russland seine Umweltprobleme in<br />

Zukunft wird bewältigen können. Eine gewaltige Umweltkatastrophe<br />

hat sich in den letzten Jahrzehnten<br />

auch im Bereich des Aralsees in Zentralasien entwickelt<br />

(Exkurs „Die Aralsee-Katastrophe“).<br />

I<br />

Ges<strong>und</strong>heit<br />

Mit der Zunahme des internationalen Handels <strong>und</strong><br />

des Fernreiseverkehrs sind sowohl das Risiko als<br />

auch die Geschwindigkeit der Übertragung von


Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung 17<br />

Die Aralsee-Katastrophe<br />

Seit Anfang der 1960er-Jahre ist in den Trockengebieten Zentralasiens<br />

eine zunehmende Verknappung der Wasserressourcen<br />

festzustellen. Flüsse wie der Amu-Darja, Syr-Darja, Ni <strong>und</strong><br />

Tarim, die in die abflusslosen ariden Beckenbereiche Innerasiens<br />

vorstoßen, führen in ihren Unterläufen immer weniger<br />

Wasser. Sie erreichen, zum Teil nicht mehr ihre Endseen.<br />

Die Deltabereiche dieser Flüsse trocknen aus beziehungsweise<br />

sind bereits ausgetrocknet. Der Wasserspiegel der Endseen<br />

sinkt seither stetig. Einige Seen dieser Art - der Lop-Nor, der<br />

Taitema-See <strong>und</strong> der Manas-See zum Beispiel - sind bereits<br />

verlandet, andere wie der Aralsee drohen zu verlanden.<br />

Der Wasserspiegel des Aralsees ist seit 1960 um fast<br />

23 Meter von 53,4 Metern auf 30,6 Meter (2004) gesunken.<br />

Er hat dabei 78 Prozent seiner ursprünglichen Fläche von<br />

69 900 Quadratkilometern <strong>und</strong> 90 Prozent seines Wasservolumens<br />

verloren.<br />

Die Verlandung des Aralsees ist eng verknüpft mit der<br />

Ausweitung der Bewässerungslandwirtschaft <strong>und</strong> des Baumwollanbaus<br />

in Zentralasien. Diese wurde massiv ab den<br />

1950er-Jahren betrieben. Im Becken des Aralsees vergrößerte<br />

sich die bewässerte Fläche von 4,2 Millionen Flektar im Jahr<br />

1950 auf 7,4 Millionen Flektar im Jahr 1989. Ein Großteil des<br />

Wassers erreicht Jedoch nicht die Felder, sondern geht in den<br />

schlechten <strong>und</strong> veralteten Bewässerungsanlagen durch Versickerung,<br />

Verdunstung oder Lecks verloren. Schätzungen<br />

gehen von bis zu 80 Prozent Wasserverlust aus.<br />

Im Jahr 1992 wurde ein etwa 473 000 Quadratkilometer<br />

großes Gebiet mit einer Bevölkerung von 3,7 Millionen Menschen<br />

um den See zum Welt-Katastrophengebiet erklärt. Die<br />

Bevölkerung des Katastrophengebiets leidet unter direkten<br />

<strong>und</strong> indirekten ges<strong>und</strong>heitlichen Folgen: Die Kindersterblichkeitsrate<br />

ist eine der höchsten der Welt. 70 Prozent der Mütter<br />

leiden unter Anämie. Typhus, Flepatitis <strong>und</strong> Krebserkrankungen<br />

treten überproportional häufig auf. Die Situation wird<br />

noch verstärkt durch den mangelnden Zugang zu sauberem<br />

Trinkwasser <strong>und</strong> Medikamenten. Auch die sozioökonomi-<br />

schen Konsequenzen sind verheerend: Durch das Aussterben<br />

der einheimischen Fische im See wegen des steigenden Salzgehalts<br />

<strong>und</strong> des Verlusts der Laichplätze sind Fischerei <strong>und</strong><br />

Fischindustrie zusammengebrochen. Zehntausende Menschen<br />

wurden arbeitslos. Desertifikation <strong>und</strong> Versalzung<br />

sind die ökologischen Folgen der Katastrophe. 140 von ursprünglich<br />

178 einheimischen Tierarten sind ausgestorben,<br />

fast 100 Pflanzenarten verschw<strong>und</strong>en. Auch klimatische Veränderungen<br />

machen sich bemerkbar: Das Kontinentalklima<br />

verschärft sich, wodurch die Anbausaison kürzer wird, was<br />

sich auf die ökonomische Situation <strong>und</strong> Nahrungsversorgung<br />

der Bevölkerung auswirkt.<br />

Von der Aralsee-Katastrophe sind nicht nur die Einwohner<br />

des unmittelbaren Anrainergebiets betroffen, sie hat auch<br />

negative Folgen für entferntere Regionen im Aralseebecken.<br />

Satellitenbilder zeigen, dass salzhaltiger Staub vom ausgetrockneten<br />

Seeboden bis zu 500 Kilometer weit geweht wird.<br />

Quelle: Giese, E; Sehring, J. In: Gebhardt, Fl. et al. Geographie.<br />

Fleidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 2007, gekürzt<br />

Aralsee Der Karakum-Kanal in Turkmenistan (links) wird aus dem Amu-Darja (rechts) abgeleitet <strong>und</strong> hat eine Länge von über<br />

1 500 Kilometern. Er trägt in erheblichem Maße zum Wasserverlust des Aralsees bei <strong>und</strong> bewässert knapp 1 Million Flektar<br />

Land, verliert aber viel Wasser, da in offenen Kanälen bewässert wird <strong>und</strong> das Bewässerungssystem seit der Unabhängigkeit<br />

des Landes 1991 nicht mehr gepflegt wird. Er endet „blind“, ehe er das Kaspische Meer erreicht.<br />

Krankheiten gewachsen. Während des vergangenen<br />

Vierteljahrh<strong>und</strong>erts hat sich HIV/AIDS (human immunodeficiency<br />

virus bzw. acquired immunodeficiency<br />

syndrome) von einer einzigen Ursprungsregion rasch<br />

über die ganze Erde ausgebreitet. Medizingeographen<br />

haben herausgef<strong>und</strong>en, dass das AIDS verursachende<br />

Hl-Virus sich Ende der 1970er-Jahre von Zentralafrika<br />

aus nach einem hierarchischen Diffusionsmuster<br />

ausgebreitet hat (Abbildung 1.7). Zunächst war das<br />

Virus fast gleichzeitig in den großen Metropolen


18 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1.7 Verbreitung des Hl-Virus Vermutetes Verbreitungmuster der ersten Ausbreitungswelle von HIV/AIDS. (Quelle: Smallman-<br />

Raynor, M.; Cliff, A.; Haggett, P. International Atlas o f AIDS. Oxford, Blackwell Reference. 1992, Abbildung 4.1c, S. 146)<br />

Nord- <strong>und</strong> Südamerikas, der Karibik <strong>und</strong> Europas<br />

aufgetreten. Diese Gebiete fungierten dann als lokale<br />

Diffusionspole für das Virus, das sich von dort weiter<br />

in die Ballungsgebiete Asiens <strong>und</strong> Ozeaniens sowie<br />

die größeren Provinzstädte Nord- <strong>und</strong> Südamerikas;<br />

der Karibik <strong>und</strong> Europas ausbreitete. Auf der nächsten<br />

Stufe des kaskadenförmigen Diffusionsmusterj<br />

erreichte das Virus Provinzstädte in Asien <strong>und</strong> Ozea-<br />

1.8 Verbreitung <strong>und</strong> Häufigkeit von HIV/AIDS Im Jahr 2003 lebten 35 Millionen bis 42 Millionen Menschen mit HIV/AIDS, übe<br />

die Hälfte von ihnen in Afrika südlich der Sahara.


Interdependenz im Zeitalter der Globalisierung 19<br />

nien sowie Kleinstädte in Nord- <strong>und</strong> Südamerika, in<br />

der Karibik <strong>und</strong> in Europa. Gegenwärtig ist Afrika<br />

südlich der Sahara stärker von HIV/AIDS betroffen<br />

als jede andere Region der Erde. Nach Angaben<br />

der Vereinten Nationen waren dort im Jahr 2003 zwischen<br />

25 Millionen <strong>und</strong> 28 Millionen Menschen mit<br />

dem Virus infiziert - das sind 50 bis 75 Prozent aller<br />

weltweit Betroffenen (Abbildung 1.8). Die Infektionsrate<br />

wird auf 8 Prozent aller Erwachsenen geschätzt,<br />

gegenüber 1 Prozent weltweit, <strong>und</strong> mehr als 15 Millionen<br />

Afrikaner sind seit der Entdeckung von HIV/<br />

AIDS im Jahr 1981 an der Immunschwächekrankheit<br />

gestorben. Damit ist AIDS die häufigste Todesursache<br />

in Afrika, durch das Virus sind mehr Menschen<br />

umgekommen als durch Malaria <strong>und</strong> Kriege<br />

zusammen.<br />

Die Geographie von HIV/AIDS in Afrika unterscheidet<br />

sich von Land zu Land, von Region zu Region<br />

innerhalb eines Landes wie auch innerhalb verschiedener<br />

sozialer Gruppen, <strong>und</strong> die Ausbreitung<br />

der Krankheit ist auf vielfältige Weise mit dem Prozess<br />

der Globalisierung verknüpft. Anfang der<br />

1980er-Jahre waren die höchsten Jnfektionsraten<br />

im östlichen Afrika zu verzeichnen. Heute hat sich<br />

der Schwerpunkt nach Südafrika verlagert, besonders<br />

nach Botswana, Sambia <strong>und</strong> Simbabwe, wo mehr als<br />

ein Fünftel der Erwachsenen das Virus in sich tragen.<br />

Stadtbewohner mit wechselnden Sexualpartnern,<br />

junge Büroangestellte <strong>und</strong> Wanderarbeiter haben höhere<br />

Infektionsraten als Frauen, die ihren Lebensunterhalt<br />

als Prostituierte verdienen, oder Frauen <strong>und</strong><br />

Kinder von Wanderarbeitern. Heimkehrende Wanderarbeiter<br />

haben das Virus in ihre Herkunftsländer<br />

getragen. In ländlichen Räumen ist die Quote gewöhnlich<br />

niedriger, ausgenommen entlang von Fernstraßen<br />

mit starkem LKW-Verkehr <strong>und</strong> in Gebieten,<br />

in denen sich viel Militär aufhält.<br />

Der Tod ausgebildeter landwirtschaftlicher Arbeitskräfte<br />

hat zu einem deutlichen Rückgang der<br />

Agrarproduktion beigetragen; viele junge Berufstätige<br />

haben ihren Job verloren, weil sie an AIDS erkrankt<br />

sind, was manche Regionen in eine schier ausweglose<br />

Lage gebracht hat. Große Industriebetriebe <strong>und</strong> Unternehmen<br />

im südlichen Afrika, beispielsweise Diamantenminen<br />

<strong>und</strong> Banken, schätzen, dass Abwesenheit<br />

<strong>und</strong> Verlust von Arbeitskräften aufgr<strong>und</strong> von<br />

HIV/AIDS mindestens 5 Prozent Mindereinnahmen<br />

verursachen.<br />

Einige Länder konnten im Kampf gegen HIV/<br />

AIDS Erfolge erzielen. So haben agressive Aufklärungs-<br />

<strong>und</strong> Vorsorgekampagnen die Infektionsraten<br />

in Uganda <strong>und</strong> Senegal um die Hälfte verringert. Internationale<br />

Abkommen mit Unternehmen der pharmazeutischen<br />

Industrie in Verbindung mit neuen<br />

Hilfsprogrammen der Weltbank, karitativer Organisationen<br />

<strong>und</strong> Geberländern tragen dazu bei, die teuren<br />

Medikamente billiger zu machen.<br />

Ein anderes Beispiel für ges<strong>und</strong>heitliche Risiken als<br />

Folge zunehmender Interdependenz war das Ausbrechen<br />

von SARS (severe acute respiratory syndrome) in<br />

China im November 2002. Die Krankheit verbreitete<br />

sich rasch um die ganze Welt, löste vielerorts Panik<br />

aus <strong>und</strong> verursachte in der Geschäftswelt wie im Tourismusgewerbe<br />

Ost- <strong>und</strong> Südostasiens erhebliche Stö-<br />

1.9 Der Ausbruch von SARS im Winter<br />

des Jahres 2002 verursachte über<br />

Monate erhebliche Störungen im Geschäftsieben<br />

<strong>und</strong> im Tourismusgewerbe<br />

<strong>und</strong> machte einmal mehr die wachsende<br />

Vulnerabilität der Bevölkerungen gegenüber<br />

Epidemien als Folge globaler<br />

Verflechtungen deutlich.


20 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

rungen (Abbildung 1.9). Vier Monate nach dem Ausbruch<br />

der Krankheit kam ihre Ausbreitung zum Stillstand,<br />

bei fast 3 000 registrierten Fällen (davon 1 400<br />

mit tödlichem Ausgang), manche in weit entfernten<br />

Regionen wie Brasilien, Kanada, Irland, Rumänien,<br />

Spanien, Südafrika, der Schweiz, Großbritannien<br />

<strong>und</strong> den Vereinigten Staaten.<br />

, Sicherheit<br />

Auch der internationale Terrorismus kann teilweise<br />

mit der Globalisierung in Verbindung gebracht werden.<br />

Terroristische Akte haben eine lange Geschichte,<br />

doch erst in jüngerer Zeit haben sich neue Formen<br />

global agierender Terrornetzwerke entwickelt. Mit<br />

den Anschlägen auf das World Trade Center in<br />

New York im September 2001 (Abbildung 1.10) wollten<br />

Al-Qaida-Terroristen ein mächtiges Symbol zerstören,<br />

das nicht nur für die US-amerikanische Wirtschaftsmacht<br />

stand, sondern auch für den Materialismus<br />

der westlichen Welt <strong>und</strong> die Werte des Kapitalismus<br />

als eine Form der Organisation von Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft, die durch Gewinnstrehen sowie<br />

die Kontrolle der Produktionsmittel, der Verteilung<br />

<strong>und</strong> des Warenaustauschs durch Privatunternehmen<br />

charakterisiert ist. Sie hofften, dass ein durch die Terrorattacke<br />

provozierter Gegenschlag weltweit eine<br />

Welle des Anti-Amerikanismus auslösen würde.<br />

Die Al-Qaida-Terroristen spürten, dass es ihnen gelingen<br />

könnte, die Welt zu verunsichern, den Nahen<br />

Osten in Anarchie zu stürzen <strong>und</strong> einen Kulturkampf<br />

gegen „den Westen“ zu entfesseln. Sie glaubten au-<br />

1.10 Internationaler Terrorismus Wo vorher die Doppeltürme<br />

des New Yorker World Trade Centers standen, ragen<br />

heute die Ruinen der einstigen Fassade aus den Trümmern<br />

der bei einem Terroranschlag am 11. September 2001 zerstörten<br />

Türme. Die 110 Stockwerke hohen Gebäude waren<br />

eingestürzt, nachdem zwei entführte Flugzeuge mit Fl<strong>und</strong>erten<br />

Passagieren an Bord in die Türme geflogen waren. (Foto: dpa)<br />

ßerdem, Uneinigkeit sowohl unter den Kritikern<br />

der kulturellen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Hegemonie<br />

der USA als auch unter denjenigen Regierungen zu<br />

erzeugen, die sich schon vor dem Anschlag irritiert<br />

zeigten angesichts einer US-Administration, die zunehmend<br />

nationale Interessen in den Vordergr<strong>und</strong><br />

ihrer Politik stellte <strong>und</strong> internationale Fragen der<br />

wirtschaftlichen Ungleichheit, der Geopolitik <strong>und</strong><br />

der nachhaltigen Entwicklung vernachlässigte.<br />

Der Soziologe Ulrich Beck hat daraufhingewiesen,<br />

dass die starke wechselseitige Abhängigkeit in der<br />

heutigen globalisierten <strong>und</strong> eng vernetzten Welt viele<br />

Fragen der Sicherheit aufwirft. Nach seiner Einschätzung<br />

leben wir in einer Welt, die durch die Produktion<br />

globaler oder zumindest internationaler Risiken<br />

charakterisiert ist. In traditionellen Gesellschaften<br />

waren Individuen <strong>und</strong> Gruppen überwiegend Risiken<br />

ausgesetzt, die von der Natur ausgingen, wie Krankheit,<br />

Überschwemmung oder Hunger. Dazu kamen<br />

sozial determinierte Gefahren wie Invasion oder Eroberung<br />

sowie rückschrittliche Formen des Denkens<br />

<strong>und</strong> der Kultur. Die Industriegesellschaften des 19.<br />

<strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts, die über wirksamere Technologien<br />

<strong>und</strong> Waffen verfügten, sahen sich größeren Risiken<br />

gegenüber, die aber meist lokaler oder regionaler<br />

Natur waren. Die heutige Gesellschaft ist nach<br />

Beck charakterisiert durch die endemische Produktion<br />

potenziell katastrophaler Risiken, sodass wir es<br />

heute mit einer neuen Qualität möglicher Gefahren<br />

zu tun haben. Viele dieser Risiken seien unkontrollierbar<br />

<strong>und</strong> von globaler Reichweite, zum Beispiel anthropogene<br />

Klimaveränderungen, die Verbreitung<br />

von Massenvernichtungswaffen, ionisierende Strahlung<br />

oder nukleare Brennstoffe, von Abfällen ausgehende<br />

Gefahren, auf den Menschen überspringende<br />

Tierkrankheiten (zum Beispiel Anthrax, Vogelgrippe,<br />

Ebola oder West-Nil-Virus) sowie epidemische<br />

Krankheiten bei Nutztieren. So war es beispielsweise<br />

im Jahr 2001 in Teilen Nordwesteuropas zu einem<br />

verheerenden Ausbruch der Maul- <strong>und</strong> Klauenseuche<br />

gekommen. Die Krankheit, die Rinder <strong>und</strong> Schafe<br />

befällt, trat zunächst in England auf, verursacht<br />

durch verunreinigtes Tierfutter. Durch die in der<br />

heutigen Landwirtschaft üblichen Tiertransporte<br />

über große Distanzen konnte sich die Seuche weiter<br />

ausbreiten.<br />

Insgesamt, so die These von Beck, steuern wir auf<br />

eine Risikogesellschaft zu, in der die Ausbreitung<br />

von Wohlstand einhergeht mit einer Zunahme von<br />

Risiken <strong>und</strong> in der die Politik zunehmend mit der<br />

Abwehr von Gefahren beschäftigt ist. Wissen <strong>und</strong> insbesondere<br />

wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen<br />

daher als Mittel zur Machtausübung immer größere


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 21<br />

Bedeutung. Gleichzeitig wird die Wissenschaft selbst<br />

zunehmend politisiert. Ein Beispiel dafür ist die globale<br />

Erwärmung.<br />

Geographie <strong>und</strong> Globalisierung<br />

jeder einzelne von uns befindet sich im heutigen Zeitalter<br />

der Globalisierung inmitten eines bedeutenden<br />

Umstrukturierungsprozesses der Weltwirtschaft <strong>und</strong><br />

erlebt gr<strong>und</strong>legende Veränderungen in den Beziehungen<br />

zu anderen Menschen <strong>und</strong> Orten. Dabei<br />

mag es auf den ersten Blick den Anschein haben,<br />

als würden im Zuge der Globalisierung - insbesondere<br />

in den höher entwickelten Ländern der Erde - geographische<br />

Gegebenheiten bald keine Rolle mehr<br />

spielen. Modernste Kommunikationsmittel <strong>und</strong> die<br />

weltweite Vermarktung standardisierter Produkte erscheinen<br />

geeignet, das jeweils Charakteristische von<br />

Menschen <strong>und</strong> Orten in naher Zukunft zu beseitigen<br />

<strong>und</strong> die Unterschiede zwischen Orten zunehmend zu<br />

nivellieren. Doch genau das Gegenteil ist der Fall. Die<br />

neue Mobilität des Kapitals, der Arbeit <strong>und</strong> der geistigen<br />

Güter erhöht den Stellenwert einzelner Standorte<br />

beziehungsweise Regionen auf ganz konkrete<br />

Weise.<br />

• Je universeller die Verbreitung materieller<br />

Gr<strong>und</strong>orientierungen <strong>und</strong> Lebensstile, desto höher<br />

werden regionale <strong>und</strong> ethnische Identitäten<br />

bewertet. Ein Beispiel dafür ist das aktive Einschreiten<br />

des französischen Staates gegen die Amerikanisierung<br />

der französischen Sprache <strong>und</strong> Kultur<br />

durch die Ächtung englischer Begriffe <strong>und</strong><br />

Wendungen oder die Subventionierung der nationalen<br />

Filmindustrie.<br />

• Je mehr sich das Leben beschleunigt, je mehr sich<br />

Menschen an fremde Normen anpassen müssen,<br />

je mehr sie das Gefühl haben, durch externe Entscheidungsträger<br />

fremdbestimmt zu werden,<br />

desto mehr suchen sie nach Identität <strong>und</strong> desto<br />

stärker sehnen sie sich nach persönlichen Umfeldern<br />

- einem bestimmten Ort, einer bestimmten<br />

Gemeinschaft die ihnen etwas bedeuten, in denen<br />

sie sich geborgen fühlen können. Als Beispiel<br />

lassen sich privatwirtschaftlich erschlossene, auf<br />

einheitlicher Planung basierende Wohngebiete in<br />

US-amerikanischen Großstädten anführen, die<br />

im Zuge des sogenannten new urbanism ältere<br />

Wohnformen wiedererwecken, um damit ein Gemeinschafts-<br />

<strong>und</strong> Identitätsgefühl der Bewohner<br />

zu entwickeln.<br />

• Je größer die Reichweite transnationaler Unternehmen,<br />

desto eher können diese auf lokale <strong>und</strong><br />

regionale Veränderungen der Arbeits- <strong>und</strong> Absatzmärkte<br />

reagieren <strong>und</strong> desto häufiger <strong>und</strong> radikaler<br />

müssen wirtschaftsgeographische Strukturen<br />

neu organisiert werden. Sportschuhhersteller<br />

wie Nike verlagern beispielsweise als Antwort<br />

auf globale Veränderungen der Lohnstrukturen<br />

<strong>und</strong> Wechselkurse die Produktion häufig von<br />

einem geringer entwickelten Land in ein anderes.<br />

• Je stärker die Integration transnationaler Institutionen,<br />

desto eher entsteht bei Menschen gleicher<br />

Rasse, gleicher ethnischer Zugehörigkeit<br />

<strong>und</strong> gleicher Religion ein Bedürfnis nach Segregation.<br />

Ein Beispiel für diesen Sachverhalt ist das<br />

Wiedererstarken nationalistischer <strong>und</strong> regionalistischer<br />

Kräfte im Zusammenhang mit der Beinahe-Abspaltung<br />

Quebecs von Kanada 1995, ein anderes<br />

die politische Partei Lega Nord in Italien, die<br />

zu Beginn der 1990er-jahre die politische Bühne<br />

betrat. Bei der Lega Nord handelt es sich um<br />

eine föderalistische Partei in der nördlichen Lombardei<br />

<strong>und</strong> im ländlich geprägten Nordosten Italiens,<br />

deren Anhänger mit verschiedensten Argumenten<br />

Transferzahlungen in den Süden unterbinden<br />

<strong>und</strong> sich von dem ihrer Meinung nach gesellschaftlich<br />

<strong>und</strong> kulturell vollkommen anders gearteten<br />

Süditalien lösen wollen.<br />

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Globalisierung<br />

ein Prozess ist, der Kontakte zwischen Kulturen<br />

<strong>und</strong> Regionen herstellt <strong>und</strong> intensiviert <strong>und</strong> der<br />

entweder positiv aufgenommen, abgelehnt, unterlaufen<br />

oder ausgenutzt wird. Globalisierung bedeutet in<br />

der Regel nicht, dass die Bedeutung des Lokalen <strong>und</strong><br />

Regionalen abnimmt oder verschwindet, sondern<br />

dass verschiedenste Beziehungen <strong>und</strong> Abhängigkeiten<br />

sich weltweit ausdehnen.<br />

<strong>Humangeographie</strong> als<br />

Studienfach<br />

Die Geographie behandelt die Erde als von Naturkräften<br />

geschaffen <strong>und</strong> von Menschen umgestaltet. Sie<br />

umfasst demzufolge zwei Hauptgebiete, die Physische<br />

Geographie <strong>und</strong> die <strong>Humangeographie</strong>. Die Physische<br />

Geographie befasst sich mit den natürlichen Erscheinungen<br />

<strong>und</strong> Prozessen. Dazu gehören das Klima,<br />

die Oberflächenformen <strong>und</strong> die Böden, die Hydrogeographie<br />

sowie die Ökologie der Tiere <strong>und</strong><br />

Pflanzen. Die <strong>Humangeographie</strong> beschäftigt sich


22 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

<strong>Humangeographie</strong> <strong>und</strong> Kulturgeographie<br />

4:1 ' M<br />

Der Begriff Kulturgeographie wird zuweilen auch als Synonym<br />

für <strong>Humangeographie</strong> gebraucht. In der älteren, traditionellen<br />

Kulturgeographie ist Landschaft das zentrale Konzept.<br />

Diese Kulturgeographie untersucht in intensiver Feldarbeit<br />

<strong>und</strong> verstehender, der Ethnographie verpflichteten Hinwendung<br />

zu Lokalkulturen „man's role in changing the face o f<br />

the earth“. Mit dem Aufkommen der ökologischen Bewegung<br />

in den 1980er- <strong>und</strong> 1990er-Jahren erlebte diese Forschung<br />

eine erneute Wertschätzung. Gleichzeitig vollzogen viele Kulturgeographen<br />

die kulturelle Wende (cultural turn). Umwelt,<br />

Regionen, Natur, Ökosysteme <strong>und</strong> so weiter wurden nicht<br />

mehr als gegeben, sondern als konstruiert angesehen. Das<br />

Zeichenhafte der Kultur wurde betont, ihr Symbolgehalt <strong>und</strong><br />

ihre emotionale <strong>und</strong> ästhetische Wirkung auf Menschen (Kapitel<br />

6 <strong>und</strong> 7)<br />

Angesichts der zunehmenden Vielfalt von Lebensentwürfen<br />

führt diese Individualisierung zu einer beispiellosen Vielfalt<br />

gleichzeitiger Interpretationen der (räumlichen) Wirklichkeit.<br />

Die - gesellschaftlich ungleich verteilten - Machtbefugnisse<br />

werden von den „Raummachern“ immer auch dazu genutzt.<br />

Gestalt <strong>und</strong> Funktion von Gebäuden, Räumen <strong>und</strong> Landschaften<br />

als Mittel der Darstellung <strong>und</strong> Durchsetzung ihrer Werte<br />

einzusetzen, oft gegen die Ansprüche <strong>und</strong> Werte der „Raumopfer“.<br />

Manche Autoren sprechen hier von einer „neuen“ Kulturgeographie.<br />

Unter diesem Begriff lässt sich vieles thematisieren,<br />

„was wir im Zuge der Globalisierung beobachten können:<br />

die Zerfaserung fixer Arbeits- <strong>und</strong> Kapitalbeziehungen, die Se-<br />

lisierung von Lebensbereichen, einschließlich der Freizeit, die<br />

Verwischung <strong>und</strong> Transversalität lebensweltlicher Identitäten,<br />

die Teilung der Welt in Sehende <strong>und</strong> Übersehene <strong>und</strong> die<br />

interkulturelle (Nicht-)Kommunikation“ (Sahr 2005).<br />

Entsprechende Studien wenden sich häufig Themen zu, die<br />

als hybride Felder quer zu den klassischen Segmenten gesellschaftlicher<br />

Strukturierung verlaufen. Kernbereiche stellen<br />

hier die Forschungsfelder Kultur <strong>und</strong> Natur, Kultur <strong>und</strong> Ökonomie,<br />

Politik <strong>und</strong> Ökonomie, Kultur <strong>und</strong> Politik, Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Stadt <strong>und</strong> so weiter dar. In diesen „Überlappungsbereichen“<br />

zwischen den klassischen Teildisziplinen der <strong>Humangeographie</strong><br />

liegen zahlreiche Problemlagen in einer sich zunehmend<br />

vernetzenden, multimedialen Welt. Beispiele sind<br />

Forschungsprojekte, die sich mit Aspekten wie Unternehmenskultur<br />

oder Transkulturalität beschäftigen, mit „Konsumentenkulturen“<br />

<strong>und</strong> kulturellen Ökonomien der unternehmerischen<br />

Stadt, aber auch Forschungen, die die Rolle von kulturellen<br />

Repräsentationen im Rahmen neuer geopolitischer<br />

Leitbilder nach dem Ende des Kalten Krieges untersuchen,<br />

den „Krieg gegen den Terror“ in den sprachlichen Chiffren<br />

eines „Kampfs der Kulturen“. Gerade in solchen stärker auf<br />

inhaltliche Aspekte des Kulturbegriffs rekurrierenden Ansätzen<br />

muss auch eine Auseinandersetzung mit dem ambivalenten<br />

<strong>und</strong> vieldeutigen Begriff der Kultur stattfinden. Dabei wird<br />

deutlich, dass zumeist nicht ein Rekurs auf Inhalte des klassischen<br />

Hochkulturbegriffes stattfindet, sondern ein sehr viel<br />

breiteres Begriffsverständnis zugr<strong>und</strong>e gelegt wird.<br />

H. Gebhardt<br />

i'.i<br />

H<br />

miotisierung <strong>und</strong> Visualisierung des Wissens, die Kommerziamit<br />

der räumlichen Organisation menschlichen Handelns<br />

<strong>und</strong> den Gesellschaft-Umwelt-Beziehungen.<br />

Dabei müssen physische Geofaktoren insoweit berücksichtigt<br />

werden, als diese menschliches Handeln<br />

beeinflussen oder durch menschliches Handeln beeinflusst<br />

werden. Dies bedeutet, dass das Studium<br />

der <strong>Humangeographie</strong> eine Vielzahl von Sachthemen<br />

umfasst, wie zum Beispiel Fragen der landwirtschaftlichen<br />

Produktion <strong>und</strong> der Ernährungssicherheit, Bevölkerungsveränderungen,<br />

medizinische Ökologie,<br />

Ressourcenmanagement, Umweltverschmutzung,<br />

Regionalplanung oder auch geographische Aspekte<br />

der menschlichen Wahrnehmung von Orten <strong>und</strong><br />

Landschaften. Die Regionale Geographie schließt sowohl<br />

humangeographische als auch physiogeographische<br />

Elemente <strong>und</strong> Faktoren ein. Im Vordergr<strong>und</strong><br />

steht die Frage nach den physio- <strong>und</strong> humangeographischen<br />

Faktorenkombinationen, welche die jeweiligen<br />

Ausprägungen von Natur- <strong>und</strong> Kulturlandschaften<br />

bestimmen. Als Region wird dabei ein ausgedehnteres<br />

Gebiet aufgefasst, das zahlreiche Orte<br />

einschließt, wobei die Merkmale oder Eigenschaften<br />

sämtlicher oder der Mehrzahl dieser Orte untereinan-<br />

der größere Übereinstimmungen aufweisen als gegenüber<br />

Orten anderer Regionen.<br />

Das Besondere des Studiums der <strong>Humangeographie</strong><br />

besteht weniger in den Gegenständen als solchen<br />

als vielmehr in der Herangehensweise an diese<br />

Gegenstände. Humangeographen sehen es als ihre<br />

Aufgabe, unter Einbeziehung eines breiten Spektrums<br />

natürlicher, sozialer, ökonomischer, politischer <strong>und</strong><br />

kultureller Phänomene zu Aussagen darüber zu gelangen,<br />

wie <strong>und</strong> weshalb räumliche Beziehungen<br />

eine maßgebliche Rolle spielen. So interessieren<br />

sich Humangeographen beispielsweise nicht nur für<br />

die Strukturen der Agrarproduktion als solche, sondern<br />

ebenso für die räumlichen Beziehungen <strong>und</strong><br />

Wechselwirkungen, die Ursache - <strong>und</strong> Ergebnis -<br />

dieser Strukturen sind. Konkret ausgedrückt: Geographen<br />

beschäftigen sich einerseits mit den Merkmalen<br />

einer spezialisierten Agrarlandschaft wie dem von<br />

Milchwirtschaft geprägten Jütland in Dänemark, indem<br />

sie fragen, welche Agrarerzeugnisse dort wie produziert<br />

werden, welche Besonderheiten die Kulturlandschaft<br />

aufweist <strong>und</strong> dergleichen mehr. Andererseits<br />

interessiert sehr wohl auch die Bedeutung, die


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 23<br />

Regionen wie Jütland im Rahmen der nationalen oder<br />

internationalen Nahrungsmittelproduktion besitzen<br />

(Kapitel 9).<br />

L<br />

Gr<strong>und</strong>legende Arbeitstechniken<br />

<strong>und</strong> Methoden<br />

Um Informationen zu sammeln <strong>und</strong> Daten zu erheben,<br />

können verschiedenste Arbeitstechniken <strong>und</strong><br />

Methoden zum Einsatz kommen, die sich nicht wesentlich<br />

von denen anderer Disziplinen unterscheiden.<br />

Wie in anderen Sozialwissenschaften steht die<br />

Beobachtung gewöhnlich am Beginn jeder Untersuchung.<br />

Um Informationen über räumliche Wechselwirkungen<br />

zu erhalten, führen Humangeographen<br />

Feldstudien (dazu gehören Erhebungen, Befragungen,<br />

Kartierungen, teilnehmende Beobachtung oder<br />

die Verwendung von Mess- <strong>und</strong> Aufzeichnungsinstrumenten),<br />

Laborexperimente <strong>und</strong> Archivrecherchen<br />

durch. Informationen über Ausschnitte der Erdoberfläche<br />

können auch mithilfe der Fernerk<strong>und</strong>ung<br />

gewonnen werden. Verwendung finden dabei sowohl<br />

Luftbilder als auch Aufnahmen von Satelliten, deren<br />

Sensoren Daten im Spektralbereich des sichtbaren<br />

Lichts, im Infrarotspektrum oder im Mikrowellenbereich<br />

aufzeichnen (Abbildung 1.11). Mithilfe von Satellitenbilddaten<br />

lässt sich das Pflanzenwachstum auf<br />

landwirtschaftlich genutzten Flächen ebenso überwachen<br />

wie der Wärmeverlust von Gebäuden oder die<br />

Ausdehnung versiegelter Flächen. Es werden auch die<br />

Daten der amtlichen Statistik verwendet.<br />

Durch Erhebungen jeglicher Art gewonnene Daten<br />

müssen in einem weiteren Schritt dargestellt oder beschrieben,<br />

das heißt präsentiert oder visualisiert werden.<br />

Dies kann in Form von Texten, Schaubildern,<br />

Diagrammen, Tabellen, mathematischen Formeln<br />

oder Karten geschehen. Nach dem Motto „ein Bild<br />

sagt mehr als tausend Worte“ ist die Aufbereitung<br />

<strong>und</strong> Visualisierung von Daten <strong>und</strong> Ergebnissen<br />

eine wichtige Technik, mit deren Hilfe Informationen<br />

interpretiert, zusammengefasst <strong>und</strong> veranschaulicht<br />

werden. Bei der Analyse räumlicher Beziehungen stehen<br />

die Aufbereitung <strong>und</strong> die (kartographische) Darstellung<br />

der Daten fast immer am Beginn. Die Interpretation<br />

von räumlichen Mustern ist ein wichtiger<br />

Weg für neue Erkenntnisse, bedarf allerdings eines<br />

gewissen geographischen Vorwissens. Daneben ist<br />

die Präsentation von Informationen auch für die Vermittlung<br />

geographischer Forschungsergebnisse von<br />

großer Bedeutung.<br />

Wie in anderen Disziplinen spielt in der geographischen<br />

Forschung die Datenanalyse eine zentrale Rolle.<br />

Ziel der Analyse quantitativer oder qualitativer Daten<br />

ist es, räumliche Muster zu erkennen <strong>und</strong> Bezüge herzustellen,<br />

sodass Hypothesen formuliert <strong>und</strong> Modelle<br />

gebildet werden können. Modelle sind Abstraktionen<br />

der Wirklichkeit, welche die reale Welt erklären helfen.<br />

Voraussetzung jeder Modellbildung sind Werkzeuge<br />

oder Techniken, die es erlauben, Dinge zu verallgemeinern.<br />

Wie andere Sozialwissenschaftler bedienen<br />

sich auch Geographen einer breiten Palette<br />

analytischer Hilfsmittel wie sprachlich-konzeptioneller<br />

Ausführungen, Karten, Schaubilder oder mathematischer<br />

Gleichungen.<br />

Insgesamt verwenden Geographen also Techniken<br />

<strong>und</strong> Methoden, die auch in anderen Disziplinen, insbesondere<br />

in den Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

sowie in der Umweltforschung (den Geowissenschaften),<br />

eingesetzt werden. Darüber hinaus nutzen<br />

Geographen - im Zusammenhang mit ethnographischen<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Textanalysen - in zunehmendem<br />

Maße auch in den Geisteswissenschaften<br />

eingesetzte Methoden wie interpretierende Analysen<br />

oder induktive Beweisführungen. Die zweifellos typischsten<br />

Werkzeuge des geographischen Methodeninstrumentariums<br />

sind jedoch Karten <strong>und</strong> Geographische<br />

Informationssysteme (GIS). Geographische<br />

Informationssysteme bestehen aus einer Verbindung<br />

von Computerhardware, spezifischer Software <strong>und</strong><br />

raumbezogenen Daten. Die einzelnen Komponenten<br />

bilden zusammen ein System, mit dessen Hilfe räumlich<br />

referenzierte Daten erfasst, gespeichert, aktualisiert,<br />

aufbereitet <strong>und</strong> dargestellt werden können (Anhang<br />

„Karten <strong>und</strong> Geographische Informationssysteme“).<br />

Wie wir gesehen haben, können Karten nicht<br />

nur Daten beschreiben, sondern auch als wichtige Informationsquelle<br />

<strong>und</strong> Hilfsmittel bei Untersuchungen<br />

dienen. Aufgr<strong>und</strong> der zentralen Bedeutung, die<br />

Karten in der Geographie besitzen, können diese<br />

selbst Untersuchungsobjekte sein.<br />

I Basiskonzepte der Raumanalyse<br />

Die <strong>Humangeographie</strong> lässt sich gut anhand ihrer Basiskonzepte<br />

gliedern. Vielen geographischen Phänomenen<br />

kann man sich gut annähern, indem man<br />

ihre Anordnung beziehungsweise Verbreitung als<br />

Punkte, Linien oder Flächen auf einer Karte untersucht.<br />

Dieses Herangehensweise wird als Raumanalyse<br />

bezeichnet. Lage, Distanz, Raum, Erreichbarkeit<br />

<strong>und</strong> räumliche Interaktion sind Schlüsselbegriffe,<br />

die Geographen im Zusammenhang mit der Analyse


24 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

_____ r~^r<br />

V* /<<br />

1.11 Satellitenaufnahmen Satellitenaufnahmen bieten<br />

nicht nur die Möglichkeit, die Erde aus einem gänzlich neuen<br />

Blickwinkel zu betrachten, sondern stellen auch eine einzigartige<br />

Datenquelle zum Zustand der Umwelt dar. Mithilfe von<br />

Satellitenbildern lassen sich Zusammenhänge <strong>und</strong> Prozesse<br />

erklären, ohne kostspielige Untersuchungen <strong>und</strong> detaillierte<br />

Kartierungen vor Ort vornehmen zu müssen. Anhand von<br />

Satellitenbildern können Umweltveränderungen erkannt sowie<br />

deren Ausbreitungsgeschwindigkeit aufgezeichnet <strong>und</strong> analysiert<br />

werden. Beispiele derartiger Anwendungen sind Untersuchungen<br />

über die Zerstörung der tropischen Regenwälder,<br />

das Vordringen städtischer Siedlungen in ländliche Räume, die<br />

Verunreinigung von Gewässern oder Engstellen in Fernstraßennetzen.<br />

a) Landsat-Satellitenbilder sind digitale Bilder, die in für das<br />

menschliche Auge sichtbaren oder auch unsichtbaren Spektralbereichen<br />

erfasst wurden. Unterschiedliche Vegetationsbedeckung,<br />

Böden oder bebaute Gebiete sind in verschiedenen<br />

Farben dargestellt. Diese Landsat-Aufnahme zeigt ein Gebiet<br />

von Südflorida. Miami Beach befindet sich rechts im Bild.<br />

b) Luftaufnahmen können bei bestimmten Fragestellungen<br />

teure Vermessungsarbeiten <strong>und</strong> Kartierungen ersetzen. Besonders<br />

hilfreich ist ihre Verwendung bei der Zusammenarbeit<br />

interdisziplinärer Teams. Die Aufnahme zeigt die Karpaten in<br />

Rumänien. Gut erkennbar ist die Waldgrenze.<br />

c) Diese spektakuläre Aufnahme ist das bisher detaillierteste<br />

Echtfarbenbild der Erde. Es basiert auf Satellitendaten, die über<br />

Monate aufgezeichnet wurden. Spezialisten haben die Beobachtungsdaten<br />

von Landflächen <strong>und</strong> Meeren, Meereis <strong>und</strong><br />

Wolken für jeden Quadratkilometer des Planeten zu einem<br />

lückenlosen Bild zusammengefügt. Ein Großteil der verarbeiteten<br />

Informationen stammt von einem einzigen Fernerk<strong>und</strong>ungsinstrument,<br />

dem Moderate Resolution Imaging Spectro-<br />

radiometer (MODIS), das an Bord des NASA-Satelliten „Terra“<br />

die Erde in 700 Kilometern Flöhe umkreist.<br />

(b)<br />

räumlicher Strukturen verwenden. Auch wenn diese<br />

Begriffe aus der Alltagssprache geläufig sind, bedürfen<br />

sie einiger Erläuterungen.<br />

Lage<br />

(C)<br />

Lage wird häufig nominell ausgedrückt, das heißt<br />

durch Nennung der Eigennamen von Regionen<br />

<strong>und</strong> Orten. Lage kann als Begriff aber auch in absoluter<br />

Bedeutung verwendet werden, wobei Lokalitäten<br />

durch die Koordinaten der geographischen Breite<br />

<strong>und</strong> Länge (Abbildung 1.12) mathematisch exakt fixiert<br />

sind. Die geographische Breite ist der Winkelabstand<br />

eines Punktes auf der Erdoberfläche, gemessen<br />

in Grad, Minuten <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>en nördlich oder<br />

südlich des Äquators, dem der Wert 0° zugewiesen<br />

ist. Da die den Globus umspannenden Breitenkreise<br />

parallel zum Äquator verlaufen, bezeichnet man diese


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 25<br />

gelegentlich auch als Parallelkreise. Die geographische<br />

Länge bezieht sich auf den Winkelabstand eines<br />

Punktes auf der Erdoberfläche, gemessen in Grad,<br />

Minuten <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>en östlich oder westlich des Anfangs-<br />

oder Nullmeridians (der Linie, die durch beide<br />

Pole sowie durch Greenwich, England, verläuft <strong>und</strong><br />

gleich 0° gesetzt wird). Alle Längenkreise oder Meridiane<br />

laufen vom Nordpol (90° nördlicher Breite)<br />

zum Südpol (90° südlicher Breite). Die exakten Koordinaten<br />

für das Zentrum Berlins lauten beispielsweise<br />

52°31’20” N, 13°24’51” O.<br />

Mit elektronischen Hilfsmitteln der Positionsbestimmung,<br />

dem Global Positioning System (GPS),<br />

lassen sich geographische Breite <strong>und</strong> Länge an jedem<br />

beliebigen Punkt der Erde sehr einfach ermitteln. Das<br />

Global Positioning System stützt sich auf 21 Satelliten<br />

(plus 3 Reservesatelliten), welche die Erde auf vorgegebenen<br />

Umlaufbahnen umkreisen <strong>und</strong> präzise Zeit-<br />

Lind Positionsdaten übertragen. Das GPS ist Eigentum<br />

der US-Regierung, die von den Satelliten gesendeten<br />

Informationen sind aber weltweit für jedermann<br />

frei verfügbar. Alles, was für eine solche Positionsbestimmung<br />

benötigt wird, ist ein GPS-Empfänger.<br />

Die billigsten Modelle kosten heute weniger als<br />

50 Euro. Mit solchen Geräten lassen sich die geographische<br />

Breite <strong>und</strong> Länge sowie die Meereshöhe mit<br />

einer Fehlerabweichung von weniger als 100 Metern<br />

abrufen, <strong>und</strong> zwar r<strong>und</strong> um die Uhr, bei jeder Witterung<br />

<strong>und</strong> an jedem Ort der Erde. Viele neuere PKW-<br />

Modelle sind heute mit GPS-basierten Navigationssystemen<br />

ausgerüstet. Die präzisesten, mehrere Tausend<br />

Euro teuren GPS-Empfänger haben eine Fehlerabweichung<br />

von weniger als 1 Meter. Durch die Möglichkeiten<br />

von GPS haben sich die Genauigkeit <strong>und</strong><br />

(a)<br />

150°W 180°<br />

(C)<br />

1.12 Geographische Breite <strong>und</strong> Länge Die Linien der Breiten- <strong>und</strong> Längengrade bilden ein Gitter, das die gesamte Erdkugel<br />

überzieht <strong>und</strong> anhand dessen die Lage jedes Punktes auf der Erdoberfläche exakt bestimmt werden kann. Die geographische Breite<br />

wird als Winkelabstand (in Grad <strong>und</strong> Minuten) nördlich oder südlich des Äquators gemessen, wie in (a) dargestellt. Auf die gleiche<br />

Weise errechnet sich die geographische Länge, die den Winkelabstand eines Punktes auf der Erdoberfläche östlich oder westlich des<br />

Nullmeridians angibt. Der Nullmeridian ist die Linie, die durch beide Pole (Nord <strong>und</strong> Süd) sowie durch das Royal Observatory im<br />

englischen Greenwich östlich des Londoner Stadtzentrums verläuft. Bei Ortsangaben nennt man die geographische Breite immer<br />

zuerst. Beispielsweise ist die geographische Lage von Paris 48°51’ Nord <strong>und</strong> 2°20’ Ost, wie in (b) gezeigt. Mittels Gradsek<strong>und</strong>en<br />

könnte die Lage des Eiffelturms auf plusminus 30 Meter angegeben werden. Gradminuten erzielen nur eine Auflösung von<br />

einer nautischen Meile. (Quelle: Christopherson, R.W. Geosystems: An Introduction to Physical Geography 2. Auflage, 1994. S. 13 <strong>und</strong><br />

15. Bergman, E. F. Human Geography: Culture, Connections, and Landscapes. 1995. Abbildungen 1-10 <strong>und</strong> 1-13)


26 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

die Effizienz der Gewinnung räumlicher Daten drastisch<br />

erhöht. In Verbindung mit GIS <strong>und</strong> Fernerk<strong>und</strong>ung<br />

hat das GPS für eine Revolution auf den Gebieten<br />

der Kartenerstellung <strong>und</strong> der Raumanalyse gesorgt.<br />

Lage kann auch etwas Relatives sein, festgelegt<br />

durch Begriffe, die sich auf einen Standort oder<br />

eine Lagesituation beziehen. Der Begriff Standort<br />

(site) bezeichnet die physiogeographischen Eigenschaften<br />

einer Lokalität, zum Beispiel Geländeform,<br />

Bodenbeschaffenheit, Vegetation <strong>und</strong> Wasserangebot.<br />

Die geographische Lagesituation (Situation) bezieht<br />

sich dagegen auf die Lage einer Lokalität relativ<br />

zu anderen Orten oder Einrichtungen, zum Beispiel<br />

auf die Verkehrsanbindung oder die Nähe zu größeren<br />

Siedlungen (Abbildung 1.13). Die Stadt Köln am<br />

Rhein liegt topographisch an einem Flachufer des<br />

Rheins, bezüglich der geographischen Lagesituation<br />

hingegen gut zugänglich an einem bedeutenden<br />

Schifffahrtsweg zwischen den Niederlanden <strong>und</strong> Süddeutschland.<br />

Und schließlich besitzen Lokalitäten eine kognitive<br />

Dimension. Kognitive Raumbilder - auch als mental<br />

maps bezeichnet - sind geistige Repräsentationen<br />

von Lokalitäten oder Räumen, die individuellen Bildern<br />

<strong>und</strong> Eindrücken entspringen. Diese Bilder oder<br />

Vorstellungen können auf eigenen Erfahrungen,<br />

schriftlichen Schilderungen, Visualisierungen jeglicher<br />

Art, Hörensagen, Einbildungskraft oder auf<br />

einer Kombination verschiedener Quellen beruhen.<br />

Lokalitäten im Sinne kognitiver Bilder unterliegen<br />

in Abhängigkeit von den sich wandelnden Raumkenntnissen<br />

<strong>und</strong> Raumwahrnehmungen ständigen<br />

Veränderungen.<br />

Tatsächlich sind manche Dinge in der Raumvorstellung<br />

eines Menschen überhaupt nicht verankert.<br />

Das zeigen kognitive Raumbilder in ironischer<br />

Form. Die Wahrnehmung Kölns durch „den Kölner“<br />

konzentriert sich hier auf die ihm bekannten Landmarken<br />

der Stadt, während die Ferne immer mehr<br />

verschwimmt. Es fehlen weniger bekannte <strong>und</strong> weniger<br />

charakteristische Orte in solche Raumbildern.<br />

1.13 Die Bedeutung der topographischen <strong>und</strong> geographischen Lage Die Lage der Telekommunikationseinrichtungen in Denver<br />

im US-B<strong>und</strong>esstaat Colorado zeigt die Bedeutung der in der Geographie verwendeten Begriffe der topographischen Lage (der<br />

kleinräumigen Lage) <strong>und</strong> der geographischen Lagesituation (der großräumigen Lage eines Ortes relativ zu anderen Orten oder<br />

Einrichtungen). Denver hat sich zu einem wichtigen Zentrum des Kabeifernsehens entwickelt, an dem sich die Hauptgeschäftsstellen<br />

zahlreicher großer Telekommunikationsunternehmen, eine industrienahe Forschungseinrichtung sowie spezialisierte Zulieferbetriebe<br />

mit insgesamt mehr als 3 000 Beschäftigten konzentrieren. Der Standort der Stadt Denver in 1600 Meter Höhe ist insofern von<br />

Bedeutung, als dieser störungsfreie Verbindungen zwischen den kommerziellen Sende- <strong>und</strong> Empfangsanlagen <strong>und</strong> den entsprechenden<br />

Telekommunikationssatelliten gewährleistet. Die geographische Lage auf dem 105. Längengrad, in etwa gleicher Entfernung<br />

zu den geostationären Telekommunikationssatelliten über dem Pazifischen <strong>und</strong> Atlantischen Ozean, erlaubt es, Kabelprogramme<br />

nicht nur auf dem gesamten amerikanischen Doppelkontinent, sondern auch in Europa, dem Nahen Osten, Indien, Japan <strong>und</strong><br />

Australien - das heißt auf jedem Kontinent mit Ausnahme der Antarktis - auszustrahlen. Der Vorteil besteht darin, dass mit höheren<br />

Kosten <strong>und</strong> Einbußen in der Bildqualität verb<strong>und</strong>ene „Zickzack“-Übertragungen (bei denen das Signal zunächst zu einem Satelliten,<br />

dann über eine Bodenstation zu einem weiteren Satelliten <strong>und</strong> erst von diesem zum Empfänger gelangt) vermieden werden. Östiich<br />

oder westlich des 105. Längengrades gelegene Stationen müssten teilweise mithiife dieser Technik übertragen, da die Satellitenschüsseln<br />

dort keinen freien „Blick“ sowohl auf die über dem Atlantik als auch auf die über dem Pazifik positionierten Telekommunikationssatelliten<br />

hätten.


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 27<br />

I<br />

Distanz<br />

Unter Distanz versteht man häufig ein absolutes objektives<br />

Maß, das sich in Einheiten wie Kilometern<br />

oder Metern angegeben lässt. Distanz kann jedoch<br />

ebenso ein relatives Maß bezeichnen, das sich auf<br />

Zeit, Aufwand oder Kosten bezieht. So kann es beispielsweise<br />

mehr oder weniger Zeit in Anspruch nehmen<br />

oder auch Kosten verursachen, zehn Kilometer<br />

von Punkt A nach Punkt B zurückzulegen als zehn<br />

Kilometer von Punkt A nach Punkt C. Die Distanz,<br />

die man in einer bestimmten Situation als gegeben<br />

wahrnimnit, wird auch als kognitive Distanz bezeichnet.<br />

Kognitive Distanzen beruhen auf subjektiven<br />

Einschätzungen von Personen über das Maß<br />

der räumlichen Separiertheit von Punkten.<br />

Innerhalb der Geographie spielt Distanz als gr<strong>und</strong>legender<br />

Einflussfaktor konkreter Raumbeziehungen<br />

eine zentrale Rolle, wie Waldo Tobler formuliert hat:<br />

„Alle Dinge stehen untereinander in Beziehung, <strong>und</strong><br />

je näher sie einander sind, desto enger sind häufig<br />

diese Beziehungen.“ Der US-amerikanische Geograph<br />

von der University of California (Santa Barabara)<br />

ist einer von vielen, die sich in ihren Forschungen<br />

mit dem sogenannten Raumwiderstand, dem hinsichtlich<br />

menschlicher Aktivitäten hemmenden<br />

oder verhindernden Effekt von Entfernung, beschäftigt<br />

haben. Der Raumwiderstand spiegelt den Zeit<strong>und</strong><br />

Kostenaufwand, der zur Überwindung von Distanzen<br />

aufgebracht werden muss.<br />

Dabei gilt, dass sich die beobachteten Effekte auch<br />

bei der in Kilometern, Zeit- <strong>und</strong> Kostenaufwand gemessenen<br />

Distanz, zum Beispiel bei Transportaufgaben,<br />

nicht streng proportional zur Entfernung als solcher<br />

verhalten. Die limitierende Wirkung anwachsender<br />

Entfernungen nimmt umso weniger zu, je größer<br />

die Distanzen als solche sind. Verdoppelt sich beispielsweise<br />

die Entfernung, die zurückgelegt werden<br />

muss, um einen Lebensmittelladen zu erreichen,<br />

von 1 Kilometer auf 2 Kilometer, so resultiert daraus<br />

ein stark limitierender Effekt. Dieser ist bei derselben<br />

zusätzlich zu überwindenden Distanz von 1 Kilometer<br />

relativ gering, wenn bereits 10 Kilometer zurückgelegt<br />

wurden.<br />

Aus Beziehungen dieser Art entsteht das, was Geographen<br />

als Distanz-Abnahme-Funktion oder Distanzabfall<br />

bezeichnen. Eine Distanz-Abnahme-<br />

Funktion beschreibt die Abnahme einer bestimmten<br />

Aktivität oder eines spezifischen Phänomens mit zunehmender<br />

Distanz. Eine typische Distanz-Abnahme-Funktion<br />

ist in der Abbildung 1.14 dargestellt.<br />

Die Grafik zeigt die Effekte von Distanzen auf die Bereitschaft,<br />

eine Arztpraxis aufzusuchen.<br />

Entfernung vom Wohnort zur Arztpraxis<br />

1.14 Raumwiderstand Der Effekt von Distanz auf das Verhalten<br />

von Menschen lässt sich in einfachen Diagrammen wie<br />

diesem darstellen. Je größer eine Strecke ist, die zu einem<br />

bestimmten Zweck zurückgelegt werden muss, desto weniger<br />

wahrscheinlich ist es, dass diese Distanz auch tatsächlich<br />

überw<strong>und</strong>en wird. Das Beispiel zeigt die limitierende Wirkung<br />

von Distanz auf den Besuch einer Arztpraxis.<br />

Distanz-Abnahme-Funktionen spiegeln Verhaltensreaktionen<br />

auf die äußeren Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Zwänge in Zeit <strong>und</strong> Raum wider. In diesen drückt<br />

sich somit der Nutzen aus, der einem spezifischen<br />

Standort zugemessen wird. Der Standortnutzen<br />

eines Ortes ist der praktische Wert, den dieser für<br />

einen Einzelnen oder eine Gruppe von Personen besitzt.<br />

Der Nutzen kann jedoch von unterschiedlichen<br />

Personen in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich<br />

eingeschätzt werden. Das Verhalten von<br />

Vertretern oder Angestellten privatwirtschaftlicher<br />

Unternehmen ist im Hinblick auf den Standortnutzen<br />

meist von finanziellen Kosten-Nutzen-AbWägungen<br />

geleitet. Dieselben Personen dürften jedoch in<br />

Bezug auf die private Lebensgestaltung <strong>und</strong> die damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Entscheidungen ganz andere Maßstäbe<br />

anlegen. Neben Kostenfaktoren können Prestige, Lebensqualität,<br />

das Gefühl von Sicherheit <strong>und</strong> Zugehörigkeit<br />

bei der Beurteilung eines Standorts eine wichtige,<br />

wenn nicht entscheidende Rolle spielen. Der Manager<br />

einer großen Supermarktkette wird die Entscheidung<br />

über den Standort einer neuen Filiale<br />

mit hoher Wahrscheinlichkeit durch Abwägen der<br />

an jedem Standort zu erwartenden Kosten <strong>und</strong> Einnahmen<br />

treffen. Derselbe Manager wird, wenn es um<br />

die Wahl seines Alterswohnsitzes geht, die alternativen<br />

Standorte nicht nur nach finanziellen Kriterien,<br />

sondern auch unter dem Gesichtspunkt der Lebensqualität<br />

beurteilen.<br />

Die Beispiele zeigen, dass Menschen in den meisten<br />

Fällen bestrebt sind, den größtmöglichen Nettostandortnutzen<br />

- unter welchem Aspekt auch immer<br />

—zu suchen. Dieser Standortnutzen umfasst allerdings<br />

wesentlich mehr, als ein rational choice-Theo-


l<br />

------------------------^<br />

1 28 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1^:<br />

V<br />

_<br />

j<br />

retiker erwarten würde, <strong>und</strong> kann kaum objektiviert<br />

werden. Denn das Erkennen eines Nutzens hängt<br />

vom „Vorwissen“ ab. Was von einem Akteur mit<br />

einem niedrigen Informationsniveau <strong>und</strong> Wissen<br />

als „rationale Entscheidung“ angesehen wird, wird<br />

von einem anderen mit einem Wissensvorsprung<br />

als „nicht rationale Entscheidung“ beurteilt. Der Nutzen<br />

der rational choice-Theorie ist also sehr begrenzt.<br />

Die Suche nach dem größtmöglichen Nettonutzen<br />

eines Standorts bedeutet, dass menschliches Handeln<br />

zu wesentlichen Teilen durch das bestimmt wird, was<br />

Richard Morrill, Geograph an der Universität Washington,<br />

einmal als „Prinzip der Nähe“ bezeichnet<br />

hat. Menschen streben:<br />

• nach dem maximalen Gesamtnutzen von Orten<br />

bei minimalem Aufwand,<br />

• nach maximalen Verbindungen zwischen Orten zu<br />

minimalen Kosten <strong>und</strong><br />

• nach größtmöglicher räumlicher Bündelung miteinander<br />

in Zusammenhang stehender Aktivitäten.<br />

Daraus folgt, dass die aus bestimmten Verhaltensweisen,<br />

Standortentscheidungen <strong>und</strong> Wechselbeziehungen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Orten resultierenden<br />

Strukturen sich relativ gut Vorhersagen lassen.<br />

Raum<br />

Raum lässt sich ebenso wie Distanz durch absolute,<br />

relative <strong>und</strong> kognitive Angaben beschreiben. In der<br />

Tabelle 1.1 sind die verschiedenen Raumkonzepte<br />

dargestellt, die in der <strong>Humangeographie</strong> Anwendung<br />

finden. Der absolute Raum ist eine mathematische<br />

Dimension. Er ist durch Punkte, Linien, Flächen,<br />

Ebenen <strong>und</strong> Strukturen definiert, deren Beziehungen<br />

zueinander mathematisch präzise bestimmt werden<br />

können. Geographen bedienen sich verschiedener<br />

Möglichkeiten, den Raum mathematisch zu analysieren.<br />

Die gängigste Betrachtungsweise sieht den Raum<br />

als eine Art Behälter oder Container, der durch rechtwinklige<br />

Koordinaten definiert ist <strong>und</strong> sich mittels<br />

absoluter Entfernungsangaben, zum Beispiel in Kilometern,<br />

beschreiben lässt. Geographen greifen aber<br />

auch auf andere mathematische Konzepte zurück.<br />

Ein Beispiel dafür ist der topologische Raum, der<br />

durch Verbindungen zwischen - oder die Konnektivität<br />

von - einzelnen Punkten im Raum definiert ist<br />

(Abbildung 1.15). Der topologische Raum wird nicht<br />

mittels üblicher Maßeinheiten von Entfernung, sondern<br />

anhand von Art <strong>und</strong> Grad der Konnektivität<br />

zwischen verschiedenen Lokalitäten bestimmt oder<br />

gemessen.<br />

Als relative Dimension kann Raum auch als sozioökonomischer<br />

Raum oder Erlebnisraum (Aktionsraum,<br />

Verflechtungsraum) aufgefasst werden (Tabelle<br />

1.1). Der sozioökonomische Raum lässt sich anhand<br />

von Standorten <strong>und</strong> räumlicher Lagesituation,<br />

Wegen <strong>und</strong> Verbindungen sowie von Regionen <strong>und</strong><br />

Verteilungsmustern beschreiben. Raumbeziehungen<br />

werden in diesem Zusammenhang in Kategorien<br />

wie Zeit, Kosten, Gewinn <strong>und</strong> Produktion, aber<br />

auch durch physische Distanzen dargestellt. Unter Erlebnisraum<br />

versteht man einen Raum, der durch gemeinschaftliche<br />

Bindungen innerhalb einer Gruppe<br />

von Personen gebildet wird. Dieser lässt sich durch<br />

Orte, Territorien oder Milieus abgrenzen, die für<br />

die jeweilige Gruppe besondere Bedeutung haben.<br />

Kognitiver Raum kann schließlich definiert <strong>und</strong> bestimmt<br />

werden anhand von Wertvorstellungen, Anschauungen,<br />

Gefühlen <strong>und</strong> Wahrnehmungen, die<br />

Menschen mit Orten, Gebieten <strong>und</strong> Regionen verbinden.<br />

Kognitiver Raum lässt sich demzufolge im<br />

verhaltenstheoretischen Kontext mit Begriffen wie<br />

Landmarken, Wege, Umwelten <strong>und</strong> räumliche Anordnungen<br />

beschreiben.<br />

Tabelle 1.1<br />

Arten von Räumen aus humangeographischer Sicht<br />

Absoluter Raum:<br />

mathematischer Raum<br />

Relativer Raum:<br />

sozioökonomischer Raum<br />

Relativer Raum:<br />

Erlebnisraum<br />

Kognitiver Raum:<br />

^<br />

verhaltenstheoretischer Raum -<br />

Punkte Standorte Orte Landmarken<br />

Linien räumliche Situationen Wege Pfade<br />

Flächen Routen Territorien Bezirke<br />

Ebenen Regionen Bereiche Umwelten<br />

Strukturen Verteilungen Welten räumliche Anordnungen<br />

(Quelle: basierend auf Couclelis, H. Location, Place, Region and Space. In: Abler, R. et al., Geography’s Inner Worlds. New Brunswick, NJ<br />

(Rutgers University Press) 1992, Tabelle 10.1, S. 231)


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 29<br />

U J © U J Schnellbahn Liniennetz Rapid transit route map Oiia<br />

1.15 Der topologische Raum Es existieren Raumdimensionen <strong>und</strong> Aspekte der räumlichen Organisation, die sich nicht ohne<br />

Weiteres durch Distanzen beschreiben lassen. In vielen Fällen ist die Konnektivität von Orten <strong>und</strong> Menschen entscheidend, wobei zu<br />

fragen ist, ob Verbindungen zwischen ihnen bestehen, welcher Art diese Verbindungen sind <strong>und</strong> dergleichen mehr. Über die<br />

Eigenschaften der Konnektivität definiert sich eine besondere Raumkategorie, die in der Mathematik als topologischer Raum bezeichnet<br />

wird. Die Karte des Schnellbahn-Liniennetzes der Stadt Berlin zeigt, wie spezifische Punkte innerhalb eines bestimmten<br />

Netzwerks untereinander verb<strong>und</strong>en sind, sie ist ein Beispiel für eine topologische Karte. Die wesentlichen Aspekte jeglicher Art<br />

von Netzwerken sind aus der Sicht des Geographen deren Eigenschaften in Bezug auf Konnektivität. Diese Eigenschaften bestimmen<br />

die Flüsse von Menschen <strong>und</strong> Dingen (Waren, Informationen) <strong>und</strong> die Zentralität von Orten. Wie die Mehrzahl der Bewohner<br />

Berlins weiß, besitzen der neue Hauptbahnhof, die Bahnhöfe Friedrichstraße <strong>und</strong> Zoologischer Garten <strong>und</strong> die Kreuze im Westen,<br />

Süden <strong>und</strong> Osten innerhalb des Schnellbahnnetzes eine besonders hohe Konnektivität, da hier zum Teil die Züge der Deutschen<br />

Bahn, der U-Bahn <strong>und</strong> der S-Bahn halten <strong>und</strong> miteinander verknüpft sind. Die Station Turmstraße, die nur in geringer Luftlinienentfernung<br />

vom Hauptbahnhof liegt, besitzt innerhalb des Transportnetzwerks diese zentrale Lage nicht <strong>und</strong> hat daher auch<br />

keine vergleichbaren Fahrgastströme aufzuweisen.<br />

^Erreichbarkeit<br />

In Anbetracht der Tatsache, dass Menschen bei vielen<br />

Entscheidungen nach dem Prinzip der Nähe handeln,<br />

ist Erreichbarkeit von zentraler Bedeutung. In der<br />

Geographie wird Erreichbarkeit in der Regel in Kategorien<br />

des relativen Standorts definiert, <strong>und</strong> zwar<br />

als die an einem Ort gegebenen Möglichkeiten, in<br />

Kontakt <strong>und</strong> Interaktion zu anderen Orten zu treten.<br />

Erreichbarkeit impliziert Nähe zu etwas. Da Nähe<br />

<strong>und</strong> Erreichbarkeit gr<strong>und</strong>sätzliche Bedeutung für<br />

den Standortnutzen besitzen, üben Distanzen starken<br />

Einfluss auf das Verhalten von Menschen aus. Distanz<br />

ist ein wichtiger, wenn auch längst nicht der einzige<br />

Aspekt von Erreichbarkeit.<br />

Konnektivität (oder Verknüpftheit) ist ein weiterer<br />

wichtiger Aspekt von Erreichbarkeit, denn Kontakt<br />

<strong>und</strong> Interaktion hängen von Übertragungs<strong>und</strong><br />

Verkehrsnetzwerken wie Straßen, Autobahnen,<br />

Telefonverbindungen oder Übertragungsfrequenzen<br />

ab. Gute Erreichbarkeit ist folglich nicht nur eine<br />

Funktion von Distanz, sondern auch eine Funktion<br />

der Leistungsfähigkeit von Übertragungs- <strong>und</strong> Transportnetzwerken.<br />

Die Netzwerke kommerzieller Flug-


30 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

4<br />

r1<br />

"■é 1<br />

Knien sind dafür ein anschauliches Beispiel. Städte,<br />

die als Drehkreuze des Flugverkehrs fungieren, besitzen<br />

eine bedeutend bessere Erreichbarkeit als Städte,<br />

die weniger häufig oder überhaupt nicht angeflogen<br />

werden.<br />

Erreichbarkeit ist darüber hinaus oftmals eine<br />

Funktion ökonomischer, kultureller <strong>und</strong> sozialer<br />

Faktoren. Mit anderen Worten: Relative Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Einschätzungen von Entfernung haben für<br />

Entscheidungen häufig denselben Stellenwert wie absolute<br />

Distanzen. Eine nahe gelegenes Krankenhaus<br />

beispielsweise ist für uns nur dann erreichbar,<br />

wenn wir es uns finanziell leisten können, dorthin<br />

zu gelangen, wenn es uns nach unseren eigenen Maßstäben<br />

in puncto Distanzen nahe erscheint, wenn wir<br />

die Behandlung in dieser Einrichtung bezahlen können<br />

<strong>und</strong> wir das Gefühl haben, dort in sozialer <strong>und</strong><br />

kultureller Hinsicht gut aufgehoben zu sein. Ein anderes<br />

Beispiel: Eine Kindertagesstätte, die sich nur ein<br />

paar Straßen entfernt von der Wohnung einer alleinerziehenden<br />

Person befindet, ist nicht wirklich erreichbar,<br />

wenn sie erst nach Arbeitsbeginn des alleinerziehenden<br />

Elternteils öffnet. Dasselbe gilt, wenn die<br />

erziehende Person von dieser Einrichtung den Eindruck<br />

hat, dass das Personal, die Kinder oder andere<br />

Eltern ihren Wunschvorstellungen nicht entsprechen.<br />

I<br />

Räumliche Interaktion<br />

Wechselwirkungen zwischen Orten <strong>und</strong> Regionen<br />

können nur durch Bewegung <strong>und</strong> Ströme (flows) aufrechterhalten<br />

werden. Geographen verwenden den<br />

Ausdruck räumliche Interaktion als Kurzform für<br />

jegliche Art von Bewegung <strong>und</strong> Strömen (Flüssen),<br />

die im Zusammenhang mit menschlichen Aktivitäten<br />

stehen. Beispiele für räumliche Interaktion sind die<br />

Beförderung von Frachten zur See, das Pendeln zwischen<br />

Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsstätte, Einkaufsfahrten, Telekommunikation,<br />

elektronischer Zahlungsverkehr,<br />

Migration oder Urlaubsreisen. Die Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

räumlicher Interaktion lassen sich auf vier Begriffe reduzieren:<br />

Komplementarität, Übertragbarkeit, intervenierende<br />

Faktoren positiver <strong>und</strong> negativer Art <strong>und</strong><br />

Diffusion.<br />

Komplementarität<br />

Komplementarität ist eine der Voraussetzungen für<br />

die Herausbildung von Interdependenz zwischen Orten.<br />

Zwischen mindestens zwei Orten findet nämlich<br />

nur dann räumliche Interaktion statt, wenn sich diese<br />

ergänzen, beziehungsweise wenn eine Nachfrage, die<br />

an einem Ort besteht, durch ein entsprechendes Angebot<br />

an einem anderen Ort vollständig oder teilweise<br />

befriedigt werden kann. Komplementarität kann auf<br />

unterschiedlichen Faktoren beruhen. Ein wichtiger<br />

Bereich ist die räumliche Differenzierung der physischen<br />

Umwelt <strong>und</strong> der natürlichen Ressourcen. So ist<br />

beispielsweise der starke Urlauberstrom aus den städtischen<br />

Zentren Schottlands in die Urlaubsgebiete am<br />

Mittelmeer im Wesentlichen eine Funktion klimatischer<br />

Komplementarität. Der Strom großer Mengen<br />

Rohöls von Saudi-Arabien, das über immense Ölreserven<br />

verfügt, nach Japan, das solche nicht besitzt, ist<br />

eine Funktion der Komplementarität hinsichtlich der<br />

Ausstattung mit natürlichen Ressourcen.<br />

Ein zweiter Faktor, der zu Komplementarität beiträgt<br />

<strong>und</strong> heute wohl der wichtigste ist, ist die räumliche<br />

Arbeitsteilung, die sich seit Jahrh<strong>und</strong>erten auf<br />

allen Maßstabsebenen herausgebildet hat <strong>und</strong> weiter<br />

voranschreitet. Die Industrienationen der Erde waren<br />

bestrebt, sich Ergänzungsgebiete in Übersee zu sichern,<br />

aus denen sie Nahrungsmittel, Rohstoffe<br />

<strong>und</strong> exotische Produkte beziehen <strong>und</strong> sich so auf gewinnbringendere<br />

Produktionszweige <strong>und</strong> wissensintensive<br />

Industrien spezialisieren konnten (Kapitel 2).<br />

Durch die Verbindung von Kolonialismus, Imperialismus<br />

<strong>und</strong> uneingeschränkter ökonomischer Vorherrschaft<br />

in einem Teil der Welt gerieten die schwächeren<br />

Länder in wirtschaftliche Abhängigkeit von<br />

den höher entwickelten Ländern, auf deren Nachfrage<br />

sie direkt reagierten. Zu den Waren- <strong>und</strong> Materialflüssen,<br />

die aus dieser Komplementarität resultieren,<br />

gehören die Einfuhr von Zucker von Barbados<br />

nach Großbritannien, von Tee aus Indien nach Großbritannien,<br />

von Bananen aus Costa Rica <strong>und</strong> Honduras<br />

in die Vereinigten Staaten, von Palmöl aus Kamerun<br />

nach Frankreich, von Automobilen aus Frankreich<br />

nach Algerien <strong>und</strong> von Kapitalinvestitionen<br />

aus den USA in nahezu alle geringer entwickelten<br />

Länder der Erde.<br />

Ein dritter Faktorenkomplex, der zu Komplementarität<br />

beiträgt, sind Mechanismen der Spezialisierung<br />

sowie Größenvorteile (economies of scale).<br />

Standorte, Regionen <strong>und</strong> Staaten können wirtschaftlichen<br />

Gewinn aus Einsparungen durch Spezialisierung<br />

erzielen. Größenvorteile sind für einen Hersteller<br />

gleichbedeutend mit Kostenvorteilen, da durch<br />

Produktionssteigerung die durchschnittlichen Herstellungskosten<br />

gesenkt werden können. Unter anderem<br />

verringert sich der relative Fixkostenanteil (zum<br />

Beispiel von der Produktion unabhängige Kosten für<br />

Miete oder Erwerb von Fabrikgebäuden), sodass die<br />

durchschnittlichen Kosten sinken. Spezialisierung in<br />

der Wirtschaft ist eine Folge von Komplementaritä-


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 31<br />

ten, aufgr<strong>und</strong> derer sich räumliche Interaktionsmuster<br />

herausbilden. Ein Beispiel ist die Spezialisierung<br />

israelischer Landwirte auf die Produktion hochwertiger<br />

Obst- <strong>und</strong> Gemüsesorten für den Export in<br />

Länder der EU, die im Gegenzug Knollenfrüchte <strong>und</strong><br />

Getreide nach Israel ausführen.<br />

Übertragbarkeit<br />

Eine weitere Voraussetzung für die Entstehung von<br />

Wechselwirkungen zwischen Orten ist die Übertragbarkeit,<br />

welche wiederum von der hemmenden beziehungsweise<br />

abschreckenden Wirkung von Distanz<br />

abhängt. Übertragbarkeit ist eine Funktion von<br />

zwei Parametern; den Kosten, einen Gegenstand zu<br />

bewegen, ausgedrückt in konkreten Geldbeträgen<br />

<strong>und</strong>/oder Zeit, <strong>und</strong> der Eigenschaft eines Gegenstands,<br />

diese Kosten ökonomisch zu verkraften.<br />

Sind beispielsweise die Kosten für den Transport<br />

eines Gegenstands von A nach B zu hoch, um durch<br />

den Verkauf dieses Gegenstands am Zielort noch<br />

einen Gewinn erzielen zu können, dann ist eine wirtschaftliche<br />

Übertragbarkeit für dieses Produkt zwischen<br />

diesen beiden Orten nicht gegeben.<br />

Die Übertragbarkeit variiert je nach Ort, Gegenstand<br />

<strong>und</strong> Transport- oder Übertragungsart. Da<br />

schwere <strong>und</strong> sperrige Materialien per Eisenbahn<br />

oder Schiff bedeutend billiger transportiert werden<br />

können als auf der Straße, ist zum Beispiel die Übertragbarkeit<br />

von Kohle wesentlich höher zwischen Orten,<br />

die durch Eisenbahnlinien oder Schifffahrtswege<br />

verb<strong>und</strong>en sind, als zwischen Orten, die lediglich<br />

durch Straßen miteinander verknüpft sind. Die Übertragbarkeit<br />

von Frischobst <strong>und</strong> Salatpflanzen ist dagegen<br />

in höherem Maße von der Transportgeschwindigkeit<br />

<strong>und</strong> der Verfügbarkeit spezieller Kühlfahrzeuge<br />

abhängig. Während die Übertragbarkeit von Geldbeträgen<br />

auf elektronischem Weg generell sehr viel<br />

höher ist als bei einem realen Transport von Scheinen<br />

<strong>und</strong> Münzen, so gilt dies in besonderem Maße für<br />

Orte, an denen Banken für den routinemäßigen elektronischen<br />

Zahlungsverkehr ausgerüstet sind. Computermikrochips<br />

besitzen eine hohe Übertragbarkeit,<br />

da sie leicht <strong>und</strong> kostengünstig bewegt werden können<br />

<strong>und</strong> die Transportkosten gemessen am Wert<br />

des Produkts niedrig sind. Die Übertragbarkeit von<br />

Computerbildschirmen ist dagegen aufgr<strong>und</strong> der<br />

Zerbrechlichkeit <strong>und</strong> des - bezogen auf Gewicht<br />

<strong>und</strong> Volumen - niedrigeren Werts vergleichsweise<br />

geringer.<br />

Übertragbarkeit ist zudem zeitlichen Veränderungen<br />

unterworfen. Technische Innovationen im<br />

Transportwesen <strong>und</strong> bei der Datenübertragung sowie<br />

neue Infrastruktureinrichtungen wie Kanäle, Eisenbahnlinien,<br />

Häfen, Straßen, Brücken <strong>und</strong> dergleichen<br />

wirken sich modifizierend auf die räumliche Transportkostenstruktur<br />

aus. Neue Technologien <strong>und</strong><br />

neue oder erweiterte Infrastruktureinrichtungen bewirken<br />

Veränderungen hinsichtlich der Übertragbarkeit<br />

bestimmter Gegenstände zwischen bestimmten<br />

Orten <strong>und</strong> verändern deshalb in der Regel auch die<br />

Standortqualitäten von Orten sowie die räumliche<br />

Ausdehnung der Systembeziehungen. Die räumliche<br />

Organisation der unterschiedlichsten Aktivitäten ist<br />

somit durch ständige Wandlungs- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse<br />

gekennzeichnet. Die immer enger zusammenrückende<br />

Welt führt zum Konzept der Raum-<br />

Zeit-Konvergenz. Darunter versteht man das Maß,<br />

in dem Orte sich in Bezug auf Reise- oder Übertragungszeiten<br />

<strong>und</strong> -kosten einander „annähern“.<br />

Raum-Zeit-Konvergenz ist eine Folge abnehmender<br />

Raumwiderstände aufgr<strong>und</strong> neuer Technologien<br />

<strong>und</strong> infrastruktureller Verbesserungen, durch die<br />

sich Fahrtzeiten zwischen Orten immer mehr verkürzen<br />

<strong>und</strong> Übertragungsgeschwindigkeiten erhöhen.<br />

Raumwirksame Technologien haben Orte im Allgemeinen<br />

einander „näher“ gebracht (Abbildung<br />

1.16). Die Reisezeit auf dem Landweg zwischen<br />

New York <strong>und</strong> Boston hat sich beispielsweise von<br />

3,5 Tagen, die eine Postkutsche um 1800 benötigte,<br />

auf 5 St<strong>und</strong>en (im Jahr 2000) verringert. Dabei trat<br />

an die Stelle von Pferdekutschen zunächst die Eisenbahn,<br />

die wiederum vom motorisierten Individualverkehr<br />

verdrängt wurde. Andere raumwirksame Innovationen<br />

waren oder sind der Personen- <strong>und</strong><br />

Frachtflugverkehr, telegrafische, telefonische <strong>und</strong> satellitengestützte<br />

Kommunikationssysteme, nationale<br />

Postwesen, Paketdienste, Telefaxgeräte, Modems,<br />

Glasfaserkabel <strong>und</strong> -netzwerke sowie E-Mail-Software.<br />

Der bedeutendste Aspekt der jüngeren Entwicklungen<br />

im Transport- <strong>und</strong> Kommunikationswesen<br />

ist, dass diese Systeme nicht nur eine globale<br />

Reichweite besitzen, sondern mehr <strong>und</strong> mehr auch<br />

die lokale Ebene durchdringen. Dies kann dazu führen,<br />

dass Orte, die viele Kilometer voneinander entfernt<br />

liegen, enger verb<strong>und</strong>en sind als Orte, die bezüglich<br />

der Kategorien des absoluten Raums zwar eng benachbart<br />

sind, hinsichtlich der elektronischen Erreichbarkeit<br />

aber weiter auseinanderliegen. Viel hängt<br />

dabei von der Art der Kommunikation oder dem<br />

Umfang ab, in dem Menschen an unterschiedlichen<br />

Orten Zugang zu neuen Technologien haben. Früher<br />

konnten Kupferkabel nur geringe Informationsmengen<br />

übertragen. Mikrowellenfrequenzen eignen sich<br />

zwar gut für die Kommunikation von Person zu Person,<br />

haben aber eine begrenzte Reichweite. Mittels<br />

Telekommunikationssatelliten lassen sich abgelegene


32 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1500-1840<br />

Regionen hervorragend erreichen, dafür entstehen<br />

dem Nutzer hohe Kosten. Glasfaserkabel eignen<br />

sich sehr gut für dicht besiedelte Gebiete, nicht jedoch<br />

für abgelegene ländliche Regionen. Das „Schrumpfen“<br />

des Raums hat erhebliche Auswirkungen auf<br />

die individuelle Wahrnehmung von Raum <strong>und</strong> Distanzen<br />

sowie auf das Wissen über anderer Orte<br />

<strong>und</strong> Regionen.<br />

Intervenierende Faktoren {in terven in g opportu<br />

n ities)<br />

Während Komplementarität <strong>und</strong> Übertragbarkeit<br />

Voraussetzungen für räumliche Interaktion darstellen,<br />

bestimmen intervenierende Faktoren eher den<br />

Umfang <strong>und</strong> die Strukturen von Bewegungen <strong>und</strong><br />

Flüssen. Solche intervenierenden Faktoren müssen<br />

nicht direkt zwischen zwei Punkten oder entlang<br />

einer Verkehrsverbindung zwischen diesen gegeben


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 33<br />

sein. Für schwedische Familien repräsentieren beispielsweise<br />

Ferienziele in Spanien vermutlich die beste<br />

von mehreren untersuchten Alternativen, da diese<br />

über das größte oder preiswerteste Angebot an Hotelbetten<br />

<strong>und</strong> Ferienapartments verfügen. Im Konzept<br />

der intervening opportunities wurden auch verschiedene<br />

Regeln oder Gesetzmäßigkeiten aufgestellt, die<br />

jedoch zum Teil sehr positivistisch erscheinen <strong>und</strong><br />

den meisten Humangeographen wegen ihres eindimensionalen<br />

Erklärungsansatzes wenig attraktiv erscheinen.<br />

Eine dieser fragwürdigen Regeln lautet<br />

zum Beispiel: Räumliche Interaktionen zwischen<br />

einem Ursprungs- <strong>und</strong> einem Bestimmungsort verhalten<br />

sich proportional zum Umfang der Gelegenheiten<br />

an diesem Bestimmungsort <strong>und</strong> umgekehrt<br />

proportional zur Zahl der Möglichkeiten an alternativen<br />

Zielen.<br />

Räumliche Diffusion<br />

Epidemien, technologischen Innovationen, politischen<br />

Strömungen <strong>und</strong> neuen Musiktrends ist gemeinsam,<br />

dass sie an bestimmten Orten entstehen<br />

<strong>und</strong> sich nachfolgend über andere Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

ausbreiten. Die Art <strong>und</strong> Weise, in der räumliche Diffusion<br />

- die Ausbreitung von Phänomenen oder Dingen<br />

in Raum <strong>und</strong> Zeit - stattfmdet, ist ein wesentlicher<br />

Aspekt räumlicher Interaktion <strong>und</strong> darüber hinaus<br />

entscheidend für das Verständnis geographischer<br />

Veränderungen.<br />

Innovationen breiten sich selten in nicht vorhersagbaren<br />

Sprüngen über die Landkarte aus. Vielmehr<br />

vollzieht Diffusion sich nach Regeln der statistischen<br />

Wahrscheinlichkeit, die wiederum häufig auf gr<strong>und</strong>legenden<br />

geographischen Prinzipien von Distanz <strong>und</strong><br />

Bewegung basieren. Die Ausbreitung einer Infektionskrankheit<br />

wird beispielsweise über die Wahrscheinlichkeit<br />

des Körperkontakts gesteuert <strong>und</strong><br />

durch die individuelle Resistenz gegen diese Krankheit<br />

modifiziert. Eine Diffusion vollzieht sich meist<br />

in Form einer Welle, die sich grafisch als S-Kurve darstellen<br />

lässt: Auf einen flachen Anstieg folgt ein steiler<br />

Abschnitt, der eine rasche Ausbreitung markiert, bis<br />

die Kurve sich schließlich auf einem hohem Niveau<br />

einpendelt (Abbildung 1.17).<br />

Mehrere Formen räumlicher Diffusionsmuster<br />

(Abbildung 1.18) können unterschieden werden. Expansive<br />

Diffusion ist die Ausbreitung eines Phänomens<br />

aufgr<strong>und</strong> der Nähe zwischen Personen, die -<br />

ohne selbst ihren Standort zu verändern —als Initiatoren<br />

oder Vermittler von Neuerungen fungieren. Ein<br />

Beispiel für expansive Diffusion ist die Ausbreitung<br />

von Innovationen im Agrarsektor, zum Beispiel die<br />

Verwendung von hybridem Saatgut, innerhalb einer<br />

1.17 Räumliche Diffusion Die räumliche Diffusion vieler<br />

Phänomene (Dinge, Ideen) ergibt bei kumulativer Darstellung im<br />

Diagramm eine S-förmige Kurve: Im Anfangsstadium verläuft die<br />

Ausbreitung zunächst langsam, dann erfolgt eine Beschleunigung.<br />

Schließlich findet ein Sättigungsprozess statt, sodass sich<br />

die Kurve auf einem bestimmten Niveau einpendelt. Im Fall der<br />

Diffusion einer Innovation dauert es beispielsweise eine gewisse<br />

Zeit, bis eine ausreichende Zahl potenzieller Adoptoren<br />

(Personen, die in der Lage sind, eine Neuerung aufzunehmen)<br />

Kenntnis von einer Innovation bekommen <strong>und</strong> eine „kritische<br />

Masse“ bilden, die notwendig ist, damit Neuerungen angenommen<br />

werden. Sobald dieser Punkt erreicht ist, breitet sich<br />

die Innovation sehr rasch aus, <strong>und</strong> zwar so lange, bis die<br />

Mehrzahl der potenziellen Adoptoren mit dieser in Berührung<br />

gekommen ist. (Quelle: Walmsley, D.J.; Lewis, G.J. Human<br />

Geography: Behavioral Approaches. London, Longmann. 1984,<br />

Abbildung 5.3, S. 52. Abdruck mit Genehmigung von Addison<br />

Wesley Longman Ltd.)<br />

Gemeinschaft von Landwirten. Ein weiterer Diffusionstyp<br />

ist die hierarchische Diffusion (oder Kaskadendiffusion),<br />

deren Besonderheit darin besteht, dass<br />

ein Phänomen sich von einem Ort zu einem anderen<br />

ausbreiten kann, wobei dazwischen liegende Orte<br />

ausgelassen oder übersprungen werden. Ein Beispiel<br />

für diese Art der Diffusion wäre etwa die von einer<br />

Großstadt ausgehende Ausbreitung eines Modetrends<br />

oder von wissenschaftlichen Erkenntnissen über mittelgroße<br />

<strong>und</strong> kleinere Städte bis hin zu ländlichen<br />

Siedlungen. Bei Diffusionsprozessen spielen die verschiedensten<br />

Aspekte menschlicher Interaktion an<br />

unterschiedlichen Orten eine Rolle, sodass expansive<br />

<strong>und</strong> hierarchische Diffusionsprozesse einander oft<br />

überlagern. Infektionskrankheiten verbreiten sich<br />

zum Beispiel häufig in einer Kombination aus expansiver<br />

<strong>und</strong> hierarchischer Diffusion, wie im Fall von<br />

HIV/AIDS.


34 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

Hypothetisches Siedlungsmuster<br />

Großstadt<br />

# Klein-/Mittelstadt<br />

• ländliche Siedlung<br />

a) Expansive Diffusion<br />

Zeiti<br />

f Zeit 2<br />

-► Zeit 3<br />

-Y- ' =■<br />

b) Hierarchische oder Kaskadendiffusion<br />

Zeit 1<br />

c) Gemischte Diffusion<br />

► Zeiti<br />

Zeit 2<br />

1.18 Arten der räumlichen Diffusion a) Expansive Diffusion (zum Beispiel die Ausbreitung einer innovativen Agrartechnologie<br />

wie der Einsatz von hybridem Saatgut in einem ländlichen Gebiet), b) Hierarchische oder Kaskadendiffusion (zum Beispiel die<br />

Ausbreitung eines Modetrends von Großstädten auf Mittel- <strong>und</strong> Kleinstädte), c) Gemischte Diffusion (zum Beispiel die Ausbreitung<br />

einer Infektionskrankheit in einer Region). (Quelle: Cromley, E. K., McLafferty, S. L. GIS and Public Health. New York (Guilford<br />

Press) S. 193)<br />

Regionalanalyse<br />

Die Raumanalyse ist nicht für alle geographischen<br />

Phänomene das am besten geeignete Konzept. Geographen<br />

versuchen auch die komplexen Beziehungen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Orten zu verstehen; sie fragen<br />

nach Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Unterschieden unter<br />

<strong>und</strong> zwischen diesen sowie nach damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Identitäten <strong>und</strong> Qualitäten. Dafür geeignete Basiskonzepte<br />

sind Regionalisierung, Landschaft <strong>und</strong><br />

emotionale Ortsbezogenheit (sense of place).


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 35<br />

I<br />

Regionalisierung<br />

Dem Konzept der wissenschaftlichen Klassifizierung<br />

entspricht in der Geographie das Konzept der Regionalisierung,<br />

wobei die Objekte der Klassifizierung individuelle<br />

Standorte oder Raumeinheiten sind. Regionalisierungen<br />

haben den Zweck, Typen von Regionen<br />

zu identifizieren. Es gibt verschiedene Ansätze, wie<br />

individuelle Raumeinheiten Regionen zugeordnet<br />

werden können. Eine Methode ist die logische Einteilung<br />

oder „Klassifizierung von oben nach unten“.<br />

Dabei werden universelle, übergeordnete Raumeinheiten<br />

schrittweise in kleinere Regionen untergliedert,<br />

indem auf jeder Ebene jeweils spezifischere Kriterien<br />

zu Anwendung kommen. So könnte man Länder<br />

in einem ersten Schritt in reiche <strong>und</strong> arme Länder<br />

aufteilen, im nächsten beide wiederum in solche mit<br />

einem Handelsüberschuss <strong>und</strong> solche mit einem<br />

Handelsdefizit <strong>und</strong> so weiter. Ein anderes Verfahren<br />

der Zuordnung individueller Raumeinheiten zu Regionen<br />

ist die Gruppenbildung oder „Klassifizierung<br />

von unten nach oben“. Dabei werden Regelhaftigkeiten<br />

oder signifikante Beziehungen zwischen räumlichen<br />

Einheiten ermittelt <strong>und</strong> diese schrittweise zu<br />

größeren Klassen zusammengefasst, indem das<br />

Maß an Übereinstimmung auf jeder Ebene weiter gefasst<br />

wird.<br />

Bei dieser Art der Klassifizierung wird implizit davon<br />

ausgegangen, dass Raumeinheiten hinsichtlich<br />

eines oder mehrerer untersuchter Merkmale homogen<br />

sind. Trifft dies zu, erhält man als Ergebnis formale<br />

Regionen. Formale Regionen sind Gruppen von<br />

Raumeinheiten, die bezüglich bestimmter Merkmale<br />

(zum Beispiel Religionszugehörigkeit oder Haushaltseinkommen)<br />

einen hohen Grad an Übereinstimmung<br />

aufweisen. Nur wenige Phänomene weisen jedoch<br />

über größere Raumeinheiten hinweg eine solche<br />

Homogenität auf. Geographen beschäftigen sich deshalb<br />

auch mit funktionalen Regionen. Darunter versteht<br />

man Regionen gleicher wirtschaftlicher, politischer<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlicher Struktur <strong>und</strong> Dynamik,<br />

wobei auch in solchen Regionen Unterschiede hinsichtlich<br />

bestimmter Merkmale (auch hier zum Beispiel<br />

Religionszugehörigkeit oder Haushaltseinkommen)<br />

auftreten können.<br />

Das Konzept der funktionalen Regionen eignet<br />

sich gut, um aufzuzeigen, dass übereinstimmende<br />

<strong>und</strong> unterschiedliche Merkmale einer Region mancherorts<br />

stärker ausgeprägt sind als anderswo. Diesen<br />

Sachverhalt beschreibt das core-domain-sphere-Modell<br />

des Geographen Donald Meinig, das dieser in<br />

einem Aufsatz über das Mormonen-Gebiet der Vereinigten<br />

Staaten (Abbildung 1.19) vorgestellt hat.<br />

Danach sind im Kerngebiet (core) einer Region die<br />

verschiedenen Merkmale klar erkennbar; in den anschließenden<br />

Bereichen (domain) dominieren diese<br />

Merkmale zwar immer noch, treten aber nicht<br />

mehr ausschließlich auf; <strong>und</strong> in den äußeren Bereichen<br />

(sphere) kommen sie zwar vor, sind aber nicht<br />

mehr dominant.<br />

Neben der Klassifizierung beschäftigt sich die Regionalanalyse<br />

auch mit Fragen der geographischen<br />

Maßstabsebene, denn die Welt kann (<strong>und</strong> muss)<br />

als ein Mosaik kleiner Regionen innerhalb jeweils<br />

größerer Raumstrukturen gesehen werden. Diese<br />

übergeordneten Raumstrukturen sind eng verknüpft<br />

mit den formalen Grenzen, die sich auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

von nationalem <strong>und</strong> internationalem Recht herausgebildet<br />

haben - <strong>und</strong> die ständig in Frage gestellt <strong>und</strong><br />

verändert werden.<br />

^ Schließlich können individuelle Vorstellungen von<br />

Ort, Region <strong>und</strong> Identität im Einklang mit oder im<br />

Widerspruch zu diesen Grenzen stehen. Diese Vorstellungen<br />

erzeugen starke Gefühle von Zusammengehörigkeit<br />

oder Verschiedenheit <strong>und</strong> damit Regionalismus<br />

<strong>und</strong> Partikularismus, die ihrerseits wieder<br />

auf den Prozess der von Menschen geschaffenen Räume<br />

(place making) <strong>und</strong> der regionalen Differenzierung<br />

zurückwirken. Mit dem Begriff Regionalismus<br />

werden Situationen beschrieben, die entstehen können,<br />

wenn unterschiedliche religiöse oder ethnische<br />

Gruppen innerhalb derselben Grenzen Zusammenleben,<br />

wobei sich die Gruppen oft in einer bestimmten<br />

Region konzentrieren <strong>und</strong> durch ein starkes Gefühl<br />

der Zusammengehörigkeit gekennzeichnet sind.<br />

Sind regionale Interessen <strong>und</strong> Bräuche besonders<br />

stark ausgeprägt, spricht man von Partikularismus.<br />

Regionalismus ist häufig bei ethnischen Gruppen anzutreffen,<br />

die unter anderem nach Autonomie <strong>und</strong><br />

vom Nationalstaat unabhängigen politischen Strukturen<br />

streben (Kapitel 10). Es kommt auch vor,<br />

dass die Regierung eines Landes Ansprüche auf Enklaven<br />

ethnischer Minderheiten in einem anderen<br />

Land erhebt. So haben zum Beispiel nationalistische<br />

Serben Ansprüche auf die serbischen Enklaven in<br />

Kroatien angemeldet. Die von der Regierung eines<br />

Landes aufgestellte Behauptung, eine außerhalb seiner<br />

formalen Grenzen lebende Minderheit gehöre<br />

historisch <strong>und</strong> kulturell zu diesem, wird als Irredentismus<br />

bezeichnet. Unter bestimmten Umständen<br />

kann Irredentismus zum Krieg führen, wie im Fall<br />

der von Serbien beanspruchten serbischen Enklaven<br />

in Kroatien.


36 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1.19 Die W elt des Islam Etwa ein Viertel der Weltbevölkerung bekennt sich heute zum Islam, mindestens 45 Staaten bestehen<br />

aus muslimischen Gesellschaften. Die Welt des Islam erstreckt sich vom westlichsten Punkt Afrikas bis nach Sinkiang in der<br />

Volksrepublik China, von den Turkrepubliken Mittelasiens bis nach Mosambik <strong>und</strong> zur südostasiatischen Inselwelt. Hinzu kommt<br />

der Diaspora-Islam Westeuropas <strong>und</strong> des Balkans sowie muslimische Gemeinden in Amerika. Die Abbildung zeigt die Kernräume<br />

des Islam in Nordafrika, der arabischen Halbinsel <strong>und</strong> im übrigen Vorderen Orient mit über 90 Prozent muslimischer Bevölkerung.<br />

Die Mehrheit stellen Muslime auch im insularen Südostasien (Indonesien) <strong>und</strong> in den zentralasiatischen Staaten. Muslimische<br />

Minderheiten gibt es in Indien, in Zentralafrika <strong>und</strong> den europäischen <strong>und</strong> amerikanischen Industriestaaten.<br />

Landschaft<br />

In vielen Ländern ist heute die Umgestaltung natürlicher<br />

Landschaften zu Kulturlandschaften sehr weit<br />

fortgeschritten (Kapitel 7). Naturlandschaften oder<br />

auch nur naturnahe Landschaften existieren kaum<br />

noch. Geographen betrachten daher Landschaft heute<br />

als umfassendes Ergebnis menschlichen Handelns,<br />

sodass jede Landschaft ein komplexes Archiv der Gesellschaft<br />

darstellt. Landschaft ist gewissermaßen eine<br />

Beweissammlung unserer Eigenschaften <strong>und</strong> Erfahrungen,<br />

unserer Bemühungen <strong>und</strong> unserer Triumphe<br />

sowie unserer Niederlagen als menschliche Wesen.<br />

Um die Bedeutung von Landschaft besser zu verstehen,<br />

haben Geographen Kategorien entwickelt, denen<br />

Landschaften anhand der sie charakterisierenden Elemente<br />

zugeordnet werden können.<br />

Traditionelle Landschaften sind Räume, die Menschen<br />

im Laufe ihres Lebens gemeinsam mit anderen<br />

gestalten, Landschaften, die bewohnt <strong>und</strong> verändert<br />

werden, seien es dicht bevölkerte Stadtzentren,<br />

durchgrünte Vorortsiedlungen oder Dörfer im ländlichen<br />

Raum. Diese Landschaften beeinflussen ihrerseits<br />

die Wahrnehmung, die Wertvorstellungen sowie<br />

das Verhalten derer, die dort leben <strong>und</strong> arbeiten.<br />

Symbolische Landschaften repräsentieren demgegenüber<br />

bestimmte Werte oder Wunschvorstellungen,<br />

welche diejenigen, die solche Landschaften erschaffen<br />

oder finanzieren, einer größeren Öffentlichkeit<br />

vermitteln wollen. So stellt beispielsweise das neu<br />

gestaltete Regierungsviertel in Berlin eine symbolische<br />

Stadtlandschaft dar - ebenso wie die neoklassizistischen<br />

Regierungsgebäude in Washington, D.G.,<br />

zusammen mit den Straßen, Parkanlagen <strong>und</strong> Monumenten<br />

der US-amerikanischen Hauptstadt Stärke<br />

<strong>und</strong> Macht in Anspielung auf den Stadtstaat der griechischen<br />

Antike, aber auch den Geist der Demokratie<br />

vermitteln sollen (Abbildung 1.20). Die Bildung einer<br />

Nation hängt wesentlich ab von Erzählungen oder<br />

Mythen von vergangenen „Goldenen Zeitaltern“,<br />

starken Traditionen, heldenhaften Taten, kollektiven<br />

Entbehrungen <strong>und</strong> dramatischen Schicksalen. Alle


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 37<br />

diese Mythen <strong>und</strong> Überlieferungen sind traditionellen<br />

heimatlichen (oder als zukünftige Heimat versprochenen)<br />

Landschaften mit ihren heiligen Stätten<br />

<strong>und</strong> Gegenden eingeschrieben. Landschaft wird so zu<br />

einer Art „Gemälde“ oder Abbild einer Nation. Mit<br />

der Bildung des modernen Italien in der Epoche<br />

des Risorgimento („Wiedererstehung durch Einigung“<br />

- 1815 bis 1861) wurde beispielsweise die klassische<br />

Landschaft der Toskana zum Sinnbild für ganz Italien<br />

<strong>und</strong> hat seither Landschaftsmaler, romantische Dichter<br />

<strong>und</strong> Schriftsteller angezogen. In ähnlicher Weise<br />

wurde der Westen Irlands (Abbildung 1.21) Anfang<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts für irische Nationalisten zum<br />

Symbol des gesamten Landes - teils, weil es diese Region<br />

war, die sich der britischen Kolonisation am<br />

längsten widersetzt hatte, teils, weil ihre rauen <strong>und</strong><br />

zerklüfteten Landschaften in scharfem Kontrast zu<br />

den eher bukolischen Gebieten zu stehen schienen,<br />

die üblicherweise mit England in Verbindung gebracht<br />

werden.<br />

Geographen haben erkannt, dass Landschaft<br />

höchst unterschiedliche Bedeutungsebenen einschließt<br />

- Bedeutungen, die von unterschiedlichen<br />

sozialen Gruppen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich<br />

ausgedrückt <strong>und</strong> verstanden werden.<br />

Landschaften spiegeln das Leben gewöhnlicher Menschen<br />

ebenso wider wie das der Mächtigen, sie reflektieren<br />

sowohl ihre Träume <strong>und</strong> Ideen als auch ihre<br />

physische <strong>und</strong> materielle Existenz. Bedeutungen,<br />

die Landschaften eingeschrieben sind, können als<br />

Zeichen von Werten, Überzeugungen <strong>und</strong> Handlungen<br />

„gelesen“ werden, wenngleich nicht jeder „Leser“<br />

die Zeichen in gleicher Weise deuten dürfte - so wie<br />

ein Text von verschiedenen Lesern unterschiedlich<br />

interpretiert werden kann.<br />

Emotionale Ortsbezogenheit<br />

Die in vertrauter Umgebung gemachten Alltagserfahrungen<br />

ermöglichen die Herausbildung eines kollektiven<br />

F<strong>und</strong>us von Bedeutungen. Sie fließen in die Haltungen<br />

<strong>und</strong> Gefühle ein, die Menschen gegenüber<br />

sich selbst <strong>und</strong> dem Ort, an dem sie leben, einnehmen<br />

<strong>und</strong> empfinden, <strong>und</strong> führen schließlich zu einer starken<br />

emotionalen Ortsbezogenheit (Kapitel 7). Der<br />

Begriff emotionale Ortsbezogenheit (sense o f place)<br />

bezeichnet die Summe menschlicher Empfindungen,<br />

die ein bestimmter Ort auszulösen imstande ist, wobei<br />

die Gefühle auf persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen<br />

<strong>und</strong> symbolhaften Bedeutungen basieren,<br />

die mit diesem Ort verb<strong>und</strong>en sind. Der Begriff<br />

kann sich jedoch ebenso darauf beziehen, wie der<br />

Charakter eines Ortes, dessen spezifische physische<br />

Merkmale <strong>und</strong>/oder die seiner Bewohner von Außenstehenden<br />

(Outsiders) wahrgenommen wird.<br />

Für die an einem Ort lebenden Menschen (insiders)<br />

entwickelt sich emotionale Ortsbezogenheit<br />

durch die allen gemeinsame Art, sich zu kleiden,<br />

zu sprechen, sich in der Öffentlichkeit zu verhalten<br />

<strong>und</strong> so weiter. Von zentraler Bedeutung ist in diesem<br />

Zusammenhang das Lebenswelt-Konzept. Es bezieht<br />

sich auf das Selbstverständlichnehmen der Strukturen<br />

<strong>und</strong> Kontexte des Alltagslebens, das es Menschen ermöglicht,<br />

den Alltag zu bewältigen, ohne ihn zu<br />

einem Gegenstand der bewussten Aufmerksamkeit<br />

zu machen. Die Erfahrung täglicher Routine in gewohnten<br />

Umgebungen erzeugt einen Bestand an kollektiven<br />

Bedeutungen. Menschen werden durch tägliche<br />

Begegnungen <strong>und</strong> Erfahrungen in Bars, Cafés,<br />

Restaurants, Läden, Straßen <strong>und</strong> Parks vertraut mit<br />

dem Vokabular anderer Menschen, mit ihrer Ausdrucksweise,<br />

ihrer Art sich zu kleiden, ihrer Gestik<br />

<strong>und</strong> ihrem Humor. Kollektive Bedeutungen, die<br />

aus Erfahrungen des Alltagslebens resultieren, werden<br />

als Intersubjektivität bezeichnet. Den Tagesablauf<br />

strukturierende Elemente (wie der vormittägliche Lebensmitteleinkauf<br />

mit einer Tasse Kaffee zwischendurch,<br />

der aperitivo auf dem Weg von der Arbeit<br />

nach Hause, der Verdauungsspaziergang nach dem<br />

Abendessen) sind maßgeblich für die Dichte alltäglicher<br />

Begegnungen <strong>und</strong> kollektiver Bedeutungen. Sie<br />

bilden das F<strong>und</strong>ament, auf dem emotionale Ortsbezogenheit<br />

sich entwickeln kann (Abbildung 1.22).<br />

Das gilt genauso für Ereignisse oder Aktivitäten,<br />

die den Wochenrhythmus bestimmen, zum Beispiel<br />

Straßen- <strong>und</strong> Bauernmärkte, wie für jährlich wiederkehrende<br />

Ereignisse oder Aktivitäten, etwa Fest- <strong>und</strong><br />

Feiertage.<br />

Diese Rhythmen oder sich regelmäßig wiederholenden<br />

Ereignisse <strong>und</strong> Aktivitäten werden durch bestimmte<br />

Arten von Orten <strong>und</strong> Umgebungen bestimmt.<br />

Nicht nur Straßen, Plätze <strong>und</strong> andere öffentlich<br />

zugängliche Räume sind Orte der Alltagserfahrung<br />

<strong>und</strong> soziokultureller Transaktionen, sondern<br />

auch sogenannte „dritte Orte“ (nach dem Zuhause<br />

an erster <strong>und</strong> dem Arbeitsplatz an zweiter Stelle):<br />

StraRencafés, Bars, die Postfiliale, der Laden an der<br />

Ecke, die familiäre trattoria. Genau wie im öffentlichen<br />

Raum finden sich auch an solchen Orten „Originale“<br />

ebenso wie „gewöhnliche“ Typen, Auswärtige<br />

wie Alteingesessene, <strong>und</strong> sie ermöglichen zufällige Begegnungen<br />

wie feste Verabredungen. Art <strong>und</strong> Häufigkeit<br />

zufälliger Begegnungen <strong>und</strong> kollektiver Erfahrungen<br />

hängen in hohem Maß von der Beschaffenheit<br />

solcher Orte <strong>und</strong> Räume ab.


38 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

(a)<br />

i<br />

V /<br />

X;<br />

(b)<br />

(C)<br />

1.20 Die Symbolkraft von Orten Manche Orte erlangen<br />

einen hohen Symbolwert aufgr<strong>und</strong> der Gebäude, der Architektur,<br />

der Denkmäler <strong>und</strong> historischen Ereignisse, die mit ihnen<br />

verknüpft sind. Am Beispiel der deutschen Hauptstadt Berlin<br />

lässt sich dies gut verdeutlichen. So stehen die Quadriga auf<br />

dem Brandenburger Tor (a) oder der Reichstag (b) für die<br />

preußische Zeit <strong>und</strong> die Zeit, als Berlin Hauptstadt des Deutschen<br />

Reichs war, die Gedenkstätte für der ermordeten Juden<br />

Europas (c) für die Zeit des Dritten Reichs. Die Ruine der<br />

Gedächtniskirche (d) erinnert an die Kriegszerstörungen, einige<br />

weniger Überreste der Mauer zwischen Ost <strong>und</strong> West (e)<br />

sowie einzelne erhaltene Wachttürme (f) halten die Erinnerung<br />

an die Zeit der deutschen Teilung wach. Nach der Wiedervereinigung<br />

investierten die Konzerne DaimlerChrysler <strong>und</strong><br />

Sony im ehemaligen Grenzgebiet des Potsdamer Platzes, <strong>und</strong><br />

es entstanden dort postmoderne Bauten wie das Beisheim<br />

Center (g) oder das gegenüberliegende Sony Center (h).


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 39


40 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

1.21 Die typische Landschaft<br />

Irlands. Die herben Heckenlandschaften<br />

im Westen Irlands sind ein typisches<br />

Kennzeichen der regenfeuchten irischen<br />

Landschaft <strong>und</strong> damit auch ein Charakteristikum<br />

der Republik Irland.<br />

Eine emotionale Bindung entsteht ebenfalls durch<br />

die Vertrautheit mit der Geschichte <strong>und</strong> Symbolik bestimmter<br />

Elemente der physischen Umgebung. Dabei<br />

kann es sich um einen nahe gelegenen Berg oder See,<br />

den Geburtsort einer bekannten Persönlichkeit, den<br />

Schauplatz eines wichtigen Ereignisses oder um<br />

künstlerische Eormen des Ausdrucks von Zusammengehörigkeit<br />

handeln. Gelegentlich wird emotionale<br />

Ortsbezogenheit durch symbolträchtige Monumente<br />

oder Standbilder gezielt verstärkt, meist ergibt<br />

sie sich jedoch zwanglos aus der Vertrautheit der<br />

Menschen mit ihresgleichen <strong>und</strong> ihrer Umgebung.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der daraus folgenden emotionalen Ortsbezogenheit<br />

fühlen sich Menschen heimisch <strong>und</strong> „am<br />

Platz“.<br />

Für Außenstehende summieren sich Landmarken,<br />

eine bestimmte Lebensart <strong>und</strong> so weiter nur dann zu<br />

einer emotionalen Ortsbezogenheit, wenn diese so<br />

prägnant sind, dass sie in denjenigen, die keine eigene<br />

Anschauung von den örtlichen Gegebenheiten haben,<br />

eine allgemeine Vorstellung hervorrufen.<br />

Entwicklung von geographischen<br />

I Vorstellungen_________________<br />

Eine geographische Vorstellung (geographical imagination)<br />

versetzt uns in die Lage, räumliche Muster,<br />

Wandlungsprozesse <strong>und</strong> sich verändernde Beziehungen<br />

zwischen Menschen, Orten <strong>und</strong> Regionen zu erfassen.<br />

Die Vorstellungen von Räumen weiterzuentwickeln<br />

ist angesichts beispielloser weltweiter Veränderungen,<br />

die sich in immer rascheren Schritten vollziehen,<br />

von größter Bedeutung. Während große Teile<br />

der Welt über Jahrzehnte oder sogar Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

1.22 Intersubjektivität. Alltägliche<br />

Begegnungen wie hier im portugiesischen<br />

Evora tragen dazu bei, dass die<br />

Bewohner eines Ortes ein Gefühl von<br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> emotionaler Bindung<br />

an den Ort entwickeln.


<strong>Humangeographie</strong> als Studienfach 41<br />

1.23 Orte als Spiegelbild historischer Veränderungen Die Ruine des Heidelberger Schlosses spiegelt nicht nur die<br />

Geschichte der Stadt in der Frühen Neuzeit wider, unter anderem die Funktion als kurfürstliche Residenz <strong>und</strong> deren Zerstörung<br />

durch französische Soldaten am Ende des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts, sondern sie bildet auch ein Symbol für die Mittelaltersicht <strong>und</strong> -Sehnsucht<br />

der Romantik (Clemens von Brentano, Achim von Arnim, Joseph von Eichendorff). Im Sommer wird mit der sogenannten<br />

„Schlossbeleuchtung“ die Zerstörung des Bauwerks durch französischen Soldaten am Ende des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts simuliert <strong>und</strong><br />

damit ein Event für den internationalen Tourismus von den USA bis Japan geschaffen<br />

scheinbar keinerlei Wandel erfahren haben, lösten die<br />

Industrielle Revolution <strong>und</strong> die Entwicklung schneller<br />

(Fern-)Transport- <strong>und</strong> Kommunikationsmittel in<br />

vielen Regionen eine Reihe rasch aufeinanderfolgender<br />

Veränderungen aus, in ländlichen Gebieten ebenso<br />

wie in kleinen <strong>und</strong> großen Städten. Heute, in Zeiten<br />

einer globalisierten Wirtschaft <strong>und</strong> weltweiter<br />

Verkehrs- <strong>und</strong> Telekommunikationsnetze, sind<br />

wechselseitige Abhängigkeiten zwischen Orten viel<br />

stärker geworden, <strong>und</strong> in immer größeren Teilen<br />

der Welt wächst der Druck zu raschen Veränderungen.<br />

Man sollte sich immer wieder bewusst machen,<br />

dass Orte <strong>und</strong> Regionen in ihrem heutigen Zustand<br />

das Resultat einer Reihe aufeinanderfolgender Veränderungen<br />

in der Vergangenheit sind. Folgt man dieser<br />

Betrachtungsweise, so lässt sich nach einander überlagernden<br />

Schichten unterschiedlicher Entwicklungsphasen<br />

suchen (Abbildung 1.23). Dabei kann gezeigt<br />

werden, dass bestimmte historische Strukturen <strong>und</strong><br />

Verflechtungen auch gegenwärtig noch bestehen,<br />

während andere modifiziert oder vollständig überprägt<br />

wurden. Ferner wird deutlich, wie unterschiedlich<br />

Orte auf Veränderungen reagieren. Möglicherweise<br />

lassen sich dabei zeitlich aufeinanderfolgende<br />

Phasen sowie deren Auswirkungen erkennen. Um<br />

zu solchen Aussagen zu gelangen, müssen Geographen<br />

in der Lage sein, wesentliche Wandlungsprozesse<br />

zu erkennen.<br />

I<br />

Allgemeines <strong>und</strong> Besonderes erkennen<br />

Geographisches Vorstellungsvermögen ermöglicht es,<br />

zwischen dem Allgemeinen <strong>und</strong> dem Besonderen zu<br />

unterscheiden <strong>und</strong> damit einen wichtigen Aspekt<br />

räumlicher Wandlungsprozesse zu untersuchen.<br />

Diese Unterscheidung hilft, die Vielfalt geographischer<br />

Phänomene zu erklären <strong>und</strong> zu verstehen,<br />

wie <strong>und</strong> weshalb eine spezifische Veränderung eine<br />

Vielzahl raumwirksamer Effekte auszulösen imstande<br />

ist. Die allgemeinen Effekte einer spezifischen Veränderung<br />

erfahren gr<strong>und</strong>sätzlich Modifikationen,<br />

da sie in unterschiedlichen Umgebungen stattfinden<br />

<strong>und</strong> dort wiederum individuelle Auswirkungen haben.<br />

Bedeutende Umbruchphasen haben also in der<br />

Regel neben einer Reihe von allgemeinen Auswirkungen<br />

gleichzeitig immer auch individuelle, raumspezifische<br />

Effekte. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen:<br />

Die Industrielle Revolution, die sich im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert in Europa vollzog, war eine Epoche einschneidender<br />

Veränderungen. Zu den übergeordneten<br />

Raumeffekten dieser Umbruchphase können<br />

die zunehmende Urbanisierung, die räumliche Differenzierung<br />

der Produktion sowie die Ausweitung des<br />

interregionalen <strong>und</strong> internationalen Handels gezählt<br />

werden. Verallgemeinernd könnte man sagen, dass<br />

eine Differenzierung von Orten in Kohleabbaugebiete,<br />

Industriestädte, Hafenstandorte, Stadtzentren,<br />

Arbeitersiedlungen <strong>und</strong> suburbane Räume stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat.


42 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

f1<br />

Es steht jedoch außer Zweifel, dass diese allgemeinen<br />

Entwicklungen in Abhängigkeit von den lokalen<br />

oder regionalen naturräumlichen, ökonomischen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> sozialen Gegebenheiten jeweils besondere<br />

Ausprägungen erfahren haben. Neben dramatischen<br />

Veränderungen, die sich auf die Geographie<br />

ganz Europas auswirkten, bildeten sich vielfältige<br />

individuelle Erscheinungsformen heraus. Industriestädte<br />

entwickelten ihren eigenen, unverwechselbaren<br />

Charakter, geprägt durch spezifische Industriezweige,<br />

politische Entscheidungen, Persönlichkeiten<br />

<strong>und</strong> Ziele der führenden Schichten oder Reaktionen<br />

der Stadtbevölkerung. Die Innenstädte nahmen unter<br />

dem Einfluss übergeordneter wirtschaftlicher Kräfte<br />

unterschiedliche Entwicklungen, da diese Faktoren<br />

auf unterschiedliche physische Standortbedingungen<br />

<strong>und</strong> unterschiedliche Gr<strong>und</strong>besitzstrukturen trafen.<br />

Lokale sozioökonomische <strong>und</strong> politische Faktoren<br />

waren für die eigenständige Entwicklung jeder einzelnen<br />

Stadt darüber hinaus auch insofern von Bedeutung,<br />

als sie deren architektonisches Erscheinungsbild<br />

beeinflussten. Die Sonderstellung von Orten kann allerdings<br />

auch darauf beruhen, dass sie von den<br />

Wandlungsprozessen dieser Periode weitgehend unbeeinflusst<br />

blieben, weil sie aufgr<strong>und</strong> ihrer spezifischen<br />

Eigenschaften nicht in der Lage oder nicht bereit<br />

waren, sich an die neuen wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

strukturräumlichen Gegebenheiten anzupassen (Abbildung<br />

1.24).<br />

Ein anderes Beispiel für allgemeine <strong>und</strong> individuelle<br />

Effekte des Wandels ist das Aufkommen der Eisenbahn,<br />

einer Technologie, die eng mit der Industriellen<br />

Revolution verknüpft war. Allgemein betrachtet,<br />

gewährleistete die Eisenbahn zunehmende Raum-<br />

Zeit-Konvergenz. Das neue Transportmittel förderte<br />

die Neuordnung der Industrie durch eine Ausweitung<br />

der Absatzmärkte sowie den interregionalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Handel. Eisenbahnen schufen außerdem<br />

Verbindungen zwischen städtischen Agglomerationen.<br />

Regionalgeographische Unterschiede waren<br />

dafür verantwortlich, dass diese allgemeinen Entwicklungen<br />

spezifische Ausprägungen erfuhren. In<br />

Großbritannien, wo sich die Eisenbahn in dicht<br />

besiedelten <strong>und</strong> teilweise bereits industrialisierten<br />

Räumen etablierte, trug das neue Transport- <strong>und</strong><br />

Verkehrsmittel maßgeblich zur Herausbildung einer<br />

eng verflochtenen Nationalökonomie <strong>und</strong> einer intensiven<br />

Verstädterung bei. In Spanien traf die Eisenbahn<br />

dagegen auf weniger stark urbanisierte <strong>und</strong> in<br />

geringerem Umfang industrialisierte Räume. Zudem<br />

verfügten manche Regionen nicht über das notwendige<br />

Kapital für den Bau von Eisenbahnstrecken.<br />

Die Folge war, dass die relativ wenigen Städte, die<br />

1.24 Rothenburg ob der Tauber Rothenburg wurde im Jahr<br />

1172 zur Stadt erhoben. Ihre Blütezeit erlebte die Stadt im<br />

ausgehenden Mittelalter; im 30-jährigen Krieg wurde sie vor<br />

Zerstörung nahezu verschont. Aufgr<strong>und</strong> ihrer peripheren Lage<br />

konnte sie ihr historisches Stadtbild bis in die Gegenwart<br />

weitgehend unverändert bewahren. Heute zieht Rothenburg<br />

jährlich über 2 Millionen Gäste an <strong>und</strong> kommt auf 450 000<br />

Übernachtungen. (Quelle: Rothenburg Tourismus Service.)<br />

an das Eisenbahnnetz angeschlossen waren, enorme<br />

Wettbewerbsvorteile genossen. Diese Ausgangssituation<br />

führte letztlich dazu, dass die räumliche Struktur<br />

der modernen spanischen Ökonomie gegenüber<br />

derjenigen Großbritanniens ein geringeres Maß an<br />

Verflechtungen aufweist. Eine weitere Folge dieser<br />

Entwicklung ist die Ausbildung eines Städtesystems,<br />

das von einigen wenigen Zentren dominiert wird.


Differenzierung; die Stärke der Geographie 43<br />

Differenzierung:<br />

die Stärke der Geographie<br />

Das Studium der Geographie bildet heute eine unverzichtbare<br />

Gr<strong>und</strong>lage für das Verstehen einer Welt, die<br />

wesentlich komplexer geworden ist <strong>und</strong> sich schneller<br />

denn je wandelt. Geographie hat die Mannigfaltigkeit<br />

menschlicher Lebensgemeinschaften <strong>und</strong> die Verschiedenartigkeit<br />

von Orten <strong>und</strong> Räumen zum Gegenstand.<br />

Es handelt sich somit um eine Disziplin,<br />

die nicht nur zu zukunftsfähigen lokalen, nationalen<br />

<strong>und</strong> globalen Entwicklungen beiträgt, sondern auch<br />

multikulturelle, internationale <strong>und</strong> feministische<br />

Sichtweisen verstehen <strong>und</strong> fördern kann.<br />

Die Bedeutung geographischer<br />

I Bildung <strong>und</strong> Erziehung_______<br />

In den Vereinigten Staaten erzielte man nach einer 10<br />

fahre andauernden Debatte über den bildungspolitischen<br />

Stellenwert des Fachs Geographie weitgehende<br />

Übereinstimmung darüber, dass geographische Bildung<br />

eine f<strong>und</strong>amentale Voraussetzung sei für ein<br />

Verständnis der Vielfalt des Lebens, die eigene Lebensgestaltung<br />

<strong>und</strong> eine verantwortungsvolle Beteiligung<br />

an lokalen, nationalen <strong>und</strong> internationalen Entscheidungsprozessen.<br />

Aus der Erkenntnis eines zunehmenden<br />

„geographischen Analphabetismus“ in<br />

den Vereinigten Staaten erfolgte die Aufnahme der<br />

Geographie als ein Kernfach in Goals 2000: Educate<br />

America Art (Public Law 103-227), einer umfassenden<br />

Zusammenstellung der Ziele geographischer Bildung<br />

der Geographischen Gesellschaft Amerikas<br />

(American Geographical Society), des Verbands<br />

Amerikanischer Geographen (Association of American<br />

Geographers), des Nationalen Rats für Geographische<br />

Bildung <strong>und</strong> Erziehung (National Council<br />

for Geographie Education) <strong>und</strong> der Nationalen Geographischen<br />

Gesellschaft (National Geographie Society).^<br />

Diese Aufwertung der geographischen Betrachtungsweise<br />

hat auch zur Gründung zahlreicher area<br />

studies (zum Beispiel African studies. European studies,<br />

international relations) an renommierten Universitäten<br />

geführt, an denen Geographen, Politologen, Historiker,<br />

Ökonomen <strong>und</strong> andere Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

^ Geography Education Standards Project, Geography for life: National<br />

Geography Standards 1994. Washington, DC (National Geographic<br />

Research and Exploration) 1994<br />

Sozialwissenschaften gemeinsam über bestimmte<br />

Großräume forschen <strong>und</strong> lehren.<br />

In Deutschland formulierten im Jahr 1996 Vertreter<br />

verschiedenster geographischer Fachgebiete aus<br />

Wissenschaft, Schule <strong>und</strong> Politik im Rahmen einer<br />

von der Alfred-Wegener-Stiftung für Geowissenschaften<br />

in Gemeinschaft mit der Deutschen Gesellschaft<br />

für Geographie <strong>und</strong> dem Institut für Länderk<strong>und</strong>e<br />

in Leipzig veranstalteten Konferenz die „Leipziger<br />

Erklärung zur Bedeutung der Geowissenschaften<br />

in Lehrerbildung <strong>und</strong> Schule“. Die Konferenzteilnehmer<br />

empfehlen darin allen Verantwortlichen in<br />

Politik <strong>und</strong> Bildung, die Inhalte dieser Erklärung<br />

zur Umsetzung in Schule, Hochschule <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

zu beachten <strong>und</strong> bildungspolitische Konsequenzen<br />

zu ziehen. Die Erklärung betont angesichts<br />

der gegenwärtigen <strong>und</strong> zukünftigen Herausforderungen,<br />

die sowohl die natürliche Ausstattung der Erde<br />

als auch ihre wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Entwicklung<br />

betreffen, die Notwendigkeit, die Gesellschaft für<br />

eine nachhaltige Entwicklung zu befähigen. Eine angemessene<br />

Behandlung der Lebenswirklichkeiten <strong>und</strong><br />

die Möglichkeiten ihrer Gestaltung in räumlicher<br />

Perspektive sei nur auf geowissenschaftlicher Gr<strong>und</strong>lage<br />

zu leisten. Daraus leitet sich die Forderung nach<br />

einer breit angelegten <strong>und</strong> interdisziplinär orientierten<br />

Vermittlung des Faches Geographie in der Schule<br />

ab.<br />

I Angewandte Geographie<br />

Die Geographie ist sowohl ein Hilfsmittel zum besseren<br />

Verstehen der Welt als auch eine angewandte<br />

Wissenschaft. Geographen sind in verschiedensten<br />

Bereichen der Wirtschaft, der Industrie <strong>und</strong> staatlicher<br />

Einrichtungen tätig. Geographische Theorien<br />

<strong>und</strong> Methoden sind überall dort von Bedeutung<br />

oder unverzichtbar, wo es um das Erkennen <strong>und</strong> Erklären<br />

von Systemzusammenhängen, die Erfassung<br />

<strong>und</strong> Erklärung von regionalen Disparitäten, die<br />

Standortsuche, die Analyse von Märkten <strong>und</strong> die<br />

Analyse des Verhaltens von Konsumenten geht. Angeblich<br />

haben 80 Prozent aller menschlichen Entscheidungen<br />

eine räumliche Dimension, sodass<br />

auch kaum ein Logistikproblem vorstellbar ist, zu<br />

dessen Lösung nicht geographische Konzepte <strong>und</strong><br />

Methoden verwendet werden müssen. Ein großer<br />

Teil der Forschungen, die an den geographischen Instituten<br />

der Universitäten betrieben werden, haben<br />

ebenfalls angewandte Aspekte. Die Geographie als<br />

wissenschaftliche <strong>und</strong> angewandte Disziplin leistet<br />

folglich einen direkten gesellschaftlichen Beitrag,


44 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren<br />

Schulabschluss<br />

-iß'<br />

Die Geographie hat als erstes Fach in Deutschland in Kooperation<br />

von Lehrern, Fachdidaktikern <strong>und</strong> Fach\A/issenschaftlern<br />

nationale Standards für den Mittleren Schulabschluss entwickelt.<br />

Dabei wird herausgearbeitet, dass aktuelle geographisch<br />

<strong>und</strong> geowissenschaftlich relevante Phänomene <strong>und</strong><br />

Prozesse, wie zum Beispiel Globalisierung, Klimawandel, Erdbeben,<br />

Hochwasser <strong>und</strong> Stürme, aber auch Bevölkerungsentwicklung,<br />

Migration, Disparitäten <strong>und</strong> Ressourcenkonflikte<br />

das Leben der Gesellschaften auf dem Planeten Erde in vielen<br />

Bereichen prägen <strong>und</strong> daher f<strong>und</strong>iertes Wissen über den Umgang<br />

mit diesen komplexen Entwicklungen nötig ist. Neben<br />

f<strong>und</strong>iertem Sachwissen muss die Schule Urteilsfähigkeit sowie<br />

Problemlösungskompetenz, zum Beispiel in den Bereichen<br />

Umweltschutz, Risikovorsorge, Stadt- <strong>und</strong> Raumplanung, Wasserversorgung,<br />

wirtschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> entwicklungspolitische<br />

Zusammenarbeit, vermitteln. Weil die genannten<br />

Prozesse ihre Dynamik aus den Wechselwirkungen zwischen<br />

naturgeographischen Gegebenheiten <strong>und</strong> menschlichen Aktivitäten<br />

erhalten, können diese Qualifikationen insbesondere<br />

durch eine Verknüpfung von naturwissenschaftlicher <strong>und</strong> gesellschaftswissenschaftlicher<br />

Bildung aufgebaut werden. Gerade<br />

hier besitzt die Geographie ihr besonderes fachliches<br />

Potenzial.<br />

Quelle: Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren<br />

Schulabschluss<br />

^■4<br />

k l<br />

der sich aufgr<strong>und</strong> des breit gefächerten Themenspektrums<br />

auf alle Lebensbereiche <strong>und</strong> räumlichen Maßstäbe,<br />

von der lokalen bis zur globalen Ebene, beziehen<br />

kann. Die folgenden Beispiele mögen dies verdeutlichen.<br />

• Internationale Angelegenheiten: Geographen besitzen<br />

Kenntnisse in regionaler Geschichte <strong>und</strong> regionaler<br />

Geographie sowie die Fähigkeit, Interdependenzen<br />

zwischen Standorten <strong>und</strong> Regionen zu<br />

analysieren. Sie können deshalb in den Aushandlungsprozessen<br />

internationaler Politik wichtige<br />

Beiträge leisten. Die Mitarbeit von Geographen<br />

in Regierungsstellen, Verbänden <strong>und</strong> anderen<br />

Non-Profit-Organisationen, wo sie internationale<br />

Strategien entwickeln, ist im Kontext einer sich<br />

beschleunigenden Globalisierung besonders wich­<br />

tig-<br />

• Standortanalysen für öffentliche Einrichtungen:<br />

Geographen gehen nach spezifischen Methoden<br />

vor, um geographische Verteilungsmuster bestimmter<br />

Bevölkerungsgruppen <strong>und</strong> Transportnetzwerke<br />

oder die Erreichbarkeit alternativer<br />

Standorte zu analysieren. Anhand solcher Analysen<br />

können Geographen die am besten geeigneten<br />

Standorte für öffentliche Einrichtungen wie Krankenhäuser,<br />

vUtenheime oder Sozialstationen ermitteln.<br />

• Marketing <strong>und</strong> Standortanalysen für gewerblichindustrielle<br />

Einrichtungen: Ähnliche Verfahren<br />

werden eingesetzt, wenn der optimale - oder ökonomisch<br />

vorteilhafte —Standort für eine neue Fabrik,<br />

ein Geschäft oder ein Büro gef<strong>und</strong>en werden<br />

soll. Geographische Untersuchungen dienen außerdem<br />

dazu, räumliche Veränderungen von Angebot<br />

<strong>und</strong> Nachfrage zu analysieren. Die Ergebnisse<br />

solcher Untersuchungen geben der Wirtschaft<br />

Entscheidungshilfen, ob <strong>und</strong> wohin Standorte<br />

verlagert werden sollten.<br />

Arbeitsmarktanalysen: Sowohl das Angebot an<br />

regional verfügbaren Arbeitsplätzen als auch das<br />

Ausmaß der Erwerbstätigkeit von Männern <strong>und</strong><br />

Frauen, die Arbeitslosenquoten sowie das Ausbildungs-<br />

<strong>und</strong> Qualifikationsniveau der Erwerbsbevölkerung<br />

variieren sehr stark in der räumlichen<br />

Dimension. Bei jeder Standortsuche oder Unternehmensgründung<br />

ist deshalb die Frage nach<br />

der Verfügbarkeit der benötigten Arbeitskräfte<br />

zu stellen.<br />

Geographie <strong>und</strong> Recht: Raumbezogene Analysen<br />

tragen in wachsendem Umfang zur Bewältigung<br />

vielschichtiger sozialer <strong>und</strong> ökologischer Probleme<br />

bei. Typische Beispiele liegen im Feld der Baulanderschließung<br />

oder bei dem Einfluss, den Natur<strong>und</strong><br />

Umweltkatastrophen wie Überschwemmungen,<br />

die Erosion von Küstenlinien, giftige Altlasten<br />

<strong>und</strong> Erdbeben auf Politik, Gesetzgebung <strong>und</strong> Entwicklungsrichtlinien<br />

haben.<br />

Medizinische Geographie: Durch die Untersuchung<br />

sozialer <strong>und</strong> umweltpolitischer Aspekte bestimmter<br />

Erkrankungen des Menschen sind Geographen<br />

in der Lage, Krankheitsursachen zu beleuchten,<br />

die weitere Ausbreitung von Krankheiten<br />

vorherzusagen <strong>und</strong> geeignete Maßnahmen zu deren<br />

Eindämmung vorzuschlagen.<br />

Stadt- <strong>und</strong> Regionalplanung: Stadt- <strong>und</strong> Regionalplanung<br />

bedienen sich einer systematischen<br />

<strong>und</strong> situationsangepassten Vorgehens weise bei<br />

der Ansprache <strong>und</strong> Bewältigung umweltrelevanter,<br />

sozialer <strong>und</strong> ökonomischer Probleme, wie sie in<br />

Wohngebieten, Städten, Vororten, Verdichtungs-


Fazit 45<br />

räumen oder größeren räumlichen Einheiten auftreten<br />

können. Aufgabe des Planers ist es, die Lebensqualität<br />

in einem Gebiet zu erhalten <strong>und</strong> zu<br />

verbessern, indem er Maßnahmen zum Schutz<br />

der Umw^elt vorschlägt, wirtschaftliche Chancen<br />

sowie Wachstums- <strong>und</strong> Entwicklungsprozesse jeglicher<br />

Art fördert. Die Planung hat zwar ihre Wurzeln<br />

im technischen Bereich sowie in der Gesetzgebung,<br />

der Architektur, der Sozialpolitik <strong>und</strong> der<br />

Verwaltung, die Geographie jedoch, in der Wechselwirkungen<br />

zwischen Menschen <strong>und</strong> Orten eine<br />

zentrale Rolle spielen, bietet eine hervorragende<br />

Gr<strong>und</strong>lage für eine Berufsausbildung zum Stadt<strong>und</strong><br />

Regionalplaner.<br />

• Wirtschaftsförderung: Die Fähigkeit von Geographen,<br />

Interdependenzen zwischen Orten erkennen<br />

<strong>und</strong> die jeweiligen ökonomischen, physiogeographischen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> politischen Merkmale<br />

spezifischer Regionen analysieren zu können, versetzt<br />

sie in die Lage, der wirtschaftlichen Entwicklung,<br />

strategische <strong>und</strong> politische Impulse zu geben.<br />

Geographen sind weltweit an angewandten Studien<br />

<strong>und</strong> der Konzeption politischer Leitlinien<br />

zur Wirtschaftsentwicklung beteiligt. Sie befassen<br />

sich in diesem Zusammenhang nicht nur mit individuellen<br />

Standorten <strong>und</strong> Regionen, sondern sie<br />

bearbeiten ebenso Fragestellungen, die weltwirtschaftliche<br />

Zusammenhänge betreffen.<br />

Dies sind nur einige Beispiele für den hohen Stellenwert,<br />

den die Geographie heute besitzt. Absolventen<br />

des Studiengangs Geographie eröffnet sich ein breites<br />

Spektrum an interessanten Tätigkeiten in den unterschiedlichsten<br />

Berufsfeldern. Viele entscheiden sich<br />

für eine Laufbahn im Bereich Marketing, andere<br />

übernehmen Aufgaben in der Verwaltung, im Management<br />

oder im Projektbereich kommunaler, regionaler<br />

<strong>und</strong> staatlicher Institutionen. Den meisten<br />

Hochschulabsolventen gelingt es, eine ihren fachlichen<br />

Fähigkeiten adäquate Stelle zu finden, bei einigen<br />

Berufsfeldern (zum Beispiel GIS) ist die Nachfrage<br />

nach Geographen sogar höher als das Angebot.<br />

Fazit<br />

<strong>Humangeographie</strong> ist die Lehre von der räumlichen<br />

Differenzierung <strong>und</strong> dem wechselseitigen räumlichen<br />

Beziehungsgefüge der durch Menschen gestalteten<br />

Erdoberfläche. <strong>Humangeographie</strong> ist nicht nur eine<br />

Wissenschaft, die allgemeinen Erkenntniswert besitzt<br />

<strong>und</strong> so hilft, die Welt um uns herum besser verstehen<br />

zu lernen, sondern auch eine angewandte Disziplin<br />

von praktischem Nutzen, indem sie auf Probleme<br />

der Umwelt, der Menschenrechte <strong>und</strong> der sozialen<br />

Gerechtigkeit hinweist, politische Zusammenhänge<br />

erkennt <strong>und</strong> Entscheidungsträgern wichtige Gr<strong>und</strong>lagen<br />

für verantwortungsvolles politisches Handeln zur<br />

Verfügung stellt.<br />

Während sich die Entwicklungsgeschichte moderner<br />

humangeographischer Konzepte bis zu den klassischen<br />

Lehren der griechischen Antike zurückverfolgen<br />

lässt, veränderte sich in dem Maße, in dem sich<br />

die Welt wandelte, auch die Weitsicht. Das Besondere<br />

der <strong>Humangeographie</strong> besteht weniger in der Art der<br />

Phänomene, die untersucht werden, als vielmehr in<br />

der spezifischen methodischen Herangehensweise.<br />

Humangeographen beschäftigen sich unter Berücksichtigung<br />

ökonomischer, sozialer, politischer <strong>und</strong><br />

kultureller Phänomene mit der Frage, wie <strong>und</strong> weshalb<br />

räumliche Beziehungen wichtig sind, was Ursache<br />

<strong>und</strong> was Wirkung ist.<br />

Geographie ist wichtig, weil es spezifische Orte<br />

sind, an denen Menschen lernen, wer <strong>und</strong> was sie<br />

sind, was sie denken <strong>und</strong> wie sie handeln sollten.<br />

Auf unterschiedliche Art <strong>und</strong> Weise üben Orte außerdem<br />

starken Einfluss auf das physische Wohlbefinden<br />

von Menschen, deren Handlungsspielraum <strong>und</strong> Lebensstil<br />

aus. Orte tragen darüber hinaus zu kollektivem<br />

Erinnern bei <strong>und</strong> können starken emotionalen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Symbolwert besitzen. Schließlich<br />

sind es auch Orte, an denen sich Innovationen <strong>und</strong><br />

Veränderungen vollziehen, an denen Widerstand geleistet<br />

<strong>und</strong> Konflikte ausgetragen werden.<br />

Untersuchungen über spezifische Orte müssen jedoch<br />

immer den globalen Kontext berücksichtigen.<br />

Dies ist aus zweierlei Gründen wichtig: erstens,<br />

weil die Welt aus einem komplexen Mosaik vielfältig<br />

vernetzter, durch Wechselbeziehungen untereinander<br />

verb<strong>und</strong>ener Orte <strong>und</strong> Regionen besteht, <strong>und</strong><br />

zweitens sind die auf Orte einwirkenden <strong>und</strong> sie bestimmenden<br />

Kräfte - insbesondere diejenigen ökonomischen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> politischen Faktoren, die<br />

das raumwirksame Handeln des Menschen <strong>und</strong> die<br />

Eigenschaften von Orten beeinflussen - in zunehmendem<br />

Maße auf internationaler <strong>und</strong> globaler Ebene<br />

wirksam. Infolge der Wechselbeziehungen zwischen<br />

Orten <strong>und</strong> Regionen sind diese in ein übergeordnetes<br />

Prozessgefüge <strong>und</strong> damit in großräumige<br />

geographische Strukturen eingeb<strong>und</strong>en. Zentrale<br />

Aufgabe der <strong>Humangeographie</strong> ist es, diese Prozesse<br />

<strong>und</strong> Strukturen zu erkennen <strong>und</strong> zu erklären, ohne<br />

die Individualität eines spezifischen Ortes aus dem<br />

Blick zu verlieren.


46 1 Bedeutung <strong>und</strong> Gegenstände der Geographie<br />

^'1<br />

"T’<br />

Aus dieser globalen Sichtweise leiten sich die folgenden<br />

Gr<strong>und</strong>prinzipien ab;<br />

• Jeder Ort <strong>und</strong> jede Region ist zu einem erheblichen<br />

Teü das Produkt von Kräften, die ihren Ursprung<br />

sowohl auf der lokalen als auch auf der globalen<br />

Ebene haben.<br />

• Jeder Ort <strong>und</strong> jede Region ist letztlich über eben<br />

diese Kräfte mit einer Reihe anderer Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

verb<strong>und</strong>en.<br />

• Die individuellen Eigenschaften von Orten <strong>und</strong><br />

Regionen können mit allgemeinen raumübergreifenden<br />

Prozessen alleine nicht erklärt werden. Ein<br />

Teil der jeweiligen lokalen Gegebenheiten resultiert<br />

aus besonderen Umständen oder speziellen<br />

lokalen oder regionalen Eaktoren.<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Abler, R.; Marcus, M.G.; Olson, J. (Hrsg.) Geography's Inner<br />

Worlds: Pervasive Themes in Contemporary American Geography.<br />

New Brunswick, NJ (Rutgers University Press) 1992.<br />

Agnew, J.; Livingstone, D.; Rogers, A. (Hrsg.) Human Geography.<br />

An Essential Anthology. Cambridge, MA (Blackwell) 1996.<br />

Beck, U. Risk Society: Towards a New Modernity. Thousand<br />

Oaks, CA (Sage) 1992.<br />

Bösch, M. Engagierte Geographie. Zur Rekonstruktion der Raumwissenschaft<br />

als politisch orientierte Geographie. Stuttgart<br />

(Steiner) 1989.<br />

Boyd, A. An Atlas o f World Affairs. New York (Routlegde) 1998.<br />

Buttimer, A. Geography and the Human Spirit. Baltimore (Johns<br />

Hopkins University Press) 1993.<br />

Cloke, P.; Crang, P.; Coodwin, M. Envisioning Human Geographies.<br />

London (Edward Arnold) 2004.<br />

Cloke, P.; Philo, C.; Sadler, D. Approaching Human Geography.<br />

An Introduction to Contemporary Debates. London (Chapman)<br />

1991.<br />

Dear, M.',V^o\ch, \. How Territory Shapes Social Life. In: Wolch,).;<br />

Dear, M. (Hrsg.) The Power o f Geography. Boston (Unwin Hyman)<br />

1989, S. 3-18.<br />

Dorling, D.; Fairbairn, D. Mapping: Ways o f Seeing the World.<br />

London (Addison Wesley Longman) 1997.<br />

Caile, C.; Willmott, C. (Hrsg.) Geography in America. Columbus,<br />

OH (Merrill) 1989.<br />

Gale, F. A View o f the World through the Eyes o f a Cultural Geographer.<br />

In: Rogers, A. (Hrsg.) The Students Companion to<br />

Geography. Oxford (Blackwell) 1992.<br />

Giddens, A. Runaway World: How Globalization Is Shaping Our<br />

Lives. New York (Routledge) 2000.<br />

Goudie, A. Mensch <strong>und</strong> Umwelt. Eine Einführung. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 1994.<br />

Gould, P. Becoming a Geographer. Syracuse (Syracuse University<br />

Press) 1999.<br />

Gould, P. The Geographer at Work. Boston (Routledge & Kegan<br />

Paul) 1985.<br />

Gregory, D. Power, Knowledge, and Geography: An Introduction<br />

to Geographic Thought and Practice. Oxford (Blackwell)<br />

1999.<br />

Haggett, P. Die Geographie. Eine moderne Synthese. Stuttgart<br />

(UTB, Große Reihe) 1991.<br />

Hake, G.; Grünreich, D. Kartographie. Berlin (de Gruyter) 1994.<br />

Harley, J. B.; Woodward, D. The History o f Cartography. Chicago<br />

(University of Chicago Press) 1987.<br />

Harvey, D. W. Explanation in Geography. London (Edward Arnold)<br />

1969.<br />

Hubbard, P.; Kitchin, R.; Bartley, B.; Fuller, D. Thinking Geographically.<br />

Space, Theory and Contemporary Human Geography.<br />

London (Continuum International Publishing) 2002.<br />

Johnston, R. A Question o f Place. Exploring the Practice o f Human<br />

Geography. Oxford (Blackwell) 1991.<br />

Johnston, R.J. The World Is Our Oyster. Transactions o f the Institute<br />

o f British Geographers 9(4) (1984) S. 443-459.<br />

Johnston, R.J.; Sidaway, J.D. Geography and Geographers: Anglo-American<br />

Human Geography Since 1945. London (Edward<br />

Arnold) 2004.<br />

Kraak, M.; Ormeling, F. Cartography: Visualization o f spatial data.<br />

Essex (Longman) 1996.<br />

Leser, H.; Schneider-Sliwa, R. Geographie. Eine Einführung.<br />

Braunschweig (Westermann) 1999.<br />

Livingstone, D. N. The Geographical Tradition: Episodes in the History<br />

o f a Contested Enterprise. Oxford (Blackwell) 1993.<br />

MacEachren, A. M.; Taylor, D. (Hrsg.) Visualization in Modern<br />

Cartography. Oxford (Pergamon) 1994.<br />

Massey, D.; Allen, J. (Hrsg.) Geography Matters! New York (Cambridge<br />

University Press) 1984.<br />

Massey, D.; Allen, J.; Sarre, P. (Hrsg.) Human Geography Today.<br />

Cambridge (Polity Press) 1999.<br />

Massey, D. Power-geometries and the politics o f space-time.<br />

Hettner-Lectures 2. Heidelberg 1999.<br />

Me Each re n, A. M. Some Truth with Maps: A Primer on Symbolization<br />

and Design. Washington, DC (Association of American<br />

Geographers) 1994.<br />

Meusburger, P. (Hrsg.): Handlungszentrierte Sozialgeographie.<br />

Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion. Stuttgart<br />

(Steiner) 1999.<br />

National Research Council (Hrsg.) Rediscovering Geography.<br />

New Relevance for Science and Society. Washington, DC (National<br />

Academic Press) 1997.<br />

Peet, R. Modern Geographical Thought. Oxford (Blackwell) 1998.<br />

Phillips, M. Contested Worlds: An Introduction to Human Geography.<br />

Aldershot (Ashgate) 2005.<br />

Robinson, A. H.; Morrison, J.L.; Muehreke, P.C.; Guptill, S.C.;<br />

Kimerling, A.J. Elements o f Cartography. New York (Wiley)<br />

1995.<br />

Royal Geographical Society Af/as o f Exploration. New York (Oxford<br />

University Press) 1997.<br />

Sack, R. D. Place, Modernity, and the Consumer's World. Baltimore<br />

(John Hopkins University Press) 1992.<br />

Unwin, T. The Place o f Geography. Upper Saddle River, NJ (Pre-<br />

tice Hall) 1996.<br />

Warf, B. (Hrsg.) Encyclopedia o f Human Geography. Thousand<br />

Oaks, CA (Sage) 2005.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie: Eine Einführung. Bern (Haupt)<br />

2000.<br />

Wilford, J.N. The Mapmakers. New York (Vintage Books) 2000.<br />

Wood, D. The Power o f Maps. New York (Guilford Press) 1992.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 47<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

DVAG (Hrsg.) Geographen <strong>und</strong> ihr Markt. Braunschweig (Westermann)<br />

1996.<br />

Danielzyk, R.; Ossenbrügge, J. Globalisierung <strong>und</strong> lokale Handlungsspielräume<br />

II: Regionale Politik <strong>und</strong> Planungsstategien<br />

im Postfordismus. In: Gebhardt, H.; Heinritz, G.; Wiessner,<br />

R. Europa im Globalisierungsprozeß von Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Europa im Wandel Bd. 1. Tagungsbericht <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />

Abhandlungen des 51. Dt. Geographentages.<br />

Stuttgart (Steiner) 1998, S. 77-80.<br />

Foucault, M. Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a. M. (Fischer)<br />

1991.<br />

Giddens, A. Konsequenzen der Moderne. Frankfurt (Suhrkamp)<br />

1995.<br />

Heinritz, G.; Wiessner, R. Studienführer Geographie. Braunschweig<br />

(Westermann) 1997.<br />

Lexikon der Geographie. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2001.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen.<br />

Stuttgart (Steiner) 1997.


2 Globaler Wandel<br />

Begriffe wie globaler Wandel oder Globalisierung werden im Alltagsleben<br />

oft unpräzise <strong>und</strong> vieldeutig verwendet. Die Verwirrung um die Begriffsinhalte<br />

wird noch dadurch gesteigert, dass zusätzliche Begriffe wie Globalismus,<br />

Globalität, Internationalisierung, Transnationalisierung, Denationalisierung<br />

oder Glokalisierung Verwendung finden. In diesem Buch wird<br />

das Thema Globaler Wandel vor allem aus humangeographischer Sicht<br />

diskutiert, obwohl bei internationalen Forschungsprogrammen zum Global<br />

Change auch zahlreiche physisch-geographische Themen im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehen. In diesem Abschnitt soll unter anderem dargelegt werden,<br />

dass der Begriff globaler Wandel wesentlich mehr umfasst als das Thema<br />

der Globalisierung. Der Prozess der Globalisierung wird von einigen als<br />

Schreckgespenst verteufelt, weil er die bestehenden ökonomischen, sozialen<br />

<strong>und</strong> räumlichen Disparitäten noch verstärke, während andere in der<br />

Globalisierung einen unvermeidbaren Trend oder sogar einen Heilsbringer<br />

sehen, der den allgemeinen Wohlstand vermehren <strong>und</strong> weltweit zu<br />

einem Rückgang der Armut führen werde. Einige erwarten von der Globalisierung<br />

eine weltweite kulturelle Homogenisierung, andere eine zunehmende<br />

Fragmentierung.<br />

Viele sehen in McDonald’s-Restaurants ein Symbol der Globalisierung.<br />

Eine Anekdote berichtet von einem japanischen Mädchen, das zum ersten<br />

Mal nach Los Angeles kommt. Als es dort ein McDonald’s Restaurant sieht,<br />

zupft das Mädchen die Mutter am Ärmel <strong>und</strong> sagt: „Sieh nur, Mutti, in<br />

diesem Land haben sie auch McDonald’s.“ Mit mehr als 2 000 Restaurants<br />

ist McDonald’s in Japan das größte Franchiseunternehmen außerhalb der<br />

Vereinigten Staaten. Aus der Tatsache, dass es überall auf der Welt die gleichen<br />

McDonald’s-, Taco-Bell- <strong>und</strong> Kentucky-Fried-Chicken-Restaurants<br />

gibt, dass Fernsehprogramme überall dieselben Hollywood-Filme <strong>und</strong> TV-<br />

Serien ausstrahlen <strong>und</strong> dass in ähnlich aussehenden Einkaufszentren weltweit<br />

Schuhe von Nike, Kleidung von GAP <strong>und</strong> Unterhaltungselektronik<br />

von Sony angeboten werden, ist das Klischee entstanden, dass die<br />

Globalisierung zu einer weltweiten Homogenisierung der Kulturen <strong>und</strong><br />

des Konsumverhaltens führen werde. Ereignisse auf der anderen Seite<br />

des Globus würden mit derselben Unmittelbarkeit wahrgenommen werden<br />

wie etwas, das ein paar Straßen weiter geschieht. Nationale Unterschiede<br />

<strong>und</strong> regionale kulturelle Besonderheiten würden sich in dem Maße<br />

verwischen, wie ein globaler Markt zu einer Vereinheitlichung des Konsumverhaltens,<br />

der Lebensstile <strong>und</strong> Denkweisen führen würde.<br />

Die Entwiddung des modernen Weltsystems hat sich schrittweise vollzogen.<br />

Jeder dieser Entwicklungsschritte paust sich an unterschiedlichen<br />

Orten auf unterschiedliche Weise bis in die Gegenwart durch -<br />

je nachdem, wie sich die Funktionen von Orten innerhalb des globalen<br />

Systems gewandelt haben.


50 2 Globaler Wandel<br />

m"<br />

r ^<br />

Im ausgehenden 18. Jahrh<strong>und</strong>ert bildete sich infolge<br />

der technischen Errungenschaften der Industriellen<br />

Revolution ein globales Wirtschaftssystem<br />

heraus, das große Teile der Erde <strong>und</strong> fast sämtliche<br />

Lebensbereiche beeinflusste.<br />

Standorte <strong>und</strong> Regionen sind Teil eines Weltsystems,<br />

das sich als Folge des privatwirtschaftlichen<br />

(kapitalistischen) Wettbewerbs <strong>und</strong> des politischen<br />

Wettstreits zwischen Staaten entwickelt<br />

hat. Das heutige Weltsystem weist eine deutliche<br />

Gliederung in Kernregionen, semiperiphere Regionen<br />

<strong>und</strong> periphere Regionen auf.<br />

Das Wachstum <strong>und</strong> die innere Erschließung der<br />

Kernregionen waren abhängig von den Nahrungsmitteln,<br />

Rohstoffen <strong>und</strong> Absatzmärkten der peripheren<br />

Gebiete, die durch Kolonialisierung verfügbar<br />

gemacht wurden.<br />

In allen wirtschaftlich <strong>und</strong> politisch führenden Regionen<br />

der Erde bewirkten sukzessive technologische<br />

Innovationen einen gr<strong>und</strong>legenden Wandel<br />

der räumlichen Beziehungen <strong>und</strong> Standortfaktoren.<br />

Die Globalisierung hat nicht nur den Gegensatz<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherien verstärkt, sondern<br />

auch zu einer Spaltung in eine „beschleunigte“,<br />

digitalisierte Welt, der r<strong>und</strong> 15 Prozent der<br />

Weltbevölkerung angehören, <strong>und</strong> eine „langsame“<br />

Welt, in der etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung<br />

leben, geführt - eine Spaltung, die sich in höchst<br />

unterschiedlichen Lebensstilen <strong>und</strong> -Standards widerspiegelt.<br />

Die meisten Theorien zur Globalisierung haben<br />

bisher die von der Büdungsgeographie aufgezeigten<br />

Zusammenhänge zwischen Wissen, Macht<br />

<strong>und</strong> regionalen Disparitäten vernachlässigt <strong>und</strong><br />

können deshalb die Ursachen für die räumliche<br />

Konzentration von Wissen <strong>und</strong> Macht nur unzureichend<br />

erklären.<br />

Eine Folge der Globalisierung sind zunehmende<br />

Disparitäten zwischen Ländern <strong>und</strong> innerhalb<br />

von Ländern.<br />

Auswirkungen<br />

der Telekommunikation<br />

Als in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die neuen Technologien der Telekommunikation<br />

wie Internet, Handy oder Satellitentelefon weltweite<br />

<strong>und</strong> standortunabhängige Kommunikationsnetze ermöglichten,<br />

wurde von einigen Autoren, die nur die<br />

technischen Möglichkeiten der modernen Telekommunikation<br />

im Auge hatten <strong>und</strong> die Machtbeziehungen<br />

in sozialen Systemen sowie die soziale <strong>und</strong> kulturelle<br />

Bedeutung der Face-to-face-Kommunikation<br />

außer Acht gelassen haben, die Vision eines „Globalen<br />

Dorfes“ skizziert <strong>und</strong> vorausgesagt, dass im digitalen<br />

Zeitalter die Zentralen großer multinationaler<br />

Konzerne nicht mehr an bestimmte Standorte geb<strong>und</strong>en<br />

sein werden <strong>und</strong> ihre Steuerungsfunktionen an<br />

nahezu jeden beliebigen Ort der Erde verlagern könnten.<br />

Topmanager <strong>und</strong> Unternehmensleiter könnten<br />

ihre Arbeit auch an einem Strand in der Karibik<br />

oder zu Hause im Garten erledigen, weil sie von<br />

dort aus das vorhandene Wissen weltweit abrufen<br />

können. Einige haben prognostiziert, dass der Computer<br />

in Organisationen bestehende Hierarchien zugunsten<br />

einer Dezentralisierung der Macht abbauen<br />

oder sogar auflösen werde, dass sich die Zahl von Geschäftsreisen<br />

stark verringern werde, weil man nun<br />

über Telekonferenzen verhandeln könne, <strong>und</strong> dass<br />

deshalb Raum <strong>und</strong> Distanzen für die Handlungen<br />

der Menschen ihre Bedeutung verlieren würden. Erstaunlicherweise<br />

gab es solche Fehleinschätzungen<br />

auch schon bei früheren Einführungen von neuen<br />

Technologien der Telekommunikation. Als die Bell<br />

Company Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts das Telefon einführte,<br />

warb sie mit den Argumenten, dass man mithilfe<br />

des Telefons nun die Geschäfte von zu Hause aus<br />

abwickeln könnten, dass deshalb die Entscheidungsstrukturen<br />

in der Wirtschaft dezentralisiert werden<br />

könnten, dass die Abwanderung der Landbevölkerung<br />

in die Städte abnehmen <strong>und</strong> die Städte generell<br />

an Bedeutung verlieren würden. Schon um die Wende<br />

des 19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert suggerierten Werbeslogans<br />

wie „The World at Your Finger Tips“ oder<br />

„You Are Wanted on the Telephone“ (Abbildung 2.1),<br />

dass der Benutzer des Telefons Zugang zu weltweit<br />

verfügbaren Informationen habe <strong>und</strong> die Bedeutung<br />

von Distanzen irrelevant werde.<br />

Die meisten dieser Erwartungen haben sich bekanntlich<br />

nicht erfüllt. Die Bell Company tat genau<br />

das Gegenteil von dem, was sie in ihrer Werbung propagiert<br />

hatte. Sie zentralisierte nach der Errichtung<br />

ihrer Telefonnetze die Entscheidungsbefugnisse innerhalb<br />

des Unternehmens noch stärker als zuvor, indem<br />

sie Entscheidungskompetenzen von den peripheren<br />

Standorten abzog. Auch an der Wende des<br />

20. zum 21. Jahrh<strong>und</strong>ert haben gerade jene Branchen,<br />

die als erste <strong>und</strong> weltweit am intensivsten die modernen<br />

Möglichkeiten der Telekommunikation eingesetzt<br />

haben, nämlich Banken, Börsen <strong>und</strong> Versicherungen,<br />

genau das Gegenteil von dem getan, was


Auswirkungen der Telekommunikation 51<br />

2.1 Telefonwerbung in London zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts:<br />

„The W orld a t Your Finger Tips“ Die Werbung<br />

auf dem Auto suggeriert, dass die Wählscheibe des Telefons<br />

den Zugang zur weiten Welt eröffnet. Mit der Illusion, einen<br />

weltweiten Zugang zu Informationen zu bekommen, wurde bei<br />

allen neuen Techniken der Telekommunikation geworben.<br />

prognostiziert worden war. Nach der weltweiten digitalen<br />

Vernetzung haben sie die Arbeitsplätze für<br />

hochrangige Entscheidungsträger noch stärker an wenigen<br />

Standorten zentralisiert <strong>und</strong> räumlich konzentriert,<br />

als es je zuvor der Fall war. Je weiter die Telekommunikation<br />

im Bankenwesen ausgebaut wurde,<br />

desto mehr haben London, Tokio <strong>und</strong> Frankfurt<br />

Entscheidungsbefugnisse <strong>und</strong> Qualifikationen an<br />

sich gezogen. Auch im nationalen Maßstab hat keine<br />

Bank Arbeitsplätze für hochrangige Entscheidungsträger<br />

in eine Kleinstadt oder an die ländliche Peripherie<br />

verlagert.<br />

Was war der Gr<strong>und</strong>, warum sich so viele Autoren<br />

immer wieder in ihren Prognosen so f<strong>und</strong>amental geirrt<br />

haben? Viele haben die Kommunikationstechnologie<br />

ausschließlich unter dem technischen Aspekt,<br />

also unter dem Gesichtspunkt „was ist technisch<br />

möglich“, betrachtet <strong>und</strong> haben die sozialen Auswirkungen<br />

übersehen. Ihnen waren vor allem die Wechselbeziehungen<br />

zwischen Wissen, Macht <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien<br />

nicht bewusst. Sie haben<br />

übersehen, dass Machtbeziehungen innerhalb von<br />

Organisationen asymmetrisch sind <strong>und</strong> dass neue<br />

Technologien der Telekommunikation zumindest<br />

in der Anfangsphase vor allem den Inhabern der<br />

Macht zugute kommen. Denn neue Informations<strong>und</strong><br />

Kommunikationstechnologien (IK-Technologien)<br />

schaffen jeweils ein neues Potenzial für räumliche<br />

Arbeitsteilung, sie erleichtern die Steuerung,<br />

Koordination <strong>und</strong> Kontrolle großer Organisationen<br />

über weite Distanzen <strong>und</strong> bieten somit neue Möglichkeiten,<br />

Entscheidungsbefugnisse räumlich zu konzentrieren<br />

<strong>und</strong> Routinefunktionen an die Peripherien<br />

auszulagern.<br />

Die Verfechter der global village-ldee haben die<br />

f<strong>und</strong>amentalen Unterschiede zwischen Routinekontakten<br />

<strong>und</strong> Orientierungskontakten übersehen, sie<br />

haben die symbolische Bedeutung von bestimmten<br />

Standorten unterschätzt, nicht zwischen Wissen<br />

<strong>und</strong> Informationen differenziert <strong>und</strong> nicht berücksichtigt,<br />

dass nur bestimmte Kategorien von Wissen<br />

durch das Internet zugänglich werden. Routinewissen<br />

kann man heute an jedem Ort der Welt mit dem Internet<br />

übertragen oder abrufen. Andere Formen des<br />

Wissens werden geheim gehalten oder können nur<br />

dann vom Sender zum Empfänger übertragen werden,<br />

wenn der Empfänger über dasselbe Vorwissen<br />

verfügt wie der Sender. Orientierungskontakte, die<br />

mit Vertrauensbildung, Risiko, Unsicherheit, dem<br />

Bemühen um einen Wissensvorsprung <strong>und</strong> der Vermittlung<br />

von weichen Informationen zu tun haben,<br />

sind an persönliche Begegnungen geb<strong>und</strong>en. Je höher<br />

ein Entscheidungsträger in der Hierarchie angesiedelt<br />

ist, desto größer ist sein Bedarf nach Orientierungskontakten<br />

<strong>und</strong> desto geringer wird der Anteil der<br />

Routinekontakte.<br />

In jeder Branche gibt es nur wenige Zentren (Agglomerationen),<br />

welche hochrangigen Entscheidungsträgern<br />

die Möglichkeit bieten, spontan <strong>und</strong><br />

kurzfristig mit den höchsten Autoritäten aus Regierung,<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Wirtschaft in persönlicher<br />

Begegnung (face-to-face) zu kommunizieren <strong>und</strong><br />

sich rechtzeitig jenen Wissensvorsprung zu erwerben,<br />

der den Erfolg in einer Wettbewerbsgesellschaft absichern<br />

kann (Meusburger 1998, 2000).<br />

Seit der Erfindung der Schrift hat jede Einführung<br />

einer neuen IK-Technologie, angefangen von der Erfindung<br />

des Papiers über den Buchdruck, das Telefon<br />

bis zu den modernsten Technologien der Telekommunikation,<br />

dazu beigetragen, dass sich die Möglichkeiten<br />

der Kontrolle <strong>und</strong> Koordination von sozialen<br />

Systemen in der räumlichen Dimension verbessert<br />

haben, dass die räumliche Arbeitsteilung <strong>und</strong> die<br />

räumliche Konzentration von Macht <strong>und</strong> hochrangigem,<br />

seltenem Wissen zugenommen haben, dass<br />

Routinefunktionen zunehmend in kleinere Städte<br />

oder an die Peripherie verlagert <strong>und</strong> hochrangige Entscheidungskompetenzen<br />

vorwiegend in wichtigen<br />

Zentren konzentriert wurden. Die sogenannte vertikale<br />

Arbeitsteilung führt in der räumlichen Dimension<br />

auf allen Maßstabsebenen zu einem Macht-, Wissens-<br />

<strong>und</strong> Qualifikationsgefälle zwischen Zentrum<br />

<strong>und</strong> Peripherie. Diese räumlich ungleiche Verteilung<br />

von Humanressourcen löst einen sich selbst verstärkenden<br />

Prozess aus, der maßgeblich für die hohe zeit-


52 2 Globaler Wandel<br />

ft?<br />

Arbeitsteilung<br />

Unter Arbeitsteilung versteht man die Aufteilung eines Arbeitsprozesses<br />

auf mehrere Personen <strong>und</strong> Standorte. Die Arbeitsteilung<br />

(division oflabour) wurde von Adam Smith (An Inquiry<br />

into the Nature and Causes o f the Wealth o f Nations,<br />

^776) als Motor der ökonomischen Dynamik angesehen.<br />

Sie steigert die Effizienz <strong>und</strong> Produktivität eines Arbeitsablaufs,<br />

senkt die Kosten der Herstellung <strong>und</strong> vermindert die<br />

Qualifikationsanforderungen an einzelne berufliche Positionen.<br />

Arbeitsteilung ist aber auch die Wurzel der gesellschaftlichen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> räumlichen Differenzierung, der zunehmenden<br />

Komplexität von Organisationen sowie der sozialen<br />

<strong>und</strong> regionalen Ungleichheiten. Arbeitsteilung verursacht<br />

in der Regel einen zusätzlichen Koordinations- <strong>und</strong> Kontrollaufwand.<br />

Nicht jeder Arbeitsprozess ist in gleichem Maße<br />

der Arbeitsteilung, Dequalifizierung <strong>und</strong> Mechanisierung zugänglich.<br />

Man unterscheidet zwei Arten der Arbeitsteilung, die in der<br />

räumlichen Dimension sehr unterschiedliche Auswirkungen<br />

haben. Bei der horizontalen Arbeitsteilung wird eine Gesamtaufgabe,<br />

die früher von einer Person bewältigt wurde,<br />

in mehr oder weniger gleichwertige Bereiche geteilt, die ähnlich<br />

hohe Qualifikationen erfordern, einen vergleichbaren Status<br />

haben <strong>und</strong> auch über ähnliche Kompetenzen verfügen. Das<br />

Hauptziel der horizontalen Arbeitsteilung ist die Spezialisierung<br />

des Wissens. Ein Beispiel für die horizontale Arbeitsteilung<br />

wäre die Ausdifferenzierung einer wissenschaftlichen<br />

Disziplin in stärker spezialisierte Teildisziplinen. Eine vertikale<br />

Arbeitsteilung liegt vor, wenn eine Gesamtaufgabe in mehrere<br />

Teilaufgaben zerlegt wird, die unterschiedliche Qualifikationen<br />

benötigen, eine unterschiedliche Ausbildungsdauer erfordern,<br />

einen unterschiedlichen beruflichen Status haben,<br />

mit unterschiedlichen Befugnissen ausgestattet sind <strong>und</strong><br />

auch unterschiedlich entlohnt werden. Das Hauptziel der vertikalen<br />

Arbeitsteilung ist die Vereinfachung <strong>und</strong> Verbilligung<br />

des Produktions- <strong>und</strong> Verwaltungsprozesses beziehungsweise<br />

die Steigerung der Effizienz. Dies wird erreicht, indem beispielsweise<br />

ein Arbeitsprozess, der vorher von einem qualifizierten<br />

Handwerker zur Gänze erledigt wurde, in zahlreiche,<br />

einfach zu bewältigende (routinisierte) Teilaufgaben zerlegt<br />

wird, die nur sehr geringe Qualifikationen <strong>und</strong> kurze Anlernzeiten<br />

erfordern. Bei dieser für die industrielle Massenproduktion<br />

typischen Arbeitsteilung kommt es zu einem Auseinanderdriften<br />

der Qualifikationen <strong>und</strong> Kompetenzen. Ein Teil der durch<br />

Arbeitsteilung neu entstandenen Tätigkeiten wird vereinfacht,<br />

routinisiert, dequalifiziert <strong>und</strong> niedriger entlohnt. Diese Vereinfachung<br />

<strong>und</strong> Verbilligung von Produktions- <strong>und</strong> Verwaltungsabläufen<br />

erhöht jedoch für bestimmte Systemelemente den<br />

Koordinations-, Kontroll- <strong>und</strong> Planungsaufwand, sodass im<br />

Rahmen der vertikalen Arbeitsteilung neue Tätigkeiten, Funktionen<br />

<strong>und</strong> Hierarchieebenen entstehen, die wesentlich höhere<br />

Qualifikationen erfordern, über mehr Kompetenzen verfügen<br />

<strong>und</strong> höher entlohnt werden als die ursprüngliche Gesamtaufgabe.<br />

Während auf einer niedrigen Stufe der vertikalen Arbeitsteilung<br />

(zum Beispiel beim traditionellen Handwerk) Disposition<br />

<strong>und</strong> Produktion noch in einer Person (dem Handwerker)<br />

vereinigt waren, werden im Rahmen der vertikalen Arbeitsteilung<br />

Disposition <strong>und</strong> Produktion immer mehr getrennt.<br />

In großen <strong>und</strong> komplexen arbeitsteiligen Qrganisationen verlagern<br />

sich hochrangige Entscheidungsbefugnisse <strong>und</strong> spezialisierte<br />

Qualifikationen immer stärker auf die oberen Hierarchieebenen<br />

einer Qrganisation, während auf den untersten<br />

Ebenen der Hierarchie nur noch gering entlohnte Routinetätigkeiten<br />

übrig bleiben. Die vertikale Arbeitsteilung führt zu einer<br />

räumlichen Konzentration von Wissen <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong> zu einer<br />

Dezentralisierung von niedrig qualifizierten Routinetätigkeiten.<br />

Die vertikale Arbeitsteilung ist eine wichtige Ursache<br />

für die auf allen Maßstabsebenen feststellbaren zentral-peripheren<br />

Disparitäten des Ausbildungsniveaus der Arbeitsbevölkerung.<br />

Die vertikale räumliche Arbeitsteilung ist auf allen<br />

Maßstabsebenen wirksam <strong>und</strong> prägt maßgeblich die Beziehungen<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie beziehungsweise<br />

zwischen Industrieländern <strong>und</strong> Entwicklungsländern.<br />

Quelle: P. Meusburger In: Lexikon der Geographie<br />

k l<br />

liehe Persistenz von regionalen Ungleichheiten verantwortlich<br />

ist.<br />

Telekommunikation <strong>und</strong> Globalisierung haben die<br />

Bedeutung der Räumlichkeit für Standortentscheidungen<br />

oder die Gegensätze zwischen den Zentren<br />

<strong>und</strong> den Peripherien keineswegs verringert, sondern<br />

sogar eher noch vergrößert. Dieser für manche überraschende<br />

oder unverständliche Trend hat nicht nur<br />

funktionale <strong>und</strong> organisationstheoretische Gründe,<br />

sondern Standorte, Adressen oder Begriffe wie Zentrum<br />

<strong>und</strong> Peripherie haben auch eine symbolische Bedeutung,<br />

die gar nicht hoch genug einzuschätzen ist.<br />

Ein Standort im Zentrum signalisiert Macht, Einfluss<br />

<strong>und</strong> Prestige, ein Standort an der Peripherie deutet<br />

Abhängigkeit, Ausgrenzung, Marginalisierung <strong>und</strong><br />

niedrigen Status an.<br />

Auch im Informationszeitalter <strong>und</strong> bei globalisierten<br />

Wirtschaftsbeziehungen spielen somit geographische<br />

Gegebenheiten eine wichtige Rolle. Räumliche<br />

Beziehungen <strong>und</strong> Verflechtungen werden sich durch<br />

die Globalisierungsprozesse des Informationszeitalters<br />

zweifellos wandeln. Dass Räumlichkeit <strong>und</strong><br />

räumliche Disparitäten auch weiterhin von großer<br />

Bedeutung sein werden, hängt unter anderem von<br />

Faktoren wie Arbeitsteilung, räumlicher Konzentration<br />

von Wissen <strong>und</strong> Macht, Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle<br />

sozialer Systeme im Raum, asymmetrischen Beziehungen<br />

zwischen Zentren <strong>und</strong> Peripherien, symbolischer<br />

Bedeutung von Standorten, Transportkosten,<br />

räumlich ungleicher Ressourcenverteilung, territorialem<br />

Verhalten von Menschen sowie der Persistenz regionaler<br />

kultureller Identitäten ab. Die Vorstellung


Die Welt der Vormoderne 53<br />

von einer „raumlosen“ Informationsgesellschaft ist<br />

also ein Klischee, das einer Überprüfung in der Realität<br />

nicht standhält. Die starke Abnahme der Transport-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationskosten hat kulturelle Unterschiede<br />

nicht verringert, sondern für viele erst<br />

sichtbar gemacht.<br />

Dieses Kapitel beschäftigt sich mit langfristigen<br />

Veränderungen der globalen Beziehungen <strong>und</strong> Abhängigkeiten,<br />

spricht also sowohl den seit Jahrtausenden<br />

beobachtbaren globalen Wandel als auch den seit<br />

etwa 250 Jahren beobachtbaren Globalisierungsprozess<br />

an. In Anlehnung an die Weltsystemtheorie<br />

des amerikanischen Soziologen Immanuel Wallerstein<br />

(1974) kann die Welt heute in Kernregionen,<br />

semiperiphere Regionen <strong>und</strong> Peripherien eingeteilt<br />

werden. Durch den Prozess der Globalisierung sind<br />

viele Unterschiede zwischen den Kernregionen <strong>und</strong><br />

den Peripherien größer geworden. Unter Weltsystem<br />

versteht Wallerstein ein sich wechselseitig beeinflussendes<br />

System von Ländern, die politisch <strong>und</strong> ökonomisch<br />

verb<strong>und</strong>en sind, indem sie miteinander konkurrieren<br />

<strong>und</strong> sich in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis<br />

befinden.<br />

Die Welt der Vormoderne<br />

Ein angemessener humangeographischer Ansatz basiert<br />

auf der Erkenntnis, dass Orte <strong>und</strong> Regionen Bestandteile<br />

eines sich ständig wandelnden globalen<br />

Systems sind. An jedem Ort <strong>und</strong> in jeder Region manifestieren<br />

sich das historische Erbe <strong>und</strong> historische<br />

Veränderungen der räumlichen Beziehungen. Von<br />

entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass die historischen<br />

Entwicklungen nicht überall in gleicher Weise<br />

ablaufen, sondern von räumlichen Beziehungen <strong>und</strong><br />

vom räumlichen Kontext verstärkt, abgemildert oder<br />

modifiziert werden. Um diese historischen Prozesse<br />

<strong>und</strong> deren Konsequenzen für unterschiedliche Orte<br />

<strong>und</strong> Regionen abschätzen zu können, scheint es sinnvoll<br />

zu sein, die Welt als politisch-ökonomisches System<br />

zu betrachten, das sich in aufeinanderfolgenden<br />

Phasen räumlicher Expansion <strong>und</strong> Integration herausgebildet<br />

hat. Dieser Evolutionsprozess hat die<br />

Funktionen von Orten <strong>und</strong> die Art der zwischen Orten<br />

<strong>und</strong> Räumen bestehenden Interdependenzen<br />

nachhaltig beeinflusst. Um die aktuell ablaufenden<br />

Veränderungen zu verstehen, ist es notwendig, sich<br />

auch mit einigen bedeutenden historischen Umbrüchen<br />

zu befassen, die jeweils Auswirkungen auf die<br />

geographischen Strukturen hatten.<br />

Ursprungsgebiete der Acker-<br />

, baukultur_________________<br />

Am Beginn der funktionalen räumlichen Differenzierungen<br />

standen sogenannte Minisysteme. Minisysteme<br />

sind Gesellschaften, die auf singulären kulturellen<br />

Systemen <strong>und</strong> reziproken sozioökonomischen Beziehungen<br />

beruhen. Dies bedeutet, dass sich der Einzelne<br />

auf bestimmte Aufgaben, zum Beispiel die Versorgung<br />

der Haustiere, das Kochen oder die Töpferei,<br />

spezialisiert. Überschüssige Produkte werden freigebig<br />

anderen überlassen, die als Gegenleistung ein Erzeugnis<br />

ihrer spezialisierten Arbeit abgeben. Solche<br />

Gesellschaftsformen entwickelten sich ausschließlich<br />

in Subsistenzwirtschaften, zum Beispiel in Jäger-,<br />

Sammler- oder Viehzüchtergesellschaften, die nicht<br />

die Fähigkeit besaßen oder keine Notwendigkeit sahen,<br />

eine umfangreiche materielle Infrastruktur aufrechtzuerhalten,<br />

<strong>und</strong> folglich eine geographisch eng<br />

begrenze Ausdehnung hatten. Prähistorische Minisysteme<br />

wurden in der Zeit vor der neolithischen<br />

Agrarrevolution von Jäger- <strong>und</strong> Sammlergesellschaften<br />

gebildet, die jeweils an lokale Umweltbedingungen<br />

angepasst waren. Die erste Agrarrevolution markierte<br />

den Übergang von den Jäger- <strong>und</strong> Sammlergesellschaften<br />

zu den auf Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht basierenden<br />

Minisystemen, die zwischen 9000 <strong>und</strong> 7000<br />

V. ehr. in der Epoche des Proto-Neolithikums beziehungsweise<br />

der Altsteinzeit in Erscheinung traten.<br />

Eine Reihe neuer Techniken war notwendig, damit<br />

dieser Schritt vollzogen werden konnte: der Gebrauch<br />

des Feuers, die Verwendung von Mahlsteinen zum<br />

Zerkleinern von Getreide <strong>und</strong> verbesserte Geräte<br />

zum Zubereiten <strong>und</strong> Aufbewahren von Nahrungsmitteln.<br />

Ein entscheidender Durchbruch war die Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Verbreitung eines auf Brandrodung basierenden<br />

Feldbaus (Kapitel 9). Die Brandrodung ist<br />

ein Verfahren, bei dem der ursprüngliche Bewuchs<br />

dicht über dem Erdboden abgeschlagen, eine Zeit<br />

lang zum Trocknen liegen gelassen <strong>und</strong> anschließend<br />

abgebrannt wird. Auf den abgebrannten Flächen bauten<br />

die Neolithiker verschiedene Arten von Wildgetreide<br />

<strong>und</strong> Knollenfrüchten an. Der Brandrodungsfeldbau<br />

erforderte keine speziellen Geräte <strong>und</strong> machte<br />

das Unkrautjäten <strong>und</strong> Düngen überflüssig. Nach<br />

mehrmaligem Anbau auf derselben Fläche wurde<br />

diese aufgelassen <strong>und</strong> ein anderes Stück Land unter<br />

Kultur genommen. Eine weitere bedeutsame Errungenschaft<br />

war die Domestikation von Rind <strong>und</strong> Schaf.<br />

In einigen Regionen trat die Viehhaltung bereits in<br />

der Jungsteinzeit (7000 bis 5500 v. Chr.) in Erscheinung.


2 54 2 Globaler Wandel<br />

T<br />

Wie bereits der Geograph Carl Sauer in seinem<br />

Buch Agricultural Origins and Dispersais (1952) betonte,<br />

waren die Umwälzungen in der Agrarwirtschaft,<br />

die zur Neolithischen Revolution führten,<br />

an besondere geographische Rahmenbedingungen<br />

geknüpft. So vollzogen sich diese Veränderungen in<br />

Gebieten, in denen es von Natur aus ein reiches Nahrungsmittelangebot<br />

gab <strong>und</strong> in denen unterschiedliche<br />

Naturräume aneinander grenzten, die Lebensraum<br />

für eine Vielzahl von Arten boten. Eine weitere<br />

Voraussetzung waren nährstoffreiche <strong>und</strong> relativ<br />

leicht bearbeitbare Böden, die nicht in größerem Umfang<br />

be- oder entwässert werden mussten. Archäologische<br />

Bef<strong>und</strong>e sprechen dafür, dass sich die agrarwirtschaftlichen<br />

Umbrüche unabhängig voneinander<br />

an verschiedenen Orten ereigneten. Von dort breiteten<br />

sich die neuen Agrartechniken allmählich in angrenzende<br />

Gebiete aus (Abbildung 2.2). Als Ursprungsgebiete<br />

bezeichnet man Räume, in denen<br />

neue Techniken entwickelt wurden <strong>und</strong> von denen<br />

sich diese neuen Techniken ausbreiteten. Die Ursprungsgebiete<br />

der Ackerbaukultur lagen in vier Zonen:<br />

• im Vorderen Orient, im sogenannten fruchtbaren<br />

Halbmond am Rande des Zagrosgebirges (im heutigen<br />

Iran <strong>und</strong> Irak), um das Tote Meer herum<br />

(Israel <strong>und</strong> Jordanien) sowie im Hochland von<br />

Anatolien (Türkei),<br />

in Südasien in den Schwemmebenen der Ströme<br />

Ganges, Brahmaputra, Indus <strong>und</strong> Irawadi (Assam,<br />

Bangladesch, Myanmar (Birma) <strong>und</strong> Nordindien),<br />

in China im Schwemmland des Huang He (Gelber<br />

Fluss),<br />

auf dem amerikanischen Doppelkontinent in Mittelamerika<br />

um Tamaulipas <strong>und</strong> das Tehuacan-Tal<br />

(Mexiko) herum sowie in Nordamerika in Arizona<br />

<strong>und</strong> New Mexico <strong>und</strong> an der Westflanke der südamerikanischen<br />

Anden (Abbildung 2.3).<br />

Der Übergang zu Nahrungsmittel produzierenden<br />

Minisystemen hatte folgenreiche Auswirkungen auf<br />

die langfristige Entwicklung geographischer Strukturen:<br />

• Es wurden wesentlich höhere Bevölkerungsdichten<br />

<strong>und</strong> eine rasche Ausbreitung fester Siedlungen<br />

möglich.<br />

• Es vollzog sich ein gr<strong>und</strong>legender Wandel in der<br />

sozialen Organisation von locker verb<strong>und</strong>enen Gemeinschaften<br />

hin zu höher organisierten Formen<br />

des Zusammenlebens, die meist auf Verwandtschaftsverhältnissen<br />

beruhten. Durch die Existenz<br />

von Sippenverbänden regelte sich die Weitergabe<br />

2.2 Ursprungsgebiete der ersten Agrarrevolution in der Alten Welt Der Übergang zu agrarischen Wirtschaftsformen<br />

vollzog sich unabhängig voneinander in verschiedenen Gebieten gleichzeitig. Erste Versuche der Jäger-<strong>und</strong>-Sammler-Gesellschaften,<br />

die vor Ort verfügbaren Pflanzen <strong>und</strong> Tiere zu nutzen, leiteten eine Entwicklung ein, an derem Ende die Domestikation stand.<br />

Von diesen Ursprungsgebieten breiteten sich die Nutztierhaltung, verbesserte Kulturpflanzensorten <strong>und</strong> neue Agrartechniken<br />

allmählich auf die umliegenden Gebiete aus. Gegenüber der Existenzsicherung durch Jagd <strong>und</strong> Sammeltätigkeit schuf die effizientere<br />

Landwirtschaft die Voraussetzung für ansteigende Bevölkerungszahlen. Die Zunahme an Arbeitskräften führte dazu, dass sich<br />

andere handwerkliche Fertigkeiten wie die Herstellung von Schmuck oder Tonwaren entwickeln konnten.


Die Blütezeit der alten Mayastadt Uxmal auf der Halbinsel Yucatán<br />

dauerte von ungefähr 600 bis 900 n. Chr. In der Mitte des 15. Ja h r­<br />

h<strong>und</strong>erts wurde die Siedlung endgültig aufgegeben.<br />

2.3 Ursprungsgebiete der Ackerbaukultur in der Neuen Welt Die Weltreiche der Azteken <strong>und</strong> Maya in Mittelamerika<br />

gründeten letztlich auf den Anfängen von Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht in Mittelamerika, während die Kernregionen der ersten sesshafter!<br />

Kulturen in den südamerikanischen Anden den Ursprung des späteren Inkareichs bildeten.<br />

von Rechten an Land <strong>und</strong> Ressourcen sowie die<br />

Organisation der Landnutzung gewissermaßen<br />

auf natürliche Weise.<br />

Im nichtagrarischen Bereich nahm die Arbeitsteilung<br />

zu <strong>und</strong> es entwickelten sich Spezialgewerbe<br />

<strong>und</strong> handwerkliche Fertigkeiten wie die Töpferei,<br />

die Goldschmiedekunst oder die Waffenherstellung.<br />

Arbeitsteilung <strong>und</strong> Spezialisierung führten schließlich<br />

zu den Anfängen der Tauschwirtschaft <strong>und</strong><br />

des Handels zwischen Gesellschaften, oft über beträchtliche<br />

Distanzen hinweg.<br />

2.4 Ein bis heute existierendes Minisystem: der Himba-Stamm in Namibia Die Gesellschaftsform der Minisysteme entwickelte<br />

sich auf der Basis der Subsistenzwirtschaft <strong>und</strong> des Tauschhandels, in der jedes Mitglied bestimmte Fertigkeiten besitzt <strong>und</strong> für den<br />

eigenen Gebrauch nicht benötigte Produkte anderen überlässt, die als Gegenleistung ein Erzeugnis ihrer spezialisierten Arbeit<br />

abgeben. Heute existieren nur noch wenige „reine“ Minisysteme, die zu keiner Zeit durch den Kontakt mit anderen Gesellschaftsformen<br />

beeinflusst wurden. Die meisten Minisysteme sind hinsichtlich ihrer sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Organisation<br />

komplexer geworden, beispielsweise indem an die Stelle des Tauschs von Waren Geld als Zahlungsmittel getreten ist. Besonders<br />

eindrücklich zeigt sich der Einfluss der Globalisierung auf traditionelle Gesellschaften dort, wo aus der Massenproduktion stammende<br />

Waren <strong>und</strong> Gebrauchsgüter ihren Weg in die heute noch bestehenden Minisysteme gef<strong>und</strong>en haben.


56 2 Globaler Wandel<br />

Die Stufenlehren der wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Entwicklung<br />

Seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden von Wirtschaftstheoretikern<br />

<strong>und</strong> Ökonomen Stufenlehren der wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Entwicklung aufgestellt. Typische Beispiele sind<br />

die Stufenlehren des liberalen Ökonomen Friedrich List oder<br />

auch die entsprechenden Vorstellungen von Karl Marx. Der<br />

österreichische Geograph Hans Bobek unterschied 1959 in<br />

ganz ähnlicher Weise sechs Stufen der Gesellschafts- <strong>und</strong><br />

Wirtschaftsentfaltung, die er als besonders bedeutungsvoll erachtete,<br />

da sie mit tief greifenden Umbrüchen im Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Gesellschaftsgefüge verb<strong>und</strong>en waren.<br />

• Wildbeuterstufe<br />

• Stufe der spezialisierten Sammler, Jäger <strong>und</strong> Fischer<br />

• Stufe des Sippenbauerntums mit dem Seitenzweig des<br />

Hirtennomadismus<br />

• Stufe der herrschaftlich organisierten Agrargesellschaft<br />

• Stufe des älteren Städtewesens <strong>und</strong> des Rentenkapitalismus<br />

• Stufe des produktiven Kapitalismus, der industriellen Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> des Jüngeren Städtewesens.<br />

H. Gebhardt<br />

Die Mehrzahl dieser Minisysteme ist längst verschw<strong>und</strong>en,<br />

<strong>und</strong> die Zahl derer, die wie die Buschleute<br />

der Kalahari oder einige Volksstämme in Papua-<br />

Neuguinea <strong>und</strong> in den Regenwäldern Amazoniens<br />

bis heute überlebt haben, verringert sich von Jahr<br />

zu Jahr (Abbildung 2.4).<br />

Der Aufstieg der frühen<br />

I Weltreiche___________<br />

Die erste agrarische Revolution führte sowohl zu<br />

einem Ansteigen der Bevölkerungszahlen als auch<br />

zu gr<strong>und</strong>legenden sozialen Wandlungen <strong>und</strong> Veränderungen<br />

in Handwerk <strong>und</strong> Handel. In jener Zeit<br />

wurden die Voraussetzungen für die späteren Weltreiche<br />

geschaffen. Infolge der Absorption verschiedener<br />

Minisysteme zeichnen sich Weltreiche durch<br />

multiple kulturelle Systeme aus, die unter einem politischen<br />

Kontroll- <strong>und</strong> Koordinationssystem zusammengefasst<br />

sind. Die Volkswirtschaften von Weltreichen<br />

können als tributpflichtig-redistributiv bezeichnet<br />

werden. Dies bedeutet, dass das von produzierenden<br />

Schichten oder Gruppen erzielte Vermögen in<br />

Form von Steuern oder Abgaben einer führenden<br />

Schicht oder Gruppe zugute kommt. Die Umverteilung<br />

des Vermögens von unten nach oben wird meist<br />

durch militärischen Zwang, religiöse Vorschriften<br />

<strong>und</strong> Überzeugungen oder eine Kombination dieser<br />

beiden Faktoren erzielt beziehungsweise legitimiert.<br />

Unter den Weltreichen sind diejenigen am bekanntesten,<br />

welche die größte Ausdehnung besaßen <strong>und</strong><br />

am längsten überdauerten: die frühen Hochkulturen<br />

Ägyptens, Griechenlands, Chinas, Byzanz <strong>und</strong> Roms<br />

(Abbildung 2.5 <strong>und</strong> Exkurs 2.1 „Geographie in Bildern<br />

- Das Erbe des römischen Weltreiches“).<br />

I<br />

Die Entstehung des Städtewesens<br />

Mit diesen Weltimperien waren mehrere Neuerungen<br />

verb<strong>und</strong>en, welche die weiteren, weltweiten Entwicklungen<br />

entscheidend beeinflussten. Eine dieser<br />

Innovationen war die Herausbildung des Städtewesens<br />

(Kapitel 11), eine andere die Erfindung der<br />

Schrift, welche ein gewaltiges neues Potenzial für Arbeitsteilung,<br />

Koordination, Kontrolle <strong>und</strong> Steuerung<br />

freisetzte, <strong>und</strong> die Erfindungen von Pergament <strong>und</strong><br />

Papier, welche eine raschere Verbreitung von Informationen<br />

erlaubten. Städte erlangten in ihrer Funktion<br />

als Verwaltungszentren, Märkte, Militärstützpunkte<br />

<strong>und</strong> religiöse Mittelpunkte insbesondere für<br />

die führenden sozialen Schichten essenzielle Bedeutung.<br />

In den Städten bündelten sich die militärische<br />

Macht, die politische Steuerung <strong>und</strong> die theologische<br />

Autorität der Eliten, also die Voraussetzungen, um<br />

ein Reich zusammenzuhalten. In der Blütezeit der<br />

frühen Weltreiche entstanden nicht nur eindrucksvolle<br />

Hauptstädte, sondern auch eine ganze Reihe<br />

kleinerer Städte, die als zwischengeschaltete Zentren<br />

im Transfer von Steuern <strong>und</strong> Abgaben aus den kolonialisierten<br />

Gebieten fungierten.<br />

In erfolgreichen Imperien wie zum Beispiel dem<br />

Römischen Reich entwickelten sich umfangreiche<br />

Städtesysteme. Die Siedlungen, aus denen diese Systeme<br />

bestanden, waren im Allgemeinen nicht sehr<br />

groß; meist betrug die Einwohnerzahl nur einige Tausend<br />

<strong>und</strong> überstieg selten die Zahl von 20 000. Ausnahmen<br />

bildeten die rasch anwachsenden Machtzentren<br />

der alten Weltreiche. So lebten in der mesopotamischen<br />

Stadt Ur (im heutigen Irak) bereits um<br />

2100 V. ehr. schätzungsweise 200 000 Menschen,<br />

ebenso viele, wie es in Theben, der Hauptstadt des<br />

alten Ägyptens, um 1600 v. Chr. gewesen sein dürft


Die Welt der Vormoderne 57<br />

2.5 Das Weltreich China Die Anfänge des chinesischen Weltreichs lassen sich bis in das 11. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. zurückverfolgen.<br />

In dieser Zeit beherrschte die Kultur der Zhou-Dynastie die nordchinesische Ebene entlang des Huang-He-Flusses, auch Gelber<br />

Fluss genannt. Ein einigermaßen deutliches Bild der chinesischen Zivilisation ist erst von der Han-Dynastie im 1. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr.<br />

an erkennbar, als in China r<strong>und</strong> 60 Millionen Menschen lebten. Danach erlebte das Weltreich China abwechselnde Expansions<strong>und</strong><br />

Schrumpfungsphasen, wobei die Periode der größten Ausdehnung nach Süden in die Epoche der Sui-Dynastie <strong>und</strong> der<br />

Tang-Dynastie vom 6. bis zum 8. Jahrh<strong>und</strong>ert n. Chr. fällt. Zwischen dem 14. <strong>und</strong> dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert übernahmen nomadische<br />

Kriegerstämme <strong>und</strong> mongolische Adelsgeschlechter aus den nördlichen Regionen des heutigen China die Macht <strong>und</strong> etablierten<br />

die Dynastien der Ming <strong>und</strong> der Qing. Die Qing-Dynastie endete 1911, genau zu dem Zeitpunkt, als das Weltreich China Teil<br />

des modernen Weltsystems wurde. (Quelle: Leeming, F. The Changing Geography o f China. Oxford, Blackwell. 1993)<br />

ten. Athen <strong>und</strong> Korinth, die beiden größten Städte im<br />

antiken Griechenland, hatten um 400 v. Chr. zwischen<br />

50 000 <strong>und</strong> 100 000 Einwohner. In Rom lebten<br />

zur Blütezeit des Römischen Reiches um 200 n. Chr.<br />

schätzungsweise r<strong>und</strong> 1 Million Menschen. Beeindruckender<br />

noch als die Größe damaliger Städte waren<br />

ihr kulturelles Niveau <strong>und</strong> ihr hoher Entwicklungsstand<br />

hinsichtlich der städtischen Infrastruktur.<br />

Alles war bis ins Detail geplant <strong>und</strong> ausgeführt, es gab<br />

gepflasterte Straßen, Wasserleitungen, öffentliche Bäder,<br />

Kanalisation, monumentale Denkmäler, große<br />

öffentliche Gebäude <strong>und</strong> wuchtige Stadtmauern.<br />

. Kolonisation<br />

Auch die Kolonisation ist eng mit der Etablierung der<br />

frühen Weltreiche verknüpft. Die Kolonisation war<br />

teilweise eine indirekte Konsequenz aus dem Gesetz<br />

des abnehmenden Ertragszuwachses. Dieses besagt<br />

in seiner ursprünglichen Form, dass bei fortgesetzter<br />

Erhöhung des Einsatzes von Kapital <strong>und</strong>/oder Arbeit<br />

ein Punkt erreicht wird, ab dem der landwirtschaftliche<br />

Ertrag einer gegebenen Fläche nicht mehr weiter<br />

ansteigt, sondern relativ gesehen sinkt. Die anwachsende<br />

Bevölkerung eines Weltreichs ließ sich aufgr<strong>und</strong><br />

dieses Gesetzes nur ernähren, indem die Gesamtproduktivität<br />

in entsprechendem Umfang gesteigert<br />

wurde. Obwohl ein Produktivitätszuwachs im<br />

Allgemeinen durch verbesserte Bewirtschaftung des<br />

Landes, höheren Arbeitseinsatz <strong>und</strong> agrartechnologische<br />

Weiterentwicklungen erzielt werden kann,<br />

bringen begrenzte Ressourcen <strong>und</strong> ansteigende Bevölkerungszahlen<br />

zwangsläufig eine Verringerung<br />

der Gesamtproduktivität mit sich. Mit jeder weiteren<br />

Person, die Land bewirtschaftete, verringerte<br />

sich die Pro-Kopf-Ertragszunahme. Die Kolonisation<br />

angrenzender Gebiete wurde daher zu einem gebräuchlichen<br />

Mittel zur Verbreiterung der Rohstoff<strong>und</strong><br />

Ernährungsbasis. Der Vorgang der Kolonisation


58 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.1<br />

Geographie in Biidern -<br />

Das Erbe des römischen Weitreiches<br />

^ ( 5j Hadrianswall<br />

.'i i<br />

Nordsee<br />

. ..'V<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

*- Segovia<br />

Narbo^<br />

■xs^ndinjó^<br />

s^^— • Colonis<br />

^Agrippii<br />

:ortorium<br />

Cremoha<br />

Aquileja'<br />

r .<br />

Schwarzes M eer<br />

Cordoba<br />

Philippi]<br />

iium,<br />

Tingi^<br />

Sardinien U Pompejiv; /<br />

d<br />

Korir<br />

Karthago<br />

yrakus<br />

Mittelmeer<br />

^ e p tis Magna<br />

\thei9<br />

C iís a íJ C yp rus'^ ^ i<br />

O a e s a r s a A f \<br />

, Alexandria<br />

Memphis^'<br />

Die Ausdehnung des Römischen Reiches im 2. Jahrh<strong>und</strong>ert n. Chr.<br />

i<br />

Die Reste des Jupitertempels von Baalbek in der Bekaa-Ebene<br />

des Libanon, der bei einem Erdbeben im 12. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zerstört wurde, zeugen von der Präsenz der Römer im Vorderen<br />

Orient. Baalbek, etwa auf halbem Weg zwischen Beirut<br />

(Berytus) <strong>und</strong> Damaskus gelegen, war Schnittpunkt uralter<br />

Handelsstraßen, die vom Mittelmeer Richtung Osten führten<br />

<strong>und</strong> in römischer Zeit eine wichtige Rolle spielten.<br />

Der Straßenbau war für das Römische Reich von evidenter<br />

Bedeutung. Zahlreiche Römerstraßen wurden in späterer Zeit<br />

zu wichtigen Verbindungswegen im gesamten Europa. Wo<br />

immer es die Verhältnisse zuließen, wurden die Straßen<br />

schnurgerade angelegt, so auch die hier abgebildete Via Appia<br />

bei Rom.


Die Welt der Vormoderne 59<br />

W>xi<br />

I<br />

Das römische Theater unweit der spanischen Stadt Mérida<br />

wurde um 25 v. Chr. erbaut. Emérita Augusta war die<br />

Hauptstadt der römischen Prcvinz Lusitania, die das heutige<br />

Portugal umfasste, <strong>und</strong> entwickelte sich zu einer der bedeutendsten<br />

Städte der Iberischen Halbinsel - groß genug, um<br />

eine 90 000 Mann starke Garnison zu beherbergen.<br />

Tyros, die alte phönizische Handelsstadt an der Ostküste<br />

des Mittelmeers, die vor allem durch den Export des überall<br />

in der antiken Welt begehrten Purpurs reich wurde, geriet<br />

64 V. Chr. unter römische Herrschaft. Aus spätrömischer Zeit<br />

stammt die gepflasterte römische Kolonadenstraße mit dem<br />

Triumphbogen, der den Eingang in die Innenstadt bildete.<br />

Das Kolosseum in Rom wurde im Jahr 80 n. Chr. fertiggestellt.<br />

Die damals von einer riesigen Stoffplane überspannte Arena<br />

bot 50 000 Besuchern Platz. Nach dem Fall des Römischen<br />

Reiches wurde die Anlage vernachlässigt. Man plünderte den<br />

Marmor <strong>und</strong> die Ziegelsteine <strong>und</strong> verwendete sie für den<br />

Bau von Kirchen <strong>und</strong> Palästen. Später wurde das Kolosseum<br />

eine Zeitlang als Festung genutzt.<br />

Aquincum (Budapest). Die besondere Stellung Pannoniens im<br />

Römischen Reich, die sich in der bevorzugten wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Ausstattung sowie der großen Zahl der hier<br />

stationierten Truppen dokumentierte, verschaffte den in<br />

Aquincum residierenden Stadthaltern der Provinz Pannonia<br />

Inferior ein außerordentlich großes Gewicht. Der pannonische<br />

Limes entlang der Donau war für Rom deshalb sehr wichtig,<br />

weil ein Durchbruch in diesem Abschnitt für Rom verheerende<br />

Folgen gehabt hätte. Die Zivilsiedlung von Aquincum (Foto)<br />

wurde 124 n.Chr. zur Stadt (municipium) erhoben <strong>und</strong> mit<br />

Befestigungsanlagen umgeben. Die Lagerstadt mit den drei<br />

Legionen, die Zivilstadt sowie die Villen <strong>und</strong> Dörfer im Umkreis<br />

von Aquincum zeugen von sehr hohem Lebensstandard. Die<br />

Zivilstadt hatte eine Wasserleitung <strong>und</strong> Kanalisation. Die<br />

Häuser waren mit Unterbodenheizung <strong>und</strong> bei mehrstöckigen<br />

Bauten mit Wandheizungen versehen.<br />

Das Forum war der politische Mittelpunkt Roms. Auf den<br />

Plätzen <strong>und</strong> in den Hallen des Forums entschieden Konsuln<br />

<strong>und</strong> Senatoren über die Belange der Republik <strong>und</strong> das<br />

Schicksal des Reichs. Jeder Kaiser suchte seinen Vorgänger<br />

durch noch prachtvollere Gebäude <strong>und</strong> Anlagen zu übertrumpfen.


60 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.2<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Die Entwicklung geographischen Denkens<br />

Wenngleich elementare geographische Kenntnisse bereits in<br />

prähistorischer Zeit vorhanden waren, so werden in der griechischen<br />

Antike die geistige Bedeutung <strong>und</strong> der praktische<br />

Nutzen geographischen Wissens erstmals in der Geschichte<br />

deutlicher sichtbar. Die Griechen der Antike erkannten,<br />

dass Orte f<strong>und</strong>amentale Beziehungen zwischen den Menschen<br />

<strong>und</strong> ihrer natürlichen Umwelt repräsentieren <strong>und</strong> dass die Geographie<br />

der geeignetste Weg ist, die Wechselwirkungen oder<br />

Interdependenzen zwischen Orten <strong>und</strong> die Beziehungen zwischen<br />

Mensch <strong>und</strong> Natur zu erfassen. Darüber hinaus waren<br />

die Griechen mit die ersten, welche die praktische Bedeutung<br />

geographischer Kenntnisse für Politik, Gewerbe <strong>und</strong> Handel<br />

richtig einzuschätzen wussten. Auch der Begriff Geographie,<br />

der wörtlich übersetzt „Erdbeschreibung“ bedeutet, ist aus<br />

dem Griechischen abgeleitet. In der Kultur Griechenlands entwickelten<br />

sich geographische Beschreibungen zu wichtigen<br />

Informationsquellen über Land- <strong>und</strong> Seewege. Man nutzte<br />

diese Informationen, um Kolonisten <strong>und</strong> Kaufleute auf die Gegebenheiten<br />

vorzubereiten, die sie in fernen Gegenden erwarteten.<br />

In der Blütezeit des antiken Griechenlands erlangten weitere<br />

Aspekte der Geographie Bedeutung. Ein wichtiger Zweig<br />

der Wissenschaft befasste sich unter Einbeziehung von Mathematik<br />

<strong>und</strong> Astronomie mit dem Vermessen der Erdoberfläche<br />

sowie deren möglichst exakter Darstellung. Ein anderer bedeutender<br />

Zweig war philosophischer Natur. So liegen die Wurzeln<br />

der <strong>Humangeographie</strong> in der Philosophie, die in der griechischen<br />

Antike einen hohen Stellenwert besaß. Von bedeutendem<br />

Einfluss war die zwischen 8 v. Chr. <strong>und</strong> 18 n. Chr. von<br />

Strabo verfasste „Geographie“ . Das 17 Bände umfassende<br />

Werk enthielt systematische Beschreibungen von Orten, in denen<br />

Strabo auch Besonderheiten der Beziehungen zwischen<br />

Mensch <strong>und</strong> Natur schilderte. Die deskriptive Herangehensweise<br />

bei der Behandlung geographischer Phänomene wird<br />

heute als Chorologie (auch Chorographie) oder auch als regionalgeographischer<br />

Ansatz bezeichnet. Da die chorologische<br />

Vorgehensweise die charakteristischen Merkmale von Teilen<br />

der Erdoberfläche - seien es individuelle Orte oder Regionen<br />

- in den Vordergr<strong>und</strong> stellt, besteht die Gefahr, nicht nur das<br />

Ganze, sondern auch die Beziehungen zwischen Orten <strong>und</strong> Regionen<br />

aus dem Blick zu verlieren. Dieses Problem hatte bereits<br />

der griechische Gelehrte Ptolemäus (circa 90-168 n.<br />

Chr.) erkannt, der in einem achtbändigen Werk zur Geographie<br />

eine umfassende Weitsicht anstrebte (Abbildung 2.1.1).<br />

Die Schriften der griechischen Gelehrten Strabo <strong>und</strong> Ptolemäus,<br />

die zum damaligen Kanon der klassischen Wissenschaften<br />

zählten, entstanden in der Blütezeit des Römischen Reichs.<br />

Anders als die Griechen waren die Römer weniger an den scholastischen<br />

<strong>und</strong> philosophischen Aspekten der Geographie interessiert,<br />

wenngleich sie sich im Zusammenhang mit Eroberungszügen<br />

sowie der Kolonisation <strong>und</strong> politischen Kontrolle<br />

neu hinzugewonnener Gebiete geographischer Erkenntnisse<br />

als Hilfsmittel durchaus bedienten. Mit dem Niedergang <strong>und</strong><br />

Fall des Römischen Reichs wurde die Geographie als Disziplin<br />

vernachlässigt, <strong>und</strong> geographisches Wissen geriet teilweise<br />

wieder in Vergessenheit.<br />

hatte unmittelbare räumliche Konsequenzen hinsichtlich<br />

der Ausbildung von Raumbeziehungen zwischen<br />

den Mutterländern <strong>und</strong> deren Kolonien, die<br />

von Dominanz <strong>und</strong> Subordination geprägt waren.<br />

Ebenso bedeutend waren die Errichtung eines hierarchischen<br />

Systems von Siedlungen <strong>und</strong> die Verbesserung<br />

der Netzwerke der Transportwege. Die<br />

militärische Absicherung der Kolonisation brachte<br />

es darüber hinaus mit sich, dass die Standorte neu gegründeter<br />

Städte bewusst nach strategischen <strong>und</strong> verteidigungsrelevanten<br />

Gesichtspunkten gewählt wurden.<br />

Einige Auswirkungen dieser historischen Prozesse<br />

sind bis heute in der Landschaft erkennbar, in Europa<br />

am eindrucksvollsten in den ehemaligen Kolonien<br />

des Römischen Reichs, in denen die Römer ein<br />

hoch entwickeltes System von Städten <strong>und</strong> Verbindungsstraßen<br />

installiert hatten. Viele wichtige Städte<br />

West- <strong>und</strong> Zentraleuropas sind aus römischen Siedlungen<br />

hervorgegangen. Mancherorts sind noch<br />

Reste römerzeitlicher Verteidigungsanlagen (zum<br />

Beispiel der Limes), gepflasterter Straßen, von Aquädukten,<br />

Arenen, Kanalisationssystemen, Bädern <strong>und</strong><br />

öffentlichen Gebäuden zu besichtigen. Nicht nur in<br />

den Städten, auch in der Landschaft finden sich<br />

Spuren des Römischen Weltreichs, etwa in Form<br />

von schnurgeraden Straßen oder Quadratfluren.<br />

Die von Baumeistern der damaligen Zeit angelegten<br />

Straßen wurden von Generation zu Generation verbessert<br />

<strong>und</strong> über lange Zeiträume hinweg genutzt. In<br />

diesen Weltreichen wurden darüber hinaus die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Geographie als Wissenschaft geschaffen<br />

(Exkurs 2.2 „Geographie in Beispielen - Die Entwicklung<br />

geographischen Denkens“).


Die Welt der Vormoderne 61<br />

2.2.1 Die Weltkarte des Ptolemäus Ptolemäus beginnt sein geographisches Werk mit Anleitungen, wie sich ein Globus<br />

einschließlich der Parallel- <strong>und</strong> Längenkreise konstruieren <strong>und</strong> die gekrümmte Erdoberfläche in die Ebene projizieren lässt. Die von<br />

Ptolemäus konzipierte Weltkarte war für Jahrh<strong>und</strong>erte eine wesentliche Gr<strong>und</strong>lage der Kartographie. Das hier gezeigte Beispiel einer<br />

im Jahr 1482 von Leinhart Holle in Ulm veröffentlichten Karte ist charakteristisch für die Zeit, in der Christoph Kolumbus die<br />

Vorstellung entwickelte, dass man über den Seeweg gegen Westen nach China gelangen könne. Doch Ptolemäus hatte die früheren<br />

Berechnungen des Erdumfangs von Eratosthenes nicht berücksichtigt. Die Folge war, dass sein akribisches <strong>und</strong> scheinbar so<br />

präzises Werk schwerwiegende Fehler enthielt, welche Generationen von Philosophen, Machthabern <strong>und</strong> Forschern die Größe des<br />

Globus unterschätzen ließen. Als Kolumbus von Spanien westwärts segelte, um einen Seeweg nach Asien zu suchen, überschätzte<br />

er die Größe Asiens nicht zuletzt deshalb, weil er sich auf die falschen Berechnungen von Ptolemäus gestützt hatte.<br />

Einige der großen Weltreiche zeichneten sich<br />

durch die überragende Dominanz einzelner Zentralstaaten<br />

aus. An deren Spitze standen totalitäre Herrscher,<br />

deren Machtfülle es erlaubte, Pläne zur umfassenden<br />

Umgestaltung <strong>und</strong> Verbesserung des Kulturlandes<br />

mittels Zwangsarbeit umzusetzen. Derartige<br />

Weltreiche existierten in China, Indien, dem Vorderen<br />

Orient, in Mittelamerika <strong>und</strong> in den Andenregionen<br />

Südamerikas. Aufgr<strong>und</strong> der Abhängigkeit<br />

von aufwendigen Maßnahmen zur landwirtschaftlichen<br />

Produktivitätssteigerung <strong>und</strong> -Sicherung (insbesondere<br />

Be- <strong>und</strong> Entwässerungssysteme) hat man<br />

diese Gesellschaften verschiedentlich als hydraulische<br />

Gesellschaften bezeichnet. Als Vermächtnis jener<br />

Zeit prägen Feldterrassen, die über Generationen<br />

hinweg erhalten <strong>und</strong> gepflegt wurden, bis heute<br />

Teile der Kulturlandschaft beispielsweise in Sikkim,<br />

Indien, dem indonesischen Ostjava oder in Jemen<br />

(Abbildung 2.6).<br />

Die Geographie der Welt<br />

in der Vormoderne<br />

Die Abbildung 2.7 zeigt in generalisierter Darstellung<br />

die humangeographische Raumgliederung der Alten<br />

Welt um 1400 n. Chr. Folgende Merkmale waren<br />

kennzeichnend für diese Epoche:<br />

• Die Ungunsträume im Innern der Kontinente waren<br />

lediglich von isolierten, auf Subsistenzbasis<br />

wirtschaftenden <strong>und</strong> in Sippenverbänden organisierten<br />

Sammler-Jäger-Minisystemen besiedelt.<br />

• Der altweltliche, aus Steppen <strong>und</strong> Wüstenrandgebieten<br />

bestehende Trockengürtel, der sich von der


62 2 Globaler Wandel<br />

t m<br />

2.6 Terassensysteme im Jemen Der Hochgebirgsjemen ist durch Jahrtausende alte Terrassensysteme geprägt. Solche gut an<br />

die Umwelt angepassten Formen der Landnutzung erlauben es, die saisonalen Starkregen am Rand der wechselfeuchten Tropen<br />

optimal zu nutzen. Nach Niederschlägen wird der Boden tiefgründig mit Wasser durchtränkt <strong>und</strong> speichert die Feuchtigkeit für<br />

die trockenen Phasen der Vegetationsperiode. Die sehr arbeitsaufwendigen Terrassensysteme sind im Zuge des modernen<br />

Wirtschaftswandels im Lande von Verfall bedroht. Werden sie nicht mehr gepflegt <strong>und</strong> bewirtschaftet, kommt es sehr rasch zu<br />

Bodenerosion.<br />

westlichen Sahara bis in die Mongolei erstreckt,<br />

bildete eine durchgängige Zone ebenfalls in Sippenverbänden<br />

lebender Hirten-Minisysteme.<br />

• Die Kernräume sesshafter bäuerlicher Kulturen erstreckten<br />

sich in einem - nicht geschlossenen - Bogen<br />

von Marokko bis China. Die einzigen Schwerpunkte<br />

außerhalb dieser Zone lagen in den zentralen<br />

Anden <strong>und</strong> in Mittelamerika.<br />

Die dominierenden Zentren der globalen Zivilisation<br />

waren China, Nordindien (beides „hydraulische“<br />

Weltimperien) sowie das Seldschukische <strong>und</strong> Osmanische<br />

Reich im östlichen Mittelmeergebiet. Sie alle<br />

waren verb<strong>und</strong>en über eine Reihe von Fernhandelswegen<br />

zwischen China <strong>und</strong> dem europäischen Teil<br />

des Mittelmeergebiets: die Seidenstraße (Abbildung<br />

2.8).<br />

Um 1400 n. Chr. existierten andere bedeutende<br />

Reiche in Südostasien, in den Savannen Westafrikas<br />

sowie in den ostafrikanischen Gebieten, die über reiche<br />

Gold- <strong>und</strong> Silbervorkommen verfügten. Die islamischen<br />

Stadtstaaten Nordafrikas sind ebenso zu diesen<br />

Reichen zu zählen wie die feudalistischen Monarchien<br />

<strong>und</strong> die Handelsstädte Europas. Diese<br />

hoch entwickelten Reiche waren durch Handelsbeziehungen<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en. Somit existierten<br />

mehrere aufstrebende Zentren des Kapitalismus, unter<br />

denen die Hafenstädte besondere Bedeutung besaßen.<br />

Zu den führenden Zentren zählten der Stadtstaat<br />

Venedig, die Hanse, ein B<strong>und</strong> selbstständiger<br />

nordeuropäischer Stadtstaaten (dazu gehörten Bergen,<br />

Bremen, Danzig, Hamburg, Lübeck, Riga, Stockholm<br />

<strong>und</strong> Tallinn sowie angegliederte Handelsniederlassungen<br />

in anderen Städten wie Antwerpen,<br />

Brügge, London, Turku <strong>und</strong> Nowgorod). Ferner<br />

sind Kairo, Kalkutta, Kanton, Malakka <strong>und</strong> Sofala<br />

zu nennen. Die in den Hafenstädten ansässigen<br />

Händler förderten im jeweiligen Hinterland die Produktion<br />

spezieller Agrarprodukte, Textilien <strong>und</strong><br />

sonstiger Handwerkserzeugnisse. Als Hinterland<br />

wird das wirtschaftliche Einzugs- oder Verflechtungsgebiet<br />

einer Stadt bezeichnet, aus dem Erzeugnisse für<br />

den Export gewonnen <strong>und</strong> in dem importierte Waren<br />

verteilt werden. Bis in das 15. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein gab<br />

es eine ganze Reihe von Regionen, die im Zuge der<br />

kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung prosperierten,<br />

darunter Norditalien, Flandern, Südengland,<br />

das Baltikum, das Niltal, Malabar, Koromandel, Bengalen,<br />

Nordjava <strong>und</strong> das südöstliche China.<br />

In der Zeitspanne von etwa 500 bis 1400 n. Chr.<br />

bewahrten <strong>und</strong> erweiterten chinesische <strong>und</strong> islamische<br />

Gelehrte die Gr<strong>und</strong>lagen geographischen Wis-


Die Welt der Vormoderne<br />

Sfcckholm<br />

■Bergen^* '<br />

.Jufku, ■<br />

2.7 Die Alte Welt in vorkapitalistischer Zeit um circa 1400 n. Chr. Dargestellt sind die Hauptverbreitungsgebiete sesshafter<br />

bäuerlicher Produktion. Obwohl zwischen einigen Regionen Fernhandelsbeziehungen bestanden, war der Austausch von<br />

Waren <strong>und</strong> Gütern in den meisten Gebieten auf einander überschneidende regionale Kreisläufe beschränkt. (Quelle: Nach Peet,<br />

R. Global Capitalism: Theories o f Societal Development. Routledge, New York. 1991; Abu-Lughod, J. Before European Hegemony:<br />

The World-System A.D. 1 2 0 0 - 1350. Oxford University Press, New York. 1989; Wolf, E. R. Europe and the People without History.<br />

Berkeley, University of California Press. 1983)<br />

2.8 Die Seidenstraße Diese Karte zeigt die Handelswege der Seidenstraße, wie sie von 112 v. Chr. bis 100 n. Chr. bestanden. Die<br />

Seidenstraße war seit der Römerzeit bis zur Entdeckung eines Seewegs um Afrika herum <strong>und</strong> der Einrichtung fester Seehandelsrouten<br />

durch die Portugiesen die wichtigste Ost-West-Verbindung für den Handel zwischen Europa <strong>und</strong> China. Die in ihrem Verlauf Änderungen<br />

unterworfenen Karawanenwege ermöglichten den Austausch von Waren: Seide, Gewürze <strong>und</strong> Porzellan aus dem Osten,<br />

Gold, Edelsteine <strong>und</strong> venezianisches Glas aus dem Westen. Die alten Städte Samarkand, Bukhara <strong>und</strong> Khiva, die durch ihre Pracht <strong>und</strong><br />

ihren Reichtum westliche Reisende wie Marco Polo im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert in Staunen versetzten, lagen alle an der Seidenstraße. Es waren<br />

Zentren der Wissenschaft, Philosophie <strong>und</strong> Religion, vor allem aber waren sie bekannt wegen der vielen Mathematiker, Musiker,<br />

Architekten <strong>und</strong> Astronomen, die aus ihnen hervorgingen, unter ihnen AI Khorezm (780-847), AI Biruni (973- 1048) <strong>und</strong> Ibn Said<br />

(980-1037). Meisterwerke islamischer Baukunst unterstrichen eindrucksvoll den Wohlstand dieser Städte.


64 2 Globaler Wandel<br />

h m<br />

i W<br />

sens. Die Weltkarten, die in jener Epoche in China<br />

entstanden, waren um einiges genauer als diejenigen<br />

europäischer Kartographen, denn sie basierten auf<br />

einer Fülle von Informationen, die Admiräle des chinesischen<br />

Kaiserreichs von ihren Fahrten im Pazifischen<br />

<strong>und</strong> Atlantischen Ozean mitgebracht hatten.<br />

So hatten die chinesischen Seefahrer erkannt, dass<br />

Afrika die Form eines Dreiecks besitzt, dessen Spitze<br />

nicht - wie in sämtlichen europäischen <strong>und</strong> arabischen<br />

Karten jener Zeit verzeichnet - nach Osten<br />

weist, sondern nach Süden gerichtet ist.<br />

Mit der Ausweitung des Islams im Vorderen<br />

Orient <strong>und</strong> im Mittelmeergebiet im 7. <strong>und</strong> 8. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

n. ehr. entstanden in diesen Regionen bedeutende<br />

Gelehrtenschulen <strong>und</strong> Wissenszentren, unter<br />

anderem in Bagdad, Damaskus, Kairo <strong>und</strong> dem<br />

spanischen Granada. In ihnen übertrugen Gelehrte<br />

wie Al-Battani, Al-Farghani <strong>und</strong> Al-Khwarazmi aus<br />

dem Griechischen <strong>und</strong> Römischen überlieferte<br />

Schriften in das Arabische. Die islamischen Gelehrten<br />

konnten zudem aus geographischen Aufzeichnungen<br />

<strong>und</strong> Kartenwerken der Chinesen schöpfen, die mit<br />

Händlern über die Seidenstraße in den arabischen<br />

Raum gelangten. Das islamische Gebot, das dem gläubigen<br />

Moslem vorschreibt, in seinem Leben mindestens<br />

eine Pilgerfahrt nach Mekka zu unternehmen,<br />

erzeugte eine große Nachfrage nach Reiseliteratur.<br />

Außerdem führte das Pilgerwesen dazu, dass Gelehrte<br />

aus der gesamten arabischen Welt aufeinandertrafen.<br />

Aus diesen Begegnungen entstand eine intensive philosophische<br />

Debatte über unterschiedliche Weltanschauungen<br />

<strong>und</strong> die Beziehung des Menschen zur<br />

Natur.<br />

Entwurf einer neuen<br />

Geographie der Welt<br />

Das moderne Weltsystem hat seine Wurzeln im Europa<br />

des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts. In jener Zeit begann man,<br />

die Erforschung fremder Kontinente als Gelegenheit<br />

zur Ausweitung des Handels <strong>und</strong> zur Gewinnung von<br />

Rohstoffen zu begreifen. Ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert hatten<br />

neue Schiffsbautechniken <strong>und</strong> Navigationsverfahren<br />

dazu geführt, dass mehr <strong>und</strong> mehr Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

über Handelsbeziehungen <strong>und</strong> politischen<br />

Wettstreit zueinander in Kontakt traten. Als Folge<br />

dieser Entwicklung kam überall auf der Erde eine<br />

wachsende Zahl von Völkern mit neuen Technologien<br />

<strong>und</strong> neuen Ideen in Berührung. Die Produktionsmittel,<br />

Sozialstrukturen <strong>und</strong> Kultursysteme dieser<br />

von den Europäern „entdeckten“ Länder stellten jedoch<br />

das Ergebnis von Entwicklungen dar, die<br />

ganz anderen Pfaden gefolgt waren als die Entwicklung<br />

der europäischen Mächte. Einige dieser Gesellschaften<br />

gerieten schneller als andere in den Sog internationaler,<br />

im Wesentlichen von Europa beeinflusster<br />

Wirtschaftssysteme - einige widersetzten<br />

sich einer Eingliederung, andere favorisierten alternative<br />

Formen der politischen <strong>und</strong> ökonomischen Organisation.<br />

Einige Teile der Erde waren in das europäisch<br />

dominierte Weltsystem kaum oder überhaupt<br />

nicht integriert. Australien <strong>und</strong> Neuseeland wurden<br />

zum Beispiel erst im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert von den Europäern<br />

„entdeckt“. Japan hatte sich während der Tokugawazeit<br />

etwa 250 Jahre lang von der Außenwelt<br />

abgeschirmt <strong>und</strong> wurde erst 1854 von den Amerikanern<br />

gewaltsam für den Welthandel „geöffnet“. Für<br />

Gebiete, die (noch) nicht in das Weltsystem eingegliedert<br />

sind, ist die Bezeichnung externe Arena gebräuchlich.<br />

Mit der Herausbildung des neuzeitlichen Weltsystems<br />

zu Beginn des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts kam es zu<br />

gr<strong>und</strong>legenden Veränderungen. Zwar existierten in<br />

verschiedenen Regionen bereits damals Frühformen<br />

kapitalistischer Produktionsweisen. Das chinesische<br />

Kaiserreich war für seine Errungenschaften auf den<br />

Gebieten der Wissenschaft, der Technik <strong>und</strong> der<br />

Navigation berühmt, dennoch war es letztlich der<br />

merkantilistische Kapitalismus Europas, der die Neuordnung<br />

der Welt bestimmte. Verschiedene Faktoren<br />

trugen zu einer Ausdehnung des europäischen Einflusses<br />

nach Übersee bei. Zum einen bedeuteten relativ<br />

hohe Bevölkerungsdichten bei begrenzt verfügbaren<br />

landwirtschaftlichen Nutzflächen ein ständiges<br />

Ringen um die Sicherstellung der Ernährungsbasis.<br />

Zum anderen wurde der Wunsch nach überseeischer<br />

Expansion durch den Wettbewerb zwischen zahlreichen<br />

Territorialfürsten sowie durch das Erbrecht,<br />

welches die Zahl verarmter <strong>und</strong> landloser Adliger<br />

stetig anwachsen ließ, zusätzlich verstärkt. Vor allem<br />

in Spanien wurden in dieser Zeit viele verarmte<br />

Adelsangehörige zu Abenteurern, die in Amerika<br />

das Eldorado beziehungsweise das schnelle Geld<br />

suchten.<br />

Neben den genannten Motiven gab es weitere Faktoren,<br />

die eine Ausdehnung der Einflusssphäre begünstigten,<br />

darunter eine Reihe von Fortschritten,<br />

die im Schiffsbau, in der Navigation <strong>und</strong> in der Waffentechnik<br />

erzielt worden waren. So hatten zum<br />

Beispiel die Portugiesen in der Mitte des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ein mit Geschützen bestücktes Segelschiff<br />

- die Karavelle - entwickelt, das sehr vielseitig <strong>und</strong>


Entwurf einer neuen Geographie der Welt 65<br />

Merkantilismus<br />

Merkantilismus, auch Colbertismus genannt, ist ein Sammelbegriff<br />

für die Theorie <strong>und</strong> Praxis einer national gelenkten Wirtschaft<br />

zur Förderung nationalen Reichtums <strong>und</strong> staatlicher<br />

Macht im Zeitalter des Absolutismus. Der Begriff wurde<br />

erst im Nachhinein von Adam Smith (1776) in seinem Werk<br />

Wealth of Nations geprägt. Der Merkantilismus begann im<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert, seine Blütezeit hatte er im 17. <strong>und</strong> in der ersten<br />

Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts. Er war eine Folge des stark<br />

erhöhten Finanzbedarfs des absolutistischen Territorialstaates,<br />

der sich nun für das Wohlergehen der Wirtschaft verantwortlich<br />

fühlte <strong>und</strong> die Einheit von Herrschaft, Sozialordnung<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft zu verwirklichen suchte. Mit der Einführung<br />

wirtschaftspolitischer Regeln <strong>und</strong> Methoden sollten der wirtschaftliche<br />

Wohlstand <strong>und</strong> die Finanzkraft des Staates gesteigert<br />

werden. Der Staat wurde einem Wirtschaftsunternehmen<br />

gleichgestellt, er sollte also Einnahmen <strong>und</strong> Ausgaben genau<br />

kontrollieren, mehr exportieren als importieren <strong>und</strong> mit anderen<br />

Staaten konkurrieren können. Eine positive Handelsbilanz<br />

wurde zu einem der wichtigsten Ziele. Der Merkantilismus war<br />

zwar die erste Form einer Theorie <strong>und</strong> Praxis des Welthandels,<br />

hat aber keineswegs den freien Handel propagiert, sondern<br />

stark protektionistisch gehandelt.<br />

Nach merkantilistischen Vorstellungen beruhte der Reichtum<br />

eines Landes auf dem Besitz von Gold <strong>und</strong> Silber, von konvertiblem<br />

Bargeld, der Produktion von Luxusgütern <strong>und</strong> einem<br />

hohen Angebot von billigen Arbeitskräften. Der Staat deckte<br />

seinen Geldbedarf aus direkten <strong>und</strong> indirekten Steuern, Zöllen<br />

<strong>und</strong> Monopolen <strong>und</strong> versuchte, private Unternehmen durch<br />

Subventionen <strong>und</strong> Monopole zu stärken. Der Merkantilismus<br />

ist gekennzeichnet durch den Wandel von der innerstaatlichen<br />

Selbstversorgung zum internationalen Welthandel, durch die<br />

Eroberung von Kolonien, den Ausbau der Handelsflotten,<br />

den starken Ausbau des Straßen- <strong>und</strong> Kanalsystems, durch<br />

bedeutende Erfindungen sowie durch eine starke zentralistische<br />

Regierungsgewalt, die vom König oder Fürsten personifiziert<br />

wurde.<br />

Kolonien dienten als Absatzmärkte <strong>und</strong> als Lieferanten von<br />

wertvollen Rohstoffen. In Kolonien war gewerbliche Produktion<br />

verboten <strong>und</strong> der gesamte Handel zwischen Kolonien <strong>und</strong><br />

Mutterland wurde vom Mutterland, meistens von Handelskompanien<br />

(zum Beispiel Ostindien-Kompanie), monopolisiert.<br />

Mit der Errichtung großgewerblicher Betriebsformen (zum Beispiel<br />

Verlage, Manufakturen <strong>und</strong> später Industriebetriebe) in<br />

gewinnträchtigen Bereichen wie der Produktion von Seide,<br />

Brokat, Lederwaren, Porzellan oder Glas versuchte sich der<br />

Staat eine Monopolstellung zu sichern, um durch die Produktion<br />

<strong>und</strong> den Export von Luxusartikeln die Staatseinnahmen zu<br />

erhöhen. Wirtschaftspolitische Maßnahmen des Merkantilismus<br />

waren Förderung des Außenhandels <strong>und</strong> aller Wirtschaftszweige,<br />

die dem Export dienten, Schutzzölle, Einfuhrverbote,<br />

Ausfuhrverbote für Edelmetalle oder wertvolle Rohstoffe,<br />

Abschaffung von inneren Handelshemmnissen wie Binnenzölle<br />

sowie die Vereinheitlichung des Maß-, Münz- <strong>und</strong> Gewichtswesens.<br />

Gleichzeitig wurden die Löhne der Arbeiter<br />

sehr niedrig gehalten, um die Waren auf dem Weltmarkt besser<br />

absetzen zu können.<br />

Im Merkantilismus gewann der Produktionsfaktor Humanressourcen<br />

erstmals das Interesse der Herrscher <strong>und</strong> Territorialherren.<br />

Erstens sollte ein starker Staat eine große Bevölkerungszahl<br />

haben, zweitens sollte es im Rahmen einer Peuplierungspolitik<br />

gelingen, tüchtige <strong>und</strong> hoch qualifizierte<br />

Handwerker <strong>und</strong> Händler (zum Beispiel Hugenotten in<br />

Deutschland) als Einwanderer zu gewinnen. Der Merkantilismus<br />

wurde in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts von<br />

den Anhängern des Liberalismus beziehungsweise der Laissez-faire-Politik<br />

als wirtschaftshemmend angegriffen, bildete<br />

aber eine gute Ausgangsposition für die Entwicklung des Kapitalismus.<br />

Quelle: P. Meusburger In: Lexikon der Geographie<br />

aufgr<strong>und</strong> seines Frachtvolumens zudem rentabel<br />

einsetzbar war. Der neue Schiffstyp hatte darüber<br />

hinaus den Vorteil, dass Angriffe von Piraten wirkungsvoll<br />

abgewehrt <strong>und</strong> widerspenstige Handelspartner<br />

zur Kooperation gezwungen werden konnten.<br />

Die Erfindungen des Quadranten (1450) <strong>und</strong><br />

des Astrolabiums (1480) erlaubten präzises Navigieren<br />

sowie die Aufzeichnung von Meeresströmungen,<br />

vorherrschenden Windrichtungen <strong>und</strong> Handelsrouten<br />

(Exkurs 2.3 „Geographie in Beispielen - Geographie<br />

im Zeitalter der Entdeckungsreisen“).<br />

Ohne die Stärke ihrer Seestreitkräfte wären Portugal<br />

<strong>und</strong> Spanien niemals in der Lage gewesen, ihren<br />

Volkswirtschaften die Gold- <strong>und</strong> Silberschätze einzuverleiben,<br />

die sie in der Neuen Welt erbeuteten.<br />

Doch es waren nicht nur Abenteurer <strong>und</strong> Goldsucher,<br />

die aus Europa in die Neue Welt kamen. Viele<br />

errichteten Plantagen für die Produktion hochwertiger<br />

Marktfrüchte. Als Plantagen bezeichnet man große,<br />

kapital- oder arbeitsintensive landwirtschaftliche<br />

Besitzungen, die meist auf die Produktion einer einzigen<br />

Marktfrucht spezialisiert sind <strong>und</strong> für den Welthandel<br />

solche Produkte produzieren, die aus klimatischen<br />

Gründen in Europa nicht erzeugt werden<br />

konnten, wie zum Beispiel Zuckerrohr, Kakao, Kaffee,<br />

Baumwolle oder Kautschuk (Abbildung 2.9).<br />

Eine wichtige Ware des internationalen Handels<br />

waren auch Stoffe. Wie bedeutend diese für Europa<br />

waren, zeigt sich in der großen Zahl von Begriffen,<br />

welche von außen in die englische Sprache eindrangen.<br />

Das Wort „satin“ leitet sich von dem Namen<br />

einer unbekannten Stadt in China ab, die arabische<br />

Händler Zaitun nannten. „Khaki“ ist Hindi <strong>und</strong> bedeutet<br />

„staubig“. Die Bezeichnung „calico“ kommt


2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.3<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Geographie im Z eitalter der Entdeckungsreisen<br />

Auf Betreiben Heinrich des Seefahrers wurde im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

in Portugal eine Schule für Nautik <strong>und</strong> Kartographie gegründet,<br />

<strong>und</strong> bald darauf begann man, den Atlantik <strong>und</strong> die<br />

Küsten Westafrikas 7ii erk<strong>und</strong>en.<br />

Unter Kartographie versteht man die Lehre von der Abbildung<br />

der Erdoberfläche in Form von Karten. Die Abbildung<br />

2.3.2 zeigt die Routen der wichtigsten Entdeckungsfahrten.<br />

Im Jahre 1488 erreichte der Portugiese Bartolomeu Dias<br />

das Kap der Guten Hoffnung (die Südspitze Afrikas). 1492 segelte<br />

der aus Genua stammende Cristóbal Colón (Christoph<br />

Kolumbus), von der spanischen Krone gefördert, nach Hispa-<br />

niola (eine der Westindischen Inseln, die heute in die Dominikanische<br />

Republik <strong>und</strong> Haiti geteilt ist). Sechs Jahre darauf gelangte<br />

Vasco da Gama nach Indien. Wiederum zwei Jahre später<br />

überquerte Pedro Cabral den Atlantik von Portugal nach<br />

Brasilien. Eine kleine Flotte portugiesischer Schiffe erreichte<br />

1513 die Küste Chinas, <strong>und</strong> Juan Sebastián de Cano, ein Überlebender<br />

der von dem portugiesischen Seefahrer Fernando de<br />

Magalhäes (besser bekannt unter dem Namen Magellan) geleiteten<br />

Expedition im Jahre 1519, kehrte 1522 von der ersten<br />

erfolgreichen Weltumsegelung zurück. Angespornt von den Erfolgen<br />

der portugiesischen Seefahrer rüsteten nun auch andere<br />

Länder Expeditionen aus. Auch deren Hauptinteresse war<br />

es, Handelsvorteile <strong>und</strong> ökonomischen Gewinn zu erzielen. Nebenbei<br />

erlangte man durch die Entdeckungsfahrten eine Fülle<br />

neuer Erkenntnisse über Meeresströmungen, Winde, Küsten,<br />

Völker <strong>und</strong> Ressourcen.<br />

Ohne das geographische Wissen, das man im Zeitalter der<br />

Entdeckungen gewonnen hatte, wäre der politische <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Aufschwung im Europa des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts nicht<br />

denkbar gewesen. In den Gesellschaften, die zunehmend auf<br />

Handel <strong>und</strong> Profit ausgerichtet waren, wurde geographisches<br />

Wissen selbst zu einer wertvollen „Ware“. Informationen über<br />

Orte <strong>und</strong> Regionen zu sammeln, war der erste Schritt, um Kontrolle<br />

<strong>und</strong> Einfluss <strong>und</strong> schließlich Wohlstand <strong>und</strong> Macht zu erlangen.<br />

Gleichzeitig begannen sich aufgr<strong>und</strong> des politischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Wettstreits, den die Entdeckungen entfesselt<br />

hatten, Regionen nach außen zu öffnen <strong>und</strong> mit anderen<br />

Regionen in Kontakt zu treten. Während sich europäische Kolonisten,<br />

Missionare <strong>und</strong> Abenteurer in wachsender Zahl in die<br />

Neue Welt aufmachten, standen die Länder der Alten Welt<br />

untereinander in hartem Wettbewerb um die Ressourcen in<br />

Übersee. Neue Kulturpflanzen, die wie der Mais oder die Kartoffel<br />

aus der Neuen Welt nach Europa gelangten, bewirkten<br />

unterdessen tief greifende Veränderungen der regionalen Wirtschaftssysteme<br />

<strong>und</strong> Lebensweisen.<br />

Die Entwicklung einer komplexen Weltökonomie wäre ohne<br />

wissenschaftliche Exaktheit auf dem Gebiet der Kartographie<br />

<strong>und</strong> ohne Zuverlässigkeit der geographischen Beschreibung<br />

nicht möglich gewesen. Schifffahrt, militärische Eroberungen,<br />

politische Grenzen, Eigentums- <strong>und</strong> Durchfahrtsrechte oder<br />

die Verwaltung von Kolonien - all dies erforderte objektive<br />

<strong>und</strong> präzise Gr<strong>und</strong>lagen. Handelserfolge hingen von klaren<br />

<strong>und</strong> zuverlässigen Beschreibungen der Potenziale <strong>und</strong> Risiken<br />

ab, die eine Region in sich barg. Der internationale Wettstreit<br />

erforderte genaueste Kenntnisse der nationalen, regionalen<br />

<strong>und</strong> lokalen Beziehungen. Dementsprechend entwickelte<br />

sich die Geographie zu einem Wissensgebiet von zentraler Bedeutung.<br />

Von der Mitte des 14. bis Mitte des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

nahm in Europa der Bestand an systematischen Kartenwerken,<br />

neuen Kartenprojektionen <strong>und</strong> geographischen Beschreibungen<br />

(Abbildung 2.3.3) sprunghaft zu.<br />

Im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert wuchs der Umfang geographischen<br />

Wissens infolge der zunehmenden Erforschung der Welt<br />

mithilfe immer ausgeklügelterer Mess- <strong>und</strong> Beobachtungsmethoden<br />

stetig an. Einige der größten Fortschritte in der exakten<br />

Kartographie wurden in Frankreich erzielt. Nicolas Sanson, den<br />

Ludwig XIV. zum Hofkartographen ernannt hatte, erstellte mit-


Entwurf einer neuen Geographie der Welt 67<br />

2.3.2 Das Zeitalter der europäischen Entdeckungen Das Zeitalter der europäischen Entdeckungen lässt sich bis zum<br />

Portugiesen Heinrich dem Seefahrer (1394-1460) zurückverfolgen, der eine Schule für Nautik gründete <strong>und</strong> zahlreiche Expeditionen<br />

zu den Küsten Afrikas finanzierte. Ziel dieser Erk<strong>und</strong>ungsfahrten war es, eine günstige Schifffahrtsroute zu finden,<br />

auf der Gewürze von Indien nach Europa gebracht werden konnten. Das Wissen über Winde, Meeresströmungen <strong>und</strong> Naturhäfen,<br />

das die Kapitäne Heinrichs ansammelten, wurde zu einer wichtigen Gr<strong>und</strong>lage für die späteren Entdeckungsreisen von Kolumbus,<br />

da Gama, de Magalhäes (Magellan) <strong>und</strong> anderen. Die Fahrten James Cooks im Pazifik markieren das Ende des europäischen<br />

Entdeckungszeitalters.<br />

2.3.3 Das Gemälde „Der Geograph“ des niederländischen<br />

Malers Johannes Vermeer (16 68 -166 9) In der<br />

Renaissance trug die Geographie nicht nur zur Vermehrung<br />

des Wissens bei, sondern half auch bei der Expansion nach<br />

Übersee. Vermeers Kartograph ist von präzise dargestellten<br />

kartographischen Objekten umgeben, etwa einer Wandkarte<br />

der Meeresküsten Europas, die von Willem Blaeu im Jahr 1658<br />

erstellt wurde, <strong>und</strong> einem Globus von Jodocus Hondius aus<br />

dem Jahr 1618.


68 2 Globaler Wandel<br />

— Fortsetzung Exkurs 2.3<br />

Hilfe neuartiger Messverfahren ein detailliertes Kartenv\/erk<br />

des französischen Staatsgebietes. Nivelliergeräte, Vermessungsinstrumente<br />

<strong>und</strong> Fernrohre sow/ie verbesserte mathematische<br />

Methoden ermöglichten den Aufbau eines Netzes<br />

exakt eingemessener Punkte, das sich über ganz Frankreich<br />

erstreckte. Diese Punkte bildeten die Basis eines trigonometrischen<br />

Systems, das es französischen Kartographen erlaubte,<br />

qualitativ hochwertige Karten anzufertigen, die<br />

auch in anderen Ländern Maßstäbe setzten. Zwischen<br />

1750 <strong>und</strong> 1793 wurde im Auftrag der französischen Akademie<br />

der Wissenschaften von Cesar François Cassini ein 182<br />

Blätter umfassendes Kartenwerk von Frankreich im Maßstab<br />

1;86 400 aufgenommen. Das erste Blatt wurde 1815 herausgegeben.<br />

Die in Kupferplatten gravierten <strong>und</strong> im Maßstab<br />

1:86 400 gedruckten Karten zeigten Städte in der Aufsicht,<br />

wichtige Gebäude wie Kirchen oder Mühlen waren durch unterschiedliche<br />

Symbole gekennzeichnet, anstelle perspektivischer<br />

Darstellungen charakterisierten Schratten das Relief,<br />

<strong>und</strong> für unterschiedliche Vegetationsbedeckungen wie<br />

Wald- oder Feuchtgebiete verwendete man farbig abgestufte<br />

Flächensignaturen (Abbildung 2.3.4). Von herausragender<br />

Qualität war auch das von Peter Anich (1723- 1766) <strong>und</strong> Blasius<br />

Flueber (1735-1814) geschaffene, 20 Blätter umfassende<br />

Kartenwerk von Tirol, der Atlas Tyrolensis, der 1774<br />

veröffentlicht wurde. Peter Anich gilt als Pionier der Flochgebirgskartographie.<br />

-.'JÜ.'Tttl ^<br />

ttxiK J jfn im m '<br />

iÔir^iAinC' ’<br />

•k<br />

tx ärnt£/re<br />

jÇfiÂire<br />

Liuimer<br />

ßcif<br />

iili<br />

hk {h/<br />

'J<br />

I<br />

r„ «■ (<br />

fy


Entwurf einer neuen Geographie der Welt 69<br />

2.9 Eine Baumwollplantage<br />

in Ostindien Plantagenbetriebe<br />

waren im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in vielen<br />

europäischen Kolonien die vorherrschende<br />

Wirtschaftsform.<br />

In Europa bewirkten Innovationen im Finanz- <strong>und</strong><br />

Geschäftswesen (zum Beispiel Banken, Kreditsysteme,<br />

Überweisungsverkehr, Versicherungswesen, Kurierdienste)<br />

eine Zunahme von Ersparnissen, Investitionen<br />

<strong>und</strong> kommerziellen Aktivitäten. Europäische<br />

Kaufleute <strong>und</strong> Produzenten wurden zu Experten in<br />

Sachen Importsubstitution, also in der Herstellung<br />

von Produkten <strong>und</strong> Gütern, die zuvor importiert<br />

werden mussten. Auf diese Weise entwickelten sich<br />

West- <strong>und</strong> Zentraleuropa zu einer Kernregion des<br />

Weltsystems, deren Einflusssphäre sich über große<br />

Teile der Erde erstreckte (Abbildung 2.10).<br />

Die Expansion nach Übersee kurbelte auch die<br />

technologische Entwicklung in Europa an. So wurden<br />

unter anderem in der Herstellung von Seekarten sowie<br />

auf den Gebieten der Marineartillerie, des Schiffsbaus<br />

<strong>und</strong> der Segeltechnik beachtliche Fortschritte erzielt.<br />

leder f<strong>und</strong>amentale Wissens- <strong>und</strong> Technikvorsprung<br />

erhöhte die internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

der betreffenden Nationen oder Regionen. Von<br />

den Erfahrungen der überseeischen Expansion profitierten<br />

bald auch die Unternehmer <strong>und</strong> Kapitalanleger<br />

in Europa, sodass sich der merkantilistische Kapitalismus<br />

nicht nur konsolidierte, sondern auch eine<br />

starke Eigendynamik entwickelte.<br />

Für die peripheren Gebiete bedeutete die europäische<br />

Expansion in erster Linie Abhängigkeit <strong>und</strong> Ausheutung<br />

<strong>und</strong> im schlimmsten Fall Annexion. Im besten<br />

Fall ersetzte man einheimische Händler <strong>und</strong> Verwaltungsbeamte<br />

durch Europäer, die fortan die ökonomischen<br />

<strong>und</strong> politischen Spielregeln bestimmten.<br />

So brachten die europäischen Kolonialmächte in kürzester<br />

Zeit den Handel der islamischen Länder im Indischen<br />

Ozean fast vollständig zum Erliegen. Ferner<br />

rissen die europäischen Mächte einen Großteil des<br />

asiatischen Seehandels an sich.<br />

So einschneidend diese Umwälzungen waren, so<br />

einfach waren die - auf Wind- <strong>und</strong> Wasserkraft beruhenden<br />

- Technologien, derer man sich bediente.<br />

Als Brennstoff <strong>und</strong> Baumaterial, nicht nur für Schiffe,<br />

stand ausschließlich Holz zur Verfügung. Ebenfalls<br />

aus Holz konstruierte wind- oder wassergetriebene<br />

Getreidemühlen waren nicht besonders leistungsfähig<br />

<strong>und</strong> waren von Standorten mit entsprechender<br />

Wind- oder Wasserkraft abhängig.<br />

Von noch größerer Bedeutung war der Umstand,<br />

dass mit der ausschließlichen Verwendung von Holz<br />

als Bau- <strong>und</strong> Konstruktionsmaterial die Dimensionen<br />

von Gebäuden, Wasserrädern oder Brücken limitiert<br />

waren. Insbesondere im Schiffsbau stieß man hinsichtlich<br />

Größe <strong>und</strong> Bauart an die Grenzen des technisch<br />

Machbaren. Daraus ergaben sich wiederum<br />

Einschränkungen in Bezug auf den Umfang <strong>und</strong><br />

die Geschwindigkeit des weltweiten Handels. Die Untauglichkeit<br />

der verfügbaren Technik für den Transport<br />

zu Land war ein wesentlicher Gr<strong>und</strong>, weshalb<br />

das europäische Weltsystem lange Zeit nur entlang<br />

großer Flüsse in das Innere der Kontinente vorzudringen<br />

vermochte.<br />

Nach einer Expansionsphase von 300 fahren, etwa<br />

von 1450 bis 1750, war trotz aller Fortschritte erst ein<br />

Teil der Erde in das Weltsystem integriert. Zur Einflusssphäre<br />

Europas gehörten damals die nordafrikanischen<br />

Mittelmeeranrainer, die portugiesischen <strong>und</strong><br />

spanischen Kolonien in Mittel- <strong>und</strong> Südamerika, Häfen<br />

<strong>und</strong> Handelsniederlassungen in Indien, die Ost-


70 2 Globaler Wandel<br />

Gesetz des abnehmenden<br />

Ertragszuwachses ^<br />

M4<br />

mS,<br />

politische Zersplitterung<br />

<strong>und</strong> Konkurrenzdruck '<br />

protestantischer mmmg<br />

Arbeitsfleiß<br />

überkommene<br />

Rechtsbestimmungen<br />

Innovationen in.<br />

Schiffsbau,<br />

Navigation,<br />

Waffentechnik<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong><br />

technologische Innovationen<br />

.territoriale<br />

Expansion<br />

militärische<br />

Stärke<br />

Kontrolle der<br />

Handelswege<br />

Ausbeutung<br />

von Gold<strong>und</strong><br />

Silbervorkommen<br />

Verbot der<br />

gewerblichen<br />

Produktion<br />

in den Kolonien<br />

Zwangsarbeit<br />

steigende Produktivität<br />

fortschreitende<br />

Kapital- ■<br />

akkumulation<br />

t<br />

Zunahme des<br />

Handelsvolumens<br />

Stärkung der<br />

europäischen<br />

Kernregion<br />

zunehmende<br />

Fähigkeit,<br />

in Peripherien<br />

vorzudringen<br />

2.10 Entstehungsursachen des eurozentrischen Weltsystems Die Hauptursache der europäischen Expansion in überseeische<br />

Gebiete dürfte das Gesetz des abnehmenden Ertragszuwachses gewesen sein. Der Aufstieg Europas war von einer stetigen<br />

Steigerung der Produktivität getragen. Als die eigenen Potenziale ausgeschöpft waren, ging man dazu über, fremde Gebiete zu<br />

unterwerfen, sei es mit friedlichen oder mit militärischen Mitteln. (Quelle: <strong>Knox</strong>, P. <strong>und</strong> Agnew, J. The Geography o f the World Economy,<br />

2. Aufl., London, Edward Arnold. 1994, Abbildung 5.3. abgedruckt mit Genehmigung der Edward Arnold/Hodder Stoughton<br />

Educational.)<br />

indischen Inseln, Hafenplätze in Afrika <strong>und</strong> China<br />

sowie die Karibischen Inseln <strong>und</strong> Nordamerika. In<br />

der übrigen Welt hatten sich die Verhältnisse nicht<br />

'«3<br />

wesentlich geändert. Wo modifizierte Minisysteme<br />

r» I vorherrschten, wandelten sich die geographischen<br />

Verhältnisse nur allmählich, <strong>und</strong> es existierten weiterhin<br />

Weltreiche, die nur teilweise <strong>und</strong>/oder zeitweilig<br />

in den marktorientierten Handel einbezogen<br />

waren.<br />

Zentrum <strong>und</strong> Peripherie:<br />

Ein neues Weltsystem<br />

entsteht<br />

Mit den neuen Produktions- <strong>und</strong> Transporttechnologien<br />

der Industriellen Revolution, die gegen Ende des<br />

18. lahrh<strong>und</strong>erts begann, entwickelte sich der Kapitalismus<br />

endgültig zu einem globalen System, das jeden<br />

Winkel der Erde erfasste <strong>und</strong> in alle menschlichen<br />

Lebensbereiche hineinspielte. Damit verb<strong>und</strong>en<br />

waren abermals tief greifende Veränderungen der humangeographischen<br />

Gegebenheiten, wobei die Dynamik<br />

dieses Umbruchs nun insbesondere die verschiedensten<br />

Interdependenzen betraf. Neue Herstellungsverfahren,<br />

die auf effizienteren Energieträgern basierten,<br />

steigerten die Produktivität. Neue <strong>und</strong> bessere<br />

Produkte stimulierten die Nachfrage, ließen die Gewinnspannen<br />

ansteigen <strong>und</strong> förderten die Kapitalbildung<br />

für weitere Investitionen. Neue Transportmittel<br />

lösten aufeinanderfolgende Phasen geographischer<br />

Expansion aus <strong>und</strong> förderten sowohl den<br />

inneren Ausbau wie auch die Kolonisation <strong>und</strong> den<br />

Imperialismus (die gezielte Ausübung von militärischer<br />

Macht <strong>und</strong> wirtschaftlichem Einfluss durch<br />

Staaten zum Zweck der Ausweitung <strong>und</strong> Sicherung<br />

nationaler Ansprüche <strong>und</strong> Interessen; Kapitel 8).<br />

Dadurch kam es erneut zu einer Umdeutung der<br />

humangeographischen Gegebenheiten durch neue<br />

Generationen von Gelehrten (Exkurs 2.4 „Geographie<br />

in Beispielen - Die Anfänge der modernen Geographie“).<br />

Seit dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert konsolidierte sich das<br />

Weltsystem infolge der immer enger werdenden wirtschaftlichen<br />

Verflechtungen zwischen den Ländern.<br />

Gleichzeitig weitete sich die Einflusssphäre des Weltsystems<br />

aus, <strong>und</strong> zwar auf jene Länder der Erde, die<br />

zumindest in gewissem Umfang in das kapitalistische<br />

System einbezogen werden konnten. Als Ergebnis


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 71<br />

dieses historischen Prozesses bildeten sich hinsichtlich<br />

der Beziehungen zwischen Orten <strong>und</strong> Regionen<br />

spezifische Strukturen heraus. Entsprechend ihrer<br />

Stellung innerhalb des Weltsystems unterscheidet<br />

man seit Wallerstein (1974) Kernregionen (core regions)y<br />

semiperiphere Regionen (semiperipheral regions)<br />

<strong>und</strong> periphere Regionen (peripheral regions). Diese<br />

großräumige geographische Gliederung ist das Ergebnis<br />

von Wettbewerbsprozessen <strong>und</strong> asymmetrischen<br />

Machtbeziehungen.<br />

Kernregionen des Weltsystems sind diejenigen<br />

Regionen der Erde, die den Handel dominieren, in<br />

denen Wissen <strong>und</strong> Macht konzentriert sind, die<br />

über hoch entwickelte Technologien verfugen <strong>und</strong><br />

deren diversifizierte Ökonomien eine hohe Produktivität<br />

aufweisen. Die Länder des Zentrums zeichnen<br />

sich demzufolge durch relativ hohe Pro-Kopf-Einkommen<br />

der Erwerbsbevölkerung aus. Als Knotenpunkte<br />

internationaler Handelsbeziehungen waren<br />

die Niederlande <strong>und</strong> Großbritannien die ersten Zentren<br />

des Weltsystems. Später kam Frankreich hinzu.<br />

Der anhaltende Erfolg dieser Kernregionen beruhte<br />

auf einem Wissens- <strong>und</strong> Technologievorsprung beziehungsweise<br />

auf der militärischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Vorherrschaft (Kolonialismus) über andere Regionen<br />

des Weltsystems, die man systematisch ausbeutete.<br />

Kolonialismus beinhaltet die Etablierung<br />

<strong>und</strong> Sicherung einer politischen <strong>und</strong> rechtlichen Vorherrschaft<br />

eines Staates über ein fremdes Gemeinwesen.<br />

Die Vormachtstellung schließt für gewöhnlich<br />

Kolonialisierungsmaßnahmen (das heißt die konkrete<br />

Ansiedlung von Menschen des kolonialisierenden<br />

Staates in der kolonialisierten Region) ein <strong>und</strong><br />

hat gr<strong>und</strong>sätzlich eine ökonomische Ausbeutung<br />

durch den kolonialisierenden Staat zur Folge. Nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg besaßen die Kernregionen<br />

so großen wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Einfluss,<br />

dass sie ihre beherrschende Position auch ohne<br />

militärische, politische <strong>und</strong> gesetzgeberische Kontrolle<br />

beibehalten konnten, als die Epoche des Kolonialismus<br />

allmählich zu Ende ging. Regionen, die während<br />

des gesamten Eingliederungsprozesses in das<br />

Weltsystem ökonomisch <strong>und</strong> politisch erfolglos<br />

blieben, werden als periphere Regionen bezeichnet.<br />

Periphere Regionen sind gekennzeichnet durch abhängige<br />

<strong>und</strong> ungünstige Handelsbeziehungen, primitive<br />

oder veraltete Technologien, einen Mangel an<br />

Humanressourcen <strong>und</strong> wenig entwickelte oder eng<br />

spezialisierte Volkswirtschaften mit geringer Produktivität.<br />

Neben Kernregionen <strong>und</strong> peripheren Regionen<br />

sind als dritte Kategorie die semiperipheren Regionen<br />

zu unterscheiden. Semiperiphere Regionen beuten<br />

einerseits die Peripherie aus <strong>und</strong> werden andererseits<br />

von den Kernregionen dominiert <strong>und</strong> ausgebeutet.<br />

Meist sind es Länder, die ursprünglich zu den peripheren<br />

Regionen gehörten. Die Existenz einer semiperipheren<br />

Kategorie unterstreicht den Sachverhalt,<br />

dass weder der Status der Peripherie noch der Status<br />

der Kernregion notwendigerweise dauerhaft sind. So<br />

hatten die Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Japan peripheren<br />

Status, bevor sich beide zu Kernregionen entwickelten.<br />

Spanien <strong>und</strong> Portugal, die im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Teil der europäischen „Ur-Kernregion“ waren, gerieten<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in eine semiperiphere Position<br />

<strong>und</strong> besitzen heute wieder den Status von Kernregionen.<br />

Eine ganze Reihe von Ländern, darunter Brasilien,<br />

Indien, Mexiko, Südkorea <strong>und</strong> Taiwan, wurden<br />

durch die Entwicklung leistungsfähiger Industrien ein<br />

Teil der Semiperipherie, nachdem sie zuvor der peripheren<br />

Region des Weltsystems angehört hatten (Abbildung<br />

2.11).<br />

Die Sicherung der internationalen Konkurrenzfähigkeit<br />

einheimischer Produkte durch staatliche<br />

Maßnahmen ist ein wichtiger Faktor, um aus einer<br />

peripheren in eine semiperiphere Position zu kommen.<br />

Eine Konkurrenzfähigkeit im internationalen<br />

wirtschaftlichen Wettbewerb kann auf verschiedene<br />

Weise erreicht werden: durch Eingriffe in die Märkte<br />

(zum Beispiel mittels Importsteuern zum Schutz<br />

inländischer Produzenten), durch wirtschaftspolitische<br />

Steuerungsmaßnahmen (zum Beispiel in Form<br />

von neuen Gesetzen zur Arbeitsmarktstabilisierung)<br />

oder durch die Verbesserung der technischen <strong>und</strong><br />

sozialen Infrastruktur (zum Beispiel durch den Einsatz<br />

öffentlicher Gelder zum Ausbau des Straßenoder<br />

Schienennetzes, der Modernisierung von Hafenanlagen<br />

oder der Verbesserung des Bildungssystems).<br />

Besonders wichtig sind eine gut ausgebildete<br />

Bevölkerung, hohe Investitionen in Forschung <strong>und</strong><br />

Entwicklung <strong>und</strong> kompetente funktionale Eliten.<br />

Da einige Staaten solche Strategien erfolgreicher einsetzen<br />

als andere, bilden die drei geographischen<br />

Kategorien keine starre, sondern eine durchlässige<br />

Hierarchie.<br />

Die Industrialisierung in den<br />

I Kernregionen der Welt<br />

Die im späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzenden Veränderungen<br />

in den regionalen Mustern wirtschaftlicher<br />

Entwicklung sind in hohem Maß auf technologische<br />

Fortschritte in einer effektiveren Energienutzung <strong>und</strong><br />

im Transportwesen sowie auf verbesserte Produkti-


72 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.4<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Die Anfänge der m odernen Geographie<br />

Die Anfänge der Geographie als akademische Disziplin lassen<br />

sich bis zu den Schriften einiger herausragender Gelehrter des<br />

18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zurückverfolgen. Unter ihnen sind<br />

Immanuel Kant, Alexander von Humboldt, Karl Ritter <strong>und</strong> Friedrich<br />

Ratzel. Deren Verdienst bestand vor allem darin, die Geographie,<br />

die sich lange Zeit der reinen Beschreibung von Teilen<br />

der Erdoberfläche ge\widmet hatte, dahingehend weiterzuentwickeln,<br />

dass nun erklärende <strong>und</strong> verallgemeinernde Aussagen<br />

über Beziehungen zwischen verschiedenen Phänomenen an<br />

<strong>und</strong> zwischen bestimmten Orten angestrebt wurden.<br />

Im ausgehenden 18. Jahrh<strong>und</strong>ert unterschied Immanuel<br />

Kant (Abbildung 2.4.1) spezifische Wissensgebiete (zum Beispiel<br />

Physik <strong>und</strong> Biologie) von allgemeinen Wissenschaftszweigen<br />

(Geographie <strong>und</strong> Geschichte): Die Geographie ordne die<br />

Dinge nach dem Raum (das heißt nach Regionen) <strong>und</strong> die Geschichte<br />

nach der Zeit (das heißt nach Perioden oder Epochen).<br />

Kant war ein einflussreicher Philosoph, dessen Glaube<br />

an die intellektuelle Bedeutung der Geographie wesentlich zu<br />

2.4.2 Alexander von<br />

Humboldt, 1769-1859<br />

deren Begründung als wissenschaftliche Disziplin beitrug.<br />

Seine Ausführungen zu den Teilgebieten der Geographie waren<br />

ebenfalls von großem Einfluss. So erkannte Kant die Bedeutung<br />

der Wirtschaftsgeographie, der Religionsgeographie,<br />

der „moralischen Geographie“ (deren Gegenstand er in den<br />

Bräuchen <strong>und</strong> Lebensweisen des Menschen sah), der Mathematischen<br />

Geographie (die sich mit der Gestalt <strong>und</strong> der Bewegung<br />

der Erde beschäftigte) <strong>und</strong> der Politischen Geographie.<br />

Darüber hinaus sah Kant, dass alle diese Teilbereiche in hohem<br />

Maße von der zugr<strong>und</strong>e liegenden Physischen Geographie beeinflusst<br />

werden.<br />

Der deutsche Geograph <strong>und</strong> Naturforscher Alexander von<br />

Humboldt (Abbildung 2.4.2) hatte es sich zur Aufgabe gemacht,<br />

Einzelheiten über die Beziehungen zwischen der räumlichen<br />

Verbreitung von Gesteinen, Pflanzen <strong>und</strong> Tieren zusammenzutragen<br />

<strong>und</strong> zu analysieren. Um diese Beziehungen <strong>und</strong><br />

deren Gesetzmäßigkeiten zu erforschen, bereiste er fünf Jahre<br />

lang (1799-1804) den südamerikanischen Kontinent. Alexander<br />

von Humboldt hob die wechselseitigen Kausalitäten zwischen<br />

den Arten <strong>und</strong> deren physischer Umwelt hervor -<br />

dominieren mehrere Jahrzehnte lang die Wirtschaft<br />

bestimmter Regionen - bis ein neues, besseres Technologiesystem<br />

entsteht, das unter Umständen andere<br />

Regionen bevorzugt. Solche Technologiesysteme werden<br />

oft mit langfristigen Konjunkturzyklen, sogenannten<br />

langen Wellen, in Verbindung gebracht,<br />

die etwa 50 bis 70 Jahre dauern können (Abbildung<br />

2.12). Seit Beginn der Industriellen Revolution lassen<br />

sich fünf solcher Perioden ausmachen, wobei sich die


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 73<br />

2.4.3 Karl Ritter, 1779-1859<br />

Wechselwirkungen, die sowohl zwischen Menschen, Pflanzen<br />

una Tieren, als auch zwischen diesen <strong>und</strong> den spezifischen<br />

äußeren Rahmenbedingungen bestehen. Auf diese Weise<br />

konnte Humboldt zeigen, dass sich der Mensch wie alle anderen<br />

Arten an die jeweiligen Umweltbedingungen anpassen<br />

muss, <strong>und</strong> auf welche Weise dessen Verhalten wiederum<br />

die natürliche Umwelt beeinflusst.<br />

Karl Ritter (Abbildung 2.4.3), ein deutscher Geograph, gilt<br />

als Begründer der traditionellen Regionalen Geographie. Ritters<br />

zwanzigbändige „Erdk<strong>und</strong>e“, die zwischen 1817 <strong>und</strong><br />

1859 erschienen war, stellte ein monumentales vergleichendes<br />

<strong>und</strong> klassifizierendes Werk dar. Ähnlich wie Humboldt betrachtete<br />

Ritter die Geographie als eine integrierende Wissenschaft,<br />

die er als geeignet ansah, die wechselseitigen Beziehungen<br />

zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur aufzudecken. Ritters Ziel<br />

war es, ein Bezugssystem für wissenschaftliche Vergleiche <strong>und</strong><br />

Verallgemeinerungen zu entwickeln, indem er die Kontinente<br />

in große Einheiten unterteilte, die sich wiederum in kohärente<br />

Regionen mit spezifischen Eigenschaften aufgliederten.<br />

Um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden Geographische<br />

Gesellschaften in Berlin, London, Frankfurt, Moskau, New<br />

York, Paris, Wien <strong>und</strong> vielen anderen Städten. Im Jahr 1899<br />

gab es weltweit bereits 62 Geographische Gesellschaften,<br />

<strong>und</strong> die renommiertesten Universitäten hatten Lehrstühle<br />

für Geographie geschaffen. Zunächst sah man die Aufgabe<br />

der Geographie darin, die „terra incognita" zu erforschen<br />

<strong>und</strong> die weißen Flecken von den Landkarten zu tilgen. Da<br />

die Bedeutung der Geographie unmittelbar mit den wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Interessen Europas verb<strong>und</strong>en war,<br />

änderten sich mit diesen auch die geographischen Betrachtungsweisen.<br />

So bestand die allgemeine Tendenz, Orte <strong>und</strong><br />

Regionen aus europäischer Sicht <strong>und</strong> einer insbesondere<br />

von nationalen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> religiösen Interessen geprägten<br />

Perspektive zu porträtieren.<br />

Die Verstrickungen der Geographie in kolonialistische <strong>und</strong><br />

imperialistische Denkmuster hatten zur Folge, dass sich in der<br />

Geographie eine in hohem Maße von ethnozentrischem Gedankengut<br />

geprägte Tradition herauszubilden begann. Als<br />

Ethnozentrismus bezeichnet man eine Haltung, der die Überzeugung<br />

zugr<strong>und</strong>e liegt, dass die eigene Rasse <strong>und</strong> Kultur<br />

anderen überlegen sei. Geographische Publikationen des<br />

19. Jahrhuriderlb waren außerdem stark von der Denkrichtung<br />

des Natur- oder Umweltdeterminismus geprägt. Die Doktrin<br />

des Naturdeterminismus sieht menschliches Handeln im<br />

Wesentlichen von äußeren Umweltbedingungen gesteuert<br />

<strong>und</strong> basiert auf der Überzeugung, dass die physiogeographi-<br />

schen Gegebenheiten nicht nur die äußere Erscheinung von<br />

Menschen prägen, sondern auch die an verschiedenen Orten<br />

anzutreffenden Unterschiede des Wirtschaftsverhaltens, des<br />

kulturellen Lebens <strong>und</strong> der Sozialstrukturen. Einer der einflussreichsten<br />

Wegbereiter der akademischen Geographie, dem<br />

diese Denkrichtung unterstellt wird, war der deutsche Geograph<br />

Friedrich Ratzel (1844- 1904). Den Ruf als Geodeterminist<br />

bekam Ratzel vor allem durch seine ehemalige Schülerin,<br />

Ellen Churchill Semple, welche seine Ideen stark verkürzt <strong>und</strong><br />

vereinfacht in die Vereinigten Staaten beziehungsweise in die<br />

englischsprachige Literatur übertrug <strong>und</strong> die an der University<br />

of Chicago <strong>und</strong> später an der Clark University lehrte. Einer<br />

der bekanntesten US-amerikanischen Anhänger von Ratzels<br />

Gedankengut war Ellsworth Huntington, der in den Jahren<br />

von 1907 bis 1917 Geographie an der Yale University unterrichtete.<br />

Ratzel argumentierte zwar, dass Zivilisation <strong>und</strong><br />

erfolgreiche ökonomische Entwicklung in hohem Maß von<br />

ges<strong>und</strong>en klimatischen Bedingungen abhängen. Er betonte<br />

jedoch auch, dass die Standortqualitäten eines Ortes von<br />

den Lagebeziehungen abhängen <strong>und</strong> vertrat auch viele andere<br />

Ansichten, die mit dem Bild des Naturdeterministen nicht zu<br />

vereinbaren sind. Umweltdeterministen richten den Fokus auf<br />

den Einfluss, den die äußere Umwelt auf den Menschen hat,<br />

ohne die vielen anderen relevanten Faktoren einzubeziehen.<br />

Dieses unberechtigte Image von Ratzel konnte sich in der<br />

angelsächsischen Wissenschaft vermutlich deshalb so lange<br />

halten, weil die meisten nur die von Semple verbreitete Variante<br />

<strong>und</strong> nicht die deutschen Originalpublikationen kannten.<br />

zeitliche Periodisierung auf die hoch entwickelten Industrieländer<br />

bezieht. Ausgehend von den Anfängen<br />

der Industriellen Revolution lassen sich vier aufeinanderfolgende<br />

Technologiesysteme unterscheiden:<br />

• 1790-1840: frühe Mechanisierung auf der Basis<br />

von Wasserkraft <strong>und</strong> Dampfmaschine, Baumwolltextilien,<br />

industrielle Eisenverhüttung, Ausbau der<br />

Flüsse, Bau von Kanälen <strong>und</strong> gebührenpflichtigen<br />

Straßen<br />

1840-1890: Durchbruch kohlebefeuerter Dampfmaschinen,<br />

Stahlproduktion, Eisenbahnen, internationaler<br />

Schiffsverkehr, Werkzeugmaschinen<br />

1890-1950: Durchbruch des Verbrennungsmotors,<br />

Öl <strong>und</strong> Kunststoffe, Schwer- <strong>und</strong> Elektroindustrie,<br />

Flugzeuge, Radio <strong>und</strong> Telekommunikation<br />

1950-1990: Nutzung der Kernenergie, Raumfahrt,<br />

Elektronik <strong>und</strong> Petrochemie, Autobahnen,<br />

Expansion des internationalen Luftverkehrs


' 2 74 1 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.5<br />

G eographie in Beispielen -<br />

Theoriediskussion über die Globalisierung<br />

« I<br />

„Globalisierung ist das am meisten gebrauchte - missbrauchte<br />

- <strong>und</strong> am seltensten definierte, wahrscheinlich missverständlichste,<br />

nebulöseste <strong>und</strong> politisch wirkungsvollste (Schlag- <strong>und</strong><br />

Streit-)wort der letzten, aber auch der kommenden Jahre“<br />

(Beck 1998). Globalisierung kann als „Prozess der Intensivierung<br />

weltweiter wirtschaftlicher wie kultureller <strong>und</strong> sozialer Beziehungen“<br />

definiert werden (Lexikon der Geographie). Nach<br />

Osterhammel & Petersson (2006) versteht man unter Globalisierung<br />

den Aufbau, die Verdichtung <strong>und</strong> die zunehmende<br />

Bedeutung weltweiter Vernetzungen. Triebfedern der Globalisierung<br />

sind technologischer Fortschritt besonders auf dem<br />

Gebiet der Telekommunikation <strong>und</strong> des Transports, Veränderungen<br />

der Produktionsverhältnisse, Ausdifferenzierung der<br />

internationalen Arbeitsteilung, Aufhebung oder Senkung von<br />

Zollgrenzen, die Zunahme ausländischer Direktinvestitionen<br />

<strong>und</strong> eine Liberalisierung der von Staaten nicht mehr kontrollierbaren<br />

Finanzmärkte. Mit der Globalisierung ist eine Intensivierung<br />

der wirtschaftlichen Verflechtungen, ein Modernisierungs-<br />

<strong>und</strong> kultureller „Verwestlichungsprozess“, eine Erosion<br />

nationalstaatlicher Souveränität, eine Ausdehnung internationaler<br />

Kooperationsformen <strong>und</strong> eine Konvergenz von Lebensstilen<br />

(„McDonaldisierung“, Musikstile) verb<strong>und</strong>en.<br />

Zur wirtschaftlichen Globalisierung hat unter anderem<br />

I. Wallerstein (1974) seine Theorie des Modernen Weltsystems<br />

entwickelt, die ihre Wurzeln im Marxismus <strong>und</strong> daraus abgeleiteten<br />

Strömungen der Dependenztheorie hat. Er unterscheidet<br />

zwei Typen von Weltsystemen, die Weltreiche <strong>und</strong> die Weltökonomien.<br />

Als Weltreiche bezeichnet er imperiale Reiche, die<br />

politisch <strong>und</strong> militärisch von einer Zentralinstanz kontrolliert<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich ausgebeutet werden. Als modernes Weltsystem<br />

bezeichnet er die Weltökonomie, die seit 500 Jahren<br />

besteht <strong>und</strong> nicht in ein Weltreich übergegangen ist. Die Geschichte<br />

des Modernen Weltsystems wird von ihm in zwei Perioden<br />

unterteilt, das Zeitalter des Agrarkapitalismus, das von<br />

1450 bis 1750 dauert <strong>und</strong> durch den Kolonialismus charakterisiert<br />

ist, <strong>und</strong> die Phase des Industriekapitalismus, die nach<br />

Wallerstein bis 1917 dauert. In diesem System müssen sich<br />

alle Gesellschaften, Regierungen, Unternehmen, Kulturen,<br />

Klassen, Haushalte <strong>und</strong> Individuen in einer Arbeitsteilung verorten<br />

<strong>und</strong> behaupten (Weltintegration). Das moderne Weltsystem<br />

gliedert sich nach Wallerstein in Zentrum, Semiperipherie<br />

<strong>und</strong> Peripherie. Diese drei Zonen sind durch den Mechanismus<br />

des „ungleichen Tausches“ verb<strong>und</strong>en. Dieser führt zu einer<br />

andauernden Ausbeutung der Peripherie durch die Regionen<br />

des Zentrums <strong>und</strong> der Semiperipherie. Regionen des Zentrums<br />

zeichnen sich, im Gegensatz zu den beiden anderen Zonen,<br />

durch starke Staatsapparate, eine komplexe Wirtschaftsstruktur,<br />

fortschrittliche Technologien <strong>und</strong> Produktionsprozesse sowie<br />

ein hohes Niveau des Realeinkommens <strong>und</strong> der Lebensqualität<br />

aus. Die Kritik an der Weltsystemtheorie von Wallerstein<br />

richtet sich vor allem gegen seine monokausale <strong>und</strong> vorwiegend<br />

ökonomische Argumentation.<br />

Theorien zur politischen Globalisierung stammen unter<br />

anderem von James N. Rosenau (1980, 2006), David Held<br />

(2003) , David Held <strong>und</strong> Anthony McGrew (2003) <strong>und</strong> Zygmunt<br />

Bauman (1996, 1999, 2001). Sie gehen davon aus, dass durch<br />

die Entstehung der Informations- oder Wissensgesellschaft beziehungsweise<br />

durch die modernen Techniken der Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> des Verkehrs Grenzen <strong>und</strong> Entfernungen an<br />

Bedeutung verlieren, sodass seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

die Bedeutung internationaler Akteure <strong>und</strong> Organisationen<br />

zugenommen hat. Daraus resultiere eine polyzentrische<br />

Weltpolitik. Held spricht von der Entwicklung einer Risikogesellschaft.<br />

Sogenannte transnationale Probleme <strong>und</strong> Ereignisse,<br />

die alle angehen wie der Klimawandel, Währungskrisen<br />

oder humanitäre Katastrophen führen zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl.<br />

Transnationale Organisationen wie die UN,<br />

die Weltbank, verschiedene NGOs, die Kirche oder organisierte<br />

Kriminalität können durch ihre globale Vernetzung nationale<br />

Gesetze beeinflussen oder umgehen. Es entstehen transnationale<br />

Gemeinschaften, die sich auf Interessensgemeinschaften,<br />

Religion, Lebensstile oder politische Orientierungen begründen<br />

<strong>und</strong> durch ihren Zusammenhalt Einfluss auf die Weltgesellschaft<br />

nehmen können. Banken <strong>und</strong> Finanzströme, international<br />

verödete Produktionsketten <strong>und</strong> Kooperationsformen <strong>und</strong><br />

technisches Wissen, also Faktoren, die als transnationale<br />

Strukturen zusammengefasst werden können, prägen die globale<br />

Welt. Nach Bauman ist die Schwächung der Nationalstaaten<br />

ursächlich mit der Globalisierung verknüpft. Da die Nationalstaaten<br />

einen Teil ihrer Souveränität <strong>und</strong> Entscheidungsbefugnisse<br />

hinsichtlich der Wirtschaft, Kultur <strong>und</strong> des Militärs<br />

(zum Beispiel durch die NATO) verloren haben <strong>und</strong> noch weiter<br />

verlieren werden, entsteht auf der lokalen Ebene Verunsicherung,<br />

weil die globale Ordnung gewisse Rechte <strong>und</strong> Normen<br />

nicht mehr garantiert. Supranationalen Organisationen wie<br />

der UN fehlen lokale Instanzen, um ihre Politik <strong>und</strong> ihre Beschlüsse<br />

effektiv umzusetzen. Durch die zunehmende Mobilität<br />

des Kapitals haben Regierungen weniger Möglichkeiten,<br />

eine eigenständige Wirtschafts- <strong>und</strong> Währungspolitik zu betreiben.<br />

Die kulturelle Globalisierung wurde unter anderem von<br />

Autoren wie Benjamin R. Barber (1996), Robbie Robertson<br />

(2004) <strong>und</strong> Arjun Appadurai (1998) angesprochen. Barber<br />

wies darauf hin, dass es im Globalisierungsprozess gleichzeitig<br />

homogenisierende <strong>und</strong> heterogenisierende Trends gebe (Kapitel<br />

1). Nach Robertson führt die Globalisierung zwar auch zur<br />

Herausbildung einer Weltgesellschaft, seiner Ansicht nach ist<br />

die Gleichzeitigkeit von Universalismus <strong>und</strong> Partikularismus,<br />

Bindung <strong>und</strong> Fragmentierung, Zentralisierung <strong>und</strong> Dezentralisierung,<br />

Globalisierung <strong>und</strong> Lokalisierung in einem Weltsystem


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 75<br />

kein Widerspruch. Deshalb prägte er den Begriff der Glokali-<br />

sierung. Darunter wurde ursprünglich ein aus Japan stammendes<br />

Marketingkonzept verstanden, bei dem Produkte mit globaler<br />

Verbreitung (MTV, McDonald’s, Autos) auf lokale oder<br />

spezifische Märkte ausgerichtet wurden. Der Prozess der Glo-<br />

kalisierung beginnt nach Robertson mit der Bildung von Nationalstaaten<br />

<strong>und</strong> der Formalisierung internationaler Beziehungen<br />

im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Der Kulturanthropologe Arjun Appadurai (1998) will das<br />

Verhältnis zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Kultur durch fünf Dimensionen<br />

von globalen kulturellen Strömen erfassen:<br />

ethnoscapes: hervorgebracht durch „Ströme“ von Menschen -<br />

Touristen ebenso wie Immigranten, Flüchtlinge, Exilanten <strong>und</strong><br />

Gastarbeiter;<br />

technoscapes: als Ergebnis der Diffusion von Waren, Technologien<br />

<strong>und</strong> Architekturstilen;<br />

finanscapes: als Folge beschleunigter Geldzirkulation auf Devisenmärkten<br />

<strong>und</strong> an Börsen;<br />

mediascapes: von Nachrichtenagenturen, Magazinen, Film <strong>und</strong><br />

Fernsehen erzeugte Bilder von der Welt;<br />

ideoscapes: als Ergebnis der Diffusion von Ideen <strong>und</strong> Ideologien.<br />

Vorstellungen von Menschenrechten, Demokratie, Wohlstand<br />

<strong>und</strong> so weiter.<br />

Für Athony Giddens (2001) ist Globalisierung die Konsequenz<br />

der Moderne. Er bezeichnet Globalisierung als Umstrukturierung<br />

von Raum <strong>und</strong> Zeit. Mit dem Ausdruck „time-<br />

space-distantiaton“ (auch Zeit-Raum-Kompression) weist Giddens<br />

darauf hin, dass Raum <strong>und</strong> Zeit ein menschliches<br />

Konstrukt sind. Er vertritt die Ansicht, dass Globalisierung<br />

als dialektisches Phänomen zu verstehen ist <strong>und</strong> Ereignisse<br />

am einen Ende der Welt oft abweichende oder sogar entgegengesetzte<br />

Entwicklungen am anderen Ende hervorrufen.<br />

Die zentrale Aussage der Theorie der fragmentierenden<br />

Entwicklung von Fred Scholz lautet, dass die Globalisierung<br />

zunehmende Disparitäten zwischen Ländern <strong>und</strong> innerhalb von<br />

Ländern zur Folge hat.<br />

Unter Fragmentierung versteht Scholz (2004) eine „bruchhafte,<br />

sozio-ökonomische <strong>und</strong>/oder kulturell/politische Sonderung/Trennung<br />

von Individuen/Akteuren <strong>und</strong>/oder Akteursgruppen“,<br />

die sich räumlich „in regionaler Vernetzung<br />

<strong>und</strong> Integration ( = Inklusion) beziehungsweise regionaler Auflösung,<br />

Trennung, Ausgrenzung, Abkopplung, Marginalisierung<br />

<strong>und</strong> Desintegration ( = Exklusion)“ manifestiert. Nach Scholz<br />

sollte die Vorstellung einer nachholenden Entwicklung, welche<br />

lange Zeit die Entwicklungspolitik prägte, im Zeitalter der Globalisierung<br />

durch das Konzept der fragmentierenden Entwicklung<br />

ersetzt werden. Die wesentlichen Aussagen von F. Scholz<br />

(2002) seien hier wörtlich zitiert:<br />

„Schaltstellen dieses durch Wettbewerb gesteuerten weltwirtschaftlichen<br />

Geschehens sind (...) die „globalen Orte“, die<br />

als actingglobal eitles bezeichnet werden. (...) Dabei handelt<br />

es sich um die Kommandozentralen der a\s globalplayers agierenden<br />

transnationalen Unternehmen, um die Hightech-Produktions-<br />

<strong>und</strong> Foschungsinnovationszentren (zum Beispiel<br />

Orte/Zonen innovativen Milieus/innovativer Netzwerke) sowie<br />

um die vereinzelt überkommenen fordistischen Industriezonen<br />

für Güter höchster Qualität, die zurzeit noch bestehende<br />

Produktionsüberlegenheit besitzen. Virtuell oder auch konkret<br />

eng verb<strong>und</strong>en mit diesen dominierenden Schaltstellen <strong>und</strong> ihnen<br />

funktional hierarchisch nachgeordnet sind die „globalisierten<br />

Orte“, die affected/exposed global eitles (die Hinterhöfe<br />

der Metropolen). Dabei handelt es sich um Orte oder Zonen<br />

der Hightech-Dienstleistungen (zum Beispiel „wissensbasierte<br />

regionale Cluster“ (...)), des offshore bankings <strong>und</strong> der Steuerparadiese,<br />

der Auslagerungsindustrie (zum Beispiel Freie Produktionszonen<br />

(...)), der Billiglohn- <strong>und</strong> Massenkonsumgüterproduktion<br />

sowie der montanen <strong>und</strong> agraren Rohstoffextraktion<br />

<strong>und</strong> der Erzeugung hochwertiger Nahrungsmittel. Hierzu<br />

zählen die Orte der aus vermeintlichen Wettbewerbszwängen<br />

unverzichtbaren Kinderarbeit <strong>und</strong> des global funktionalisierten<br />

informellen Sektors sowie des Freizeit- <strong>und</strong> Tourismusgewerbes<br />

(Abbildung 2.5.1).<br />

n■Soc<br />

ü (/)<br />

< £<br />

.üi


76 2 Globaler Wandel<br />

Fortsetzung Exkurs 2.5<br />

Davon bruchhaft gesondert, eben fragmentiert, befindet<br />

sich die „ausgegrenzte Restwelt“, die von Hein (2001) nachgefragten<br />

„marginalisierten Zwischenräume“. Sie sei hier als<br />

new periphery bezeichnet oder mehr bildhaft als „Meer der Armut“<br />

beschrieben. Dabei handelt es sich um die entgrenzten,<br />

um Standortqualität streitenden, um Territorialität, Machtkompetenz<br />

<strong>und</strong> Legitimität ringenden nominellen Nationalstaaten.<br />

In ihrer Gesamtheit bilden sie ganz oder teilweise den sich<br />

weltweit erstreckenden, virtuellen oder auch physisch begreifbaren<br />

Lebensraum der ausgegrenzten, überflüssigen Mehrheit<br />

der Weltbevölkerung. Diese new periphery \st in sich durch Ethnoregionalismen,<br />

F<strong>und</strong>amentalismus, Retribalisierung <strong>und</strong><br />

Kryptonationalismen bruchhaft <strong>und</strong> widersprüchlich vielfältig<br />

fragmentiert. Sie wird durch all jene Merkmale bestimmt,<br />

die für die bisherige Dritte Welt als typisch erachtet wurden.<br />

Und dazu gesellen sich noch Ausgrenzung <strong>und</strong> Abkoppelung.<br />

Bei den verschiedenen angesprochenen virtuell oder konkret<br />

funkional-räumlichen Fragmenten handelt es sich jedoch<br />

nicht um starre raumstrukturelle Cluster oder dauerhaft dynamische<br />

innovative Netzwerke, um Funktionsstandorte hoher<br />

Persistenz, bleibender Nachhaltigkeit <strong>und</strong> wachstumspolgleicher,<br />

raumgreifender Sieker- <strong>und</strong> Entwicklungseffekte. Vielmehr<br />

sind sie exzessiver Konkurrenz ausgesetzt <strong>und</strong> fortwährend<br />

von Verdrängung bedroht. [...] Das gilt für die „globalen<br />

Orte“ (acting global eitles) ebenso wie für die „globalisierten<br />

Orte“ (affected/exposed global eitles). [...] Die Gefahr für<br />

sie, ganz oder partiell wieder in die ausgegrenzte „Restwelt“<br />

abzusteigen, in die new periphery zurückzufallen, ist -<br />

gemäß der Logik des globalen, des entgrenzten Wettbewerbs<br />

- vorprogrammiert <strong>und</strong> latent gegeben. Der Aufstieg daraus ist<br />

eher ein Zufall. Denn die Entscheidung darüber liegt nicht einzig<br />

bei den lokalen, sondern in erster Linie bei den Akteuren<br />

der „globalen Orte“, den global players. [...]<br />

An dem globalen Wettbewerb <strong>und</strong> seinen nachweisbaren<br />

Segnungen partizipieren nicht Länder <strong>und</strong> Staaten an sich<br />

<strong>und</strong> nicht deren Bevölkerung als Ganze, sondern nur bestimmte<br />

Orte beziehungsweise Zonen <strong>und</strong> auch dort einzig Teile<br />

der Bevölkerung. [...] Und dies wiederum währt nur so lange,<br />

wie es die Wettbewerbsbedingungen erlauben [...] Dem ausgegrenzten<br />

Rest der Welt <strong>und</strong> damit der Masse der Weltbevölkerung<br />

steht zwar prinzipiell die Option zur Partizipation am<br />

Wettbewerb offen [...]. Strukturell jedoch bleiben der Restwelt<br />

nicht viele Alternativen, bieten sich ihr nicht viele Chancen<br />

[...].<br />

ln dem Maße wie das Wettbewerbscredo der Globalisierung<br />

zuerst das wirtschaftliche Handeln <strong>und</strong> dann die politische <strong>und</strong><br />

gesellschaftliche Wahrnehmung zu durchdringen <strong>und</strong> zu bestimmen<br />

begann, musste das Konsensbewusstsein der „Ersten<br />

Moderne“ an Bedeutung verlieren. Es wurde durch das<br />

wettbewerbsgesteuerte Konkurrenz- <strong>und</strong> Erfolgsprinzip der<br />

„Zweiten Moderne“ verdrängt. [...] Diesen ausgrenzenden Effekten<br />

stehen, der Logik der „fragmentierenden Entwicklung“<br />

entsprechend, für den Süden aber auch zahlreiche positive,<br />

integrierende Prozesse gegenüber. Verwiesen sei hier nur<br />

auf die wachsende Kompetenz zahlreicher, an lokal jedoch<br />

eng begrenzte Orte in den Ländern des Südens geb<strong>und</strong>ener<br />

Softwareproduzenten“ (Fred Scholz 2002).<br />

Die Kritik am Konzept der fragmentierenden Entwicklung<br />

von Scholz richtet sich vor allem auf den Aspekt, dass zwar<br />

die Wettbewerbsfähigkeit im Mittelpunkt seines Modells steht,<br />

aber einige der wichtigsten Ursachen für die unterschiedliche<br />

Wettbewerbsfähigkeit <strong>und</strong> die unterschiedlich soziale Evolution,<br />

nämlich regionale <strong>und</strong> soziale Unterschiede des Fach<strong>und</strong><br />

Orientierungswissens, der Kompetenzen <strong>und</strong> Qualifikationen<br />

sowie des technologischen <strong>und</strong> ökonomischen Entwicklungsniveaus<br />

(Meusburger 2000, 2005) nicht thematisiert<br />

werden.<br />

Kritik an der Globalisierung<br />

In Kapitel 1wurden die Einstellungen zur Globalisierung in drei<br />

Kategorien eingeteilt. Es wurde zwischen neoliberalen Hyper-<br />

globalisierern, Skeptikern <strong>und</strong> Anhängern eines Transformationsansatzes<br />

unterschieden. Selbstverständlich sind auch andere<br />

Einteilungen möglich. Die Kritiker der Globalisierung lassen<br />

sich in zwei Gruppen einteilen, die Status-quo Kritiker (die<br />

reformorientierten Globalisierer) <strong>und</strong> die F<strong>und</strong>amentalkritiker.<br />

Die Status-quo-Kritiker lehnen die Globalisierung nicht<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ab, sie halten die Globalisierung jedoch für einen<br />

ambivalenten Prozess, der in seinem derzeitigen Zustand viele<br />

negative Konsequenzen hat, welche zu verstärkten Disparitäten<br />

zwischen <strong>und</strong> innerhalb von Gesellschaften führen. Die<br />

wichtigsten Kritikpunkte lauten, dass die Industrieländer einseitig<br />

Marktzutrittsbarrieren für konkurrenzfähige Produkte<br />

(Agrarprodukte, Textilgüter) aus Entwicklungsländern aufbauen<br />

<strong>und</strong> durch ihre subventionierten, billigen Produkte die Binnenmärkte<br />

in Entwicklungsländern schädigen. Ein neoliberaler<br />

Marktf<strong>und</strong>amentalismus <strong>und</strong> deregulierte Finanzmärkte würden<br />

Entwicklungsländer anfälliger für Krisen machen <strong>und</strong><br />

die Globalisierungsverlierer würden nicht ausreichend entschädigt.<br />

Der Ökonom <strong>und</strong> Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz<br />

(2002) kritisiert vor allem den Internationalen Währungsfond,<br />

die WTO <strong>und</strong> die Weltbank, die ohne demokratische Legitimation<br />

vorzeitige Marktliberalisierungen erzwingen, welche den<br />

schwachen Volkswirtschaften des Südens keine Chance lassen,<br />

den großen wirtschaftlichen Vorsprung des Nordens aufzuholen.<br />

Ein weiterer Vorwurf betrifft die Tatsache, dass die<br />

Industrieländer soziale <strong>und</strong> ökologische Kosten in die Entwicklungsländer<br />

verlagern, in denen es geringere Umwelt- <strong>und</strong> So-<br />

Ein fünftes, noch nicht vollendetes Technologiesystem<br />

begann sich in den 1980er-Jahren mit einer<br />

Reihe von Innovationen auf dem Gebiet der Solarenergie,<br />

Robotik, Mikroelektronik, Biotechnologie,<br />

der neuen Materialien <strong>und</strong> Werkstoffe (zum<br />

Bei.spiel Feinchemikalien <strong>und</strong> Thermoplaste)<br />

<strong>und</strong> Informationstechnologien (zum Beispiel digitale<br />

Telekommunikationssysteme <strong>und</strong> Geographische<br />

Informationssysteme) herauszubilden.


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 77<br />

zialstandards gibt. Es gebe eine mangelnde Umverteilung der<br />

Globaiisierungsgewinne <strong>und</strong> keinen ausreichenden trickle-<br />

down-Effekt. Die Wirtschaft sei nicht mehr in die Gesellschaft<br />

eingebettet, sondern verselbständige sich <strong>und</strong> trete in Konkurrenz<br />

zur Gesellschaft auf. Es drohe eine Ablösung des Primats<br />

der Politik durch ein Primat der Wirtschaft. Die Wirtschaft eile<br />

der Politik voraus. Die meisten Kritikpunkte münden in einer<br />

Diskussion um das Verhältnis zv\/ischen Staat <strong>und</strong> Wirtschaft.<br />

Bei der Diskussion um die Vor- <strong>und</strong> Nachteile der Globalisierung<br />

stehen sich die Anhänger einer Freihandelstheorie, welche<br />

der unsichtbaren Hand des freien Markts vertrauen, die<br />

unfehlbar alles effektiv <strong>und</strong> neutral regelt, <strong>und</strong> die Verfechter<br />

des Keynesianismus gegenüber, welche eine staatliche Regulierung<br />

der Wirtschaft für notwendig erachten, um die Mängel<br />

des Markts zu korrigieren. Die F<strong>und</strong>amentalkritiker dagegen<br />

lehnen die Globalisierung ab, weil das Subsidiaritätsprinzip<br />

aufgegeben würde, weil Macht <strong>und</strong> Entscheidungsbefugnisse<br />

zu sehr in transnationalen Unternehmen <strong>und</strong> internationalen<br />

Organisationen konzentriert würden, die keine demokratische<br />

Legitimation aufweisen. Das Entwicklungsparadigma basiere<br />

auf Kapitalismus, sei ein eurozentrisches Konstrukt <strong>und</strong><br />

eine Fortführung des Kolonialismus mit anderen Mitteln <strong>und</strong><br />

konsolidiere die Machtasymmetrie zwischen den Regionen<br />

des Zentrums <strong>und</strong> jenen der Peripherie.<br />

Als Alternativen fordern die „reformorientierten Globali-<br />

sierer“ den Abbau von Marktzutrittsbarrieren für Entwicklungsländer,<br />

also einen wirklich freien Handel, die Austrocknung<br />

von Steueroasen, eine internationale Steuerharmonisierung,<br />

eine Regelung <strong>und</strong> Verrechtlichung des internationalen<br />

Systems, einen stärkeren Transfer von Ressourcen <strong>und</strong><br />

Know-how zwischen Globalisierungsgewinnern <strong>und</strong> -Verlierern,<br />

eine Demokratisierung <strong>und</strong> Machtbeschneidung finanzpolitischer<br />

internationaler Organisationen <strong>und</strong> die Internationalisierung<br />

sozialer <strong>und</strong> ökologischer Kosten. Andere Kritiker (zum<br />

Beispiel Attac) verlangen eine alternative Wirtschaftsordnung,<br />

die Besteuerung internationaler Kapitalströme (Tobinsteuer)<br />

<strong>und</strong> Aufsichtsbehörden zur Kontrolle transnationaler Unternehmen<br />

<strong>und</strong> Finanzmärkte. Jener Teil der „Antiglobalisierer“,<br />

die als „Lokalisierer“ bezeichnet werden, fordert eine „De-<br />

Globalisierung“, eine Abkoppelung der nationalen Volkswirtschaft<br />

vom Weltmarkt durch Importsubstitution, eine Abkehr<br />

vom Wachstumsdogma, Subsidiarität <strong>und</strong> Demokratisierung<br />

von Politik <strong>und</strong> Wirtschaft sowie sozio-kulturell angepasste<br />

<strong>und</strong> ökologisch nachhaltige Produktion in kleinräumigen Wirtschaftskreisläufen<br />

für lokale Märkte. Die „nationalistischen<br />

Protektionisten“ fordern eine Durchsetzung nationaler Eigeninteressen,<br />

die Protektion nationalerwirtschaften <strong>und</strong> sind gegen<br />

einen Souveränitätsverzicht zugunsten suprastaatlicher<br />

Institutionen.<br />

Die Kritik an den Globalisierungskritikern bemängelt<br />

die einseitige Argumentation der F<strong>und</strong>amentalisten, welche<br />

die Globalisierung nicht als ambivalenten Prozess, sondern<br />

ausschließlich negativ betrachten <strong>und</strong> die positiven Folgen<br />

der Globalisierung ausblenden. Die Globalisierungsgegner hätten<br />

eine ahistorische Betrachtungsweise, denn Armut <strong>und</strong> Ungleichheit<br />

existieren nicht erst seit der Entstehung des Kapitalismus<br />

oder dem Beginn der Globalisierung; es sei zu einfach,<br />

die Globalisierung <strong>und</strong> deren Akteure als Hauptverantwortliche<br />

für das Elend in der Welt zu betrachten. Vielen Globalisierungsgegnern<br />

mangle es an ökonomischem Sachverstand <strong>und</strong> auf<br />

empirische Belege für die gewagten Thesen werde verzichtet.<br />

Die Globalisierung würde als Nullsummenspiel betrachtet, in<br />

dem es nur eine bestimmte Menge an Wohlstand gebe, sodass<br />

des einen Reichtum des anderen Armut sei. Win-win-Situatio-<br />

nen, von denen sowohl Industrieländer als auch Entwicklungsländer<br />

profitieren, würden unterschätzt. Nicht ökonomische<br />

Faktoren, die zu Armut führen, wie zum Beispiel korrupte<br />

<strong>und</strong> unfähige Eliten, Bürgerkriege oder ineffiziente öffentliche<br />

Verwaltung würden unterschätzt oder negiert.<br />

Als Kritiker der Globalisierungskritiker haben sich unter anderem<br />

K. Ohmae (1985, 1994, 1999) <strong>und</strong> M. Wolf (2005) profiliert,<br />

die beide eine neoliberale Position einnehmen (Kapitel<br />

1). Ohmae vertritt die These des komparativen Kostenvorteils,<br />

von dem alle in den internationalen beziehungsweise interregionalen<br />

Handel integrierten Staaten <strong>und</strong> Regionen profitieren<br />

würden. In seinem Konzept werden „Regional States“,<br />

also sub- <strong>und</strong> transnationale Wirtschaftszonen, die Nationalstaaten<br />

in ihrer ökonomischen Regelungsfunktion ablösen.<br />

Dies habe zur Folge, dass die Nord-Süd-Teilung der Welt<br />

von einer komplexen Struktur der ökonomischen Macht abgelöst<br />

werde. Die Kritik an dieser These bezieht sich vor allem<br />

darauf, dass die Internationalisierung <strong>und</strong> die Mobilität des Kapitals<br />

nicht berücksichtigt werden <strong>und</strong> verschiedene Annahmen<br />

<strong>und</strong> Voraussetzungen der Theorie wie weltweit freier Handel,<br />

unbeschränkte Nachfrage oder Homogenität des Faktors<br />

Arbeit nicht gewährleistet seien. M. Wolf kritisiert einige Fehlschlüsse<br />

der Globalisierungsgegner, beschreibt die Vorzüge<br />

eines freien Markts <strong>und</strong> weist darauf hin, dass der Markt immer<br />

noch die mächtigste Institution zur Erhöhung des Lebensstandards<br />

sei, die Je erf<strong>und</strong>en wurde. Er betont aber auch, dass<br />

die Bürger den Schutz des Staates <strong>und</strong> den Schutz vor dem<br />

Staat benötigen <strong>und</strong> dass Markt <strong>und</strong> Staat aufeinander angewiesen<br />

seien. Der Markt würde den Staat genau so benötigen,<br />

wie der Staat den Markt. Wer die freie Marktwirtschaft verteidige,<br />

würde nicht automatisch die Politik der Weltbank, der<br />

WTO oder des Währungsfonds gutheißen.<br />

P. Meusburger<br />

Jedes dieser Technologiesysteme hatte geographische<br />

Auswirkungen, veränderte die räumlichen Muster<br />

<strong>und</strong> Disparitäten wirtschaftlicher Entwicklung <strong>und</strong><br />

\erschob die Beziehungen zwischen einzelnen Regionen<br />

(Ahhildung2.13). Seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

weitete sich die Industrialisierung auf neue Regionen<br />

aus, deren wirtschaftliches Wohlergehen von da an<br />

durch komplexe Beziehungsgeflechte in Produktion<br />

<strong>und</strong> Handel mit dem Schicksal anderer Regionen verb<strong>und</strong>en<br />

war.


78 2 Globaler Wandel<br />

JEN<br />

1800<br />

Kernregion<br />

Semiperipherie<br />

Peripherie<br />

externe Arena<br />

3^4<br />

A<br />

süb-<br />

IMERIKA<br />

NORD-<br />

AMERil<br />

JEN<br />

2.11 Kernregionen,<br />

Semiperipherien <strong>und</strong><br />

Peripherien des Weltsystems<br />

1800, 1900 <strong>und</strong><br />

2000 Die in der Abbildung<br />

verwendete Dymaxionprojektion<br />

(Anhang) hebt die<br />

relative Nähe der Kernre­<br />

1900<br />

gionen zueinander hervor<br />

I<br />

Kernregion<br />

Semiperipherie<br />

I Peripherie<br />

<strong>und</strong> verdeutlicht gleichzeitig<br />

die geographische<br />

Isolation der ökonomisch<br />

peripheren Regionen.<br />

nS S S j externe Arena<br />

Während Europa <strong>und</strong><br />

Afrika in gewohnter Anordnung<br />

erscheinen (mit<br />

der Nordrichtung zum<br />

A<br />

oberen Seitenrand), sind<br />

der amerikanische Doppelkontinent,<br />

Asien <strong>und</strong><br />

NORD-<br />

AMEI<br />

JEN<br />

Australien gegenüber konventionellen,<br />

nach Norden<br />

orientierten Darstellungen<br />

ASIEN<br />

um 90 Grad gedreht.<br />

(Quelle: Map projection,<br />

Buckminster Fuiier Institute<br />

<strong>und</strong> Dymaxion Map Design,<br />

Santa Barbara, CA. Das<br />

2000<br />

Kernregion<br />

Wort Dymaxion <strong>und</strong> das<br />

Fuller Projection Dymaxion<br />

Map Design sind<br />

I<br />

S e m ip e rip h e rie<br />

I Peripherie<br />

AFRIKA<br />

eingetragene Warenzeichen<br />

des Buckminster FuF<br />

ier institute, Santa Barbara,<br />

CA, © 1938, 1967, 1992.<br />

Alle Rechte Vorbehalten)


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 79<br />

D am pfin aschine<br />

B aum w olle<br />

Eisenbahn<br />

Stahl<br />

E le k triz itä t<br />

Chem ie<br />

E rdöl<br />

A u to m o b il<br />

In fo rm a tio n s- u. K om ­<br />

m unikationstechniken<br />

I l.K O N D R A T IE F F | 2. KO N D R A TIE FF \ 3. KO N D R A T IE FF \ 4. KO N D R A TIE FF I 5. K O N D R A T IE FF<br />

I I I I ' I<br />

1800 1850 1900 1950 2000<br />

Legende:<br />

P: Prosperität R: Rezession D : Depression E: E rholung<br />

2.12 Kondratieff-Zyklen Schon in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ist es Ökonomen aufgefallen, dass die Entwicklung<br />

der Wirtschaft in Wellen verläuft, die im Durchschnitt 50 bis 70 Jahre dauern (lange Wellen oder Kondratieff-Zyklen). Jeder<br />

dieser Zyklen wurde durch eine Basisinnovation (Erfindung, neue Technologie) ausgelöst, die zu einer wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung<br />

beziehungsweise einer Periode der Prosperität geführt hat. Diese Phase der Prosperität wurde, sobald die Nachfrage<br />

gesättigt war, durch eine Phase der Rezession <strong>und</strong> anschließend durch eine Depression abgelöst. Phasen der Rezession <strong>und</strong><br />

Depression haben häufig zu kreativer Destruktion geführt, also alte, nicht mehr wettbewerbsfähige Strukturen beseitigt <strong>und</strong> die<br />

Unternehmen gezwungen, durch Forschung <strong>und</strong> Entwicklung <strong>und</strong> mit neuen Ideen zu neuen Basisinnovationen zu kommen. Die erste<br />

Basisinnovation bestand in der Erfindung der Dampfmaschine <strong>und</strong> von Maschinen zur Textilverarbeitung, der zweite Kondratieff-<br />

Zyklus wurde durch die Eisenbahn <strong>und</strong> neue Verfahren der Stahlproduktion ausgelöst, der dritte Zyklus verdankte seine Entstehung<br />

der Elektroindustrie <strong>und</strong> der chemischen Industrie, der vierte wurde durch das Automobil <strong>und</strong> das Erdöl verursacht, der fünfte<br />

durch neue Technologien zur Speicherung <strong>und</strong> Übertragung von Informationen (Computer, PC, Telekommunikation) <strong>und</strong> der nächste<br />

könnte durch die Biotechnologie eingeleitet werden. Die Theorie der langen Wellen ist als Modell zu verstehen, das sich vorwiegend<br />

auf die hoch entwickelten Industrieländer bezieht. Der Beginn <strong>und</strong> die Dauer der Wellen können von Land zu Land variieren.<br />

(Quelle: modifiziert nach Nefiodow L.A. 1990, S. 27.)<br />

Die Industrielle Revolution begann in England gegen<br />

Ende des 18. lahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> führte nicht nur<br />

zu einem gr<strong>und</strong>legenden Wandel der Geographie der<br />

ursprünglichen Kernregionen Europas, sondern auch<br />

zu einer Ausweitung des Zentrums des Weltsystems<br />

auf die Vereinigten Staaten <strong>und</strong> später auf lapan.<br />

I<br />

Europa: Drei Phasen der Industrialisierung<br />

ln Europa verlief die Industrialisierung in drei unterschiedlichen<br />

Phasen. Die erste Phase, die ungefähr<br />

von 1790 bis 1850 dauerte, war durch die beginnende<br />

Konzentration industrieller Technologien (Dampfmaschinen,<br />

Textilfabriken, Eisenverarbeitung) an<br />

einigen wenigen Orten gekennzeichnet (Abbildung<br />

2.14). Wenn man von der Textilindustrie absieht,<br />

die auch in der Schweiz, in Vorarlberg <strong>und</strong> anderen<br />

Regionen des europäischen Kontinents schon im 18.<br />

lahrh<strong>und</strong>ert Fuß fasste, beschränkte sich die frühe Industrialisierung<br />

auf Regionen in Großbritannien, in<br />

denen Unternehmer <strong>und</strong> Arbeiterschaft erstmals<br />

gr<strong>und</strong>legende Innovationen sowie die Verfügbarkeit<br />

der Schlüsselressourcen Kohle, Eisenerz <strong>und</strong> Wasser<br />

nutzten. Wenngleich der Aufschwung in all diesen<br />

Regionen durch dieselben Schlüsselinnovationen ausgelöst<br />

worden war, hielt dennoch jede Region an ihren<br />

technologischen Traditionen <strong>und</strong> ihrer industriellen<br />

Ausrichtung fest. Die Industrialisierung war<br />

folglich von Beginn an ein Prozess, der sich vorwiegend<br />

auf regionaler Maßstabsebene vollzog.<br />

Zwischen 1850 <strong>und</strong> 1870 erfasste die zweite Welle<br />

der Industrialisierung nahezu das gesamte übrige<br />

Großbritannien sowie große Teile Nordwest- <strong>und</strong><br />

Zentraleuropas, insbesondere die Kohlenreviere<br />

Nordfrankreichs, Belgiens <strong>und</strong> Deutschlands (Abbildung<br />

2.15).<br />

In dieser Phase waren die früh industrialisierten<br />

Regionen neuerlichen Wandlungsprozessen unterworfen.<br />

Auslöser dieser Veränderungen waren abermals<br />

technische Entwicklungen (Stahl, Werkzeugmaschinen,<br />

Eisenbahnen, Dampfschiffe), die neue<br />

Möglichkeiten eröffneten, andere Standorteigenschaften<br />

erforderten sowie veränderte Wirtschaftsstrukturen<br />

<strong>und</strong> neue gesellschaftliche Organisationsformen<br />

mit sich brachten. Eisenbahnen <strong>und</strong> Dampfschiffe<br />

erlaubten eine Erschließung bisher unzugänglicher<br />

Gebiete <strong>und</strong> abgelegener Orte, deren Ressourcen<br />

<strong>und</strong> Märkte nun ebenfalls in den Industrialisierungsprozess<br />

integriert wurden. Neue Materialien<br />

<strong>und</strong> neue Technologien wie Stahl <strong>und</strong> Werkzeugmaschinen<br />

ermöglichten die Herstellung <strong>und</strong> Vermark-


80 2 Globaler Wandel<br />

Edm<strong>und</strong><br />

Cartwright<br />

erfindet den<br />

mechanischen Webstuhl<br />

Ere ig n isse;<br />

Das niederländische<br />

Dampfschiff Curacao<br />

Zwischen Dover<br />

schiff den Atlantik untermeerische<br />

Die Niederlage<br />

Telegrafenverbindung<br />

der französischen<br />

Bei Trafalgar siegt Armee in Leipzig <strong>und</strong><br />

Weitreichende<br />

Lord Nelson über Waterloo führt in<br />

Revolutionsbewegungen<br />

die Flotte Napoleon Europa zu weitreichen-<br />

<strong>und</strong> Abschaffung der __<br />

Bonapartes —| den politischen<br />

Veränderungen<br />

Leibeigenschaft in einigen<br />

europäischen Ländern<br />

1<br />

1790 1800 1810 1820 1830 1840<br />

Französische pgg Ende des __<br />

Revolution Sklavenhandels im<br />

Britischen Empire<br />

<strong>und</strong> in den<br />

Vereinigten Staaten<br />

Stanford<br />

Raffles<br />

gründet<br />

Singapur<br />

Isaac Singer<br />

I führt die erste<br />

Morse ehtwickelt das Nähmaschine _<br />

Morsealphabet <strong>und</strong> ver- für den<br />

einfacht damit den Hausgebrauch<br />

Funkverkehr<br />

Danwin veröffentiicht<br />

The Origin o f Species]<br />

Erster Spatenstich Erstes<br />

für den Suezkanal dauerhaft installiertes<br />

transatlantisches<br />

Telefonkabel<br />

^<br />

Thomas Edison<br />

Die Great<br />

Eastern<br />

läuft vom<br />

Stapel<br />

Der britische Ingenieur Henry Bessemer<br />

entwickelt die nach ihm benannte___<br />

„Birne", welche Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die Entwicklung der Stahlinrfiistrie ist<br />

verbessert den<br />

Der Meiji-Revolution in Duplex-<br />

Japan folgt eine rasche telegrafen<br />

Industrialisierung<br />

I<br />

Der H om estead A ct<br />

I<br />

stellt den amerikanischen Die Berliner Konferenz regelt<br />

Siedlern öffentliches die Rechte europäischer<br />

Land zur Verfügung Mächte in Afrika; Der britische<br />

Ingenieur Charles Parsons<br />

Der amerikanische entwickelt die mehrstufige<br />

Ingenieur Dampfturbine, die den Seeverkehr<br />

■— Elisha G. Otis<br />

revolutioniert<br />

lässt in New York den<br />

ersten Fahrstuhl bauen<br />

geopolitische<br />

Epochen<br />

Napoleonische Kriege<br />

in Europa<br />

britische Hegemonie<br />

europäischer<br />

Wasserkraft,<br />

Dampfmaschinen,<br />

mechanischer Webstuhl,<br />

Technologiesysteme<br />

Stahlwerke,<br />

Baumwolltextilien,<br />

Kanäle, Schnellstraßen;<br />

Fabriksysteme des Engländers<br />

Sir Richard Arkwright, dem Wegbereiter<br />

der modernen Textilindustrie<br />

mit Kohie betriebene<br />

Dampfmaschinen,<br />

Stahl, Eisenbahnen,<br />

weltweiter Schiffsverkehr,<br />

Werkzeugmaschinen<br />

Schnellstraßen<br />

Die Eisenbahn erlaubt<br />

die Erschließung des Landesinneren<br />

infrastrukturelle<br />

Entwicklungen<br />

Kanäle verbinden<br />

die Produktionszentren<br />

Telegrafen <strong>und</strong> Kabelnetze<br />

verbinden ferne Standorte<br />

weitweite Schifffahrtsrouten,<br />

Tiefseehäfen<br />

2.13 Technischer Wandel <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung Schon die Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts beginnende Industrielle<br />

Revolution basierte unter anderem auf einem System neuer technologischer Entwicklungen wie der Dampfmaschine, Textilmaschinen,<br />

Stahlwerken, Eisenbahnen <strong>und</strong> der Intensivierung des Güterverkehrs auf Flüssen <strong>und</strong> Kanälen. Seitdem hat es eine Reihe weiterer<br />

tung neuer Produkte. Im Zuge dieser Entwicklungen<br />

wandelten sich vor allem die Standortansprüche von<br />

Industriebetrieben ganz erheblich.<br />

Die wachsende Bedeutung des Eisenbahnnetzes<br />

hatte beispielsweise zur Folge, dass Industriestandorte<br />

in kleineren, an Kanälen gelegenen Städten an Bedeutung<br />

verloren <strong>und</strong> sich Industriebetriebe bevorzugt<br />

im Umfeld größerer Städte mit guter Eisenbahnanbindung<br />

ansiedelten. Die Bedeutung der Dampfschifffahrt<br />

für den küstennahen Frachtverkehr <strong>und</strong><br />

den internationalen Handel wirkte sich dahingehend<br />

aus, dass Industriebetriebe die Nähe größerer Häfen<br />

suchten. Gleichzeitig zog die Bedeutung des Stahls<br />

eine Konzentration der Schwerindustrie an Standorten<br />

nach sich, an denen Kohle, Eisenerz <strong>und</strong> Kalkstein<br />

in nahem Umkreis verfügbar waren. Die Bedeutung<br />

des industriellen Sektors nahm in dem Umfang zu,<br />

wie technologische Innovationen <strong>und</strong> verbesserte<br />

Transportmittel Unternehmen den Zugang zu größeren<br />

Märkten eröffneten. Der erhöhte Finanzbedarf<br />

erforderte neue Formen der Kapitalbeschaffung<br />

(zum Beispiel Aktiengesellschaften), sodass sich lokal<br />

verankerte Familienunternehmen zu kleineren, auf<br />

regionaler Ebene agierenden Kapitalgesellschaften<br />

entwickelten. Kleinere Kapitalgesellschaften wuchsen<br />

mit der Zeit zu mächtigen Großunternehmen heran,<br />

die nationale Märkte bedienten. In den größeren<br />

Städten entstanden im Umfeld solcher Firmen spezia-


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie; Ein neues Weltsystem entsteht 81<br />

Die USA erklären<br />

die Besiedlung des<br />

amerikanischen Westens<br />

ofTiziell als beendet<br />

Der Stapeliauf des<br />

englischen Schlachtschiffes<br />

HMS Dreadnaught<br />

läutet eine neue Ära<br />

der Seekriegsführung ein<br />

Der italienische Physiker<br />

Guglielmo Marconi<br />

perfektioniert die<br />

drahtlose Telegrafie<br />

Peary erreicht den Nordpol;<br />

Ford beginnt mit<br />

der Produktion<br />

des T-Modells<br />

£<br />

VT<br />

Einstein<br />

1900 1910<br />

veröffentlicht die<br />

Relativitätstheorie<br />

Schwarzer Freitag an<br />

der Wall Street<br />

Gründung der —<br />

Vereinten Nationen<br />

Eröffnung des Panama-<br />

Kanals, der den Atlantischen<br />

mit dem<br />

Pazifischen Ozean<br />

verbindet<br />

Gründung des internationalen<br />

Währungsfonds<br />

(International<br />

Monetary F<strong>und</strong>, IMF)<br />

in Bretton Woods,<br />

New Hampshire —i<br />

I— '.<br />

1920 1930 1940 1950<br />

Kommunistische Revolution<br />

in Russland<br />

Das Ende der Kolonialherrschaft:<br />

Kamerun, Zentralafrikanische Republik,<br />

Tschad, Kongo, Zypern, Dahomey,<br />

Ghana, Elfenbeinküste, Madagaskar,<br />

Mauretanien, Niger, Nigeria,<br />

Somalia, Togo <strong>und</strong><br />

Obervolta werden<br />

zu unabhängigen Staaten<br />

In China installiert<br />

Mao Tse-tung<br />

eine kommunistische<br />

Regierung;<br />

Gründung der NATO<br />

OPEC-<br />

Ölkrise —1<br />

Islamische<br />

Revolution<br />

im Iran<br />

Neil Armstrong geht<br />

auf dem Mond spazieren<br />

l-American Express führt die<br />

erste bargeldlose Zahlungsmöglichkeit<br />

per Plastikkarte ein<br />

Henry Ford führt die Enrico Fermi gelingt die erste Gründung der Euro-<br />

Automassenproduktion kontrollierte Kernspaltungskettenreaktion; päischen Wirtschaftsmithilfe<br />

von Fließbandanlagen eine wichtige Voraussetzung für die gemeinschaft:<br />

in seinen Fabriken ein Entwicklung der Atombombe 1945 Start des Spi/fniVt<br />

In der Sahelzone leiden<br />

150 Millionen Menschen<br />

unter einer Hungersnot<br />

J<br />

Der erste zivile<br />

Kommunikationssatellit<br />

Telstar wird Ins<br />

All geschossen<br />

Explosion des<br />

Kernreaktors<br />

in Tschernobyl<br />

Gründung der Welthandelsorganisation<br />

(World Trade Organisation, WTO)<br />

A b sc h lu ss d e s<br />

H u m angenom P ro jekts<br />

-Das Ende der Sowjetunion<br />

•Krieg zwischen<br />

Iran <strong>und</strong> Irak<br />

Imperialismus<br />

I.<br />

Weltkrieg!<br />

Welt-<br />

I krieg'<br />

I Kalter Krieg<br />

amerikanische Hegemonie i<br />

^ iiiiiiiniiiimiiiiiiniiii^<br />

Verbrennungsmotor,<br />

Öl <strong>und</strong> Kunststoffe,<br />

Elektrotechnik, Radio,<br />

Telekommunikation,<br />

Scientific Management<br />

(Taylorismus)<br />

Fernsehen, Computer,<br />

Luftfahrtindustrie,<br />

Elektronik,<br />

Petrochemie,<br />

Kernenergie,<br />

Jusf-in-T/me-Produktion<br />

Informationstechnologie,<br />

Mikroelektronik,<br />

Biotechnologie,<br />

Materialforschung,<br />

Robotik,<br />

Sonnenenergie,<br />

Jusf-/n-r/me-Marketing<br />

Die Straßenbahn führt in<br />

^ den Industriestaaten<br />

zur Bildung von Vororten<br />

^<br />

^<br />

Das Radio fördert die<br />

rasche Verbreitung<br />

von Ideen <strong>und</strong><br />

Informationen<br />

Automobile, Lastkraftwagen <strong>und</strong><br />

Straßenbau führen zur<br />

►Ausdehnung der Städte <strong>und</strong> zur<br />

wirtschaftlichen Erschließung<br />

der Binnenräume<br />

regionaler<br />

Luftverkehr<br />

_<br />

Fernsehen<br />

Autobahnen<br />

globales<br />

Luftverkehrsnetz,<br />

große Flughäfen<br />

globale<br />

„Datenautobahn” :<br />

Telematik, Internet<br />

globale Paketdienste<br />

internationales<br />

Satellitenfernsehen<br />

Technologiesysteme gegeben, die jeweils zu einem wirtschaftlichen Aufschwung führten, die Erschließung des Raums erleichterten<br />

<strong>und</strong> die globalen Muster wirtschaftlicher Entwicklung veränderten. Die mit den neuen Technologien verb<strong>und</strong>enen neuen<br />

Entwicklungsmöglichkeiten prägten langfristige Wirtschaftszyklen <strong>und</strong> Preisentwicklungen.<br />

lisierte Zulieferbetriebe sowie Dienstleistungsunternehmen<br />

für Rechtsangelegenheiten <strong>und</strong> Finanzen.<br />

Mit der Entstehung neuer Berufsgruppen wandelten<br />

sich auch die Gesellschaftsstrukturen, was wiederum<br />

Auswirkungen auf die politischen Verhältnisse, das<br />

Konsumverhalten <strong>und</strong> das landschaftliche Erscheinungsbild<br />

von Industrieregionen (zum Beispiel durch<br />

Arbeitersiedlungen) hatte.<br />

Die dritte Phase der Industrialisierung zwischen<br />

1870 <strong>und</strong> 1914 bewirkte weitere Veränderungen<br />

der Geographie Europas. Abermals war es ein ganzes<br />

Bündel technischer Innovationen (darunter Elektrizität,<br />

Elektrotechnik <strong>und</strong> Telekommunikation), das<br />

neue Erfordernisse, neue Möglichkeiten <strong>und</strong> eine<br />

neue Bewertung von Standorten mit sich brachte.<br />

Vor allem die Erfindung des Telegrafen <strong>und</strong> Telefons,<br />

welche die räumliche Trennung von Bürofunktionen<br />

<strong>und</strong> Produktionsstätten förderte, begünstigte die<br />

Konzentration von Entscheidungsbefugnissen <strong>und</strong><br />

Verwaltungstätigkeiten <strong>und</strong> die Dezentralisation<br />

von Produktionseinheiten an Standorte mit niedrigen<br />

Lohn- <strong>und</strong> Transportkosten. Der Einsatz des Telegrafen<br />

<strong>und</strong> des Telefons lösten eine Kontrollrevolution<br />

ersten Ranges aus, die vor allem für das Eisenbahnwesen<br />

von großer Bedeutung war. In dieser Periode<br />

drang die Industrialisierung erstmals auch in entlegene<br />

Regionen Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands<br />

<strong>und</strong> Österreich-Ungarns vor <strong>und</strong> breitete sich


82 2 Globaler Wandel<br />

Hauptindustrieregionen<br />

Ausbreitungsrichtung<br />

M<br />

A tla n tis c h e r<br />

Ozean<br />

M i<br />

Oer Kanal<br />

2.14 Die erste Industrialisierungswelle in Großbritannien<br />

Die Industrielle Revolution war zuerst ein regionales Phänomen,<br />

das an verschiedenen Orten gleichzeitig in Erscheinung trat.<br />

Industrien siedelten sich vor allem dort an, wo bergbauliche<br />

Rohstoffe <strong>und</strong> Kanalsysteme vorhanden waren.<br />

über weite Teile der Niederlande, des südlichen Skandinavien,<br />

Norditaliens <strong>und</strong> Kataloniens (Spanien)<br />

aus. Als Folge dieser Entwicklung formierte sich im<br />

Zuge der Industrialisierungs-, Modernisierungs<strong>und</strong><br />

Urbanisierungsprozesse innerhalb der Kernregion<br />

Europa zwischen den Städten London, Paris<br />

<strong>und</strong> Berlin eine prosperierende neue Kernregion:<br />

das sogenannte „Goldene Dreieck“.<br />

2.15 Die Ausbreitung der Industrialisierung in Europa<br />

Die Anfänge der Industrialisierung in Europa, <strong>und</strong> hier insbesondere<br />

die der Schwerindustrie, waren durch die Entstehung<br />

räumlich begrenzter Industrieregionen in verschiedenen Teilen<br />

Großbritanniens gekennzeichnet. Dabei setzte die Industrialisierung<br />

in den Gebieten ein, die über bergbauliche Rohstoffe,<br />

Wasserkraft <strong>und</strong> das entsprechende technologische Know-how<br />

verfügten. Im Zuge neuer Produktionsverfahren <strong>und</strong> Transporttechnologien<br />

erfasste die Industrialisierung weitere<br />

Regionen, in denen die entsprechenden Standortfaktoren -<br />

die Verfügbarkeit von Rohstoffen <strong>und</strong> Energieträgern, günstige<br />

Verkehrsverbindungen, ein großes Arbeitskräftepotenzial -<br />

gegeben waren. Die Isolinien täuschen allerdings eine Diffusion<br />

vor, die in Wirklichkeit wesentlich komplexer war. So hat<br />

zum Beispiel die Textilindustrie der Schweiz <strong>und</strong> Vorarlbergs<br />

schon Ende des 18. <strong>und</strong> Anfang des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ein<br />

hohes Niveau erreicht.<br />

I<br />

Der Manufacturing Belt in den Vereinigten<br />

Staaten_____________________________<br />

Bis zum Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte sich die<br />

Kernregion des Weltsystems auf die Vereinigten Staaten<br />

<strong>und</strong> Japan ausgeweitet. Die Vereinigten Staaten,<br />

die unmittelbar vor der Industriellen Revolution politisch<br />

unabhängig geworden waren, waren aufgr<strong>und</strong><br />

verschiedener günstiger Umstände in der Lage, den<br />

Übergang von einer peripheren zu einer Kernregion<br />

zu vollziehen. Ein riesiges Flächenangebot <strong>und</strong> reiche<br />

Bodenschätze boten die Voraussetzungen für diversifizierte<br />

Industrien, die sich ohne entwicklungshemmende<br />

<strong>und</strong> fragmentierende politische Grenzen frei<br />

entfalten konnten. Die infolge der Zuwanderung<br />

rasch anwachsende Bevölkerung stellte einen großen<br />

<strong>und</strong> ständig expandierenden Markt sowie ein Reservoir<br />

billiger Arbeitskräfte dar. Darüber hinaus waren<br />

die bestehenden Handelsbeziehungen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Verbindungen mit Europa eine gute Ausgangsbasis<br />

für geschäftliche Kontakte, den Austausch von<br />

technologischem Know-how <strong>und</strong> den Zugang zu ausländischem,<br />

insbesondere britischem Kapital, das in


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 83<br />

Kontrollkrisen <strong>und</strong> Kontrollrevolution<br />

Kontrollkrisen entstehen dann, wenn mit den vorhandenen<br />

technischen Mitteln der Informationsverarbeitung, der Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> des Transportwesens der für die Steuerung<br />

eines großen, räumlich verteilten sozialen Systems notwendige<br />

Koordinations- <strong>und</strong> Kontrollaufwand nicht mehr geleistet<br />

werden kann. Kontrollkrisen begrenzen das Wachstum,<br />

die Differenzierung <strong>und</strong> die räumliche Expansion von sozialen<br />

Systemen. Eine Kontrollkrise wird in der Regel durch neue Erfindungen<br />

des Transportwesens <strong>und</strong> der Telekommunikation<br />

(Postkutsche, Eisenbahn, Telegraf, Telefon, Flugzeug, Computer,<br />

Internet <strong>und</strong> so weiter) aufgehoben, die zu einer neuen<br />

Kontrollrevolution führen können.<br />

Kontrollrevolutionen haben jeweils größere, komplexere<br />

<strong>und</strong> räumlich ausgedehntere Organisationen ermöglicht, die<br />

Geschwindigkeiten der Waren-, Geld- <strong>und</strong> Informationsströme<br />

erhöht <strong>und</strong> zu einer (räumlichen) Neuverteilung der Kontrollinstanzen<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsbefugnisse innerhalb der Organisationen<br />

sowie zu einer Neubewertung von Standorten <strong>und</strong> Regionen<br />

geführt. Die Vergrößerung der Distanzen des Einflusses,<br />

die Erhöhung der Geschwindigkeit des Warenverkehrs<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Steigerung der Informationsflut haben<br />

die Komplexität, Unübersichtlichkeit <strong>und</strong> Unsicherheit so<br />

lange vergrößert, bis wieder eine neue Kontrollkrise eingetreten<br />

ist. Ein besonders anschauliches Beispiel für die zeitliche<br />

Abfolge von Kontrollkrisen <strong>und</strong> Kontrollrevolutionen stellt das<br />

Eisenbahnwesen dar, das um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu den größten bürokratischen Systemen gehörte <strong>und</strong> auch<br />

als erstes das Prinzip der Linien- <strong>und</strong> Stabsfunktionen einführte.<br />

Quelle: P. Meusburger In; Lexikon der Geographie<br />

den Aufbau von Infrastruktureinrichtungen wie Kanäle,<br />

Eisenbahnen, Hafenanlagen, Lagerhallen <strong>und</strong><br />

Fabriken investiert werden konnte.<br />

Die Industrialisierung setzte wie in Europa an Bevölkerungsschwerpunkten<br />

<strong>und</strong> bereits existierenden<br />

wirtschaftlichen Zentren an <strong>und</strong> wurde durch aufeinanderfolgende<br />

technologische Innovationen sowie<br />

den damit einhergehenden Rohstoffbedarf <strong>und</strong> die jeweiligen<br />

Vermarktungsmöglichkeiten gesteuert. Die<br />

Stärke der US-amerikanischen Industrie entwickelte<br />

sich zu Beginn des 20. lahrh<strong>und</strong>erts im Zusammenhang<br />

mit dem Verbrennungsmotor, der Elektrotechnik,<br />

der petrochemischen <strong>und</strong> der Kunststoffindustrie<br />

sowie der Radio- <strong>und</strong> Telekommunikationstechnik<br />

(Kapitel 7). Dabei bildete sich mit der Zeit ein<br />

Industriegürtel, der Manufacturing Belt, heraus, der<br />

sich um 1920 von Boston <strong>und</strong> Baltimore im Osten<br />

bis nach Milwaukee <strong>und</strong> St. Louis im Westen erstreckte<br />

(Abbildung 2.16). Der Manufacturing Belt<br />

in den Vereinigten Staaten ist ein Beispiel für eine<br />

Kernregion innerhalb einer Kernregion.<br />

, Japans erstes Wirtschaftsw<strong>und</strong>er<br />

Japan, heute eine Kernregion des Weltsystems, war<br />

über einen langen Zeitraum hinweg ein feudalistisch<br />

geprägtes Reich, das sich während der Tokugawa-Zeit<br />

sogar hermetisch gegen die Außenwelt abgeschlossen<br />

hatte <strong>und</strong> erst 1854 durch den amerikanischen Admiral<br />

Perry zwangsweise für den Welthandel geöffnet<br />

wurde. Im lahr 1868 wurde das feudalistische Tokugawa-Regime<br />

im Rahmen der sogenannten Meiji-Revolution<br />

gestürzt. Die Meiji-Revolutionäre setzten auf<br />

eine möglichst rasche Modernisierung des Landes,<br />

ungeachtet der Kosten, die damit vor allem für die<br />

Landwirtschaft verb<strong>und</strong>en waren. Unter dem Motto<br />

„Nationaler Wohlstand <strong>und</strong> militärische Kraft“ unternahm<br />

die Regierung mithilfe sorgfältig ausgewählter<br />

ausländischer Berater große Anstrengungen, um<br />

das Land rasch zu industrialisieren <strong>und</strong> eine moderne<br />

Infrastruktur zu schaffen. Der relativ schnelle Erfolg<br />

lapans beruhte nicht zuletzt auf der Tatsache, dass es,<br />

im Gegensatz zu manchen anderen Ländern, mit<br />

einer lese- <strong>und</strong> schreibk<strong>und</strong>igen Bevölkerung <strong>und</strong><br />

einer dem Gesamtstaat verpflichteten Elite in den Industrialisierungprozess<br />

eintrat. Die notwendigen Devisen<br />

wurden anfangs vor allem durch den Export<br />

von Tee <strong>und</strong> Seide verdient.<br />

lapans Industrie hatte sich - ausgehend vom<br />

Schiffsbau <strong>und</strong> der Textilverarbeitung —gerade zu<br />

etablieren begonnen, als sich durch den Ersten Weltkrieg<br />

die Gelegenheit zur Steigerung der Produktionskapazitäten<br />

bot. Während die Vereinigten Staaten<br />

<strong>und</strong> Europa stark auf die Produktion von Rüstungsgütern<br />

fixiert waren, gelang es der japanischen Textilindustrie,<br />

in Asien <strong>und</strong> Lateinamerika Fuß zu fassen.<br />

Von dem Verlust von Handelsschiffen durch Kampfhandlungen<br />

aufseiten der Kriegsgegner profitierte die<br />

Schiffsindustrie lapans, das seine Handelsflotte kräftig<br />

aufstockte. Ein Großteil der Gewinne aus diesen<br />

wirtschaftlichen Aktivitäten floss in den Aufbau der<br />

japanischen Kriegsmarine, die bis zum fahr 1918<br />

ein Dutzend Schlachtschiffe <strong>und</strong> -kreuzer in Dienst<br />

gestellt hatte; weitere 16 Schiffe befanden sich zu dieser<br />

Zeit im Bau. Die USA besaßen zum selben Zeitpunkt<br />

nur 14 Kriegsschiffe sowie drei weitere im Bau<br />

befindliche Schiffe. Innerhalb der 50 lahre dauernden


2 84 2 Globaler Wandel<br />

Li<br />

2.16 Der Manufacturing Belt der Vereinigten Staaten<br />

Die Städte dieser Region - bereits vor 1880 blühende<br />

Industriezentren, die durch das frühe Eisenbahnnetz über gute<br />

Anbindungen verfügten - waren hinsichtlich ihrer Lage dazu<br />

prädestiniert, Vorteile aus einer Reihe entscheidender Entwicklungen<br />

zu ziehen, die sich zwischen 1880 <strong>und</strong> 1920<br />

vollzogen: das sprunghafte Ansteigen der Nachfrage nach<br />

Konsumgütern, die zunehmende Effizienz der Telegrafensysteme<br />

<strong>und</strong> Postdienste, technologische Fortschritte auf dem<br />

Gebiet der industriellen Fertigung <strong>und</strong> die fortschreitende<br />

Erschließung des nationalen Markts durch die Ausweitung des<br />

Eisenbahnnetzes. Einzelne Städte begannen sich auf bestimmte<br />

Produkte <strong>und</strong> die Belieferung des nationalen Markts<br />

zu spezialisieren. So konzentrierten sich in Minneapolis<br />

Getreidemühlen, in Milwaukee <strong>und</strong> St. Louis Brauereien, in<br />

Cincinnati der Wagenbau <strong>und</strong> die Fierstellung von Möbeln,<br />

in Springfield, Illinois, die Fertigung von Landmaschinen. Diese<br />

Spezialisierungen ließen wiederum die Warenströme zwischen<br />

den Städten des Manufacturing Beit anwachsen, welche<br />

ihrerseits den inneren Zusammenhalt der Region stärkten.<br />

Meiji-Ära entwickelte sich Japan von einer peripheren<br />

Region zu einer der Kernregionen des Weltsystems.<br />

Kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs<br />

hatte Japan in mehreren technologischen Bereichen<br />

bereits eine Führungsposition erreicht.<br />

ten die Erschließung der agrarischen Binnenräume<br />

ein <strong>und</strong> führten zu einer Intensivierung regionaler<br />

Handelsverflechtungen. Damit einher ging die Mechanisierung<br />

der Landwirtschaft, die der Industrie<br />

wiederum neue billige Arbeitskräfte zur Verfügung<br />

stellte sowie neue Ressourcen <strong>und</strong> Märkte eröffnete.<br />

Die erste Phase der inneren Expansion <strong>und</strong> regionalen<br />

Integration basierte auf einer Jahrh<strong>und</strong>erte alten<br />

Technologie: dem Kanal (Abbildung 2.17). Groß<strong>und</strong><br />

Einzelhandel sowie die in Großbritannien beginnende<br />

Industrielle Revolution waren an ausgedehnte<br />

Systeme künstlicher Schifffahrtswege geknüpft, die<br />

Verbindungen zwischen einzelnen Flusssystemen<br />

schufen. Um 1790 betrug die Gesamtlänge aller Ka-


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 85<br />

näle <strong>und</strong> kanalisierten Flüsse in Frankreich etwas<br />

mehr als 1 000 Kilometer, in Großbritannien waren<br />

es knapp 3 600 Kilometer. Die Industrielle Revolution<br />

schuf einen Bedarf an Wasserwegen <strong>und</strong> sorgte für<br />

das notwendige Kapital zum Bau zahlloser weiterer<br />

Kanäle. Diese verbanden die sich herausbildenden Industrieregionen<br />

miteinander <strong>und</strong> ermöglichten so deren<br />

weiteres Wachstum.<br />

In Großbritannien wurden in den Jahren zwischen<br />

1790 <strong>und</strong> 1810 Kanäle mit einer Gesamtlänge von<br />

über 2 000 Kilometern angelegt. In Frankreich, wo<br />

die Industrialisierung zeitlich verzögert einsetzte,<br />

wurden von 1830 bis 1850 Kanäle im Umfang von<br />

weiteren 1 600 Kilometern gebaut. Die Eröffnung<br />

des Eriekanals im Jahr 1825 war für die USA ein Ereignis<br />

von historischer Bedeutung. Die Hafenstadt<br />

New York, Einfallstor der Kolonialepoche, orientierte<br />

sich von nun an zum Landesinneren des anwachsenden<br />

Staatengebildes. Der Eriekanal erwies sich als so<br />

profitabel, dass ein regelrechtes „Kanalfieber“ ausbrach<br />

<strong>und</strong> in den folgenden 25 Jahren schiffbare Wasserwege<br />

mit einer Gesamtlänge von mehr als 2 000<br />

Kilometern entstanden. Die Kanäle bildeten ein wichtiges<br />

Verbindungssystem innerhalb des sich entwickelnden<br />

Manufacturing Belt.<br />

Auf einem Gebiet von der Größe der Vereinigten<br />

Staaten waren Kanalnetzwerke freilich nur in wenigen<br />

dicht besiedelten Regionen realisierbar. Eine effiziente<br />

Binnenkolonisation wurde erst mit dem Aufkommen<br />

dampfbetriebener Transportmittel möglich<br />

- den Anfang machten Binnendampfer, später kam<br />

die Eisenbahn hinzu. Die Entwicklung der ersten<br />

Dampfschiffe zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts schuf<br />

die Voraussetzung für die Erschließung des riesigen<br />

Landesinneren der USA über den Mississippi <strong>und</strong><br />

seine Nebenflüsse (Abbildung 2.18). Bis 1830 waren<br />

die Dampfschiffe technisch <strong>und</strong> konstruktiv weiter<br />

verbessert worden. Die Blütezeit dampfgetriebener<br />

Binnenschiffe dauerte etwa von 1830 bis 1850. Während<br />

dieser Zeit wurden ausgedehnte Binnenräume<br />

der Vereinigten Staaten für die marktorientierte<br />

<strong>und</strong> industrialisierte Landwirtschaft erschlossen. Deren<br />

Hauptgewicht lag auf der Produktion von Baumwolle,<br />

die man zur industriellen Weiterverarbeitung<br />

nach Großbritannien exportierte. Gleichzeitig wuchsen<br />

Binnenhäfen wie New Orleans, St. Louis, Cincinnati<br />

<strong>und</strong> Louisville rasch an, wodurch sich Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> Modernisierung immer weiter ausbreileten.<br />

I<br />

Die Eisenbahn als Motor regionaler<br />

wirtschaftlicher Integration_______<br />

Bis 1860 war die Eisenbahn zum wichtigsten Motor<br />

der inneren Entwicklung geworden. Nicht nur die<br />

Grenzen der Besiedlung <strong>und</strong> der Industrialisierung<br />

wurden ausgedehnt, auch bereits entwickelte Regionen<br />

erhielten durch die Eisenbahn neue Impulse<br />

(Exkurs 2.6 „Geographie in Bildern - Eisenbahnen<br />

<strong>und</strong> geographischer Wandel in den Vereinigten<br />

Staaten“). Die Eisenbahn hatte ihren Ursprung in<br />

Großbritannien, wo im Jahr 1825 die erste kommerzielle<br />

Bahnstrecke zwischen den Städten Stockton<br />

<strong>und</strong> Darlington eröffnet wurde. Konstruiert hatte<br />

die 20 Kilometer lange Strecke der Brite George<br />

Stephenson. Dessen Sohn Robert entwickelte die erste<br />

Lokomotive für den Personenverkehr. Vier Jahre<br />

später nahm die berühmte Rocket auf der Liverpool-Manchester-Linie<br />

den Dienst auf. In Deutschland<br />

fuhr die erste Eisenbahn im Jahr 1835 auf der<br />

Strecke zwischen Nürnberg <strong>und</strong> Fürth. Der wirtschaftliche<br />

Erfolg dieser Eisenbahnlinien löste einen<br />

wahren Boom des Streckenausbaus aus, sodass die<br />

britische <strong>und</strong> die deutsche Industrie sich bald auf<br />

ein hoch effizientes Transportnetz stützen konnten.<br />

In anderen Kernregionen, die über ausreichend Kapital<br />

verfügten, um Lokomotiven in Lizenz nachzubauen<br />

<strong>und</strong> Streckennetze anlegen zu können, führte<br />

die Eisenbahn erstmals zu einer wirklichen ökonomischen<br />

<strong>und</strong> politischen Integration. Beim Bau der<br />

Semmeringbahn (1854), der ersten vollspurigen Gebirgsbahn<br />

der Welt, welche die für damalige Verhältnisse<br />

unglaubliche Höhendifferenz von 457 Meter<br />

überwand, <strong>und</strong> der Arlbergbahn (1884) wurden erstmals<br />

so viele technische Probleme gelöst, dass es für<br />

die Anlage von Eisenbahnstrecken bald kaum noch<br />

natürliche Hindernisse gab. (Abbildung 2.19)<br />

Die Eisenbahn integrierte Volkswirtschaften, beschleunigte<br />

den inneren Ausbau <strong>und</strong> führte zu einer<br />

lokalen <strong>und</strong> regionalen Neuordnung <strong>und</strong> Differenzierung.<br />

Ähnlich wie im weltweiten Maßstab brachte<br />

dieser Differenzierungsprozess auch bei den nationalen<br />

Volkswirtschaften Gewinner <strong>und</strong> Verlierer hervor.<br />

Während viele Regionen vom Bau der Eisenbahn<br />

enorm profitierten, erlitten andere Regionen zumindest<br />

vorübergehend einen großen Rückschlag, weil<br />

sie nun von qualitativ besseren oder billigeren Produkten<br />

überschwemmt wurden, sodass die lokale<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> das lokale Gewerbe ihre Produkte<br />

plötzlich nicht mehr absetzen konnten. Nach dem<br />

Bau der Eisenbahn wurde beispielsweise in einigen<br />

Gebieten der Alpen schlagartig der Anbau von Ge-


86 2 Globaler Wandel<br />

KVallendar<br />

- > '<br />

^Lahnstein<br />

, Sl. Goars-<br />

’ hausen<br />

*^9<br />

V<br />

Mainz<br />

Frankfurt<br />

a.M.<br />

■<br />

''^Olfen-<br />

\6roBkrolzen-<br />

/b u rg<br />

rAschaflenburg<br />

Vj L U X E M B U R G<br />

F<br />

R<br />

i^Merzig<br />

^ '^ ^ ^ ^ S a a rlo u is<br />

> ^L,^V5lklingen<br />

><br />

Rheindürkheim © ^ ^ ^ s h e i m<br />

i<br />

Worms<br />

Ludwigshafen<br />

Speyer<br />

Qerm ersheim<br />

V ./ - .^ .rs _ W ö rlh ^<br />

iR E I C H ^ Karlsruhe<br />

Obrigheim<br />

HaBmersheim<br />

Laulfen © £<br />

Stuttgart<br />

Eberbach<br />

A Mosbach<br />

17 Trietetv<br />

^ Kn sterr.<br />

> Neckarsulm<br />

*<br />

^ Heilbronn X<br />

Marbach<br />

Ochsen^<br />

^Esslingen / Altbacr<br />

k<br />

>Plochingen<br />

2.17 Künstliche Schifffahrtswege<br />

in Europa Das System schiffbarer Kanäle,<br />

das die Binnenräume Europas <strong>und</strong><br />

Nordamerikas im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert erschloss,<br />

basierte in der Frühphase auf<br />

dem Einsatz von Zugtieren. So wurden<br />

die Frachtkähne, die den heute wieder<br />

instand gesetzten Rochdale Canal in<br />

Nordengland befuhren, noch von Pferden<br />

gezogen. Später, als die Frachtschiffe<br />

über Dampfmaschinen oder<br />

Dieselaggregate verfügten, begann für<br />

die größeren Kanäle <strong>und</strong> schiffbaren<br />

Flüsse eine neue Epoche. Im Zusammenhang<br />

mit dem Transport von Massengütern<br />

spielt die Binnenschifffahrt<br />

auch heute noch eine wichtige Rolle.<br />

Das Foto (b) illustriert den Transport von<br />

Kohle aus dem Ruhrgebiet rheinaufwärts<br />

zu den Kraftwerken Süddeutschlands.<br />

Die Karte (a) aus dem Nationalatlas zeigt<br />

einen Ausschnitt der Binnenwasserstraßen<br />

Deutschlands. Es existiert zum<br />

einen ein ausgedehntes System nordsüdlich<br />

orientierter Wasserwege, zum<br />

anderen bestehen über eine Reihe von<br />

Kanälen Verbindungen in Ost-West-<br />

Richtung. Das Rhein-Mosel-Kanalsystem<br />

verbindet die Flüsse im westlichen Europa<br />

miteinander. Der Main-Donau-Ka-<br />

nal schafft eine Verbindung zwischen<br />

Rhein- <strong>und</strong> Donausystem <strong>und</strong> damit<br />

einen Zugang zu den kontinentalen<br />

Binnenräumen. (Quelle: Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Verkehr<br />

<strong>und</strong> Kommunikation, S. 37)<br />

(a)<br />

B<strong>und</strong>eswasserstraßenklassen<br />

■<br />

■ I— I—<br />

mmmmmmm<br />

«■■■"■<br />

K lasse 0<br />

Klasse I<br />

Klasse II<br />

K lasse III<br />

K lasse IV<br />

K lasse Va<br />

K lasse Vb<br />

K lasse Via<br />

M H Klasse VIb<br />

■ H i H K<br />

Klasse VIc<br />

slaugeregelte Strecke<br />

Kanalstrecke<br />

Institut für Länderk<strong>und</strong>e, Leipzig 2000<br />

t Breisach<br />

S C H W E<br />

treide-, Flachs- oder Wein aufgegeben. Auch der vorher<br />

wichtige Nebenerwerb des Hausierens kam zum<br />

Stillstand.<br />

In den Vereinigten Staaten bewirkte die Eisenbahn<br />

beispielsweise die Konsolidierung des Manufacturing<br />

Belt oder auch das enorme Wachstum der Stadt Chicago,<br />

einem wichtigen Eisenbahnknoten. Von dort<br />

dehnte sich der Einfluss des Industriegürtels weiter<br />

nach Westen <strong>und</strong> Süden aus. Mit der Neuordnung<br />

der nationalen Transportsysteme endete auch die<br />

große Bedeutung der Baumwollregionen des Südens<br />

als Außenposten des britischen Handelssystems.<br />

Stattdessen entwickelten sich diese Regionen zu Ergänzungsgebieten<br />

des US-amerikanischen Industriegürtels,<br />

die Neuengland <strong>und</strong> das an der mittleren Atlantikküste<br />

gelegene Piedmont belieferten. Für New<br />

Orleans, das in hohem Maße vom Baumwollexport<br />

profitiert hatte, bedeutete dies das abrupte Ende<br />

des stürmischen Wachstums.


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht<br />

2.18 Dampfschiffe auf dem<br />

Missisippi Die Erschließung des<br />

Landesinneren des nordamerikanischen<br />

Kontinents begann mit<br />

den Dampfschiffen, die Waren über<br />

den Mississippi <strong>und</strong> seine Nebenflüsse<br />

transportierten. Baumwolle<br />

<strong>und</strong> andere Plantagenerzeugnisse<br />

gelangten auf diesem Weg in die Industriestädte<br />

im Norden, im Gegenzug<br />

beförderten die Schiffe Getreide<br />

in den Süden; beide Produkte wurden<br />

zudem exportiert. Das Bild zeigt<br />

einen weiteren Aspekt des auf der<br />

Dampfschifffahrt gegründeten Handels:<br />

den Transport von Afroamerikanern<br />

aus dem Süden, die Arbeit in<br />

den Industriestädten im Nordosten<br />

Nordamerikas<br />

suchten.


88 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.6<br />

Geographie in Bildern - Eisenbahnen <strong>und</strong> geographischer<br />

W andel in den Vereinigten Staaten<br />

(b)<br />

(a)<br />

Erschließung durch Eisenbahnen (a) 1860 <strong>und</strong> (b) 1880 Die in den Karten dunkel schattierten Flächen entsprechen Gebieten, in<br />

denen kein Punkt weiter als 24 Kilometer von einer Eisenbahnlinie entfernt liegt. (Quelle: Hugill, P. World Trade Since 1431.<br />

Baltimore, Johns Hopkins University Press. 1993, S. 179)<br />

Der Bau von Eisenbahnstrecken war ausgesprochen<br />

arbeitsintensiv, das Verlegen der Gleise auf<br />

einer geebneten Unterlage konnte Jedoch mit einfachen<br />

landwirtschaftlichen Geräten bewerkstelligt<br />

werden. Die Mehrzahl der Arbeitskräfte waren<br />

Immigranten - europäische Einwanderer, die mit<br />

der Eisenbahn von der Ostküste, <strong>und</strong> chinesische<br />

Einwanderer, die in Zügen von der Westküste<br />

kamen.


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie; Ein neues Weltsystem entsteht 89<br />

Bild) <strong>und</strong> dem Lastkahn (rechts unten im Bild), kontrastieren.<br />

Selbst der Ozeandampfer ist mit Masten <strong>und</strong> Segeln dargestellt,<br />

um die Bedeutung dieses Transportmittels gegenüber<br />

der Lokomotive herabzusetzen.<br />

Zu Beginn des Personenverkehrs per Eisenbahn lagen die<br />

Durchschnittsgeschwindigkeiten der Züge bei gerade einmal<br />

20 bis 35 Kilometer pro St<strong>und</strong>e. Rasante technische Fortschritte<br />

im Lokbau machten jedoch Reisen mit der Eisenbahn<br />

binnen kürzester Zeit angenehmer, schneller <strong>und</strong> billiger, sodass<br />

auch große Distanzen, wie etwa im riesigen Landesinnern<br />

der Vereinigten Staaten, leicht überw<strong>und</strong>en werden konnten.<br />

Dort entstand in den Jahren von 1830 bis 1845 das weltweit<br />

größte Schienennetz mit einer Streckenlänge von 5 458 Kilometern<br />

- gegenüber 3 083 Kilometern in Großbritannien,<br />

2 956 Kilometern in Deutschland, 817 Kilometern in Frankreich<br />

<strong>und</strong> 508 Kilometern in Belgien.<br />

Das 50 Jahre später gedruckte Poster zeigt die Eisenbahnlokomotive<br />

bereits in Verbindung mit verschiedenen anderen<br />

neuen technischen Errungenschaften: dem Flugzeug, dem<br />

Automobil <strong>und</strong> dem Lkw sowie der elektrischen Straßenbeleuchtung.<br />

Die Illinois Central Railroad warb in den 60er-Jahren des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts mit einem Plakat, das die Vision ausdrückte, die<br />

Hauptstrecke von Chicago nach New Orleans werde die Besiedlung<br />

der amerikanischen Binnenräume maßgeblich beeinflussen.<br />

Man beachte die bewusste Nebeneinanderstellung<br />

der für damalige Verhältnisse hoch entwickelten Technologie<br />

der Lokomotive <strong>und</strong> der Telegrafenleitung, die mit traditionellen<br />

Beförderungsmitteln, der Postkutsche (rechts oben im<br />

Eisenbahnlinien veränderten die räumlichen Strukturen in<br />

US-amerikanischen Städten <strong>und</strong> verbanden Regionen im<br />

Landesinnern miteinander. Neue Hotels <strong>und</strong> Geschäfte konkurrierten<br />

um Flächen nahe der in den Geschäftszentren erbauten<br />

Bahnhöfe. Die von diesen ausgehenden Gleisanlagen<br />

durchschneiden randstädtische Industrieansiedlungen, trennen<br />

städtische Wohnviertel <strong>und</strong> bilden radial angeordnete<br />

Leitlinien der weiteren Stadtentwicklung.


2 Globaler Wandel<br />

2.19 Bau der Semmeringbahn Schwierige geologische<br />

Bedingungen <strong>und</strong> tiefe Täler erschwerten den Bau der Eisenbahntrasse,<br />

sodass der Bau von 15 Tunnels, 16 Viadukten <strong>und</strong><br />

100 gemauerten Bogenbrücken erforderlich wurde. Ein besonderes<br />

Problem bestand darin, eine Dampflokomotive zu<br />

konstruieren, welche die enorme Steigung über den Semmering<br />

überwinden konnte. Am Bau der Semmeringbahn waren bis zu<br />

20 000 Arbeiter beschäftigt. Angesichts der herausragenden<br />

technischen Leistungen wurde die Semmeringbahn 1998 zum<br />

Weltkulturerbe ernannt.<br />

Pendler <strong>und</strong> die Absatzgebiete der Industriebetriebe,<br />

während gleichzeitig weniger Rohstoffe <strong>und</strong> Waren<br />

am Lager gehalten werden mussten (Abbildung<br />

2.20). Die daraus resultierende Dezentralisierung<br />

der Industrie, die mit der Verfügbarkeit öffentlicher<br />

Busse <strong>und</strong> privater Pkw sowie mit umfangreichen<br />

Straßenbauprogrammen verb<strong>und</strong>en war, führte zu<br />

einem neuerlichen Wandel der Raumstrukturen.<br />

Als Folge dieser Veränderungen bildeten sich in<br />

den Kerngebieten des Weltsystems spezialisierte<br />

<strong>und</strong> in hohem Maße integrierte Regionen sowie urbane<br />

Systeme heraus. Die Integration bestand nicht<br />

allein in der räumlichen Verknüpfung durch leistungsfähige<br />

Straßennetze, sondern beinhaltete darüber<br />

hinaus ökonomische Verflechtungen zwischen<br />

Herstellern, Zulieferbetrieben, Groß- <strong>und</strong> Einzelhändlern.<br />

Dies führte dazu, dass sich Orte <strong>und</strong> Regionen<br />

spezialisieren <strong>und</strong> neue Wettbewerbsvorteile verschaffen<br />

konnten (Kapitel 7).<br />

Die Organisation peripherer<br />

, Regionen_________________<br />

\ u<br />

i ^<br />

Traktoren, Lkw, Straßenbau <strong>und</strong><br />

räumlicheNeuordnung<br />

Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert leitete der Verbrennungsmotor<br />

eine neue R<strong>und</strong>e nationaler <strong>und</strong> internationaler Arbeitsteilung,<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung, Integration<br />

<strong>und</strong> Intensivierung ein. Die Verwendung leichter,<br />

motorgetriebener Traktoren anstelle von Zug<strong>und</strong><br />

Arbeitstieren veränderte - beginnend um 1910<br />

- die Landwirtschaft gr<strong>und</strong>legend (Kapitel 9). Die<br />

Produktivität erhöhte sich um ein Vielfaches, bislang<br />

ungenutzte Flächen wurden unter Kultur genommen,<br />

<strong>und</strong> eine große Zahl aus der Landwirtschaft freigesetzter<br />

Arbeitskräfte strömte in die industriellen Ballungszentren<br />

der Städte. Die Folge war ein gr<strong>und</strong>legender<br />

Wandel der geographischen Gegebenheiten<br />

in ländlichen wie in städtischen Räumen.<br />

Die Entwicklung des Lkw in den beiden ersten<br />

Jahrzehnten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte eine Abkoppelung<br />

der Industriestandorte von Eisenbahnlinien,<br />

Kanälen <strong>und</strong> Häfen zur Folge. Auf der Straße ließen<br />

sich Güter schneller sowie zeitlich <strong>und</strong> räumlich flexibler<br />

transportieren als je zuvor. Fabriken konnten<br />

sich nun zu wesentlich günstigeren Bodenpreisen<br />

an den Rändern von Ballungsräumen sowie in kleineren<br />

Städten <strong>und</strong> peripher gelegenen Regionen mit<br />

niedrigerem Lohnkostenniveau ansiedeln. Darüber<br />

hinaus vergrößerten sich die Einzugsgebiete der<br />

Parallel zur inneren Entwicklung der Kernregionen<br />

wandelten sich die Raumstrukturen auch in den peripheren<br />

Regionen des Weltsystems. Tatsächlich wären<br />

das Wachstum <strong>und</strong> der Binnenausbau der Kernregionen<br />

ohne die Nahrungsmittel, Rohstoffe <strong>und</strong><br />

Absatzmärkte, die durch die Kolonisation der Peripherie<br />

<strong>und</strong> die ständige Ausweitung der kapitalistisch-industriellen<br />

Einflusssphäre verfügbar wurden,<br />

nicht denkbar gewesen.'"<br />

Kaum hatte die Industrielle Revolution im frühen<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert ihre volle Dynamik entfaltet, drangen<br />

die Industriestaaten in die innerkontinentalen Steppen-<br />

<strong>und</strong> Savannengebiete vor, um diese zum Getreideanbau<br />

oder zur Viehzucht zu nutzen. Dies führte<br />

zur Besiedlung der klimatisch gemäßigten Grasländer<br />

<strong>und</strong> Pampas in beiden Teilen des amerikanischen<br />

Kontinents, der Steppengebiete Südafrikas, der Murray-Darling-Ebene<br />

in Australien <strong>und</strong> der Canterbury-<br />

Ebene in Neuseeland durch Einwanderer aus Europa.<br />

Mit der steigenden Nachfrage nach tropischen Plantagenerzeugnissen<br />

gerieten große Teile der tropischen<br />

Welt in - direkte oder indirekte - politische <strong>und</strong> ökonomische<br />

Abhängigkeit irgendeines der zur industriellen<br />

Kernregion zählenden Staaten, ln der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, insbesondere nach<br />

1870, stieg die Zahl der Kolonien <strong>und</strong> der Bevölkerung,<br />

die unter kolonialer Herrschaft lebten, rapide<br />

an.


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 91<br />

Fertigungsstraße des „Model T“ .<br />

Henry Ford (1862-1947) war findiger Ingenieur <strong>und</strong> erfolgreicher<br />

Unternehmer in einer Person. Seine erste Firma (die später zur<br />

Cadillac Motor Car Company umgewandelt wurde) gab er auf, um<br />

sich ganz der Weiterentwicklung eines Fahrzeugs zu widmen, das<br />

nicht als Luxusobjekt für die Reichen, sondern als praktisches<br />

Transportmittel für die Durchschnittsfamilie gedacht war. Wegen<br />

seiner Zusammenstöße mit den großen Wirtschaftsbossen <strong>und</strong><br />

Unternehmen der Ostküste war Ford bald überall bekannt. Als das<br />

„Model T“ , Fords Auto für die große Masse, 1908 endlich in Serie<br />

ging, wurde es auf Anhieb ein sensationeller Erfolg. In den<br />

19 Jahren, die das T-Modell vom Band lief, wurde es mehr als<br />

16 Millionen Mal verkauft; dies entsprach der Hälfte aller weltweit<br />

in diesem Zeitraum produzierten Pkws. Das „Model T“ trug nicht<br />

unwesentlich zu den Umwälzungen der stadtgeographischen<br />

Gegebenheiten in den Vereinigten Staaten bei. Dasselbe gilt<br />

hinsichtlich des geographischen W andels in den ländlichen Räumen<br />

für die Lkw <strong>und</strong> Traktoren von Ford. Das von Ford entwickelte<br />

System der Fließbandproduktion, gepaart mit einer bis ins Kleinste<br />

organisierten Arbeitsteilung <strong>und</strong> einem vertikal strukturierten<br />

Industrieimperium (das den Besitz <strong>und</strong> die Kontrolle von Rohstoffen<br />

<strong>und</strong> Vertriebssystemen ebenso einschloss wie Fertigungs- <strong>und</strong><br />

Montageanlagen), wurde in allen Teilen der industrialisierten Welt<br />

kopiert <strong>und</strong> hatte tiefgreifende Folgen für die räumliche<br />

Organisation der produzierenden <strong>und</strong> verarbeitenden Industrien.<br />

2.20 Die geographischen Auswirkungen des Verbrennungsmotors Der Verbrennungsmotor revolutionierte die Geographie der<br />

höher entwickelten <strong>und</strong> wohlhabenderen Teile der Erde zwischen 1920 <strong>und</strong> 1970. Die Produktion von Lastkraftwagen stieg in den<br />

Vereinigten Staaten von 74 000 im Jahr 1915 auf 750 000 1940 <strong>und</strong> 1,75 Millionen 1965 an. Unterdessen erschlossen immer<br />

neue Straßen die Binnenräume. Zwischen 1945 <strong>und</strong> 1965 erhöhte sich die Gesamtlänge der US-amerikanischen B<strong>und</strong>esstraßen von<br />

456 936 auf 1 344 908 Kilometer. Später entstanden mit Schnellstraßen, die nur für bestimmte Fahrzeuge zugelassen waren<br />

(Autobahnen in Deutschland, Autostradas in Italien, Interstate Highways in den Vereinigten Staaten), derart leistungsfähige <strong>und</strong><br />

flexible Fernverbindungen für den Personen- <strong>und</strong> Güterverkehr, dass die Eisenbahn, die vormals das Verkehrs- <strong>und</strong> transportgeographische<br />

Gr<strong>und</strong>gerüst der Industrieländer gebildet hatte, ins Abseits geriet. Die Bedeutungsabnahme der Eisenbahn bewirkte<br />

eine gr<strong>und</strong>legende räumliche Neuordnung hinsichtlich Industrieansiedlung <strong>und</strong> Flächennutzung <strong>und</strong> leitete eine weitere R<strong>und</strong>e<br />

geographischer Wandlungsprozesse ein.<br />

I<br />

Die internationale Arbeitsteilung<br />

Die Kolonisation als solche folgte zu jeder Zeit einer<br />

ökonomischen Logik: Es galt, neue Territorien für<br />

den Handel zu erobern <strong>und</strong> Gebiete zu gewinnen,<br />

in die Industrieerzeugnisse aus den Kernregionen exportiert<br />

<strong>und</strong> aus denen Nahrungsmittel <strong>und</strong> Rohstoffe<br />

importiert werden konnten. Dadurch entstand eine<br />

internationale Arbeitsteilung ausschließlich nach den<br />

Bedürfnissen der Kernregionen, die entsprechende<br />

Strukturen durch ökonomischen <strong>und</strong> militärischen<br />

Druck erzwangen. Die Arbeitsteilung bedeutete<br />

auch eine einseitige Ausrichtung von Personen, Bevölkerungsgruppen,<br />

Regionen <strong>und</strong> Ländern auf<br />

ganz bestimmte wirtschaftliche Aktivitäten. Insbesondere<br />

begannen sich die Kolonien auf die Produktion<br />

von Nahrungsmitteln <strong>und</strong> Rohstoffen unter der<br />

Voraussetzung zu spezialisieren, dass<br />

• eine gesicherte Nachfrage nach solchen Erzeugnissen<br />

in den industriellen Kernregionen gegeben<br />

war,<br />

• ein Wettbewerbsvorteil insofern gegeben war, als<br />

keine weiteren Anbieter oder Wettbewerber innerhalb<br />

der Kernregionen selbst existierten (wie im<br />

Falle landwirtschaftlicher Produkte wie Kakao oder<br />

Kautschuk, die in den Kernregionen aus klimatischen<br />

Gründen nicht angebaut werden konnten).<br />

Die Folge war, dass die Ökonomien der Kolonien einseitig<br />

auf die Nachfrage der Kernregionen ausgerichtet<br />

<strong>und</strong> somit von diesen sehr stark abhängig waren.<br />

Zu den Ländern <strong>und</strong> Regionen, die sich auf die Er-


92 2 Globaler Wandel<br />

Zeugung eines bestimmtes Produkts spezialisierten,<br />

zählten unter anderem Mittelamerika (Bananen), Indien<br />

(Baumwolle), Brasilien, Java <strong>und</strong> Kenia (Kaffee),<br />

Chile (Kupfer), Ghana (Kakao), Ostpakistan, heute<br />

Bangladesh (Jute), Westafrika (Palmöl), Malaya,<br />

heute Malaysia, <strong>und</strong> Sumatra (Kautschuk), die Karibischen<br />

Inseln (Zucker), Ceylon - heute Sri Lanka -<br />

(Tee), Bolivien (Zinn) sowie Guayana <strong>und</strong> Surinam<br />

(Bauxit). Viele dieser einseitigen Ausrichtungen existieren<br />

noch heute. So sind von den 55 südlich der<br />

Sahara gelegenen Ländern Afrikas 48 zu mehr als<br />

der Hälfte ihrer Exporteinnahmen immer noch von<br />

nur drei Produkten abhängig: Tee, Kakao <strong>und</strong> Kaffee.<br />

Die nach der Herausbildung einer internationalen<br />

Arbeitsteilung folgenreichste Innovation war die Entwicklung<br />

hochseetauglicher, aus Stahl gefertigter<br />

Dampfschiffe. Technische Verbesserungen der Maschinen,<br />

Dampfkessel, Antriebssysteme <strong>und</strong> Konstruktionsmaterialien<br />

führten zu einer erheblichen<br />

Steigerung der Frachtkapazität <strong>und</strong> Geschwindigkeit<br />

sowie der Reichweite <strong>und</strong> Zuverlässigkeit der Schiffe.<br />

Mit der Fertigstellung des Suezkanals im Jahr 1869<br />

<strong>und</strong> des Panamakanals 1914 kam es zu einer drastischen<br />

Verkürzung der Schifffahrtswege zwischen den<br />

Kernregionen <strong>und</strong> den Anlaufhäfen in den Kolonien.<br />

Darüber hinaus führten die Routen nun durch weniger<br />

risikoreiche Gewässer. Am Vorabend des Ersten<br />

Weltkrieges spannte sich zwischen den Wirtschaftsräumen<br />

der Erde ein Netz von Schifffahrtsrouten,<br />

auf denen Dampfschiffe nach festen Fahrplänen verkehrten<br />

(Abbildung 2.21). Die daraus resultierende<br />

Integration der Weltökonomie hatte eine Innovation<br />

möglich gemacht, die kaum weniger bedeutend war<br />

als die der internationalen Arbeitsteilung: die Einrichtung<br />

eines Kommunikationsnetzwerks auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Telegrafie (Abbildung 2.22). Unternehmen<br />

konnten sich nun im St<strong>und</strong>entakt über Angebot<br />

<strong>und</strong> Nachfrage in anderen Teilen der Welt informieren<br />

<strong>und</strong> entsprechend rasch auf Veränderungen<br />

der Märkte reagieren.<br />

Die internationale Arbeitsteilung führte zu einer<br />

außerordentlichen Steigerung des Handels <strong>und</strong> zu<br />

einem enormen Anwachsen der gesamten Weltwirtschaft.<br />

Zu diesem Wachstum leisteten die peripheren<br />

Regionen der Erde einen entscheidenden Beitrag. Um<br />

1913 überstiegen die Exporte aus Afrika <strong>und</strong> Asien<br />

diejenigen Nordamerikas oder der Britischen Inseln.<br />

Die Importe Asiens standen, bezogen auf den Wert<br />

der exportierten Waren <strong>und</strong> Güter, denjenigen Nordamerikas<br />

kaum nach. Die Länder, die als Kernregionen<br />

an der Industrialisierung teilhatten, kauften in<br />

150"W 120“W<br />

ao^o 90“Q 120°O 150°O 180'<br />

Polakreis<br />

‘ Pazifischer-^<br />

Äquator<br />

n<br />

NORD-<br />

AMERIKA<br />

Panmt^<br />

^809<br />

SÜD­<br />

AMERIKA<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

-Kielkanal<br />

EUROPA<br />

Sueskanar<br />

AFRIKA<br />

ASIEN<br />

Pazifischer<br />

Ozean /aO'N<br />

I Nördlicher Wande|kreis<br />

Hauptrouten<br />

der Dampfschiffe<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

90'W '^ e O 'W ,30'W 30°O 60“O • 90°O 120°O 150°O 180°<br />

2.21 Wichtige Dampfschifffahrtsrouten um 1920 In den Schiffsrouten spiegelt sich der Transatlantikhandel zwischen den<br />

damaligen Kernregionen des Weltsystems ebenso wider wie die kolonialen <strong>und</strong> imperialen Beziehungen zwischen den Ökonomien<br />

der Kernregionen <strong>und</strong> der Peripherie. Der transozeanische Schiffsverkehr erlebte mit der Entwicklung von Dampfmaschinen für<br />

Handelsschiffe <strong>und</strong> dem Bau schiffbarer Kanäle wie dem Kielkanal, dem Suezkanal, der St.-Lawrence-Seestraße <strong>und</strong> dem Panamakanal<br />

einen gewaltigen Aufschwung. Mit der Eröffnung des 82 Kilometer langen Panamakanals im Jahr 1914 mussten Schiffe,<br />

die zwischen Atlantik <strong>und</strong> Pazifik verkehrten, nicht mehr ganz Südamerika umfahren, sodass sich die Routen um Tausende von<br />

Seemeilen verkürzten.


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie; Ein neues Weltsystem entsteht 93<br />

wachsendem Umfang Nahrungsmittel <strong>und</strong> Rohstoffe<br />

von den Ländern der peripheren Regionen. Finanziert<br />

wurden die Käufe aus Erlösen, die man aus dem Export<br />

von Maschinen <strong>und</strong> anderen Industrieerzeugnissen<br />

erzielte. Die damalige Hegemonialmacht Großbritannien<br />

verfügte über ein Handelsimperium, das<br />

den gesamten Globus umspannte (Abbildung 2.23).<br />

Die Strukturen des internationalen Handels <strong>und</strong><br />

der globalen Abhängigkeiten wurden in dieser Zeit<br />

immer komplexer. Großbritannien investierte Kapital<br />

nicht nur in periphere Regionen, sondern auch in<br />

gewinnträchtige Industrien in anderen Ländern der<br />

Kernregion, insbesondere in den Vereinigten Staaten.<br />

Gleichzeitig exportierten diese Länder ihrerseits billige<br />

Massenprodukte nach Großbritannien. Den Einkauf<br />

dieser Erzeugnisse finanzierte Großbritannien<br />

ebenso wie die Nahrungsmittelimporte aus Kanada,<br />

Südafrika, Australien, Neuseeland <strong>und</strong> den Kolonien<br />

durch den Export eigener Industrieerzeugnisse in periphere<br />

Länder. Indien <strong>und</strong> China spielten mit ihren<br />

gewaltigen Binnenmärkten in diesem Zusammenhang<br />

eine besonders wichtige Rolle. Auf diese Weise<br />

entstand ein sich immer weiter verzweigendes Netz<br />

von Austauschbeziehungen <strong>und</strong> Abhängigkeiten,<br />

das durch wechselnde Handels- <strong>und</strong> Investitionsstrukturen<br />

gekennzeichnet war.<br />

I<br />

Imperialismus: Eine neue Geographie<br />

prägt die Welt____________________<br />

Die Einbeziehung der Peripherie folgte indes nicht<br />

ausschließlich der inneren Logik des freien Handels<br />

<strong>und</strong> ungehinderter Kapitalflüsse. Ungeachtet der Hegemonie<br />

Großbritanniens im späten 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

wetteiferten auch andere europäische Länder, insbesondere<br />

Deutschland, Frankreich <strong>und</strong> die Niederlande,<br />

mit den Vereinigten Staaten - später auch mit Japan<br />

- um mehr Einfluss in der Welt. Dieser Wettstreit<br />

entwickelte sich zu einem regelrechten Kampf um<br />

territoriale <strong>und</strong> ökonomische Vorherrschaft. Die<br />

Länder der Kernregion verfolgten eine Politik der Expansion,<br />

die nicht nur der Sicherung eigener Ansprüche<br />

diente, sondern auch darauf abzielte, den Einfluss<br />

anderer Länder einzuschränken. Darüber hinaus war<br />

man an stabilen Verhältnissen in einem möglichst<br />

großen Teil der Erde interessiert, da diese den Fortbestand<br />

wirtschaftlich vorteilhafter Strukturen für Handel<br />

<strong>und</strong> Investitionen gewährleisteten. Um dies zu erreichen,<br />

bedienten sich die Länder der Kernregion<br />

militärischer <strong>und</strong> administrativer Kontrollmechanismen<br />

sowie wirtschaftlicher Lenkungsmaßnahmen.<br />

Im letzten Viertel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts mündete<br />

eine zweite Phase des Imperialismus in eine kompetitive<br />

Form des Kolonialismus, der in einem erbitterten<br />

Kampf um Territorien gipfelte. Keine andere<br />

periphere Region der Erde erfuhr in jener Zeit einen<br />

derart gr<strong>und</strong>legenden Wandel der Raumstrukturen<br />

wie der afrikanische Kontinent. Ohne Rücksicht<br />

auf physiogeographische Gegebenheiten, auf die<br />

räumliche Verbreitung von Ethnien <strong>und</strong> Sprachen<br />

<strong>und</strong> die humangeographischen Besonderheiten der<br />

dort bestehenden Minisysteme <strong>und</strong> Weltreiche wurde<br />

Afrika in den 34 Jahren zwischen 1880 <strong>und</strong> 1914 in<br />

einen Flickenteppich europäischer Kolonien <strong>und</strong><br />

Protektorate umgewandelt. Während sich das Interesse<br />

Europas ursprünglich auf Handelsniederlassungen<br />

<strong>und</strong> Verbindungshäfen an den Küsten beschränkt<br />

hatte, galt es nun dem gesamten Kontinent.<br />

Innerhalb weniger Jahre wurde ganz Afrika in das<br />

moderne Weltsystem eingegliedert, wobei ein hierarchisches<br />

System, bestehend aus drei Raumkategorien,<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt worden war. Eine erste Raumkategorie<br />

bildeten diejenigen Regionen, die zum Zweck der<br />

Produktion von Gütern oder Rohstoffen für den<br />

Weltmarkt unter europäischer Kolonialverwaltung<br />

standen. Zu einer zweiten Kategorie zählten jene Gebiete,<br />

deren Erzeugnisse die lokalen Märkte bedienten<br />

<strong>und</strong> in denen Kleinbauern Nahrungsmittel für die<br />

Versorgung der Minen- <strong>und</strong> Landarbeiter in den<br />

Bergbaubetrieben <strong>und</strong> landwirtschaftlichen Großbe-


94 2 Globaler Wandel<br />

150'W 30°O 9 0 °a<br />

120‘’O 180”<br />

Äquator<br />

i r " '<br />

üdlicher Weni<br />

Unterwasser-<br />

Telegrafenleitungen<br />

vJO'W .30“W 120°O<br />

2.22 Das internationale Telefonnetz 1900 Auf dem Meeresboden verlaufende Kabel bildeten gewissermaßen das Nervensystem<br />

des Britischen Empire. 169 000 Kilometer der insgesamt 246 000 Kilometer umfassenden unterseeischen Kabelstränge,<br />

die sich zu einem globalen Netzwerk verzweigten, wurden von Großbritannien verlegt.<br />

150”W 120°W 30“O 120”O 150”0 180=<br />

30°O 60°O • 90=0 120”O 1 5 0 °0 . 180°<br />

I Britisches Empire<br />

' j über 50 % der Gesamtimporte nach <strong>und</strong> aus Großbritannien<br />

25-49 % der Gesamtim- <strong>und</strong> -exporte nach <strong>und</strong> aus Großbritannien<br />

Haupthandelswege<br />

2.23 Das Britische Empire im späten 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Unter dem Schutz der übermächtigen Royal Navy etablierte die britische<br />

Handelsflotte ein Handelsnetz, über welches Nahrungsmittel für die Masse der Industriearbeiter <strong>und</strong> Rohstoffe für die Fabriken nach<br />

Großbritannien gelangten - zum überwiegenden Teil aus den Kolonien <strong>und</strong> Protektoraten, die man sich durch imperiale Stärke<br />

angeeignet <strong>und</strong> die man mit britischem Kapital entwickelt hatte. Das britische Handelsimperium war so erfolgreich, dass Großbritannien<br />

auch für andere Staaten zum zentralen Handelsknoten wurde. (Quelle: Hugill, P. World Trade Since 1431. Baltimore,<br />

John Hopkins University Press. 1993, S. 136)


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 95<br />

trieben produzierten, ln einer dritten Kategorie waren<br />

die ausgedehnten Gebiete bäuerlicher Subsistenzwirtschaft<br />

zusammengefasst, deren Verbindung mit<br />

dem Weltsystem darin bestand, dass von dort Arbeitskräfte<br />

für die wirtschaftlich bedeutenderen Regionen<br />

rekrutiert wurden.<br />

Unterdessen stritten sich die führenden Mächte<br />

um kleine Inseln im Pazifik, die als Kohleversorgungsstationen<br />

für Kriegsschiffe <strong>und</strong> Handelsflotten<br />

plötzlich strategische Bedeutung erlangt hatten. Widerstände<br />

der einheimischen Bevölkerung wurden<br />

mittels wirkungsvoller Geschütze <strong>und</strong> gut ausgerüsteter<br />

Truppen, die mit moderiieii Dampfschiffen transportiert<br />

wurden, niedergeschlagen. Zwischen 1870<br />

<strong>und</strong> 1900 brachten die europäischen Mächte annähernd<br />

22 Millionen weitere Quadratkilometer Land<br />

unter ihre Kontrolle, das von insgesamt 150 Millionen<br />

Menschen bewohnt war. Dies entsprach einem Fünftel<br />

der Landfläche der Erde <strong>und</strong> einem Zehntel der<br />

Weltbevölkerung.<br />

Die Auswirkungen von Imperialismus <strong>und</strong> Kolonialismus<br />

veränderten erneut gr<strong>und</strong>legend die Raumstrukturen<br />

der neu eingegliederten Peripherien des<br />

Weltsystems. Diese gerieten in fast vollständige Abhängigkeit<br />

von europäischem <strong>und</strong> nordamerikanischem<br />

Kapital sowie von den Schiffen, Führungseliten,<br />

Finanzdienstleistungen <strong>und</strong> dem Nachrichtenwesen<br />

der Kernregion. In der Konsequenz wurde<br />

die Peripherie zudem abhängig von Kulturgütern<br />

wie Sprache, Bildung, Wissenschaft, Religion, Architektur<br />

<strong>und</strong> Planung, die Europa in alle Welt exportierte.<br />

Alle diese Einflüsse wirkten sich in vielfältiger<br />

Weise auf die Landschaften sowie die Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Gesellschaftsstrukturen der Peripherie aus.<br />

I<br />

Dritte Welt <strong>und</strong> Neokolonialismus<br />

Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann<br />

die imperialistische Weltordnung zu zerfallen. Die<br />

Vereinigten Staaten etablierten sich als neue Hegemonialmacht,<br />

die von nun an die Kernregion des Weltsystems<br />

dominierte. Für diese Kernregion hat sich die<br />

Bezeichnung „Erste Welt“ eingebürgert. Die Sowjetunion<br />

<strong>und</strong> China, beides Länder, die - abgekoppelt<br />

von der kapitalistischen Weltökonomie - mit der<br />

zentralen Planwirtschaft einen alternativen Weg zur<br />

eigenen Entwicklung <strong>und</strong> der ihrer Satellitenstaaten<br />

beschritten, hat man die „Zweite Welt“ genannt.<br />

ln den SOer-fahren des 20. lahrh<strong>und</strong>erts strebten<br />

viele europäische Kolonien nach politischer Unabhängigkeit.<br />

Anfänglich sträubten sich die Kolonialmächte<br />

gegen einen Rückzug aus den Kolonien,<br />

weil sie damit strategische Mittel aus der Hand gaben<br />

<strong>und</strong> weil eine große Zahl europäischer Siedler betroffen<br />

war. Schließlich wurde die Entkolonialisierung<br />

durch mehrere Unabhängigkeitskämpfe erzwungen.<br />

So startete beispielsweise in Kenia in den frühen<br />

1950er-lahren eine militante nationalistische Bewegung<br />

namens Mau Mau eine aus britischer Sicht<br />

terroristische Kampagne (aus der Sicht der Kenianer<br />

war es eine Freiheitsbewegung), im Zuge derer Sabotageakte<br />

verübt <strong>und</strong> britische Kolonisten ermordet<br />

wurden. Mehr als 2 000 weiße Siedler kamen zwischen<br />

1952 <strong>und</strong> 1956 bei Anschlägen ums Leben.<br />

Im Gegenzug töteten britische Kolonialtruppen<br />

11 000 Anhänger der Möw-Maw-Bewegung, 20 000<br />

Personen wurden auf Anordnung der Kolonialregierung<br />

in Lagern interniert. Seit den frühen 1960er-lahren<br />

verlief der Ablösungsprozess in Kenia jedoch relativ<br />

reibungslos. 1962 wurde in Kenia lomo Kenyatta,<br />

der 1953 als einer der Mau-Mau-Führer verhaftet<br />

worden war, Premierminister des eben in die Unabhängigkeit<br />

entlassenen Landes. Die Peripherie des<br />

Weltsystems bestand nun aus einer „Dritten Welt“<br />

politisch unabhängiger Staaten, von denen sich einige<br />

gegen eine Anpassung an die geopolitische Ausrichtung<br />

der Ersten <strong>und</strong> Zweiten Welt entschieden. Dessen<br />

ungeachtet waren diese Länder ökonomisch weiterhin<br />

in hohem Maße von der Kernregion abhängig.<br />

Als sich von den 1960er-lahren an politisch unabhängig<br />

gewordene Staaten der Peripherie aus ihrer<br />

ökonomischen Abhängigkeit zu befreien versuchten,<br />

indem sie die Industrialisierung, die Modernisierung<br />

<strong>und</strong> den Ausbau des Handels vorantrieben, nahmen<br />

die Verflechtungen <strong>und</strong> Interdependenzen innerhalb<br />

des kapitalistischen Weltsystems erheblich zu. Während<br />

die alten imperialistischen Strukturen des internationalen<br />

Handels zerbrachen, traten neue, wesentlich<br />

komplexere Muster in Erscheinung. Dennoch<br />

prägten überkommene kolonialzeitliche Strukturen<br />

weiterhin die unabhängig gewordenen Länder. Die<br />

Politik der Industrieländer gegenüber den Staaten<br />

der Dritten Welt, die indirekt auf eine Aufrechterhaltung<br />

oder Ausweitung der wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Abhängigkeit dieser Länder abzielt, bezeichnet<br />

man als Neokolonialismus. Anstelle der direkten<br />

Herrschaft (Kolonialismus) übten die Industrieländer<br />

nun durch Strategien wie internationale Regulierung<br />

der Finanzmärkte, außenwirtschaftliche Beziehungen<br />

(terms of trade), Monopolisierung der Nachrichtenagenturen<br />

<strong>und</strong> verdeckte nachrichtendienstliche<br />

Operationen Kontrolle aus (Gregory 2004). Infolge<br />

des Neokolonialismus wurden die Raumstrukturen<br />

in den peripheren Ländern weiterhin in hohem<br />

Maße von sprachlichen, kulturellen, politischen


96 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.7<br />

Geographie in Beispielen -<br />

G lobalisierung der W issenschaften<br />

Eine wichtige Dimension kultureller Globalisierung ist die Herausbildung<br />

eines weltweiten Netzes wissenschaftlicher Hochschulen<br />

europäischer Prägung. Als Sitz von Forschung <strong>und</strong><br />

Lehre sind Universitäten <strong>und</strong> Hochschulen zugleich Stätten<br />

der Wissensproduktion <strong>und</strong> der Ausbildung künftiger Führungskräfte<br />

in Wirtschaft, Politik <strong>und</strong> anderen gesellsctiaflii-<br />

chen Bereichen <strong>und</strong> somit prägende Stationen in der Laufbahn<br />

fast aller Entscheidungsträger meritokratisch orientierter Gesellschaften.<br />

Während sich die ersten Universitäten als Gemeinschaften<br />

von Lehrenden <strong>und</strong> Studierenden im späten<br />

12. <strong>und</strong> frühen 13. Jahrh<strong>und</strong>ert in Bologna, Paris, Oxford,<br />

Montpellier <strong>und</strong> Cambridge aus bestehenden Schulen herausgebildet<br />

hatten, begann die globale Verbreitung <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Etablierung moderner Forschungsuniversitäten<br />

im ausgehenden 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Diese Zeit war mit der Etablierung<br />

neuer Fachgebiete, Professuren, Laboratorien, wissenschaftlicher<br />

Zeitschriften <strong>und</strong> Institutionen verb<strong>und</strong>en. Der Beginn<br />

des internationalen Konferenzwesens in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> die Einrichtung internationaler<br />

Forschungspreise wie des Nobelpreises, die seit 1901 vergeben<br />

werden, trugen zur Formierung transnationaler akademischer<br />

Netzwerke bei, während umfassende Reformen bestehender<br />

Universitäten sowie die Gründung neuer Universitäten<br />

bedeutende Schritte in Richtung einer Professionalisierung<br />

von Forschung <strong>und</strong> Lehre darstellten.<br />

Nach dem Vorbild des erfolgreichen Modells der Einheit<br />

von Forschung <strong>und</strong> Lehre an deutschen Universitäten, wie<br />

es von Wilhelm von Humboldt (1767- 1835) mit der Gründung<br />

der Berliner Universität 1810 vorgezeichnet worden war, wurde<br />

1876 die Johns Hopkins University in den USA als Forschungsuniversität<br />

mit Doktorandenausbildung gegründet.<br />

Bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende hatte sich dieser neue Universitätstyp<br />

in weiten Teilen der USA verbreitet <strong>und</strong> die Doktorandenausbildung<br />

vielerorts eine den deutschen Universitäten vergleichbare<br />

Qualität erhalten. Während bis zu diesem Zeitpunkt<br />

Aufenthalte an deutschen Universitäten für die wissenschaftliche<br />

Ausbildung notwendig gewesen waren, bewirkte die Etablierung<br />

der Forschungsuniversitäten im englischsprachigen<br />

Raum eine deutliche Veränderung der transnationalen Zirkulation<br />

von Studierenden <strong>und</strong> Wissenschaftlern, deren verschiedene<br />

Ausprägungen wie Studienaufenthalte, Forschungsreisen,<br />

Gastprofessuren oder Tagungsbesuche mit dem Begriff


Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: Ein neues Weltsystem entsteht 97<br />

0 e<br />

Vortrags- <strong>und</strong> Konferenzreisen von Wissenschaftlern<br />

der Universität Cambridge, 1901-1950<br />

Anzahl der<br />

Personen _ ^<br />

o O O O<br />

2 3 4 5 10<br />

2.7.2 Vortrags- <strong>und</strong> Konferenzreisen von der Universität Cambridge in den Jahren 1901 - 1950 Regelmäßige wissenschaftliche<br />

Kongresse in Kanada, Australien, Indien <strong>und</strong> Japan waren nach dem Vorbild von Treffen der British Association for the<br />

Advancement of Science eingerichtet worden. In der Nachkriegszeit dienten Vortrags- <strong>und</strong> Konferenzreisen in den Mittleren Osten<br />

einer gezielten auswärtigen Kulturpolitik, um das Prestige Großbritanniens gegenüber der Sowjetunion, aber auch den USA <strong>und</strong><br />

Frankreichs, zu erhöhen. (Quelle: Eigene Erhebung aus den Sitzungsprotokollen des General Board, Cambridge University Archives)<br />

der akademischen Mobilität bezeichnet werden. Auf der Basis<br />

einer gemeinsamen englischen Sprache <strong>und</strong> begünstigt<br />

durch kriegsbedingte Allianzen begannen die angloamerikani-<br />

schen Wissenschaftsbeziehungen zu florieren, die in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eine hegemoniale Stellung erreichen<br />

sollten.<br />

Zur Formierung moderner Universitäten als globale Wissenszentren<br />

trugen vor allem Forschungsreisen ihrer Wissenschaftler<br />

bei. Indem die Reisenden in verschiedenen Regionen<br />

der Welt Forschungsobjekte, Forschungsinfrastruktur, neue<br />

Erkenntnisse, Kooperationspartner <strong>und</strong> Ideen zur Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Untermauerung ihrer wissenschaftlichen Behauptungen<br />

mobilisierten, machten sie ihre Universität zu einem Zentrum<br />

wissenschaftlicher Kalkulation. Entsprechend des Konzepts<br />

der Zyklen der Akkumulation in Zentren wissenschaftlicher<br />

Kalkulation, das 1987 von dem Wissenschaftssoziologen<br />

Bruno Latour entwickelt wurde, haben seit dem Zeitalter<br />

der Entdeckungsreisen zyklische Mobilisierungsprozesse von<br />

Menschen, Tieren, Pflanzen, Proben, Dingen <strong>und</strong> Ideen in Zentren<br />

wissenschaftlicher Kalkulation - darunter Universitäten,<br />

Laboratorien, Archive <strong>und</strong> Museen - nicht nur den kumulativen<br />

Charakter der europäischen Wissenschaften begründet, sondern<br />

über den generierten Wissensvorsprung <strong>und</strong> damit einhergehende<br />

Kontrollmöglichkeiten Europa zum Zentrum des<br />

imperialen Zeitalters gemacht (Abbildung 2.7.1). Das weltweite<br />

Netz von Reisezielen verdeutlicht aber auch, dass ein<br />

großer Teil der westlichen Wissenschaften in den Kolonien produziert<br />

worden war <strong>und</strong> nicht nur dorthin exportiert wurde. Die<br />

Kolonialisierung peripherer Regionen war vielmehr ganz wesentlich<br />

für die Entwicklung von Wissenschaftszweigen wie<br />

Biologie, Geologie, Mineralogie, Geographie, Anthropologie,<br />

Kunstgeschichte <strong>und</strong> Archäologie, in denen Proben, Arten, kulturelle<br />

Artefakte <strong>und</strong> Dokumente gesammelt <strong>und</strong> verglichen<br />

oder Naturphänomene beobachtet wurden.<br />

Für Wissenschaftler der Universitäten Oxford <strong>und</strong> Cambridge<br />

waren Reiseziele innerhalb des Britischen Imperialreichs in<br />

den ersten drei Dekaden des 20. Jahrh<strong>und</strong>ert besonders attraktiv.<br />

Deren Bedeutung nahm im Zuge der Dekolonisierung<br />

jedoch ab, während der Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg mit sich intensivierenden Wissenschaftsbeziehungen<br />

zwischen England <strong>und</strong> dem europäischen Kontinent<br />

einherging. Asymmetrische geographische Machtbeziehungen<br />

<strong>und</strong> die Herausbildung einer eng vernetzten angloamerikani-<br />

schen Wissenschaftselite kommen unter anderem auch darin<br />

zum Ausdruck, dass sich Vortrags- <strong>und</strong> Konferenzreisen von<br />

Wissenschaftlern der Universität Cambridge in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sehr stark auf die etablierten Forschungszentren<br />

in Europa <strong>und</strong> die aufstrebenden Wissenschaftszentren<br />

in den USA konzentrierten (Abbildung 2.7.2).<br />

Über Vortragscinladungen <strong>und</strong> Gastprofessuren mobilisierten<br />

US-amerikanische Universitäten Prestige <strong>und</strong> Expertise etablierter<br />

Wissenschaftler der renommierten britischen Universitäten,<br />

während die Gastwissenschaftler aus Europa von der<br />

Erk<strong>und</strong>ung neuester Laboratorien <strong>und</strong> Bibliotheken in den


98 2 Globaler Wandel<br />

— Fortsetzung Exkurs 2.7<br />

liÖv-<br />

Anteil der<br />

Geförderten<br />

in Prozent<br />

/ '-1# lüS?<br />

Ji<br />

ObrigwObrt»*<br />

AhUui AiiMhkaAaMn<br />

ObrtoM<br />

Curcva<br />

m<br />

Geförderter Wissenschaftleraustausch 2004<br />

B Deutsche Gastwissenschaftler im Ausland (n = 4.067)<br />

B Ausländische Gastwissenschaftler in Deutschland (n = 20.890)<br />

2.7.3 Internationaler Wissenschaftleraustausch aus deutscher Perspektive Gegenübergestellt sind die Anteile der<br />

jeweiligen Herkunfts- <strong>und</strong> Zielländer an der geförderten akademischen Mobilität von Graduierten, Post-Docs <strong>und</strong> Wissenschaftlern<br />

beziehungsweise Hochschullehrern nach Deutschland <strong>und</strong> ins Ausland im Jahr 2004. Die Daten stammen von etwa 25<br />

Förderinstitutionen <strong>und</strong> repräsentieren einen wesentlichen, aber aufgr<strong>und</strong> einer fehlenden Gesamtstatistik nicht quantifizierbaren<br />

Anteil des gesamten deutschen Wissenschaftleraustausches. (Quelle: Eigene Darstellung auf Gr<strong>und</strong>lage des Datenreports<br />

Wissenschaft weltoffen 2006, der in Kooperation des Deutschen Akademischen Austauschdienstes <strong>und</strong> der HIS Hochschul-<br />

Informations-System GmbH erstellt wurde <strong>und</strong> im Internet unter http://www.wissenschaft-weltoffen.de/ zugänglich ist)<br />

fl<br />

USA profitierten. Die Diskussion, Legitimierung <strong>und</strong> Präsentation<br />

wissenschaftlicher Argumente erfolgte an wenigen<br />

Standorten in den reichen Regionen der Welt, da dort die erforderlichen<br />

Ressourcen <strong>und</strong> Infrastrukturen zur Verfügung<br />

standen, um Plattformen für wissenschaftliche Diskurse zu<br />

schaffen, traditionsreiche <strong>und</strong> moderne Zentren des Wissens<br />

symbolisches Kapital versprachen <strong>und</strong> viele spezialisierte<br />

Wissenschaftler für Diskussionen zur Verfügung standen,<br />

die zuvor genügend wirtschaftliches Kapital aufgebracht hatten,<br />

um ihren wissenschaftlichen Expertenstatus zu erreichen.<br />

Bis heute erscheint wissenschaftliches Arbeiten als<br />

ein kostspieliges Unterfangen, das nur an wenigen Orten<br />

möglich ist, auch wenn die erforderlichen Ressourcen zur<br />

Konstruktion wissenschaftlicher Argumente ein weltweites<br />

<strong>und</strong> mittlerweile transplanetares Einzugsgebiet aufweisen.<br />

Zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts sind Veränderungen in der<br />

weltweiten Hierarchie von Wissenszentren zu beobachten,<br />

die sich anhand der räumlichen Zirkulation von Wissenschaftlern<br />

festmachen lassen. Das Ende des Kalten Kriegs eröffnete<br />

zunächst neue Möglichkeiten zu transnationaler akademischer<br />

Mobilität <strong>und</strong> Zusammenarbeit. Diese führten zu einer<br />

stärkeren transnationalen Vernetzung Russlands <strong>und</strong> Osteuropas,<br />

leiteten weltweit eine Dezentralisierung internationaler<br />

Wissenschaftsbeziehungen ein <strong>und</strong> setzten einen verstärkten<br />

Wettbewerb um internationale Studierende <strong>und</strong><br />

Gastwissenschaftler in Gang. Deutschland nimmt im Wissenschaftsaustausch<br />

gegenwärtig eine vermittelnde Position ein<br />

zwischen den krisengeschüttelten bis boomenden Forschungsstandorten<br />

Russlands, Chinas <strong>und</strong> Indiens, in denen<br />

ein sehr großes Interesse an einem Studien- <strong>und</strong> Forschungsaufenthalt<br />

in Deutschland besteht, <strong>und</strong> den international führenden<br />

Wissenschaftszentren der USA <strong>und</strong> Großbritanniens,<br />

auf die sich weit mehr als ein Drittel der deutschen Gastwissenschaftler<br />

im Ausland konzentrieren (Abbildung 2.7.3). Die<br />

zunehmende Häufigkeit akademischer Mobilität von Natur<strong>und</strong><br />

Ingenieurwissenschaftlern aus Indien <strong>und</strong> China nach<br />

Europa <strong>und</strong> in die USA zeigt Parallelen zu den beschriebenen<br />

Mobilisierungsprozessen der USA gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

<strong>und</strong> kann als eine wichtige Form der Mobilisierung<br />

von Prestige <strong>und</strong> Expertise zum Aufbau der dortigen Wissenschaftszentren<br />

interpretiert werden. Da karriere- <strong>und</strong> fachspezifische<br />

Interaktionsmuster in den Natur-, Ingenieur<strong>und</strong><br />

Geisteswissenschaften jeweils andere Geographien<br />

aufweisen, stellt deren Dokumentation <strong>und</strong> Erklärung in<br />

verschiedenen Zeiten <strong>und</strong> Räumen <strong>und</strong> aus der Perspektive<br />

einzelner Institutionen eine wichtige Herausforderung der<br />

Geographie des Wissens dar.<br />

H. jöns


Globalisierung heute 99<br />

<strong>und</strong> institutioneilen Einflüssen der einstigen Kolonialmächte<br />

sowie vom Investitionsverhalten <strong>und</strong><br />

den Handelsaktivitäten dort ansässiger Unternehmen<br />

bestimmt.<br />

Etwa zur selben Zeit nahm eine neue Form des Imperialismus<br />

Gestalt an: der Wirtschaftsimperialismus<br />

durch Großunternehmen. Diese Unternehmen<br />

waren in den Kernregionen auch durch die Eliminierung<br />

kleinerer Firmen mittels Übernahmen oder Fusionen<br />

gewachsen. In den 1960er-Iahren waren etliche<br />

dieser Unternehmen so groß geworden, dass sie<br />

transnational agierten, Tochtergesellschaften in<br />

Übersee gründeten, ausländische Wettbewerber<br />

übernahmen oder sich durch Einkäufe an gewinnträchtigen<br />

Auslandsgeschäften beteiligten.<br />

Diese transnationalen Unternehmen operierten<br />

<strong>und</strong> investierten auf internationaler Ebene, sie besaßen<br />

Tochterunternehmen, Fabriken, Büros <strong>und</strong> andere<br />

Einrichtungen in verschiedenen Ländern der<br />

Erde. Um die Mitte der 1990er-Jahre existierten annähernd<br />

40000 solcher transnationaler Unternehmen,<br />

von denen 90 Prozent ihren Hauptsitz in einem<br />

Land der Kernregion hatten. Die Unternehmen kontrollierten<br />

insgesamt etwa 180 000 ausländische<br />

Tochterfirmen <strong>und</strong> hatten einen weltweiten Umsatz<br />

von mehr als 6 Milliarden US-Dollar. Kein Zweifel<br />

besteht daran, dass diese Unternehmen, von denen<br />

einige höhere Umsätze aufweisen als das Budget mittelgroßer<br />

Staaten beträgt, entscheidend zum Wandel<br />

der geographischen Strukturen, wie er sich seit etwa<br />

25 Jahren vollzieht, beigetragen haben <strong>und</strong> noch beitragen<br />

werden. Diese Umbruchphase unterscheidet<br />

sich insofern von den vorangegangenen, als sie von<br />

einer beispiellosen Zunahme ökonomischer, politischer,<br />

sozialer <strong>und</strong> kultureller Aktivitäten über alle<br />

geographischen <strong>und</strong> institutioneilen Grenzen von<br />

Staaten hinweg geprägt war. Die Rede ist von der Phase<br />

der Globalisierung, einer Entwicklung, die von<br />

einer weit über das bisherige Maß hinausreichenden<br />

Integration der Ökonomien des globalen Staatensystems<br />

sowie einer bislang nicht gekannten Intensivierung<br />

der Interdependenz zwischen allen Teilen des<br />

Weltsystems gekennzeichnet ist.<br />

Die gegenwärtige Phase der Globalisierung schließt<br />

auch ein neues Element der Geopolitik ein, das als<br />

Neoimperialismus bezeichnet wurde: den Imperialismus<br />

der USA, der einzigen verbliebenen Großmacht.<br />

US-Amerikaner hören es nicht gern, wenn<br />

ihr Land im Zusammenhang mit aggressiver Politik<br />

<strong>und</strong> Ausbeutung genannt wird. Dennoch werden<br />

der in Reaktion auf den 11. September 2001 ausgerufene<br />

war on terror wie auch der Einmarsch US-amerikanischer<br />

Truppen in Afghanistan <strong>und</strong> im Irak in<br />

weiten Teilen der Welt als bedenkliche Beispiele eines<br />

Imperialismus interpretiert, der vor allem ein Ziel<br />

hat: die militärische Kontrolle über die globalen Ölvorräte<br />

zu erlangen (Gregory 2004). Die Einschätzung<br />

der Vereinigten Staaten als Initiator eines neuen<br />

Imperialismus hat sich weiter verstärkt durch die Androhung<br />

militärischer Gewalt gegenüber Iran <strong>und</strong><br />

Nordkorea, die Inhaftierung von Menschen in Guantanamo<br />

ohne ordentliches Gerichtsverfahren, den<br />

Einsatz von Spezialkräften überall in der Welt <strong>und</strong><br />

die einseitige Ablehnung internationaler Umweltschutzabkommen<br />

<strong>und</strong> Hilfsvereinbarungen. Was in<br />

den Kommentaren der internationalen Presse seltener<br />

zu lesen ist, dass dieser neue Imperialismus<br />

von manchen Fachleuten als eine Konsequenz aus<br />

dem harten globalen Wettbewerb gesehen wird, in<br />

dem es den Vereinigten Staaten nicht mehr gelingt,<br />

sich durch Innovationen, neue Produkte, hohe Produktivität<br />

<strong>und</strong> Vermarktung an der Spitze zu behaupten,<br />

<strong>und</strong> die Regierung stattdessen zu militärischen<br />

Mitteln greift.<br />

L<br />

Globalisierung heute<br />

Im Gr<strong>und</strong>e genommen vollzieht sich der Prozess der<br />

Globalisierung bereits seit den Anfängen des modernen<br />

Weltsystems im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert. Die gr<strong>und</strong>legenden<br />

Rahmenbedingungen für die Globalisierung<br />

im engeren Sinn entwickelten sich jedoch erst im<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Das damalige System miteinander<br />

konkurrierender Staaten begünstigte die Gründung<br />

internationaler Vertretungen <strong>und</strong> Institutionen, den<br />

Aufbau globaler Kommunikationsnetzwerke, die Einführung<br />

einer weltweit standardisierten Zeitrechnung,<br />

die Einführung einheitlicher Maße <strong>und</strong> Gewichte,<br />

die Verstärkung des internationalen Wettbewerbs,<br />

die Entstehung eines internationalen Geflechts<br />

von Preisen <strong>und</strong> Löhnen sowie die Verpflichtung auf<br />

internationale Rechtsbestimmungen <strong>und</strong> Richtlinien<br />

zur Einhaltung der Bürger- <strong>und</strong> Menschenrechte. Die<br />

heutigen weltweiten Verbindungen unterscheiden<br />

sich jedoch in mindestens vier zentralen Punkten<br />

von denen der Vergangenheit. Erstens funktionieren<br />

sie mit wesentlich größerer Geschwindigkeit als je zuvor.<br />

Zweitens findet der Prozess der Globalisierung in<br />

einem weltweiten Maßstab statt, sodass sein Einfluss<br />

bis in die entlegensten Regionen reicht. Drittens ist<br />

das Spektrum globaler Verbindungen heute wesentlich<br />

breiter <strong>und</strong> betrifft nicht nur die Wirtschaft, sondern<br />

auch die Politik, das Recht, die Medien, die Kul-


100 2 Globaler Wandel<br />

I !<br />

tur <strong>und</strong> den sozialen Bereich. Herausragendes Merkmal<br />

des Globalisierungsprozesses der vergangenen<br />

30 Jahre war ein weltweit sprunghaftes Ansteigen<br />

des Anteils internationaler wirtschaftlicher <strong>und</strong> kultureller<br />

Aktivitäten. Dieser Anstieg war <strong>und</strong> ist verb<strong>und</strong>en<br />

mit einem signifikanten Wechsel des Charakters<br />

internationaler Wirtschaftsaktivitäten. Waren-,<br />

Kapital- <strong>und</strong> Informationsströme innerhalb <strong>und</strong> zwischen<br />

transnationalen Konzernen spielen bald eine<br />

größere Rolle als Importe <strong>und</strong> Exporte zwischen Ländern.<br />

Gleichzeitig förderten die genannten Handelsströme<br />

<strong>und</strong> Aktivitäten die Ausbreitung neuer Wertvorstellungen<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen r<strong>und</strong> um den<br />

Globus. Diese neuen Werte äußern sich in konsumorientierten<br />

Lebensstilen ebenso wie im Engagement<br />

für Themen wie Schutz <strong>und</strong> Verteilung der globalen<br />

Ressourcen, in globalen Umweltveränderungen oder<br />

im Kampf gegen den Hunger.<br />

Die gegenwärtige Weltökonomie setzt sich aus unzähligen<br />

Produktketten zusammen, die den globalen<br />

Raum kreuz <strong>und</strong> quer durchziehen. Produktketten<br />

(Exkurs 2.8 „Geographie in Beispielen - Produktketten“)<br />

sind aus Arbeits- <strong>und</strong> Produktionsprozessen<br />

bestehende Netzwerke, an deren Beginn die Gewinnung<br />

oder Erzeugung von Rohstoffen steht, <strong>und</strong><br />

die mit dem Vertrieb <strong>und</strong> dem Verbrauch der fertigen<br />

Produkte enden. Solche Netzwerke überspannen vielfach<br />

Länder <strong>und</strong> Kontinente, wobei diese die Gewinnung<br />

<strong>und</strong> Anlieferung von Rohstoffen, deren anschließende<br />

Weiterverarbeitung, die folgende Herstellung<br />

von Einzelkomponenten sowie die Montage<br />

des fertigen Produkts <strong>und</strong> dessen Verteilung gewissermaßen<br />

zu riesigen globalen Fließbändern verbinden.<br />

Wie in Kapitel 8 näher erläutert wird, gewinnen<br />

diese globalen Fließbänder immer stärkeren Einfluss<br />

auf die Gestaltung von Orten <strong>und</strong> Regionen.<br />

Die mit „Globalisierung“ überschriebenen Fragen<br />

<strong>und</strong> Probleme werden oft kontrovers diskutiert, weil<br />

man unter dem Begriff sehr unterschiedliche Entwicklungen<br />

subsumieren kann. Meistens ist damit<br />

die Ausweitung <strong>und</strong> Intensivierung von Verflechtungen<br />

sowie der Ströme von Kapital, Menschen, Waren,<br />

Ideen <strong>und</strong> Kulturen über Grenzen hinweg gemeint.<br />

Manche glauben, dass diese Entwicklung mit einer<br />

Schwächung lokaler Gemeinschaften <strong>und</strong> nationaler<br />

Regierungen verb<strong>und</strong>en ist. Der Prozess der Globalisierung<br />

hat ein komplexes System wechselseitig voneinander<br />

abhängiger Staaten hervorgebracht, in welchem<br />

transnationale Regelungen <strong>und</strong> Organisationen<br />

an Einfluss gewonnen haben. Im nationalen Interesse<br />

handelnde Staaten spielen immer noch eine herausgehobene<br />

Rolle, aber große Konzerne <strong>und</strong> internationale<br />

Nichtregierungsorganisationen können heute<br />

die Weltpolitik entscheidend beeinflussen. Unter<br />

den Staaten existiert kein Kanon gemeinsamer Interessen,<br />

<strong>und</strong> innerhalb der Weltgemeinschaft gibt es<br />

keine eindeutige Machthierarchie, sondern viele<br />

Machtzentren nebeneinander. Mit der Auflösung klarer<br />

Machtstrukturen <strong>und</strong> gemeinsamer Ziele entstehen<br />

neue, komplexe Strukturen wechselseitiger Abhängigkeiten.<br />

Der Globalisierungsprozess besitzt<br />

auch bedeutende kulturelle Dimensionen (siehe Kapitel<br />

6). Eine ist die weltweite Verbreitung verschiedenster<br />

kultureller Ausdrucksformen, Praktiken <strong>und</strong><br />

Artefakte, die vormals lokal oder regional begrenzt<br />

waren, zum Beispiel ethnische oder regionale<br />

Koch- <strong>und</strong> Esskulturen, Weltmusik, Hip-Hop, karibischer<br />

Karneval oder charismatische Sekten. Eine<br />

andere Dimension der Globalisierung von Kultur betrifft<br />

die Verbrauchskultur oder den Konsumgeschmack,<br />

also jegliche Art von Waren, die auf internationalen<br />

Märkten verkauft werden, von Freizeitschuhen<br />

oder Fußballtrikots über Autos bis hin zu<br />

Filmen <strong>und</strong> Konzerttourneen von Rockgruppen.<br />

All dies hat manchen zu der Einschätzung gebracht,<br />

der Globalisierungsprozess erzeuge einen neuen Bestand<br />

universeller Bilder, Praktiken <strong>und</strong> Werte -<br />

eine im Wortsinn globale Kultur.<br />

Die meisten Autoren sehen jedoch in der Vorstellung<br />

einer globalen Einheitskultur eine zu starke Vereinfachung.<br />

Sie verweisen auf andere Aspekte des<br />

Globalisierungsprozesses, etwa die Verschmelzung<br />

verschiedener regionaler <strong>und</strong> internationaler Kulturelemente<br />

zu neuen, hybriden Kulturformen. Danach<br />

verbreiten sich an vielen Orten <strong>und</strong> in vielen Regionen<br />

stattfindende Überschreitungen, Adaptionen <strong>und</strong><br />

Subversionen konventioneller oder traditioneller<br />

Kulturen über die lokale <strong>und</strong> regionale Ebene hinaus<br />

<strong>und</strong> führen schließlich zu einem Bestand globaler, gegenüber<br />

neuen Einflüssen offener Kulturen.<br />

Inzwischen hat ein in hohem Maß integriertes globales<br />

System auch das Bewusstsein für Probleme wie<br />

Klimawandel, Umweltverschmutzung, Krankheit, organisierte<br />

Kriminalität, Armut <strong>und</strong> Ungleichheit geschärft,<br />

die von vielen als eine Folge der Globalisierung<br />

gesehen werden. Die Globalisierung der heutigen<br />

Welt, ihre Ursachen <strong>und</strong> Auswirkungen hinsichtlich<br />

spezifischer humangeographischer Aspekte auf<br />

unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen, ist<br />

ein Thema, das sich als roter Faden durch die folgenden<br />

Kapitel diese Buchs ziehen wird. An dieser Stelle<br />

sollen zunächst in groben Zügen die wesentlichen<br />

Gründe <strong>und</strong> Konsequenzen skizziert werden.


Globalisierung heute 101<br />

Ursachen <strong>und</strong> Folgen der<br />

I Globalisierung__________<br />

Die Globalisierungsprozesse der vergangenen 25 bis<br />

30 Jahre wurden hauptsächlich von vier miteinander<br />

zusammenhängenden Faktoren ausgelöst: der neuen<br />

internationalen Arbeitsteilung, der Internationalisierung<br />

des Kapitals, der Entwicklung eines Systems<br />

neuer Technologien <strong>und</strong> der Homogenisierung der<br />

internationalen Konsumgütermärkte.<br />

I Die neue internationale Arbeitsteilung<br />

Die neue internationale Arbeitsteilung hat drei wesentliche<br />

Veränderungen bewirkt. Erstens verloren<br />

die Vereinigten Staaten bezüglich der Industrieproduktion<br />

gegenüber dem starken Wachstum des industriellen<br />

Sektors in Japan, der wieder auflebenden<br />

Industrieproduktion Europas <strong>und</strong> dem spektakulären<br />

Wirtschaftsboom in China relativ an Bedeutung.<br />

Zweitens erfolgte eine Dezentralisierung <strong>und</strong> Verlagerung<br />

der Industrieproduktion in verschiedene semiperiphere<br />

<strong>und</strong> periphere Länder. Im Jahr 2004 hatten<br />

Firmen mit Hauptsitz in den Vereinigten Staaten<br />

r<strong>und</strong> 7 Millionen Beschäftigte in Übersee, von denen<br />

80 Prozent in der industriellen Fertigung arbeiteten.<br />

Ein wesentlicher Gr<strong>und</strong> für diesen Trend war das Bestreben,<br />

die Lohnkosten auf möglichst niedrigem Niveau<br />

zu halten, indem man sich die immensen globalen<br />

Unterschiede der Lohntarife zu Nutze machte. So<br />

betrug zum Beispiel der Bruttost<strong>und</strong>enlohn eines Arbeiters<br />

in der Bekleidungsindustrie in den USA im<br />

fahr 2002 13,06 US-Dollar bei einer 37-St<strong>und</strong>en-Woche.<br />

In Hongkong wurden für die gleiche Arbeit 4,49<br />

US-Dollar bei einer 60-St<strong>und</strong>en-Woche <strong>und</strong> in Indonesien<br />

0,15 Dollar pro St<strong>und</strong>e bei einer wöchentlichen<br />

Arbeitszeit von bis zu 70 St<strong>und</strong>en bezahlt.<br />

Eine dritte Folge der neuen internationalen Arbeitsteilung<br />

ist das Aufkommen neuer Spezialisierungen<br />

innerhalb der Kernregionen des Weltsystems. In diesem<br />

Zusammenhang sind Hochtechnologieunternehmen<br />

<strong>und</strong> unternehmensorientierte Dienstleistungen<br />

zu nennen. Bei Letzteren kann es sich um Informationsdienstleistungen,<br />

Versicherungen, Werbeagenturen,<br />

Konsultingbüros, Unternehmensberater<br />

oder Marktforschungsinstitute handeln, welche die<br />

Produktivität oder Effizienz von großen Unternehmen<br />

steigern oder hoch spezialisierte Firmen bei<br />

der Aufrechterhaltung ihrer Spezialisierungen unterstützen.<br />

Eine wesentliche Auswirkung der neuen internationalen<br />

Arbeitsteilung besteht darin, dass das<br />

Volumen des globalen Handels in den letzten 30 Jahren<br />

rascher angewachsen ist als die globale Produktion<br />

- ein deutlicher Indikator für die Zunahme<br />

der ökonomischen Verflechtungen innerhalb des<br />

Weltsystems.<br />

I<br />

Die Internationalisierung des<br />

Finanzwesens_____________<br />

Wie in Kapitel 8 näher erläutert wird, hat die Festigung<br />

<strong>und</strong> Stabilisierung der Kernregion des Weltsystems<br />

weit reichende wirtschaftsgeographische Folgen.<br />

Innerhalb der Kernregionen ist durch Standortentscheidungen<br />

transnationaler Konzerne <strong>und</strong> internationaler<br />

Finanzinstitute ein neues hierarchisches System<br />

regionaler Spezialisierung entstanden.<br />

Der zweite Faktor, der zur derzeitigen Globalisierung<br />

beiträgt, ist die Internationalisierung des<br />

Finanzwesens, die in Form von global Banking <strong>und</strong><br />

weltweit miteinander verflochtener Finanzmärkte in<br />

Erscheinung tritt. Diese Veränderungen sind zweifelsohne<br />

an die neue internationale Arbeitsteilung geknüpft<br />

<strong>und</strong> stellen vor allem eine Konsequenz des<br />

massiven Anwachsens internationaler Direktinvestitionen<br />

dar. So sind in den Jahren von 1975 bis<br />

2004 die privaten Kapitalströme von weniger als<br />

5 Prozent der weltweiten Bruttoinlandsprodukte auf<br />

knapp 23 Prozent angewachsen. Bis in die frühen<br />

1970er-Jahre entfielen auf transnationale Unternehmen<br />

r<strong>und</strong> zwei Drittel des gesamten Ausflusses aller<br />

ausländischen Direktinvestitionen, etwa vier Fünftel<br />

davon gingen nach Kanada <strong>und</strong> in die höher entwickelten<br />

Staaten Westeuropas. Im Jahr 2004 war der<br />

Anteil transnationaler Unternehmen auf weniger<br />

als die Hälfte gesunken, während die direkten Auslandsinvestitionen<br />

japanischer, kanadischer <strong>und</strong><br />

deutscher Unternehmen deutlich anstiegen. Unterdessen<br />

zeichnet sich eine neue Quelle ausländischer<br />

Direktinvestitionen ab: transnationale Unternehmen<br />

mit Sitz in semiperipheren Regionen. Viele der 100<br />

Spitzenunternehmen sitzen heute in diesen sich seit<br />

jüngster Zeit industrialisierenden Ländern. Sinopec<br />

Corp, ein chinesisches Unternehmen der Petrochemie-Branche,<br />

ist größer als Boeing, der südkoreanische<br />

Elektronikkonzern Samsung hat Toshiba (Japan),<br />

BMW (Deutschland) <strong>und</strong> den US-amerikanische<br />

Mischkonzern Procter and Gamble hinter sich<br />

gelassen.<br />

Kapital fließt heute hauptsächlich in die Kernregionen:<br />

Zwischen 1998 <strong>und</strong> 2004 entfielen drei Viertel<br />

der globalen ausländischen Direktinvestitionen -<br />

<strong>und</strong> 85 Prozent der Geldströme - auf die Vereinigten


2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.8<br />

G eographie in Beispielen - Produktketten<br />

li-ß.<br />

■' i<br />

'i I I<br />

Produktketten sind aus Arbeits- <strong>und</strong> Herstellungsprozessen<br />

bestehende Netzwerke, an deren Ende ein fertiges Erzeugnis<br />

steht. Globale Produktketten verbinden die verschiedenen Stufen,<br />

die ein Produkt durchläuft: von der Entwicklung über die<br />

Beschaffung von Ausgangsmaterialien <strong>und</strong> der Zulieferung von<br />

Teilen über die Fertigung bis zum Im- oder Export des Endprodukts<br />

an den Verkaufsort, den Vertrieb sowie Marketing <strong>und</strong><br />

Werbung. Häufig erfolgen alle diese Schritte innerhalb eines<br />

global operierenden transnationalen Unternehmens.<br />

Aufgr<strong>und</strong> von Fortschritten in den Bereichen Telekommunikation,<br />

Management <strong>und</strong> Verwaltung, Transport- <strong>und</strong> Finanzwesen,<br />

in der Informatik <strong>und</strong> anderen für die Industrie relevanten<br />

Dienstleistungen ist die Segmentierung oder Dezentralisierung<br />

der Produktion möglich geworden, das heißt Unternehmen<br />

können die einzelnen Produktionsschritte auf unterschiedliche<br />

Standorte verteilen. Dies gilt auch für Dienstleistungen.<br />

Industrieunternehmen können die Produkte in einem<br />

Land entwickeln, die Produktion an Firmen in verschiedenen<br />

Ländern auf verschiedenen Kontinenten vergeben, das Produkt<br />

mit ihrem Markennamen per Telefon oder Internet fast<br />

überall in der Welt verkaufen <strong>und</strong> von Vertragspartnern an<br />

die K<strong>und</strong>en ausliefern lassen. Die einbezogenen Dienstleistungen<br />

in den Bereichen Entwicklung, Verkauf, Finanzierung <strong>und</strong><br />

Auslieferung können ablaufen, ohne dass sich die vielen beteiligten<br />

Akteure je zu Gesicht bekommen - ausgenommen die<br />

Spediteure. Technologische Fortschritte <strong>und</strong> Verbesserungen<br />

im Management erlauben außerdem die Vervielfältigung <strong>und</strong><br />

Standardisierung von Dienstleistungen <strong>und</strong> Produkten weltweit.<br />

Bestimmte patentierte Dienstleistungen wie Schnellrestaurants<br />

(McDonald’s, Kentucky Fried Chicken, Burger King)<br />

setzen computergesteuerte Technologien ein, um ein standardisiertes<br />

Angebot Jederzeit <strong>und</strong> überall zu gewährleisten.<br />

Hinter fast jedem Massenerzeugnis stehen komplexe Produktketten.<br />

Der Jeanshersteller Lee Cooper ist dafür ein gutes<br />

Beispiel (Abbildung 2.8.1). Entworfen in den Vereinigten Staaten,<br />

global beworben <strong>und</strong> in ganz Europa, den Vereinigten<br />

Staaten <strong>und</strong> den Metropolen in semiperipheren <strong>und</strong> peripheren<br />

Ländern im Einzelhandel erhältlich, beruht die Herstellung<br />

der Jeans auf der Arbeit <strong>und</strong> auf Produkten in allen Teilen der<br />

Welt. Die letzten Etappen der Produktionskette, die jedes in<br />

einem Kaufhaus einer britischen Provinzstadt verkauftes<br />

Paar Hosen durchläuft, waren „ein Lieferwagen, der über<br />

die [Straße] A I2 von einem Lager der Firma Lee Cooper an<br />

der Staples Corner am Ende der [Autobahn] Ml im Norden<br />

Londons [...] Davor waren sie durch den Kanaltunnel in einem<br />

Lkw von ähnlichen Lagerhäusern in Amiens, Frankreich, aus<br />

<strong>und</strong> davor per Schiff <strong>und</strong> Bahn aus Tunis in Tunesien gekommen<br />

[...].“ ^<br />

Es gibt drei verschiedene Typen globaler Produktketten.<br />

Erstens gehören dazu die von einem Hersteller betriebenen<br />

Produktionsketten, in denen große, häufig transnationale Konzerne<br />

die Produktionsnetzwerke koordinieren. Ein gutes Beispiel<br />

hierfür ist die US-amerikanische pharmazeutische Industrie.<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung von Medikamenten sind in<br />

den Vereinigten Staaten angesiedelt, Substanzen <strong>und</strong> Komponenten<br />

werden in einer vertikal integrierten globalen Produktionslinie<br />

hergestellt. Konfektioniert <strong>und</strong> vermarktet werden<br />

die Medikamente von einem semiperipheren Standort aus,<br />

oft in Puerto Rico oder Irland, wo Firmen klare Wettbewerbsvorteile<br />

nicht nur bei der Endfertigung, sondern auch bei Marketing-,<br />

Finanz- <strong>und</strong> Verwaltungsdienstleistungen genießen.<br />

Zweitens gibt es Produktketten, die von den Verbrauchern<br />

gesteuert werden. Bei diesem Typ nehmen Großhändler, Markenverkäufer<br />

<strong>und</strong> Handelsgesellschaften Einfluss auf die dezentralen<br />

Produktionsnetzwerke in den verschiedensten exportorientierten,<br />

oft semiperipheren Ländern. Ein gutes Beispiel<br />

hierfür ist Lee Cooper Jeans, ein weiteres der Discounter<br />

Wal-Mart, der die Masse seiner Waren von Vertragspartnern in<br />

Billiglohnländern, zum Beispiel in China, produzieren lässt <strong>und</strong><br />

den Verkauf in den Vereinigten Staaten durch Werbung unterstützt,<br />

die ein Wir-Gefühl erzeugen soll <strong>und</strong> in der sogar patriotische<br />

Töne angeschlagen werden.<br />

Die dritte, durch den Markt gesteuerte Art von Produktketten<br />

ist eine Mischform aus den beiden zuvor beschriebenen.<br />

Sie schließt die Produktion billiger Verbrauchsgüter ein - zum<br />

Beispiel Cola, Bier, Frühstücks-Cornflakes, Süßwaren, Zigaretten<br />

oder Babynahrung -, die weltweit verkauft werden <strong>und</strong> die<br />

Namen von Weltmarken tragen, wenngleich sie oft in peripheren<br />

<strong>und</strong> semiperipheren Ländern für den Verkauf in diesen Ländern<br />

hergestellt werden. Diese Artikel erhalten ihren globalen<br />

Status nicht nur durch besondere Rezepturen <strong>und</strong> Herstellungsverfahren,<br />

sondern mehr noch durch ihre weltweit künstlich<br />

erzeugte kulturelle Bedeutung.<br />

Durch unterschiedliche Arten von Produktketten eröffnen<br />

sich für Firmen <strong>und</strong> nationale Ökonomien eine ganze Reihe<br />

von Möglichkeiten, ihre Position innerhalb der internationalen<br />

Arbeitsteilung zu verbessern. Sie sind ein wichtiges Element in<br />

der komplexen Transnationalisierung der Wirtschaft <strong>und</strong> in der<br />

komplexen Globalisierung von Kultur. Produktketten ermöglichen<br />

nicht nur die Standardisierung von Produkten <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

für diejenigen überall auf der Welt, die sie sich leisten<br />

können. Sie spiegeln auch die Disparitäten wider, von denen<br />

die globale Ökonomie geprägt ist. Wenn die Verbraucher in<br />

Ländern der Kernregion über die Herkunft vieler der Produkte<br />

nachdenken, die sie konsumieren, erkennen sie möglicherweise,<br />

was down the Une oder „unterwegs“ geschieht, wo Hunger-<br />

Abrams, F.; Astill, J. Story of the blues, ln: The Guardian 29. Mai (2001) S. 2; zitiert in Grewe, L. Unravelling fashion’s commodity chains. In: Highes, A.;<br />

Reimer, S. (Hrsg.): Geographies of Commodity Chains. London, 2004, S. 201.


Globalisierung heute 103<br />

löhne <strong>und</strong> erbärmliche Arbeits- <strong>und</strong> Lebensverhältnisse geradezu<br />

Voraussetzungen für das Funktionieren vieler Produktketten<br />

sind. Umgekehrt sind diejenigen, die auf den Farmen<br />

<strong>und</strong> Pflanzungen oder in den Werkstätten <strong>und</strong> Fabriken am<br />

Beginn der Produktketten stehen, sich dank der modernen<br />

Medien voll <strong>und</strong> ganz des ungleich höheren Lebensstandards<br />

derer bewusst, die möglicherweise die Früchte ihrer Arbeit<br />

konsumieren.<br />

aus namibischem Kupfer<br />

<strong>und</strong> australischem Zink -<br />

hergestellte Messingnieten<br />

genäht von Ejallah Dousab,<br />

21, in Ras Jebel, Tunesien,<br />

für 58 Penny am Tag<br />

verkauft in Cromwell's<br />

Madhouse, Ipswich,<br />

für 19,96 Englische Pf<strong>und</strong><br />

in Japan hergestellte<br />

Reißverschlusszähne<br />

Baumwolle aus Benin,<br />

wo Pflücker 60 Penny<br />

pro Tag verdienen<br />

Stone-washed mit<br />

Bimsstein von einem<br />

Vulkan in der Türkei<br />

Nähgarn aus Lisnaska,<br />

Nordirland<br />

gefärbt in Mailand<br />

unter Verwendung von<br />

synthetischem Indigo<br />

aus Deutschland<br />

2.8.1 Die Herstellung von Jeans<br />

der Marke Lee Cooper


2 104 2 Globaler Wandel<br />

Exkurs 2.9<br />

Geographie in Beispielen - Internationale Finanzzentren<br />

als dynam ische K notenpunkte der W e ltw irts ch a ft<br />

J i I<br />

Die Globalisierung der Weltwirtschaft wird in keinem Bild so<br />

deutlich wie in den zahlreichen Darstellungen erdumspannender<br />

Finanzströme. Neue Kommunikationstechnologien<br />

ermöglichen den weltweiten 24-St<strong>und</strong>en-Handel mit Finanzinstrumenten;<br />

riesige Geldsummen können innerhalb von Sek<strong>und</strong>en<br />

global transferiert werden. Dennoch hat sich das gelegentlich<br />

postulierte „Ende der Geographie“ (O’Brien 1992)<br />

selbst auf den internationalen Finanzmärkten nicht eingestellt.<br />

Was sich vielmehr beobachten lässt, ist eine zunehmende<br />

Bedeutung einiger weniger Finanzzentren, in denen<br />

sich Institutionen <strong>und</strong> Akteure des Finanzsektors konzentrieren.<br />

Diese Standorte von Banken, Börsen, Versicherungen,<br />

Pensionsfonds <strong>und</strong> anderen finanznahen Institutionen <strong>und</strong><br />

Dienstleistern - wie beispielsweise Wirtschaftsprüfern, Wirtschaftsanwälten,<br />

Unternehmensberatern oder Nachrichtenagenturen<br />

- sind heute zwar weltweit miteinander vernetzt,<br />

bleiben aber dennoch eingebettet in nationale institutionelle<br />

<strong>und</strong> kulturelle Kontexte <strong>und</strong> staatlicher Regulierung unterworfen.<br />

Als dynamische Knotenpunkte im globalen Geld- <strong>und</strong> Kapitalverkehr<br />

sind internationale Finanzzentren sowohl durch<br />

eine hohe räumliche Konzentration des Finanzsektors - oft in<br />

eng umschriebenen Clustern in zentralen Innenstadtlagen -<br />

als auch durch intensive transnationale Vernetzung charakterisiert.<br />

Für die starke Ballung von Finanzaktivitäten an bestimmten<br />

Orten lassen sich eine Reihe von Gründen anführen<br />

(Grote 2004, Faulconbridge et al. 2007):<br />

• Lokalisierungseffekte: Vorteile durch die Nähe zu Unternehmen<br />

des gleichen Sektors, zum Beispiel großer Arbeitsmarkt,<br />

Verfügbarkeit spezialisierter Dienstleistungen, Zugang<br />

zu Informationen, Wissensaustausch durch Face-<br />

to-face-Kontakte<br />

• Urbanisationseffekte: Vorteile durch die Nähe zu Unternehmen<br />

anderer Sektoren, zum Beispiel Verfügbarkeit spezialisierter<br />

Dienstleistungen, Verkehrsinfrastruktur, Zugang<br />

zu Informationen über lokale Unternehmen<br />

• finanzsektorspezifische Agglomerationsfaktoren, zum<br />

Beispiel Liquidität auf Finanz- <strong>und</strong> Wertpapiermärkten,<br />

finanztechnologische Infrastruktur, nationale Regulierungsbestimmungen,<br />

Imagegründe, Kosten für Arbeit, Lebenshaltung<br />

<strong>und</strong> so weiter, Besteuerung<br />

Um die Entstehung von Finanzzentren an bestimmten Orten<br />

zu erklären, ist darüber hinaus eine historische Perspektive<br />

erforderlich, die frühe Entstehungskontexte beleuchtet (Merki<br />

2005). Der Aufstieg einzelner Zentren ist nicht zuletzt<br />

durch sich selbst verstärkende Prozesse zu erklären, die<br />

zu „pfadabhängigen“ Entwicklungen führen können: In Frankfurt<br />

kam beispielsweise der Ansiedlung der Zentralbank nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg eine solch pfadinitiierende Rolle zu<br />

(Grote 2004).<br />

Im weltweiten Vergleich lassen sich internationale Finanzzentren<br />

auf verschiedene Weise kategorisieren <strong>und</strong> anhand<br />

unterschiedlicher Indikatoren voneinander abgrenzen, wobei<br />

London <strong>und</strong> New York als führende globale Finanzzentren<br />

unangefochten den Spitzenplatz einnehmen (Sassen<br />

1999). Andere Finanzplätze haben eher kontinentale oder nationale<br />

Bedeutung, oder spezialisieren sich auf bestimmte<br />

Finanzprodukte oder K<strong>und</strong>engruppen, zum Beispiel sogenannte<br />

Offshore-Zentren, die Finanzdienstleistungen überwiegend<br />

für K<strong>und</strong>en aus anderen Ländern bereitstellen.<br />

Die Tabelle 2.1 zeigt eine Klassifizierung bedeutender Städte<br />

nach dem Grad der globalen Vernetzung ihres unternehmensorientierten<br />

Dienstleistungssektors, unterschieden in eine<br />

weit gefasste Kategorie „Weltstädte“ - hier definiert durch<br />

die sechs Teilsektoren Banken, Versicherungen, Wirtschaftsprüfungsagenturen,<br />

Werbeagenturen, Wirtschaftskanzleien<br />

<strong>und</strong> Unternehmensberatungen - sowie eine enger gefasste<br />

Kategorie „Finanzzentren“ (Banken). Gemessen wird der<br />

Grad der Verflechtung über eine Analyse der Bürostandorte<br />

führender international agierender Dienstleistungsunternehmen<br />

<strong>und</strong> Banken (Taylor 2004, Hoyler 2005). London <strong>und</strong><br />

New York nehmen in beiden Kategorien die ersten Ränge<br />

ein, Frankfurt dagegen springt im Vergleich als spezialisiertes<br />

Finanzzentrum um sieben Plätze nach oben.<br />

M. Hoyler<br />

Staaten, die Europäische Union <strong>und</strong> Japan. Eine der<br />

wichtigsten Auswirkungen des Globalisierungsprozesses<br />

ist somit die Zirkulation ausländischer Direktinvestitionen<br />

zwischen Nordamerika, Westeuropa<br />

<strong>und</strong> Japan auf Kosten peripherer Regionen (Abbildung<br />

2.24), Der Süden ist von diesen Geld- Waren<strong>und</strong><br />

Touristenströmen weitgehend abgeschnitten.<br />

Wie in Kapitel 8 näher dargestellt wird, hat die<br />

Globalisierung der Wirtschaft allerdings auch zu<br />

erheblichen Kapitalflüssen in die sich gegenwärtig<br />

industrialisierenden Staaten geführt, darunter Argentinien,<br />

Brasilien, China mit Hongkong, Malaysia, Mexiko,<br />

Singapur <strong>und</strong> Südkorea. Wie in Kapitel 1 ausgeführt<br />

wurde, wurden diese Veränderungen durch<br />

neoliberale Politik <strong>und</strong> neoliberale Institutionen<br />

wie die Welthandelsorganisation <strong>und</strong> das Weltwirt-


Globalisierung heute 105<br />

Tabelle 2.1<br />

globaler Dienstleister<br />

Städte mit stärkster weltweiter Vernetzung<br />

Ranf, Weltstädte Finanzzentren<br />

1 London London<br />

2 New York New York<br />

3 Hongkong Tokio<br />

4 Paris Hongkong<br />

5 Tokio Singapur<br />

6 Singapur Paris<br />

7 Chicago Frankfurt<br />

8 Mailand Madrid<br />

9 Los Angeles Jakarta<br />

10 Toronto Chicago<br />

11 Madrid Mailand<br />

12 Amsterdam Sydney<br />

13 Sydney Los Angeles<br />

14 Frankfurt Mumbai<br />

15 Brüssel San Francisco<br />

16 Sao Paulo Sao Paulo<br />

17 San Francisco Taipeh<br />

18 Mexiko-Stadt Schanghai<br />

19 Zürich Brüssel<br />

20 Taipeh Seoul<br />

Quelle: Taylor <strong>und</strong> Catalano 2002<br />

schaftsforum (Abbildung 2.25) gefördert oder begünstigt.<br />

Durch die Leistungsfähigkeit von Computer- <strong>und</strong><br />

Telekommunikationssystemen, die ein schnelles Reagieren<br />

auf sich verändernde internationale Bedingungen<br />

erlauben, ist eine spekulative Komponente in das<br />

internationalisierte Finanzgeschehen gekommen.<br />

Insgesamt wird tagtäglich ein Geldwert im Umfang<br />

von r<strong>und</strong> 1,2 Billionen US-Dollar gehandelt. Das Volumen<br />

internationaler Investitionen <strong>und</strong> des internationalen<br />

Finanzhandels hat zu einem gesteigerten Bedarf<br />

an Banken <strong>und</strong> Geldinstituten geführt, die in der<br />

Lage sind, große Summen einzusetzen sowie schnell<br />

<strong>und</strong> effizient auch über große Entfernungen hinweg<br />

zu agieren. Die Schaltzentralen dieses neuen Systems<br />

konzentrieren sich auf einige wenige Städte wie London,<br />

Frankfurt, New York <strong>und</strong> Tokio. Diese Zentralen<br />

stehen r<strong>und</strong> um die Uhr untereinander in Verbindung<br />

(Abbildung 2.26), <strong>und</strong> ihre Netzwerke erschließen<br />

jeden Winkel der Erde.<br />

Die Tabelle 2.2 differenziert die bedeutendsten<br />

Dienstleistungsknoten der Weltwirtschaft nach den<br />

beiden bereits genannten <strong>und</strong> fünf weiteren Kriterien,<br />

die sich ebenfalls aus den Verflechtungsbeziehungen<br />

der Städte ableiten lassen (Taylor et al. 2002). Die genannten<br />

Städte gehören in mindestens einer Kategorie<br />

zu den bedeutendsten Knoten weltweit; viele vereinen<br />

jedoch mehrere Funktionen auf sich. London,<br />

New York <strong>und</strong> Tokio erscheinen als führende Global<br />

eitles: Sie sind umfassende Dienstleistungsmetropolen,<br />

Finanzzentren sowie globale Kommandozentren<br />

<strong>und</strong> Sitze großregionaler Verwaltungen mit Zuständigkeit<br />

beispielsweise für Lateinamerika oder Afrika.<br />

Gleichzeitig werden die vielfältigen Nischen sichtbar,<br />

die einzelne Knoten im globalen Städtesystem einnehmen<br />

können, beispielsweise als funktional spezialisierte<br />

Finanzzentren oder als Gateways zu nationalen<br />

beziehungsweise regionalen Märkten.<br />

So zeigt der konkrete Vergleich der zwei derzeit<br />

führenden europäischen Finanzzentren London<br />

<strong>und</strong> Frankfurt, dass diese beiden Städte über ihre unterschiedliche<br />

Einbindung in weitere Personal-,<br />

Kommunikations- <strong>und</strong> Finanzströme jeweils spezifische<br />

Positionen im globalen Städtenetz einnehmen:<br />

London als internationale Weltstadt ersten Ranges,<br />

Frankfurt als Finanzplatz mit eher europäischer Ausrichtung<br />

(Floyler 2004). Dies bedeutet aber auch, dass<br />

Finanzzentren nicht zwangsweise in erbitterter Konkurrenz<br />

zueinander stehen, wie dies für London <strong>und</strong><br />

Frankfurt insbesondere zur Zeit der Euroeinführung<br />

<strong>und</strong> erster Spekulationen über grenzüberschreitende<br />

Börsenzusammenschlüsse im öffentlichen Diskurs<br />

häufig dargestellt wurde (Beaverstock et al. 2005).<br />

Vielmehr werden beide Städte von den großen Finanz-<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungsfirmen komplementär genutzt<br />

<strong>und</strong> ergänzen sich damit in vielen Bereichen<br />

- der Erfolg Londons als Zentrum globaler Netzwerke<br />

des Finanzsektors kommt Frankfurt zugute. Die Bedeutung<br />

Frankfurts als Tor zum deutschen Markt<br />

stärkt auch London. Solch eine relationale Betrachtungsweise<br />

von Finanzzentren hilft dabei, wechselseitige<br />

Abhängigkeiten genauer zu beleuchten <strong>und</strong> damit<br />

örtliche Rekonfigurationen auch als Ergebnis<br />

überregionaler <strong>und</strong> häufig transnationaler Prozesse<br />

zu verstehen.<br />

I<br />

Ein neues technologisches System<br />

Ein dritter Globalisierungsfaktor sind neue technologische<br />

Systeme, die auf einer Kombination von Inno-


T i<br />

106 2 Globaler Wandel<br />

/ .<br />

5 0 0 0 Mrd. Dollar<br />

~t Nordamerika<br />

1t. , Japan <strong>und</strong> Korea<br />

%<br />

r 6 0 0 0 Mrö. Dollar<br />

Westeuropa<br />

H o ngkong<br />

, X . 10000 M r^ IM Ia r * * %<br />

f -S-.^ % //<br />

h<br />

Abj] bhabi<br />

't3<br />

* Djakarta I<br />

300 Mrd. Dollar<br />

Sydney <strong>und</strong> Melbourne<br />

Dakars<br />

/<br />

Buenos Aires!<br />

^ulo<br />

rSO Mrd. Dollar<br />

Abidjan<br />

□ 80 % des Welt-Bruttonationaleinkommens<br />

Börsenwert zu Anfang des 21. Jh .; 98 % im Norden<br />

wichtigste Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftsströme: Luftverkehr,<br />

Passagiere, Waren, Geld: über 8 0 % im Norden<br />

100 Mrd, D o lla r<br />

Johannösburg<br />

( Reiseziele von über 82 % der weltweiten Touristen<br />

Flughäfen mit über 20 Mio. Passagieren pro Jahr<br />

2.24 Der Süden abgeschnitten von Geld-, Waren- <strong>und</strong> Touristenströmen (Quelle: Atlas der Globalisierung, Berlin 2006, S. 43)<br />

fi<br />

ii<br />

2.25 Das Weltwirtschaftsforum<br />

(2005) Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums<br />

im Kongresszentrum<br />

in Davos. R<strong>und</strong> 2 000 hochrangige<br />

Vertreter aus Politik <strong>und</strong> Wirtschaft<br />

treffen sich jedes Jahr in dem<br />

Schweizer Skiort zum Weltwirtschaftsforum.<br />

vationen wie Solarenergie, Automatisierungstechnik,<br />

Mikroelektronik, Biotechnologie, digitaler Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> computergestützten Informationssystemen<br />

basieren. Diese Systeme haben zu gravierenden<br />

Veränderungen hinsichtlich der räumlichen Organisation<br />

der Wirtschaft in den Ländern der Kern­<br />

region geführt. Von besonderer Bedeutung waren in<br />

diesem Zusammenhang neue <strong>und</strong> weiterentwickelte<br />

Transport- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien: die<br />

Vernetzung von Beförderungssystemen zu Wasser,<br />

auf der Schiene <strong>und</strong> auf der Straße durch die Umstellung<br />

auf Container (Abbildung 2.27); Großraum-


Globalisierung heute 107<br />

2.26 Handel zwischen den<br />

großen Finanzmärkten r<strong>und</strong><br />

um die Uhr Die Bürozeiten in den<br />

wichtigsten Finanzzentren - New<br />

York, London <strong>und</strong> Tokio - überschneiden<br />

sich, da die drei Städte<br />

über weit auseinanderliegende<br />

Zeitzonen verteilt sind. Dies bedeutet,<br />

dass der Handel mit<br />

Währungen, Aktien <strong>und</strong> anderen<br />

Instrumenten des Geldverkehrs<br />

zwischen diesen Städten r<strong>und</strong> um<br />

die Uhr stattfindet.<br />

2.27 Der Einfluss der Umstellung auf Container auf den Welthandel Die Umstellung auf Container hat den Langstreckentransport<br />

revolutioniert, da diese das langsame, teure <strong>und</strong> unzuverlässige manuelle Be- <strong>und</strong> Entladen der Schiffe erübrigen. Vor der<br />

Umstellung auf Container verbrachten die Schiffe pro Fahrttag einen Tag im Hafen; seitdem kommen auf zehn Tage auf dem Meer ein<br />

Tag Im Hafen. Im Jahre 1965 wurde ein internationaler Standard für Container eingeführt, was einen Güterumschlag vom Schiff direkt<br />

auf die Bahn <strong>und</strong> die Straße erlaubt <strong>und</strong> wodurch sich eine hoch organisierte weltweite Transportinfrastruktur etabliert hat. Allerdings<br />

erfordert der Containerdienst große Investitionen in die Behälter <strong>und</strong> die Umschlaganlagen. Daraus bedingt hat sich der Containerverkehr<br />

rasch auf wenige Häfen konzentriert, die den transatlantischen <strong>und</strong> transpazifischen Handel steuern.


108 2 Globaler Wandel<br />

Tabelle 2.2:<br />

Bedeutende Knoten im Weltstadtnetzwerk<br />

Stark<br />

vernetzte<br />

Weltstädte<br />

Stark<br />

vernetzte<br />

Finanzzentren<br />

Dominante<br />

Zentren<br />

Globale<br />

Kommandozentren<br />

Regionale<br />

Kommandozentren<br />

Stark<br />

vernetzte<br />

Gateways<br />

Aufstrebende<br />

Gatew. j<br />

Amsterdam<br />

Boston<br />

Brüssel<br />

X<br />

X<br />

X<br />

Buenos Aires<br />

X<br />

Caracas<br />

X<br />

Chicago X X X X<br />

Frankfurt X X X<br />

Hongkong X X X X X<br />

Jakarta X X<br />

Kuala Lumpur<br />

X<br />

London X X X X X<br />

Los Angeles<br />

X<br />

Madrid X X<br />

Mailand X X<br />

Melbourne<br />

Mexiko-Stadt<br />

X<br />

X<br />

Miami X X<br />

Moskau<br />

X<br />

Mumbai<br />

X<br />

New York X X X X X<br />

Paris X X X X<br />

Peking<br />

X<br />

Sao Paulo X X X<br />

Seoul<br />

X<br />

Singapur X X X X<br />

Sydney X J<br />

Taipei<br />

X<br />

Tokio X X X X X<br />

Toronto X X<br />

Wash. DC<br />

X<br />

Zürich X X<br />

Quelle: Taylor, Walker, Catalano & Hoyler 2002, 240


Globalisierung heute 109<br />

frachtflugzeuge; Glasfaserübertragungstechnologien;<br />

Telekommunikationssatelliten; E-Mail <strong>und</strong> Satellitenempfangsstationen.<br />

Globale Absatzmärkte<br />

Ein vierter Faktor der Globalisierung war die Ausweitung<br />

der Absatzmärkte. Innerhalb des wohlhabenden<br />

Teils der Weltbevölkerung lassen sich ähnliche Geschmackstrends<br />

<strong>und</strong> ähnliches Konsumverhalten<br />

feststellen. Es entstand eine neue, internationale<br />

<strong>und</strong> materialistische Alltagskultur, die unter anderem<br />

dadurch gekennzeichnet ist, dass die Menschen weniger<br />

sparen, mehr auf Kredit kaufen, erst in reiferem<br />

Lebensalter Familien gründen <strong>und</strong> sich mit erschwinglichen<br />

Luxusartikeln verwöhnen, die - <strong>und</strong><br />

gerade darauf setzen die Hersteller - Exklusivität<br />

<strong>und</strong> Stil vermitteln sollen. Solche Trends <strong>und</strong> Vorbilder<br />

lassen sich vorzüglich über die neuen Medien<br />

transportieren. Und letztlich war es die neue Kultur,<br />

die es transnationalen Unternehmen ermöglichte,<br />

„Weltprodukte“ wie deutsche Luxusautomobile,<br />

Schweizer Uhren, französische Weine, amerikanische<br />

Softdrinks, italienische Schuhe <strong>und</strong> Designerkleidung<br />

oder japanische Unterhaltungselektronik global zu<br />

vermarkten.<br />

Die Internationalisierung der Alltagskultur wird<br />

durch die Internationalisierung des Fernsehens, insbesondere<br />

durch Sender wie CNN oder MTV, sowie<br />

durch von kartellähnlichen Medienkonzernen produzierte<br />

TV-Spielfilme <strong>und</strong> Unterhaltungsserien verstärkt.<br />

Weltweit hat sich die Zahl der Fernsehapparate<br />

je 1000 Einwohner zwischen 1980 <strong>und</strong> 2000 verdoppelt,<br />

<strong>und</strong> die Multimediabranche hat einen ungeheuren<br />

Boom erlebt. In Bezug auf den globalen Markt für<br />

Produkte der Unterhaltungsindustrie, die von diesen<br />

Medien übertragen werden, zeichnet sich jedoch eine<br />

zunehmende Konzentration ab. Auch der Mediensektor<br />

wird in einigen Ländern von wenigen Multis<br />

kontrolliert. Als klassische Beispiele eines Zusammenspiels<br />

von Großkapital, Medienbesitz <strong>und</strong> politischer<br />

Macht gelten unter anderem Italien (Berlusconi)<br />

sowie die USA, Australien <strong>und</strong> Großbritannien,<br />

wo die Murdoch-Gruppe durch ihre Medien einen<br />

großen Einfluss auf die Politik ausübt. Bei Film, Musik<br />

<strong>und</strong> Fernsehen, den Kernsegmenten der Unterhaltungsindustrie,<br />

nimmt die Übermacht von US-Produkten<br />

weiter zu, während in zahlreichen anderen<br />

Undern die nationalen Film- <strong>und</strong> Musikindustrien<br />

um das nackte Überleben kämpfen. So bezieht Hollywood<br />

mehr als die Hälfte seiner Gewinne von außerhalb<br />

der Vereinigten Staaten; 1980 waren es erst<br />

30 Prozent. In den USA produzierte Filme haben<br />

in Japan 50 Prozent, in Europa 70 Prozent <strong>und</strong> in<br />

Südamerika sogar 85 Prozent Marktanteil. Ähnlich<br />

verhält es sich mit US-amerikanischen Fernsehserien.<br />

Gegen diese Art von Kulturimperialismus regt sich<br />

zunehmend Widerstand.<br />

Globalisierung <strong>und</strong> Unterschiede<br />

, zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie<br />

Das entscheidende Ergebnis der Globalisierung ist die<br />

Konsolidierung der Kernregion des Weltsystems. Die<br />

Kernregion besteht heute aus drei eng miteinander<br />

verknüpften Teilregionen, deren geographische Zentren<br />

Nordamerika, West- <strong>und</strong> Zentraleuropa <strong>und</strong> Japan<br />

bilden (Abbildung 2.28). Die geographischen<br />

Kerne dieser Triade sind über drei Hauptkreisläufe<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en. Die Kapital-, Handels<strong>und</strong><br />

Kommunikationsströme zirkulieren vor allem<br />

zwischen Europa <strong>und</strong> Nordamerika, Europa <strong>und</strong><br />

dem Fernen Osten sowie zwischen verschiedenen Regionen<br />

des pazifischen Gürtels. Die Abbildung 2.29<br />

zeigt am Beispiel des Telefonverkehrs die überragende<br />

Bedeutung Nordamerikas hinsichtlich der internationalen<br />

Kommunikationsströme.<br />

Wenngleich im Zuge der Globalisierung immer<br />

größere Teile der Erde immer vollständiger in das kapitalistische<br />

Weltsystem eingeb<strong>und</strong>en werden, so vergrößert<br />

sich gleichzeitig der Abstand zwischen Kern<br />

<strong>und</strong> Peripherie kontinuierlich. Nach Angaben des<br />

Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen<br />

hat sich die Kluft zwischen dem ärmsten Fünftel<br />

<strong>und</strong> dem reichsten Fünftel der Weltbevölkerung im<br />

Zeitraum zwischen 1960 <strong>und</strong> 2000 mehr als verdreifacht.<br />

Das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt in den<br />

zwanzig reichsten Staaten der Erde ist heute 40-mal<br />

höher als in den zwanzig ärmsten Ländern. Teile<br />

der Peripherie sind nahezu in die ökonomische Bedeutungslosigkeit<br />

abgeglitten. In nicht weniger als<br />

55 Ländern ist in den 1990er-Jahren das durchschnittliche<br />

Pro-Kopf-Einkommen gesunken. In<br />

den afrikanischen Ländern südlich der Sahara<br />

schrumpfte die Wirtschaft in den 1980er-Jahren<br />

um ein Drittel <strong>und</strong> pendelte sich in den 1990er-Jahren<br />

auf niedrigem Niveau ein, sodass der Lebensstandard<br />

der dortigen Bevölkerung heute im Durchschnitt<br />

niedriger ist als zu Beginn der 1960er-Jahre.<br />

2004 entfielen auf das Fünftel der Weltbevölkerung,<br />

das sich auf die Länder mit den höchsten Pro-Kopf-<br />

Einkommen verteilt,<br />

• 75 Prozent des weltweit erzielten Einkommens<br />

(auf das untere Fünftel der Skala entfiel 1 Prozent),


110 2 Globaler Wandel<br />

2.28 Die dreipolige Kernregion der Weltökonomie Vereinfacht ausgedrückt, gruppiert sich die heutige Weltwirtschaft um einen<br />

Kernraum mit drei Zentren, den Vereinigten Staaten, Japan <strong>und</strong> der Europäischen Union. Ein Großteil der Waren-, Kapital <strong>und</strong><br />

Informationsströme fließt innerhalb <strong>und</strong> zwischen diesen Zentren, die zusammen die Peripherien der Welt beherrschen, wobei der<br />

Einfluss jedes Zentrums in der Jeweils eigenen, regionalen Expansionszone - der am nächsten gelegenen peripheren Region -<br />

am größten ist. (Quelle; Map projection, Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Das Wort<br />

Dymaxion <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute,<br />

Santa Barbara, CA, © 1938, 1967, 1992. Alle Rechte Vorbehalten)<br />

I<br />

2.29 Kommunikationsströme zwischen den Großregionen der Erde Das Diagramm zeigt die Ströme der über Telefonnetze<br />

laufenden Nachrichtenübertragung zwischen den Großregionen der Erde, angegeben in Milliarden Minuten. (Quelle: Staple, G.C.<br />

(Hrsg.) TeleGeography 1999. Washington D.C., TeleGeography Inc. 1999)


Globalisierung heute 111<br />

• 83 Prozent der globalen Exportmärkte (auf das untere<br />

Fünftel der Skala entfiel wiederum 1 Prozent),<br />

• 76 Prozent aller weltweit existierenden Telefonanschlüsse,<br />

dem derzeit noch wichtigsten Telekommunikationsmittel<br />

(auf das untere Fünftel der Skala<br />

entfielen lediglich 1,5 Prozent).<br />

Während 1,3 Milliarden Menschen in allen Teilen der<br />

Erde von täglich weniger als 1 US-Dollar leben müssen,<br />

besitzen die zweih<strong>und</strong>ert reichsten Männer <strong>und</strong><br />

Frauen zusammen mehr als 1 Billion US-Dollar. Das<br />

Vermögen der drei Top-Milliardäre übersteigt die<br />

Summe der Bruttosozialprodukte aller geringer entwickelten<br />

Länder, in denen insgesamt über 600 Millionen<br />

Menschen leben). Die der OECD (Organization<br />

for Economic Cooperation and Development),<br />

einer Vereinigung von 30 Industriestaaten, angehörenden<br />

Länder, in denen knapp ein Fünftel der Weltbevölkerung<br />

lebt, kontrollieren 71 Prozent des weltweiten<br />

Handels mit Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen <strong>und</strong><br />

konsumieren 16-mal mehr als die ärmsten 20 Prozent<br />

der Weltbevölkerung. Mehr als 850 Millionen Menschen<br />

leiden an Unterernährung <strong>und</strong> Hunger, darunter<br />

142 Millionen in Indien, 221 Millionen in China<br />

<strong>und</strong> 204 Millionen in den afrikanischen Ländern südlich<br />

der Sahara.<br />

Angesichts dieses enormen Gefälles <strong>und</strong> der räumlichen<br />

Ungleichverteilung des Wohlstands drängt sich<br />

die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit auf. Demagogen<br />

setzen räumliche Disparitäten häufig mit sozialer<br />

Ungleichheit oder Ungerechtigkeit gleich. Brauchbarer<br />

ist der Begriff der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen<br />

(spatial justice), der zu einer Betrachtung<br />

der Verteilung gesellschaftlicher Lasten <strong>und</strong><br />

Nutzen auf unterschiedlichen räumlichen Maßstabsebenen<br />

führt. Dabei sind sowohl die unterschiedlichen<br />

Bedürfnisse der Menschen als auch deren Beitrag<br />

zur Erzielung von materiellem Wohlstand <strong>und</strong><br />

sozialer Sicherheit zu berücksichtigen. Viele Menschen,<br />

Nationen <strong>und</strong> ethnische Gruppen fühlen<br />

sich durch die mit der Globalisierung verb<strong>und</strong>enen<br />

<strong>und</strong> sich immer weiter beschleunigenden Transformationsprozesse<br />

an den Rand gedrängt, ausgebeutet<br />

<strong>und</strong> abgeschoben. In nahezu allen wirtschaftlich peripheren<br />

Regionen herrscht seit langem das Empfinden<br />

von Ungerechtigkeit vor. Wut <strong>und</strong> Verärgerung<br />

über die vergangene koloniale <strong>und</strong> imperialistische<br />

Ausbeutung erhielten neue Nahrung durch den Umstand,<br />

dass die wohlhabenden Orte <strong>und</strong> Regionen der<br />

Erde sich wirtschaftlich zunehmend auf die billigen<br />

Arbeitskräfte <strong>und</strong> Ressourcen der Peripherie stützen<br />

<strong>und</strong> transnationale wirtschaftliche Aktivitäten die traditionellen<br />

sozioökonomischen Strukturen peripherer<br />

<strong>und</strong> semiperipherer Länder unter dem Banner<br />

der Globalisierung verdrängt haben. Ein Nachdenken<br />

über die räumliche Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen<br />

ist wesentlicher Bestandteil dessen, was<br />

in Kapitel 1 als geographical imagination beschrieben<br />

wurde. Gleichzeitig ist es ein Thema, das in den<br />

folgenden Kapiteln wiederholt aufgegriffen wird.<br />

Mit der Expansion der Wirtschaft sind noch andere<br />

wichtige, kontrovers diskutierte Probleme verb<strong>und</strong>en:<br />

zum Beispiel der Rückgang der Ozonschicht <strong>und</strong><br />

die daraus resultierenden Gefahren für die Artenvielfalt<br />

<strong>und</strong> die marinen Ökosysteme. Der Ausstoß von<br />

Kohlendioxid, ein wichtiger Faktor des globalen Klimawandels,<br />

spiegelt teilweise das wirtschaftliche Gefälle<br />

zwischen Kernregionen <strong>und</strong> Peripherie wider.<br />

Die Vereinigten Staaten produzieren pro Kopf ihrer<br />

Bevölkerung 7-mal mehr Kohlendioxid als China<br />

<strong>und</strong> 9-mal mehr als Indien (Kapitel 4). Ähnliches<br />

gilt in den Augen vieler für die verschiedenen lokalen<br />

Auswirkungen der internationalen Ökonomie: Ressourcenerschöpfung<br />

<strong>und</strong> Umweltschäden hier, Ökotourismus<br />

dort, in wieder anderen Regionen Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> so weiter. Andere negative Begleiterscheinungen<br />

der Globalisierung sind die Zunahme<br />

von internationalem Drogenhandel <strong>und</strong> Geldwäsche,<br />

die verstärkte Ausbreitung übertragbarer Krankheiten<br />

wie Tuberkulose <strong>und</strong> HIV/AIDS sowie eine größere<br />

Bewegungsfreiheit für die organisierte Kriminalität<br />

<strong>und</strong> für Terroristen. Diese unerwünschten Folgen<br />

des Globalisierungsprozesses stellen eine internationale<br />

Gemeinschaft, die heute stärker vernetzt <strong>und</strong><br />

damit verw<strong>und</strong>barer denn je ist, vor nie gekannte<br />

Herausforderungen.<br />

Dennoch muss man sich immer wieder bewusst<br />

machen, dass die Globalisierung nicht alle Regionen<br />

der Erde gleichermaßen integriert. Vielmehr vollzieht<br />

sich eine fortschreitende Spaltung unseres Globus in<br />

eine „beschleunigte“ <strong>und</strong> eine „langsame“ Welt. Die<br />

beschleunigte Welt umfasst Menschen, Orte <strong>und</strong> Regionen,<br />

die - als Produzenten <strong>und</strong> Konsumenten -<br />

direkt beteiligt sind an transnationalen Wirtschaftskreisläufen,<br />

moderner Telekommunikation, dem<br />

Verbrauch von Konsumgütern sowie der weltweiten<br />

Nachrichten- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie. Die langsame<br />

Welt, zu der 85 Prozent der Weltbevölkerung<br />

zählen, besteht aus Menschen, Orten <strong>und</strong> Regionen,<br />

die an transnationalen Wirtschaftskreisläufen, moderner<br />

Telekommunikation, dem Verbrauch von<br />

Konsumgütern sowie der weltweiten Nachrichten<strong>und</strong><br />

Unterhaltungsindustrie nur begrenzt teilhaben.<br />

Die langsame Welt umfasst hauptsächlich die verarmten<br />

Länder der Peripherie, Staaten mit hohen Analphabetenquoten<br />

<strong>und</strong> niedrigen Schulbesuchsquoten,


112 2 Globaler Wandel<br />

I :<br />

Beschäftigung im informellen Wirtschaftssektor <strong>und</strong><br />

hohem „brain drain“ (Kapitel 3). Dazu gehören aber<br />

auch zahlreiche ländliche, wirtschaftlich stagnierende<br />

Räume, sterbende Industrieregionen <strong>und</strong> benachteiligte<br />

Elendsviertel in Ländern der Kernregion - Räume<br />

also, die allesamt den Anschluss an die jüngste<br />

Entwicklungsphase des modernen Weltsystems verloren<br />

haben.<br />

I<br />

„Beschleunigte W elt“ versus<br />

„langsame W elt“___________<br />

Die „beschleunigte Welt“ ist zu einem großen Teil das<br />

Ergebnis der globalen Ausweitung des Kapitalismus.<br />

Da der Kapitalismus per se ein auf Wettbewerb basierendes<br />

System ist, befinden sich Unternehmer in<br />

einem ständigen Kampf um die Erschließung neuer<br />

Märkte <strong>und</strong> die Reduzierung des „Leerlaufs von Kapital“,<br />

das heißt der Zeitspanne, die verstreicht, bis<br />

zur Finanzierung der Produktion von Waren oder<br />

Dienstleitungen investiertes Geld als Gewinn aus deren<br />

Verkauf zurückfließt. Im globalen kapitalistischen<br />

System ist Zeit gleichbedeutend mit Geld,<br />

was zwangsläufig zu einer stetigen Beschleunigung<br />

des Wirtschaftslebens führt. Es überrascht nicht,<br />

dass die dreipolige Kernregion des Weltsystems das<br />

Gravitationszentrum der beschleunigten Welt bildet.<br />

Ihr gehören jedoch auch alle wohlhabenden Regionen,<br />

Siedlungen, Stadtviertel <strong>und</strong> Haushalte an, die<br />

an die derzeitigen Wirtschaftskreisläufe angeschlossen<br />

sind, sei es als Produzenten oder als Konsumenten.<br />

Das Schlüsselereignis in der Entwicklung der beschleunigten<br />

Welt war der „Systemschock“, den die<br />

Weltwirtschaft Mitte der I970er-Iahre erlebte. Die<br />

globalen Finanzmärkte, welche durch Haushaltsdefizite<br />

der US-Regierung <strong>und</strong> durch die nach einer gezielten<br />

Vervierfachung des Rohölpreises gewachsenen,<br />

riesigen Devisenreserven der OPEC (Organization<br />

of Petroleum Exporting Countries) überschwemmt<br />

wurden, entwickelten sich rasch zu einem<br />

ausgeklügelten internationalen Finanzsystem mit<br />

neuen Investitions- <strong>und</strong> Deinvestitionsstrukturen,<br />

welche ihrerseits gr<strong>und</strong>legende sozioökonomische<br />

Veränderungen bewirkten. Gleichzeitig führten die<br />

auf lokaler, nationaler <strong>und</strong> internationaler Ebene beschleunigten<br />

Geldkreisläufe auch zu einer Beschleunigung<br />

des täglichen Lebens.<br />

Das zentrale Medium der beschleunigten Welt ist<br />

das Internet, ein globales Netzwerk von Computern,<br />

dessen Entwicklung in den 1970er-Jahren mit einem<br />

vom US-Verteidigungsministerium finanzierten Projekt<br />

eines dezentralen Kommunikationssystems begann.<br />

Heute ist das Internet zum wichtigsten Instrument<br />

der akademischen Informationsvermittlung geworden<br />

<strong>und</strong> wird von immer mehr Nutzern auch zur<br />

Unterhaltung genutzt. Dabei machen E-Mails ungefähr<br />

die Hälfte des gesamten Übertragungsverkehrs<br />

aus. Der Rest verteilt sich auf die Übertragung wissenschaftlicher<br />

Texte <strong>und</strong> Daten, elektronischer Zeitschriften<br />

sowie von Informationsbörsen <strong>und</strong> des<br />

World Wide Web mit seiner grafischen Benutzeroberfläche.<br />

Im Jahr 2005 hatten r<strong>und</strong> 1 Milliarde Menschen<br />

Zugang zum Internet. Der Umfang des Internets<br />

hat sich in Bezug auf die Zahl der Netzwerke <strong>und</strong><br />

seiner Benutzer seit 1990 jährlich verdoppelt. Mitte<br />

2005 konzentrierte sich die Mehrzahl der Internetnutzer<br />

auf Nordamerika (über 27 Prozent), Europa<br />

(28 Prozent), Japan, Australien <strong>und</strong> Neuseeland sowie<br />

die räumlich begrenzten „Außenposten“ der<br />

beschleunigten Welt, die in die großen städtischen<br />

Agglomerationsräume der peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Regionen eingebettet sind. Insgesamt machen<br />

Datenübertragungen von oder nach Nordamerika<br />

65 Prozent des gesamten Internetverkehrs aus. Diese<br />

ausgeprägten Ungleichheiten zwischen schneller <strong>und</strong><br />

langsamer Welt sind Kennzeichen einer digitalen<br />

Kluft, die auf allen räumlichen Maßstabsebenen existiert<br />

(Abbildung 2.30).<br />

Von einer Kluft zwischen „beschleunigter Welt“<br />

<strong>und</strong> „langsamer Welt“ zu reden, ergibt freilich ein unscharfes<br />

Bild. Tatsächlich umfasst nämlich das Netz<br />

der beschleunigten Welt nahezu die gesamte Erde, allerdings<br />

nur bestimmte Regionen <strong>und</strong> nicht die Gesamtheit<br />

ihrer Bewohner. Die <strong>Humangeographie</strong><br />

muss sich folglich mit dem scheinbaren Paradoxon<br />

auseinandersetzen, dass der Alltag von Menschen<br />

in zwei verschiedenen Welten verankert ist. Das Beispiel<br />

einer Hüttensiedlung in Mexiko-Stadt mag dies<br />

verdeutlichen. Auf der einen Seite sind dort die Einkommen<br />

äußerst gering, die Behausungen der Menschen<br />

notdürftig <strong>und</strong> öffentliche Bildungsmöglichkeiten<br />

kaum oder überhaupt nicht vorhanden. Auf<br />

der anderen Seite wissen die Bewohner dieser Armensiedlung<br />

durch das Fernsehen über internationalen<br />

Fußball, Musik, Kino <strong>und</strong> Mode Bescheid <strong>und</strong> sind<br />

sogar in der Lage, in gewisser Weise den Konsum<br />

der beschleunigten Welt zu imitieren, indem sie<br />

auf ausgemusterte Kleidungsstücke sowie auf Billigimitate<br />

teurer Markenartikel zurückgreifen.<br />

Auf den ersten Blick scheint die Entstehung einer<br />

beschleunigten Welt - mit länderübergreifend einheitlichen<br />

Architekturstilen, Bekleidungsmoden, Einzelhandelsketten<br />

<strong>und</strong> Alltagskulturen sowie den allgegenwärtigen<br />

Einwanderern, Geschäftsreisenden <strong>und</strong>


Globalisierung heute 113<br />

2.30 Die weltweite Verteilung von Internetzugängen Wie alle vorangegangenen Revolutionen in den Bereichen Verkehr<br />

<strong>und</strong> Kommunikation organisiert auch das Internet den Raum neu. Obwohl in diesem Zusammenhang oft von einem „Schrumpfen“ der<br />

Welt <strong>und</strong> einem „Verschwinden“ des Raums die Rede ist, sind die Verfügbarkeit <strong>und</strong> der Gebrauch des Internets in hohem Maß<br />

räumlich ungleich verteilt. R<strong>und</strong> 70 Prozent des gesamten Internetverkehrs geht von Nordamerika aus beziehungsweise ist<br />

dorthin gerichtet. Im Unterschied haben manche periphere Regionen fast keine Anbindung an das Internet <strong>und</strong> in wieder anderen<br />

verhindern hohe Kosten den Zugang zu dem weltweiten Netz. Selbst in Europa, Japan <strong>und</strong> Nordamerika ist die Verfügbarkeit<br />

des Internets in sozioökonomischer Hinsicht höchst unterschiedlich ausgeprägt. Das Internet ist das Medium der „beschleunigten<br />

Welt“ des großen Geschäfts <strong>und</strong> der wohlhabenden Konsumenten. Diese Karte zeigt den prozentualen Anteil der Bevölkerung<br />

mit Zugang zum Internet an der Gesamtbevölkerung in Jedem Land für das Jahr 2004 (Flächensignatur) <strong>und</strong> den relativen Anteil<br />

jedes Landes an der Gesamtheit der Internetnutzer weltweit (Säulen). (Quelle; M. Zook, http://www.zookNIC.com/.)<br />

Touristen - ein Gefühl räumlicher Verlorenheit <strong>und</strong><br />

Entwurzelung mit sich gebracht zu haben sowie einen<br />

Verlust an regionaler Identität <strong>und</strong> eine Erosion der<br />

spezifischen Bedeutungsinhalte, die mit bestimmten<br />

Orten verb<strong>und</strong>en sein können, hervorzurufen. Die<br />

gemeinsamen Erfahrungen, die mit der Globalisierung<br />

verknüpft sind, werden jedoch nach wie vor<br />

durch die jeweiligen lokal- <strong>und</strong> regionalgeographischen<br />

Gegebenheiten modifiziert. Die Reaktionen<br />

auf Strukturen <strong>und</strong> Strömungen der beschleunigten<br />

Welt sind sehr unterschiedlich - diese werden aufgenommen,<br />

abgelehnt, unterlaufen oder genutzt, je<br />

nachdem, welchen Ort <strong>und</strong> welches Gemeinwesen<br />

.man betrachtet. Der Prozess der Globalisierung hat<br />

Orte <strong>und</strong> Regionen nicht verschwinden, sondern<br />

neu entstehen lassen oder ihre Identität gestärkt.<br />

Häufig sind deshalb die Bewohner einer bestimmten<br />

Region bestrebt, ihrer Umgebung neue Identität zu<br />

verleihen oder die verloren gegangene Identität wieder<br />

herzustellen. JVIit anderen Worten: Die Bewohner<br />

der beschleunigten Welt haben nach wie vor das Bedürfnis<br />

nach Enklaven der Vertrautheit, nach räumlicher<br />

Verankerung <strong>und</strong> nach regionaler Identität.<br />

Regionen <strong>und</strong> Umfelder hören nicht etwa auf zu existieren,<br />

sondern verändern sich nur.<br />

Dschihad versus MeWorId<br />

Mit den großen Gegensätzen zwischen Zentrum <strong>und</strong><br />

Peripherie sowie zwischen beschleunigter <strong>und</strong> langsamer<br />

Welt sind weit reichende kulturelle Kontraste<br />

verb<strong>und</strong>en, die der Politikwissenschaftler Benjamin<br />

Barber (1996) mit der Formulierung „Dschihad versus<br />

McWorld“ charakterisiert hat. „McWorld“ steht<br />

in diesem Zusammenhang für die Popkultur <strong>und</strong><br />

den oberflächlichen Materialismus der kapitalistischen<br />

westlichen Welt, „Dschihad“ für die von relih<br />

Hanrrit ■r'ri<br />

i '•


114 2 Globaler Wandel<br />

2.31 Verwestlichung: die Ausbreitung<br />

des westlichen Lebensstils<br />

Türkische Muslime vor dem<br />

Werbeplakat eines türkischen Internetunternehmens<br />

am Flughafen von<br />

Istanbul.<br />

giösem F<strong>und</strong>amentalismus, traditioneller Stammesverb<strong>und</strong>enheit<br />

<strong>und</strong> Opposition gegenüber den von<br />

Materialismus geprägten kulturellen Werten des<br />

Westens. Zu beachten ist, dass sich der Begriff<br />

„Dschihad“ in seiner eigentlichen Bedeutung auf<br />

einen in religiöser Pflichterfüllung geführten Kampf<br />

im Namen des Islam bezieht. Weder Dschihad noch<br />

McWorld, so Barber, seien einer ges<strong>und</strong>en Demokratie<br />

oder Zivilgesellschaft förderlich, während<br />

Spannungen zwischen beiden zu unberechenbaren<br />

Situationen führen können.<br />

Kern dieser Spannungen ist ein tiefes Misstrauen<br />

gegenüber dem Westen, vor allem in traditionellen<br />

islamischen Gesellschaften. In großen Teilen der<br />

Welt ist heute Modernisierung gleichbedeutend mit<br />

Verwestlichung, genauer gesagt Amerikanisierung<br />

(Abbildung 2.31). Während die Mehrzahl der Amerikaner<br />

oder Europäer Modernisierung für notwendig<br />

<strong>und</strong> gut hält, werden damit anderswo Ausbeutung,<br />

Demütigung <strong>und</strong> Verlust traditioneller Kultur<br />

verb<strong>und</strong>en, ln den meisten peripheren Ländern<br />

kann sich nur eine kleine Minderheit ein Konsumverhalten<br />

westlicher Prägung leisten, gleichwohl ist die in<br />

Armut lebende Mehrheit sich des Wohlstands in den<br />

Kernregionen nur allzu bewusst. Und während sich<br />

die Schere zwischen reich <strong>und</strong> arm in den vergangenen<br />

Jahrzehnten immer weiter geöffnet hat, haben die<br />

USA ihren - im Vergleich zu anderen Ländern ohnehin<br />

niedrigen - Etat für internationale Hilfe weiter<br />

reduziert.<br />

In der arabischen Welt hat die Klage über solche<br />

Ungerechtigkeiten sowie die Bestürzung darüber.<br />

wie die Modernisierung die islamischen Werte <strong>und</strong><br />

Traditionen aushöhlt, in Reaktion auf die Nahostpolitik<br />

der USA zugenommen. Diese wird als zynisch,<br />

weil einseitig auf die Wahrung der Ölinteressen<br />

<strong>und</strong> die Unterstützung Israels ausgerichtet, empf<strong>und</strong>en.<br />

Außerdem herrscht vielerorts Verbitterung über<br />

das von den Palästinensern erlittene Unrecht, das<br />

durch die US-lnvasion im Irak verursachte Leiden<br />

der Zivilbevölkerung des Landes <strong>und</strong> über die von<br />

den USA unterstützten korrupten <strong>und</strong> repressiven<br />

Regierungen der Länder am Persischen Golf<br />

Das gegenwärtige Handeln der Länder der Kernregion<br />

ist von der Vorstellung geprägt, dass die Menschen<br />

in allen Teilen der Welt Modernisierung<br />

nach westlichem Vorbild anstreben. Dabei ist diesen<br />

Ländern bis heute entgangen, dass in vielen Teilen der<br />

Welt ein kulturell verwurzeltes Misstrauen, ein Gefühl<br />

der Ungerechtigkeit <strong>und</strong> eine zutiefst ablehnende<br />

Haltung gegenüber der Modernisierung existieren.<br />

Die Terroranschläge auf das Pentagon <strong>und</strong> das World<br />

Trade Center im September 2001 haben gezeigt, dass<br />

das Misstrauen gegenüber den Vereinigten Staaten<br />

<strong>und</strong> ihrer Wirtschafts- <strong>und</strong> Außenpolitik vielerorts<br />

in der Welt in Feindseligkeit <strong>und</strong> sogar Hass umgeschlagen<br />

ist.<br />

I<br />

Mobilmachung gegen die Globalisierung<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft steht in vielerlei<br />

Hinsicht immer noch am Anfang, trotzdem hat sie<br />

weltweit schon erhebliche Veränderungen der öko­


Globalisierung heute 115<br />

nomischen, kulturellen <strong>und</strong> politischen Strukturen<br />

bewirkt. Teilweise haben diese Veränderungen zu<br />

mehr Wohlstand geführt, Demokratie <strong>und</strong> freies Unternehmertum<br />

gestärkt <strong>und</strong> das Warenangebot <strong>und</strong><br />

den Austausch zwischen den Kulturen erhöht. Aber<br />

wie in früheren Zeiten wirtschaftlichen Wandels<br />

gibt es auch bei der Globalisierung nicht nur Gewinner,<br />

sondern auch Verlierer. Infolge der Globalisierung<br />

kam es in einigen Regionen zu einer Deindustrialisierung<br />

<strong>und</strong> einem Verlusts von Arbeitsplätzen,<br />

Außerdem verloren die nationalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Regierungen im Zuge der Globalisierung mehr <strong>und</strong><br />

mehr an Einfluss auf die Steuerung ihrer Volkswirtschaft.<br />

Die weltweite Verbreitung bestimmter Produkte<br />

minderte zudem die lokale Vielfalt: „McDonald’s<br />

ist überall“.<br />

Inzwischen ist eine Gegenbewegung, gleichsam<br />

eine Mobilmachung gegen die Globalisierung, entstanden,<br />

welche die Dynamik der wirtschaftlichen<br />

Globalisierung in den kommenden ein oder zwei<br />

Jahrzehnten maßgeblich beeinflussen könnte. Eine<br />

Form der Mobilmachung zeigt sich beispielhaft in<br />

den Anstrengungen von Aktivisten, alle juristischen<br />

Möglichkeiten auszuschöpfen, um sich gegen die ihrer<br />

Auffassung nach unerwünschten lokalen Auswirkungen<br />

transnationaler Wirtschaftspraktiken zu wehren.<br />

In den USA erstritten sie beispielsweise die Wiederinkraftsetzung<br />

des Alien Tort Claim Act, eines Gesetzes<br />

aus dem jahr 1789, welches ursprünglich die<br />

Regressansprüche von Ausländern gegenüber Piraten<br />

<strong>und</strong> Sklavenhändlern regelte. Dieses Gesetz hat sich<br />

bereits bei Schadensersatzforderungen gegenüber<br />

Einzelpersonen wie dem philippinischen Ex-Diktator<br />

Ferdinand Marcos bewährt. In den späten 1990erlahren<br />

war es Gr<strong>und</strong>lage für die Anschuldigung,<br />

transnationale Konzerne urilersLützLeii die Unterdrückung<br />

der Menschenrechte. So reichten 50 000 Arbeiter<br />

aus Saipan, einer Insel im Pazifischen Ozean, eine<br />

Schadensersatzklage von 1 Milliarde US-Dollar gegen<br />

amerikanische Bekleidungshersteller <strong>und</strong> ihre Einzelhändler<br />

wegen unzumutbarer Arbeitsbedingungen<br />

ein, die 1999 in einen Vergleich mündete. Obwohl<br />

sie ihre Unschuld beteuerten, zahlten Gymboree,<br />

Cutter & Buck <strong>und</strong> ]. Crew 1,25 Millionen US-Dollar<br />

in einen Fond, der die unabhängige Kontrolle ihrer<br />

ausländischen Zulieferer sicherstellen sollte.<br />

2.32 Demonstration gegen Globalisierung Die Globalisierung<br />

führt oft zu einer Angleichung von Löhnen <strong>und</strong><br />

Umweltstandards auf einem niedrigeren Niveau, zu einer<br />

Aushöhlung demokratischer Prinzipien <strong>und</strong> zu einer<br />

Überführung fast aller Lebensaspekte in die Sprache <strong>und</strong><br />

Logik der globalen Märkte, a) Mit einem Protestmarsch<br />

von Globalisierungsgegnern endete das europäische<br />

Sozialforum 2003 in Paris, b) Carabinieri schützen ein<br />

McDonald’s-Restaurant im italienischen Genua vor<br />

möglichen Übergriffen durch Demonstranten, die im Jahr<br />

2000 gegen gentechnisch veränderte Nahrungsmittel<br />

protestierten.


116 2 Globaler Wandel<br />

Eine zweite Form der Mobilmachung präsentiert<br />

sich im öffentlichen Protest (Abbildung 2.32 <strong>und</strong><br />

2.33). So blockieren französische Bauern immer wieder<br />

Straßen mit Traktoren, lebendem Vieh, Feldfrüchten<br />

oder Stallmist, um gegen die Liberalisierung<br />

des Handels mit Agrarerzeugnissen zu protestieren.<br />

Eine dritte Form des Mobilmachens besteht darin,<br />

vorherrschenden Trends Alternativen entgegenzusetzen,<br />

wie im Fall von „Mecca Cola“ (Abbildung 2.34).<br />

Zu den wichtigsten kulturellen Herausforderungen<br />

hinsichtlich des Konflikts zwischen lokalen Bedürfnissen<br />

<strong>und</strong> transnationalen Wirtschaftsinteressen<br />

2.33 Proteste in Genua Im Juli 2001 kamen die Führer der acht führenden Industriestaaten (G8) - Kanada, Frankreich,<br />

Deutschland, Italien, Japan, Russland, Großbritannien <strong>und</strong> die USA - hinter Kilometer langen Stacheldrahtzäunen <strong>und</strong> Betonbarrikaden<br />

in Genua, Italien, zu ihrem Jährlichen Treffen zusammen. Laut Schätzungen versammelten sich r<strong>und</strong> 100 000 Globalisierungsgegner<br />

in der Innenstadt, \wo es zu Krawallen <strong>und</strong> gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen einer kleinen Minderheit<br />

von Demonstranten <strong>und</strong> der Polizei kam. Protestierende warfen Pflastersteine, zerschlugen Fenster, zündeten Autos <strong>und</strong> Müllbehälter<br />

an <strong>und</strong> plünderten die Auslagen von Geschäften. Die Polizei reagierte mit Wasserwerfern, Tränengas <strong>und</strong> Schlagstöcken,<br />

knüppelte einige Demonstranten nieder <strong>und</strong> tötete eine 20-jährigen Mann.<br />

2.34 Mecca-Cola Eine Dose<br />

Mecca-Cola wird in Putrajaya nicht<br />

weit von Kuala Lumpur vor die<br />

Kamera gehalten. Das Erfrischungsgetränk<br />

wurde nach den Worten<br />

seines Schöpfers Tawfik Mathlouthi<br />

hergestellt, um durch den Boykott<br />

von US-Marken gegen den von den<br />

Amerikanern angeführten Irakkrieg<br />

zu protestieren. Seit seiner Einführung<br />

im Jahr 2002 hat sich der<br />

Verkauf von Mecca Cola auf<br />

48 Länder ausgeweitet.


Fazit 117<br />

zählt vielleicht die Mobilisierung durch Koalitionen<br />

von Nichtregierungsorganisationen {nongovernmental<br />

Organization, NGO). Diese Form der Opposition<br />

gegen die Globalisierung gewann durch die Möglichkeiten<br />

des Internet in den 1990er-Jahren eine ganz<br />

neue Bedeutung. Gruppen wie Kenias Consumers Information<br />

Network, EcuadorsAcción Ecológica <strong>und</strong><br />

Trinidads <strong>und</strong> Tobagos Caribbean Association for Feminist<br />

Research and Action sind über Websites, Listserver<br />

<strong>und</strong> Diskussionsforen mit ihren Partnern in<br />

Amerika, Asien <strong>und</strong> Europa verb<strong>und</strong>en. 1992 erstellten<br />

NGOs die Agenda für den Umweltgipfel in Rio de<br />

Janeiro <strong>und</strong> betrieben Lobbyarbeit, um die Regierungen<br />

zur Teilnahme zu bewegen. Sie machten im Jahr<br />

1994 die Aufstände im mexikanischen B<strong>und</strong>esstaat<br />

Chiapas öffentlich <strong>und</strong> verhinderten auf diese Weise<br />

eine gewaltsame Intervention durch die Regierung.<br />

Im Jahre 1997 initiierte ein loser Verb<strong>und</strong> von 350<br />

NGOs in 23 Ländern die Ächtung von Landminen,<br />

<strong>und</strong> schon bald hatten 122 Nationen das Abkommen<br />

unterzeichnet. 1998 brachten r<strong>und</strong> 600 Gruppen aus<br />

70 Ländern einen mühsam erarbeiteten Vertrag zur<br />

Regelung internationaler multilateraler Investitionen<br />

zu Fall.<br />

Im Jahr 1999 ließen sich 775 NGOs auf die Liste<br />

der Welthandelsorganisation (World Trade Organization,<br />

WTO) setzen <strong>und</strong> nahmen mit 2 000 Beobachtern<br />

am WTO-Gipfel in Seattle im US-B<strong>und</strong>esstaat<br />

Washington teil. Dort mobilisierten sie 70 000<br />

Demonstranten, die sich zu der größten K<strong>und</strong>gebung<br />

in den Vereinigten Staaten seit dem Vietnamkrieg zusammenfanden.<br />

Ähnliche Protestaktionen fanden auf<br />

den Folgekonferenzen in Prag <strong>und</strong> Genua statt (Abbildung<br />

2.32 <strong>und</strong> 2.33). Seitdem werden die Wirtschaftsgipfel<br />

an schwer zugänglichen Orten abgehalten,<br />

um Störungen durch Demonstranten zu erschweren<br />

oder zu vermeiden.<br />

Die gegen die WTO gerichteten Demonstrationen<br />

machten einige der zentralen Auswirkungen der wirtschaftlichen<br />

Globalisierung deutlich. Die Globalisierung<br />

der Wirtschaft beruht auf freiem Handel.<br />

Aber darf die Abschaffung des Protektionismus auf<br />

Kosten des Umweltschutzes <strong>und</strong> sozialer Errungenschaften<br />

gehen? Das Mandat der WTO zielt auf die<br />

internationale „Harmonisierung“ von Sicherheitsstandards<br />

<strong>und</strong> ökologischen Standards ebenso wie<br />

auf die Beseitigung von Zollschranken <strong>und</strong> anderer<br />

Handelshemmnisse. Die meisten Menschen sind<br />

für freien Handel, wenn er nicht auf Kosten des<br />

Gemeinwohls geht <strong>und</strong> nicht auf Kinderarbeit beruht.<br />

ln der Vergangenheit gab es verschiedentlich Beispiele<br />

dafür, wie die von der WTO aufgestellten Prinzipien<br />

des freien Handels nationale Umweltstandards<br />

unterliefen. Im Auftrag der Erdölraffinerien wehrten<br />

sich 1997 die Regierungen von Venezuela <strong>und</strong> Brasilien<br />

gegen die von der amerikanischen Umweltbehörde<br />

EPA (U. S. Environmental Protection Agency) festgesetzten<br />

Qualitätsstandards für Kraftstoffe, die den<br />

Schadstoffausstoß minimieren sollten. Die WTO entschied<br />

im Interesse Venezuelas, <strong>und</strong> die EPA musste<br />

ihre Richtlinien so ändern, dass es ihr nun zunehmend<br />

schwerer fällt, den Anforderungen der Luftreinhaltung<br />

gerecht zu werden. Auch als die Europäische<br />

Union im Jahr 1998 nach einem Hormonskandal<br />

ein Importverbot für amerikanisches Rindfleisch<br />

verhängte, wandten sich die Vereinigten Staaten an<br />

die WTO. Trotz der Bedenken Europas gegenüber<br />

Hormonfleisch befand die WTO, dass das Verhalten<br />

der EU gegen internationales Handelsrecht verstößt.<br />

In einem anderen Beispiel unterlief die WTO 1998<br />

das amerikanische Gesetz zum Schutz gefährdeter<br />

Tier- <strong>und</strong> Pflanzenarten. Die USA wollten die vom<br />

Aussterben bedrohten Seeschildkröten schützen, indem<br />

sie den Garnelenfischern besondere Fangmethoden<br />

vorschrieben. Damit sollte verhindert werden,<br />

dass die Schildkröten sich in den Netzen verfingen.<br />

Das Gesetz sollte für alle auf dem amerikanischen<br />

Markt verkauften Garnelen gelten, die WTO war jedoch<br />

der Auffassung, dass dies den freien Handel anderer<br />

Länder einschränken würde.<br />

Fazit<br />

Die Entwicklung des globalen Wandels lässt sich von<br />

den Anfängen der Sesshaftigkeit <strong>und</strong> des Ackerbaus in<br />

prähistorischer Zeit über die präkapitalistischen,<br />

präindustriellen Handelssysteme bis zu den Ursprüngen<br />

der heutigen Globalisierung verfolgen. Die Prozesse<br />

der Industrialisierung, der weltweiten Kolonisation<br />

sowie der Ausbreitung der Marktwirtschaft hatten<br />

entscheidenden Anteil an der Entstehung einer<br />

neuen räumlichen Ordnung.<br />

Die heutige Welt ist in hohem Maße integriert.<br />

Orte <strong>und</strong> Regionen, zwischen denen vielfältige Interdependenzen<br />

bestehen, sind über komplexe <strong>und</strong> sich<br />

rasch wandelnde Produktketten verb<strong>und</strong>en, über deren<br />

Zusammensetzung transnationale Unternehmen<br />

entscheiden.<br />

Durch den Einsatz neuer Technologien, die eine<br />

globale Kommunikation mit geringster Zeitverzögerung<br />

sowie flexible Kapitalströme <strong>und</strong> Produktionsstrukturen<br />

ermöglichen, umspannen solche Unter-


118 2 Globaler Wandel<br />

-iiV"-<br />

nehmen sowohl die „beschleunigte Welt“ der Kernregion<br />

als auch die „langsame Welt“ der Peripherie.<br />

Diese Integration führt einerseits dazu, dass regionale<br />

<strong>und</strong> nationale Unterschiede verwischen, indem<br />

die Globalisierung der Märkte einen Austausch von<br />

Menschen, Konsumartikeln <strong>und</strong> Ideen mit sich<br />

bringt. Andererseits hat sich die Kluft zwischen den<br />

Ländern der Kernregion <strong>und</strong> den Ländern der Peripherie<br />

aber auch zwischen den Zentren <strong>und</strong> der<br />

Peripherie innerhalb der Nationalstaaten weiter vergrößert.<br />

Innerhalb dieses neuen globalen Kontextes<br />

bleiben lokale <strong>und</strong> regionale Unterschiede hinsichtlich<br />

der Ausstattung mit Ressourcen ebenso bestehen<br />

wie die Identifikation der Menschen mit ihrer Kultur<br />

<strong>und</strong> Geschichte. Zahlreiche Regionalkulturen erweisen<br />

sich jedoch als elastisch oder anpassungsfähig. Die<br />

Gr<strong>und</strong>prinzipien der räumlichen Organisation haben<br />

ihre Gültigkeit ebenfalls nicht verloren. Dies alles gewährleistet,<br />

dass Orte <strong>und</strong> Regionen trotz zunehmender<br />

Vereinheitlichung des Weltsystems in einem fortwährenden<br />

Prozess um- oder neu gestaltet werden.<br />

Innerhalb der neuen globalen Strukturen besteht<br />

eine hohe Diversität sowohl in räumlicher als auch<br />

in zeitlicher Hinsicht, wobei globale Entwicklungen<br />

zu jedem Zeitpunkt auf den lokalen Kontext zurückwirken.<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Altvater E.; Mahnkopf, B. Die Grenzen der Globalisierung. Ökonomie,<br />

Ökologie <strong>und</strong> Politik in der Weltgesellschaft. Münster<br />

(Verl. Westfälisches Dannpfboot) 5. Aufl. 2002.<br />

Atlas der Globalisierung. Die neuen Daten <strong>und</strong> Fakten zur Lage<br />

der Welt. Berlin (Le Monde Diplomatique/taz Verlag) 2006.<br />

Beaverstock, J. V.; Hoyler, M.; Pain, K.; Taylor, P.J. Demystifying<br />

the Euro in European financial centre relations: London and<br />

Frankfurt, 2000-2001. Journal of Contemporary European<br />

Studies 13(2), 2005, 143-157.<br />

Beck, U. Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten<br />

auf Globalisierung. 5. Aufl., Frankfurt (Suhrkamp)<br />

1998.<br />

Beck, U. Die Weltrisikogesellschaft. Frankfurt a.M. (Suhrkamp),<br />

2003.<br />

Beniger J. R. The Control Revolution: Technological and Economic<br />

Origins o f the Information Society. Cambridge MA (Harvard<br />

University Press) 1986<br />

Blaut, J. The Colonizer's Model of the World. In: Geographie Dif-<br />

fusionism and Eurocentric History. New York (Guilford Press)<br />

1993.<br />

Castells, M. The Information Age. Bd. 1, In: The Rise o f the Network<br />

Society. Oxford (Blackwell) 1996.<br />

Christopher, A. j. The British Empire at Its Zenith. New York<br />

(Groom Helm) 1988.<br />

Daniels, P.; Lever, W. F. (Hrsg.) The Global Economy in Transition.<br />

New York (Addison Wesley Longman) 1996.<br />

De Alcantara, C. H. Social Futures, Global Visions. New York (United<br />

Nations Research Institute for Social Development)<br />

1996.<br />

Diamond, J. Guns, Germs, and Steel. New York (W.W. Norton)<br />

2005.<br />

Diamond, j. The New Imperialism. Oxford (Oxford University<br />

Press) 2003.<br />

Dicken, P. Global Shift. 3. Aufl. New York (Harper & Row) 1998.<br />

Donges, J. B.; Menzel, K.; Paulus Ph. Globalisierungskritik auf<br />

dem Prüfstand. Ein Almanach aus ökonomischer Sicht. Schriften<br />

zur Wirtschaftspolitik, Neue Folge Bd. 9. Stuttgart (Lucius<br />

& Lucius) 2003.<br />

Dörre, K. Globalisierung <strong>und</strong> Globalisierungskritik: Einführung -<br />

Zwischenbetrachtung - Perspektiven. Wiesbaden (Westdeutscher<br />

Verlag), 2004<br />

Gregory, G. The Colonial Present. Afghanistan, Palestine, Iraq.<br />

Malden MA (Blackwell) 2004.<br />

Harvey, D. Spaces o f neoliberalization: towards a theory of uneven<br />

development. Hettner Lecture 8. Stuttgart (Steiner)<br />

2005.<br />

Held, D.; McGrew, A. Globalization, anti-globalization. Cambridge<br />

u.a. (Polity), 2003.<br />

Hopkins, A.G. Globalization in World History. London (Pimlico)<br />

2002.<br />

Hoyler, M. London <strong>und</strong> Frankfurt als Weltstädte: Globale Dienstleistungszentren<br />

zwischen Kooperation <strong>und</strong> Wettbewerb. In:<br />

Geographische R<strong>und</strong>schau, 56(4), 2004, 26-31.<br />

Hughes, A.; Reimer, S. Geographies o f Commodity Chains. New<br />

York (Routledge) 2004.<br />

Hugill, P. World Trade Since 1431. Baltimore (Johns Hopkins University<br />

Press) 1993.<br />

Hutton, W. <strong>und</strong> Giddens, A. Global Capitalism. New York (New<br />

Press) 2000.<br />

Johnston, R. J.; Taylor, P. J.; Watts, M. (Hrsg.) Geographies of Global<br />

Change. Cambridge, MA (Blackwell) 1995.<br />

Haywood, J. Historical Atlas o f the 19^^ Century World, 1783-<br />

1914. New York (Barnes and Noble) 1998.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; Agnew, J. The Geography o f the World Economy. 3.<br />

Aufl. New York (Routledge) 1998.<br />

Kreutzmann, H. Theorie <strong>und</strong> Praxis der Entwicklungsforschung.<br />

Einführung zum Themenheft. In: Geographica Helvetica 58<br />

(2003), 2-10.<br />

Kreutzmann, H. Neue Drei-Welten-Lehren in der Entwicklungsforschung:<br />

Kluft <strong>und</strong> Konflikt im globalen Spannungsfeld. In:<br />

Geographische R<strong>und</strong>schau 58, Heft 10 (2006) S. 4-13.<br />

Landes, D.S. The Wealth and Poverty o f Nations. New York<br />

(W.W. Norton) 1999.<br />

Lechner, F.J.; Boli J. The Globalization Reader. Maiden (Black-<br />

well) 2000.<br />

Leggewie, C. Die Globalisierung <strong>und</strong> ihre Gegner. München<br />

(Beck), 2003.<br />

Menzel, U. Das Ende der Dritten Welt <strong>und</strong> das Scheitern der<br />

großen Theorie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1992.<br />

Menzel, U. Globalisierung versus Fragmentierung. Frankfurt a. M.<br />

(Suhrkamp) 1998.<br />

Milanovic, B. Worlds Apart: Measuring International and Global<br />

Inequality. Princeton, NJ (Princeton Universty Press) 2005.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 119<br />

Mittelmann, J.H. The GLobalzation Syndrome: Transformation<br />

and Resistance. Princeton, NJ (Princeton Universty Press)<br />

2000.<br />

Noblen, D.; Nuscheler, F. (Hrsg.) Handbuch der Dritten Welt, Bd.<br />

1. Bonn. (1993).<br />

O’Loughlin, J.; Staeheli, L.; Greenburg, E. (Hrgs.) Globalization<br />

and Its Outcomes. New York (Guilford Press) 2004.<br />

O’Meara, P.; Mehlinger, H. D.; Krain, M. (Hrgs.j Globalization and<br />

the Challenges o f a New Century. Bloomington (Indiana University<br />

Press) 2000.<br />

Opitz, P. J. Gr<strong>und</strong>probleme der Entwicklungsländer. München<br />

(C.H. Beck) 1991.<br />

Peet, R. Global Capitalism. In: Theories o f Societal Development.<br />

New York (Routledge) 1991.<br />

Reuber, P., Strüver, A., Wolkersdorfer, G. (Hrsg.) Politische Geographien<br />

Europas - Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt.<br />

Forum politische Geographie - 1. Lit.-Verlag, Münster.<br />

Ritzer, G. Die McDonaldisierung der Gesellschaft. Deutsche Ausgabe.<br />

Konstanz (UVK Verlagsgesellschaft), 2006.<br />

Royal Geographical Society, Atlas o f Exploration. New York (Oxford<br />

University Press) 1997.<br />

Schamp, E. W. Globalisierung von Produktionsnetzen <strong>und</strong> Standortsystemen.<br />

In: Geographische Zeitschrift 84 (1996) S.<br />

205-219.<br />

Stiglitz, J. Die Schatten der Globalisierung. Berlin (Siedler), 2002.<br />

Seitz, J. L. Global Issues. In: An Introduction. Cambridge, MA<br />

(Blackwell) 1995.<br />

Steger, M. Globalization: A very short introduction. Oxford (Oxford<br />

University Press), 2003.<br />

Taylor, P.J.; Catalano, G. World city network formation in a space<br />

of flows. In: Mayr, A.; Meurer, M.; Vogt, J. (Hrsg.): Stadt <strong>und</strong><br />

Region: Dynamik von Lebenswelten. Leipzig (Deutsche Gesellschaft<br />

für Geographie), 2002, 68-87.<br />

Taylor, P. J.; Walker, D. R. F., Catalano, G. and Hoyler, M. Diversity<br />

and power in the world city network. In: Cities, 19 (2002),<br />

231-241.<br />

Terlouw, C. P. The Regional Geography o f the World-System. Utrecht<br />

(Faculteit Ruimtelijke Wetenschappen Rijksuniversiteit<br />

Utrecht) 1994.<br />

Unwin, T. (Hrsg.) Atlas o f World Development. New York (John<br />

Wiley and Sons) 1994.<br />

Wagner B. (Hrsg.) Kulturelle Globalisierung: zwischen Weltkultur<br />

<strong>und</strong> kultureller Eragmentierung. Essen (Klartext Verlag) 2001.<br />

Wallach, B. Understanding the Cultural Landscape. New York<br />

(Guilford Press) 2005. Insbesondere Part II (Historical Developments).<br />

Wallerstein I. The capitalist world-economy. Cambridge u.a.<br />

(Cambridge University Press) 1979.<br />

Watts, M.J. Struggles Over Geography: Violence, Freedom and<br />

Development at the Millenium. Hettner Lecture 1999, Bd.<br />

3, Heidelberg (Selbstverlag des Geographischen Instituts)<br />

2000.<br />

Weiss, D. Entwicklungstheorien, Entwicklungsstrategien <strong>und</strong> entwicklungspolitische<br />

Lernprozesse. In: Zeitschrift für Kulturaustausch<br />

40, H. 4 (1991) S. 477-482.<br />

Wolf, E. R. Europe and the People without History. Berkeley (University<br />

of California Press) 1983.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Appadurai, A. Globale ethnische Räume: Bemerkungen <strong>und</strong> Fragen<br />

zur Entwicklung einer transnationalen Anthropologie. In:<br />

Beck, U. (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt<br />

(Suhrkamp), 1998, S. 11-40.<br />

Barber, B. R. Jihad vs. McWorld. In: Ritzer, G. (Hrsg.): McDonal-<br />

dlzation: The Reader. Thousand Oaks (Pine Forge Press),<br />

1996, S. 232-238.<br />

Bauman, Z. Neoliberalismus als Globalisierung. Hamburg (Argument<br />

Verlag), 1996.<br />

Bauman, Z. Local Orders, Global Chaos. In: Geographische<br />

Revue 1(1), 1999, S. 64-73.<br />

Bauman, Z. Der Mensch Im Globalisierungskäfig. Frankfurt a. M.<br />

(Suhrkamp), 2001<br />

Beck, U. (Hrsg.) Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt<br />

a.M. (Suhrkamp), 1998.<br />

Clark, W. Academic Charisma and the Origins o f the Research<br />

University, Chicago (The University of Chicago Press),<br />

2006.<br />

Faulconbridge, J.; Engelen, E.; Hoyler, M.; Beaverstock, J.V. Analysing<br />

the changing landscape o f European financial centres:<br />

the role o f financial products and the case o f Amsterdam,<br />

Growth and Change. 38(2) (2007 in Druck; abrufbar als<br />

GaWC Research Bulletin 217 www.lboro.ac.uk/gawc/rb/<br />

rb217)<br />

Giddens, A. Entfesselte Welt: Wie die Globalisierung unser Leben<br />

verändert. Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 2001.<br />

Grote, M. H. Die Entwicklung des Finanzplatzes Frankfurt. Berlin<br />

(Duncker & Humblot), 2004.<br />

Held, D. Global Transformations. Politics, economics and culture.<br />

Cambridge u.a. (Polity Press), 2003.<br />

Hoyler, M. Transnationale Organisationsstrukturen, vernetzte<br />

Städte: ein Ansatz zur Analyse der globalen Verflechtung<br />

von Metropolregionen. In: Informationen zur Raumentwicklung,<br />

(7), 2005, 431-438.<br />

Jöns, H. Grenzüberschreitende Mobilität <strong>und</strong> Kooperation in den<br />

Wissenschaften: Deutschlandaufenthalte US-amerikanischer<br />

Humboldt-Forschungspreisträger aus einer erweiterten Akteursnetzwerkperspektive,<br />

Heidelberg (Selbstverlag des<br />

Geographischen Instituts der Universität Heidelberg), Heidelberger<br />

Geographische Arbeiten 116, 2003.<br />

Jöns, H. Internationale Mobilität von Wissen <strong>und</strong> Wissensproduzenten.<br />

In: Kulke, E., Monheim, H. <strong>und</strong> Wittmann, P. (Hg.)<br />

Grenzwerte: Tagungsbericht <strong>und</strong> wissenschaftliche Abhandlungen:<br />

55. Deutscher Geographentag Trier 2005, Berlin<br />

(DGfG). S. 151-160.<br />

Jöns, H <strong>und</strong> Meusburger, P. Internationaler Wissenschaftsaustausch.<br />

In: Institut für Länderk<strong>und</strong>e (Hg.) Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland: Deutschland in der Welt, Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag). S. 116-119.<br />

Latour, B. Science in Action: How to Follow Scientists and Engineers<br />

Through Society, Cambridge, MA (Harvard University<br />

Press), 1987.<br />

Merki, C. M. (Hg.) Europas Finanzzentren. Geschichte <strong>und</strong> Bedeutung<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert. Frankfurt (Campus), 2005.<br />

Meusburger, P. The Spatial Concentration o f Knowledge. Some<br />

Theoretical Considerations. In: Erdk<strong>und</strong>e 54, Heft 4 (2000)<br />

S. 352-364.


120 2 Globaler Wandel<br />

Meusburger, P. Sachwissen <strong>und</strong> symbolisches Wissen als Machtinstrument<br />

<strong>und</strong> Konfliktfeld. Zur Bedeutung von Worten, Bildern<br />

<strong>und</strong> Orten bei der Manipulation des Wissens. In: Geographische<br />

Zeitschrift, 93. Jg., Heft 3 (2005), S. 148-164.<br />

O’Brien, R. Global financial integration: the end o f geography.<br />

London (Pinter), 1992.<br />

Ohmae, K. Macht der Triade. Die neue Form weltweiten Wettbewerbs.<br />

Wiesbaden (Gabler) 1985.<br />

Ohmae, K. Die neue Logik der Weltwirtschaft. Zukunftsstrategien<br />

der internationalen Konzerne. Frankfurt a. M. (Fischer-Ta-<br />

schenbuch-Verlag), 1994.<br />

Ohmae, K. The bordeless world. Power and strategy in the interlinked<br />

economy. New York (Harper) 1999.<br />

Osterhammel, J.; Petersson, N. P. Geschichte der Globalisierung:<br />

Dimensionen, Prozesse, Epochen. München (C. H. Beck Verlag),<br />

2006.<br />

Robertson, R. The three Waves o f Globalization. 2'^'* ed., London,<br />

New York (Zed Books) 2004.


Rosenau J. The study o f global Interdependence. Essays on the<br />

transnationalization o f world affairs. London u.a. (Pinter)<br />

1980.<br />

Rosenau, J. Globalization and governance. London (Routledge),<br />

2006<br />

Sassen, S. Global financial centres. In: Foreign Affairs, 78<br />

(1999), 75-87.<br />

Scholz, F. Die Theorie der „fragmentieren Entwicklung“. In: Geographische<br />

R<strong>und</strong>schau 54, Heft 10 (2002), S. 6-11.<br />

Scholz, F. Geographische Entwicklungsforschung. Methoden <strong>und</strong><br />

Theorien. Stuttgart (Bornträger), 2004.<br />

Taylor, P.J. World city network: a global urban analysis. London<br />

(Routledge), 2004.<br />

Wallerstein I. The modern world system. New York (Academic<br />

Press), vol 1 1974, vol 2 1980, vol 3 1989.<br />

Wolf, M. Why globalization works. New Haven, London (Yale Nota<br />

Bene Press), 2005.


3 Bevölkerungsgeographie<br />

Am 12. Oktober 1999 gab die United Nations Population Division bekannt,<br />

dass die Weltbevölkerung die Sechs-Milliarden-Marke erreicht<br />

habe. Aktuelle Prognosen zum Bevölkerungswachstum gehen davon<br />

aus, dass in den nächsten 50 Jahren wahrscheinlich die Zehn-Milliardeii-Marke<br />

überschritten werden wird. Während einige Experten angesichts<br />

dieser Zahlen besorgt vor einer Übervölkerung der Erde <strong>und</strong> den<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Konsequenzen (Knappheit an Lebensmitteln, eingeschränkter<br />

Zugang zu sauberem Trinkwasser, Umweltzerstörung, Konflikte<br />

um Ressourcen, Reduzierung der Waldfläche, Zunahme der Bodenerosion<br />

<strong>und</strong> so weiter) warnen, weisen andere darauf hin, dass es in vielen<br />

hoch entwickelten Ländern schon ein dramatisches Geburtendefizit <strong>und</strong><br />

eine Bevölkerungsabnahme mit vielfältigen negativen Konsequenzen<br />

gebe <strong>und</strong> es im Laufe des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts notwendig sein werde, Anreize<br />

für eine Erhöhung der Geburtenzahl zu schaffen. Während die Auswirkungen<br />

einer Überbevölkerung schon seit Längerem analysiert werden, hat die<br />

wissenschaftliche Diskussion über die Auswirkungen eines extremen Geburtendefizits,<br />

einer starken Bevölkerungsabnahme <strong>und</strong> einer Überalterung<br />

der Bevölkerung erst vor wenigen Jahren begonnen. Das lag nicht<br />

zuletzt daran, dass diese Prozesse jahrzehntelang von einer kontinuierlichen<br />

Einwanderung überlagert worden waren <strong>und</strong> erst in jüngster Zeit offensichtlich<br />

wurden. Die wichtigste Erkenntnis, die Geographen <strong>und</strong> Bevölkerungswissenschaffler<br />

aus diesen widersprüchlichen Aussagen gewinnen<br />

können, ist, dass beide Entwicklungstrends Konsequenzen haben, die<br />

viele Bereiche der Geographie betreffen.<br />

Der Bevölkerungsgeographie genügt es nicht, für einen ganzen Staat<br />

oder Kontinent Fruchtbarkeits-, Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten sowie Wanderungssalden<br />

zu erfassen <strong>und</strong> zu erklären. Sie ist vor allem daran interessiert,<br />

warum es innerhalb eines Landes so große regionale Unterschiede<br />

der natürlichen Bevölkerungsbewegung sowie des Wanderungssaldos gibt,<br />

welche Einflussfaktoren dafür verantwortlich sind <strong>und</strong> welche Folgen sich<br />

daraus unter anderem für die Umwelt, den Konsum, den Arbeitsmarkt,<br />

das Schulwesen, das Rentensystem <strong>und</strong> viele andere Bereiche der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Politik ergeben.<br />

Schlüsselsätze<br />

• Bevölkerungsgeographen müssen auf ein breites Spektrum von Datenquellen<br />

zurückgreifen, um die erforderlichen Informationen zu erhalten.<br />

Die wichtigsten Quellen sind Volkszählungen, Mikrozensen, Geburten-,<br />

Heirats- <strong>und</strong> Sterberegister sowie Haushaltslisten; in Ländern<br />

mit einer Meldepflicht spielen auch Einwohnermelderegister eine wichtige<br />

Rolle.<br />

•dL-1<br />

’"^5


124 3 Bevölkerungsgeographie<br />

M m<br />

'«<br />

I<br />

; I !<br />

Bevölkerungsgeographen beschäftigen sich im<br />

Großen <strong>und</strong> Ganzen mit den gleichen Fragen<br />

vvfie andere Bevölkerungswissenschaftler. Darüber<br />

hinaus suchen sie jedoch nach Erklärungen, warum<br />

es zu räumlichen Disparitäten des Bevölkerungswachstums<br />

<strong>und</strong> der Bevölkerungsstrukturen<br />

kommt <strong>und</strong> welche Folgen sich aus bestimmten<br />

Entwicklungen für die Zukunft einer Region ergeben<br />

können.<br />

Zwei Hauptfaktoren, welche die Dynamik der Bevölkerungsentwicklung<br />

beeinflussen, sind Geburten<br />

<strong>und</strong> Todesfälle. Zur Beschreibung dieser Variablen<br />

werden verschiedene Indikatoren des demographischen<br />

Verhaltens herangezogen.<br />

Ein dritter entscheidender Aspekt, der die Bevölkerungsdynamik<br />

bestimmt, ist die Zu- <strong>und</strong> Abwanderung<br />

beziehungsweise das Migrationsverhalten<br />

der Bevölkerung. Dabei wird unterschieden<br />

zwischen Faktoren, welche die Herkunftsregionen<br />

unattraktiv erscheinen lassen <strong>und</strong> eine Abwanderung<br />

bestimmter Bevölkerungsteile auslösen<br />

(Push-Faktoren), <strong>und</strong> Faktoren, welche die Zielregionen<br />

für eine Zuwanderung attraktiv erscheinen<br />

lassen (Pull-Faktoren). Migration erfolgt allerdings<br />

nicht immer aus freiem Willen. Sklaventransporte,<br />

Vertreibungen, zwangsweise Umsiedlungen <strong>und</strong><br />

Flüchtlingsströme, die Kriegsgräueln zu entkommen<br />

versuchen, haben H<strong>und</strong>erte Millionen Menschen<br />

zu Zwangsmigranten werden lassen.<br />

Das vielleicht entscheidende Problem, dem sich<br />

Wissenschaftler <strong>und</strong> Politiker gegenübersehen,<br />

wurde unter anderem auf dem Milleniumsgipfel<br />

der Vereinten Nationen im Jahre 2000 angesprochen:<br />

Wie kann die Weltwirtschaft die wachsende<br />

Weltbevölkerung mit ausreichend Nahrung, sauberem<br />

Trinkwasser <strong>und</strong> einer zukunftsfähigen Umwelt<br />

versorgen?<br />

Das methodische Instrumentarium<br />

der Bevölkerungswissenschaften<br />

Bevölkerungswissenschaftler bedienen sich bei ihrer<br />

Arbeit eines breiten Spektrums von Quellen <strong>und</strong> Institutionen.<br />

Behörden (Standesämter, Einwohnermeldeämter),<br />

aber auch Kirchen oder Krankenhäuser,<br />

sammeln Informationen über Geburten, Todesfälle,<br />

Hochzeiten, Scheidungen, Zuwanderung <strong>und</strong><br />

andere Aspekte der Bevölkerungsentwicklung. Das<br />

bekannteste, wichtigste <strong>und</strong> aussagekräftigste Instrument<br />

zur Beurteilung der Größe <strong>und</strong> Zusammensetzung<br />

einer Bevölkerung ist die Volkszählung, eine<br />

Erhebungsform, die auf die Römer zurückgeht,<br />

<strong>und</strong> die ursprünglich Informationen für die Besteuerung<br />

liefern sollte.<br />

Volkszählungen <strong>und</strong> andere<br />

I Quellen für Bevölkerungsdaten<br />

Als Volkszählung bezeichnet man eine Vollerhebung<br />

(Großzählung) der Einwohner eines Landes nach<br />

Wohnort, Arbeitsort <strong>und</strong> verschiedenen demographischen<br />

<strong>und</strong> sozioökonomischen Variablen (Abbildung<br />

3.1). Die meisten entwickelten Staaten haben<br />

Volkszählungen Ende des 18. (die USA seit 1790)<br />

oder im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts (Österreich-Ungarn<br />

1869) eingeführt. Um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

einigten sich die europäischen <strong>und</strong> amerikanischen<br />

Staaten auf einheitliche Methoden der Volkszählung.<br />

Sowohl die UNO als auch die EU empfehlen,<br />

Volkszählungen mindestens alle zehn Jahre durchzuführen.<br />

Die erstmalige Durchführung, Zuverlässigkeit<br />

<strong>und</strong> Regelmäßigkeit von Volkszählungen können zusammen<br />

mit anderen Indikatoren geradezu als Maßstab<br />

für den Beginn des Modernisierungsprozesses<br />

sowie das administrative, kulturelle <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Entwicklungsniveau eines Landes herangezogen<br />

werden. Denn sachbezogene Situationsanalysen <strong>und</strong><br />

Entscheidungen in der Verwaltung, Wirtschaft, Kultur<br />

<strong>und</strong> Politik können nur gefällt werden, wenn der<br />

Ist-Zustand <strong>und</strong> die Wechselwirkungen zwischen<br />

verschiedenen Faktoren bekannt sind. Viele Staaten<br />

führen gleichzeitig mit Volkszählungen auch Arbeitsstättenzählungen<br />

(Unternehmensstruktur, Wirtschaftsklasse,<br />

Zahl <strong>und</strong> Struktur der Beschäftigten)<br />

sowie Gebäude- <strong>und</strong> Wohnungszählungen durch<br />

(über Lage, Ausstattung, Wohnungsfläche, Beheizung,<br />

Wohnungsnutzung, Eigentumsverhältnisse,<br />

Gebäudenutzung, Sanierungsmaßnahmen, Anschluss<br />

an Gasnetz, Wärmedämmung <strong>und</strong> so weiter). Die<br />

Angabe des Arbeitsortes <strong>und</strong> der Arbeitsstätte in<br />

der Volkszählung <strong>und</strong> Arbeitsstättenzählung ist für<br />

viele wirtschaftspolitische Entscheidungen <strong>und</strong> wissenschaftliche<br />

Untersuchungen unverzichtbar.<br />

Denn sobald man die Ebene von Ländern unterschreitet<br />

<strong>und</strong> die Daten auf Kreis- oder Gemeindeebene<br />

analysiert, nehmen die Diskrepanzen in der<br />

Verteilung der Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsbevölkerung deutlich<br />

zu. Außerdem ist die Arbeitsbevölkerung für<br />

viele Fragen der Wirtschafts-, Sozial- <strong>und</strong> Arbeits-


Das methodische Instrumentarium der Bevölkerungswissenschaften 125<br />

Personenblatt Volkszählung am 15. Mai 2001<br />

M uStCrZBÜG<br />

ranm^ef' B^fenicN N j’^er Sie »ocftrihg •Sen Erfamorungefi<br />

Republik<br />

Österreich<br />

OMIgblHlsl^lTT sR M Ä l^blElFlGlHlllJlKlLlMlNlÖlPblRlSlTlÜlVlWklY<br />

) Goburtsdatum:<br />

Tag m Monat r a Jahr<br />

Geschlecht:<br />

männlich weiblich 2 3 0009380 641<br />

Familienstand:<br />

(gesetzlicher Familienstand) ledig verheiratet seit 1 1 1 1 1 geschieden verwitwet □<br />

Eheschließungsjahr<br />

^ ^ G eb u rtslan d :<br />

(heutige Grenzen)<br />

östen’eich ES Deutschland Tschechische Republik Bä Slowakische Republik □<br />

U n g a r n TO.kei<br />

ES Rumänien<br />

ES Polen ES<br />

Slowenien £ 3 Kroatien<br />

ES<br />

Bosnien <strong>und</strong><br />

Herzegowir>a ES<br />

B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Jugoslawien<br />

Mazedonien E S<br />

anderer Staat ■ > f<br />

Staatsbürgerschaft (Bei Doppelstaatsbürgerschaft bitte beide ankreuzen):<br />

Österreich 2 3<br />

Deutschland<br />

Tschechische r a j<br />

Republik<br />

Slowakische rvn<br />

Republik Bau<br />

Ungarn<br />

Türkei Rumänien 2 3 Polen 2 3 Slowenien Kroatien<br />

□<br />

□<br />

r<br />

Bosnien <strong>und</strong><br />

Herzegowina<br />

B<strong>und</strong>esrepublik rvn<br />

Jugoslawien CaJ<br />

Mazedonien<br />

staatenlos<br />

^ ^ U m gangssp rache: deutsch P 3 burgenland-kroattsch 3 romanes PJ3 tschechisch slowakisch P 3<br />

(such mehfOTB Sprachen) ^ Ca j<br />

andere Umgangssprache<br />

(siehe auch<br />

Fnaulerungsblatt)<br />

ungarisch ^ 3<br />

1<br />

Haushaltsvorstand (HV)<br />

oder; allein im Haushalt □<br />

Tochter. Sohn<br />

(Stief- u. Adoptiv-) ES<br />

Mutter, Vater<br />

(Schwieger-, Stief-, Groß-)<br />

slowenisch kroatisch a serbisch n türkisch □<br />

Ehefrau, -mann r a j<br />

des HV<br />

(Ehe-)Partner/in C fj<br />

von Tochter/Sohn ui3<br />

anders verwandt<br />

(Z.8. Bruder, Tante. Neffe) W i<br />

) Religionsbekenntnis:<br />

rom.- p ij evang. r s j<br />

kath. U AB U iJ a islamisch E3<br />

Lebensgefährtin,<br />

-gefährte des HV □<br />

Enkelkind od. dessen<br />

(Ehe-)Partner/in ES<br />

nicht<br />

verwandt ES<br />

m<br />

Für Frauen ab 16 Jah ren : W ie viele Kinder haben Sie geboren? (Bitte Gesamtzahl der lebend geborenen Kinder am<br />

kreuzen, auch wenn diese heute woanders leben oder schon gestorben sind)<br />

kBinss Q ’ S 2 2 3 3 E 3<br />

3.1 Personenblatt zur Volkszählung 2001 in Österreich Abgebildet ist die erste Seite des Personenblatts zur österreichischen<br />

Volkszählung 2001. Die restlichen drei Seiten enthalten Fragen zu Schulbesuch <strong>und</strong> Ausbildung, Beschäftigung, zu beruflicher<br />

Stellung <strong>und</strong> genauer Berufsbezeichnung, zu Ort <strong>und</strong> Wirtschaftszweig der Arbeitsstätte oder Dienststelle, zum Weg zur Arbeitsstätte<br />

oder Schule (Universität), zur Art der benutzten Verkehrsmittel <strong>und</strong> zum durchschnittlichen Zeitaufwand für den Weg zur Arbeitsstätte.<br />

Das Personenblatt wird ergänzt durch ein Wohnungsblatt, ein Gebäudeblatt <strong>und</strong> ein Arbeitsstättenblatt. Die Georeferenzierung<br />

(örtliche Verknüpfung) der in den vier Erhebungsblättern erfassten Daten erfolgt über die Adresse. Das Wohnungsblatt enthält<br />

Angaben zur Lage (Stockwerk), Größe (Zahl der Zimmer, Nutzfläche), Ausstattung, zur überwiegenden Beheizungsart, zur Nutzung<br />

der Räume sowie zur Rechtsgr<strong>und</strong>lage der Wohnungsbenutzung (Eigentum, Hauptmiete, Untermiete, Dienstwohnung <strong>und</strong> so weiter).<br />

Das Gebäudeblatt enthält Angaben über den Eigentümer des Gebäudes, dessen Staatsangehörigkeit, zur Zahl der Wohnungen<br />

im Gebäude, zum Anteil der Eigentumswohnungen, zur überwiegenden Nutzung des Gebäudes (Wohngebäude, Büro, Werkstätte,<br />

Geschäftsgebäude, Hotel, Bahnhof, Schülerheim <strong>und</strong> so weiter), zur Art der Heizung, zu dem für die Heizung überwiegend verwendeten<br />

Brennstoff <strong>und</strong> zu den in den letzten zehn Jahren durchgeführten baulichen Maßnahmen (insgesamt 14 Maßnahmen, von Einbau<br />

eines Lifts bis zu Fassadenerneuerung <strong>und</strong> Anschluss an das Kanalnetz). Das Arbeitsstättenblatt enthält Fragen über die Bezeichnung<br />

der Arbeitsstätte (zum Beispiel Tankstelle, Arztpraxis, Gemeindeamt, Indu.striebetrieb), über die Unternehmensstruktur<br />

(Hauptsitz oder Zweigbetrieb der Firma), bei Zweigstellen zur genauen Adresse des Hauptsitzes des Unternehmens, zur Zahl der<br />

Beschäftigten nach Geschlecht, zu den Tätigkeiten <strong>und</strong> wirtschaftlichen Schwerpunkten dieser Arbeitsstätte. Aus der Zählungsliste<br />

eines Haushalts geht hervor, ob die jeweiligen Personen eines Haushalts unter der betreffenden Adresse ihren Hauptwohnsitz<br />

oder Nebenwohnsitz haben. Für Gemeinschaftsunterkünfte (Kloster, Kaserne, Studentenheim <strong>und</strong> so weiter) werden Jeweils ein<br />

Umschlagbogen <strong>und</strong> eine Namensliste mit der Angabe des Haupt- oder Nebenwohnsitzes der dort wohnenden Personen ausgefüllt.


126 3 Bevölkerungsgeographie<br />

3;r 4.“<br />

w<br />

marktgeographie (ökonomische Attraktivität eines<br />

Standortes) aussagekräftiger als die Wohnbevölkerung.<br />

Da sich die meisten statistischen Publikationen<br />

auf die Wohnbevölkerung beziehen, müssen Daten<br />

über die Arbeitsbevölkerung meistens durch Sonderauswertungen<br />

der Volkszählungen zusammengestellt<br />

werden.<br />

Eine Alternative zu Volkszählungen wird von einigen<br />

Autoren in Einwohnerregistern gesehen, falls<br />

diese dieselben Variablen enthalten wie eine Volkszählung.<br />

Solche Einwohnerregister sind allerdings<br />

nicht gleich leistungsfähig wie Volkszählungen. Sie<br />

können zwar gleichbleibende Variablen wie Geburtsdatum,<br />

Geburtsort oder Geschlecht sowie leicht erfassbare<br />

Daten wie Familienstand <strong>und</strong> Wohnsitzwechsel<br />

bewältigen, sind aber hoffnungslos überfordert,<br />

wenn es um veränderliche Variablen wie Beruf,<br />

Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsniveau oder Erwerbstätigkeit<br />

geht. Die Fortschreibung von Einwohnermelderegistern<br />

ist vor allem in solchen Gemeinden<br />

<strong>und</strong> Städten mit beträchtlichen Ungenauigkeiten<br />

verb<strong>und</strong>en, die eine große Mobilität der Bevölkerung<br />

(zum Beispiel Universitätsstädte) oder einen hohen<br />

Anteil an illegal Zugewanderten aufweisen. In einigen<br />

Ländern (zum Beispiel USA, Frankreich) besteht<br />

keine Meldepflicht, sodass Volkszählungen die einzige<br />

zuverlässige Quelle darstellen. Ein direkter Vergleich<br />

zwischen einer Volkszählung <strong>und</strong> einer von<br />

der öffentlichen Verwaltung fortgeschriebenen Einwohnerstatistik<br />

(Verwaltungszählung) zeigt in allen<br />

Ländern, besonders in Großstädten, erhebliche Abweichungen,<br />

wobei die Fehler vorwiegend auf der<br />

Seite der Verwaltungszählungen liegen. In kleinen<br />

Dörfern sind die Fehler geringer, weil dort der Gemeindesekretär<br />

oder Bürgermeister alle Einwohner<br />

persönlich kennt <strong>und</strong> deshalb auch Fehler leichter<br />

bemerkt. Eine Abweichung von 5 Prozent zwischen<br />

tatsächlicher <strong>und</strong> gemeldeter Bevölkerungszahl mag<br />

zwar vielen als gering <strong>und</strong> tolerierbar erscheinen,<br />

wirkt sich jedoch beim kommunalen Finanzausgleich<br />

schon bei einer mittelgroßen Stadt von 130 000 Einwohnern<br />

mit mehreren Millionen Euro aus.<br />

Neben Volkszählungsdaten gehören Daten, die<br />

von Standesämtern oder Kirchen über Geburten, Todesfälle,<br />

Heiraten <strong>und</strong> Scheidungen gesammelt werden,<br />

zu den wichtigsten Quellen der Bevölkerungswissenschaften.<br />

Sogenannte Kirchenbücher oder Heiratsregister<br />

ermöglichen in vielen Ländern bevölkerungswissenschaftliche<br />

Untersuchungen, die bis ins<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückreichen, ln vielen Ländern<br />

führen auch Schulen, Kliniken, Polizeidienststellen,<br />

Gefängnisse <strong>und</strong> andere öffentliche Einrichtungen<br />

(Einwanderungsbehörden) Register, die demographische<br />

Daten zur Verfügung stellen. Für größere räumliche<br />

Einheiten (B<strong>und</strong>esländer) zusammengefasst<br />

sind diese Angaben in den Statistischen Jahrbüchern<br />

der einzelnen Länder oder weltweit im Demographie<br />

Yearbook publiziert. In einzelnen Ländern wie den<br />

USA können sogenannte vital records (Bevölkerungsstatistiken),<br />

also Datensätze über Geburten, Sterbefälle,<br />

Heiraten <strong>und</strong> so weiter sogar dem Internet entnommen<br />

werden (Abbildung 3.2).<br />

Volkszählungen sind für jede Behörde ein kostspieliges<br />

<strong>und</strong> arbeitsaufwendiges Unternehmen, daher<br />

finden solche umfassenden Erhebungen meist<br />

nur alle fünf oder zehn Jahre statt. In der Vergangenheit<br />

hat es in den Vereinigten Staaten alle zehn Jahre<br />

eine Volkszählung gegeben, bis 1985 ein Fün^ahresrhythmus<br />

eingeführt wurde. Auch Japan führt alle<br />

fünf Jahre eine Volkszählung durch. Der wichtigste<br />

Gr<strong>und</strong> dafür war, dass demographische Daten rasch<br />

veralten. Im Deutschen Reich fand bis zum Ersten<br />

Weltkrieg alle fünf Jahre ein Zensus statt, bis zum<br />

Zweiten Weltkrieg wurden große Volkszählungen<br />

nur noch in den Jahren 1925, 1933 <strong>und</strong> 1939 durchgeführt.<br />

In der alten B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

fanden detaillierte Volkszählungen in den Jahren<br />

1946, 1950, 1961, 1970 <strong>und</strong> 1987 statt. In der ehemaligen<br />

DDR gab es Volks- <strong>und</strong> Berufszählungen in den<br />

Jahren 1950, 1964, 1971 <strong>und</strong> 1981. Die Volkszählungen<br />

1980, 1990 <strong>und</strong> 2000 sind in der BRD aus nicht<br />

nachvollziehbaren Gründen entfallen. Damit ist die<br />

BRD weltweit das einzige hoch entwickelte Industrieland,<br />

das die international üblichen Mindestansprüche<br />

an die amtliche Statistik nicht erfüllt. Dies hat zur<br />

Folge, dass in der BRD zahlreiche wissenschaftliche<br />

Fragestellungen über die Wirtschaft, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur des Landes nicht mehr durchgeführt werden<br />

können <strong>und</strong> für viele Situationsanalysen <strong>und</strong><br />

sachbezogene Entscheidungen die erforderlichen Daten<br />

fehlen. Dies ist umso erstaunlicher, als selbst arme<br />

Entwicklungsländer die Notwendigkeit einsehen <strong>und</strong><br />

das Geld aufbringen, um Volkszählungen durchzuführen.<br />

Denn sie wissen, dass politische Fehlentscheidungen,<br />

die auf Unkenntnis der demographischen<br />

<strong>und</strong> sozioökonomischen Strukturen <strong>und</strong> Zusammenhänge<br />

beruhen, wesentlich teurere Folgen hätten. Zu<br />

den Ländern, in denen mehrere vorgesehene Volkszählungen<br />

ausgefallen sind, gehören außer der BRD<br />

Staaten wie der Libanon <strong>und</strong> Nigeria, in denen<br />

eine Volkszählung die politische Balance zwischen<br />

verschiedenen Ethnien gestört beziehungsweise die<br />

Privilegien der dominierenden Volksgruppe untergraben<br />

hätte. In Nordkorea hat die letzte Volkszählung<br />

angeblich 1944 stattgef<strong>und</strong>en. Jm karibischen<br />

Inselstaat Anguilla gab es noch nie eine umfassende


Das methodische Instrumentarium der Bevölkerungswissenschaften 127<br />

ta C h e k<br />

September 12, 2005<br />

Birth Certificates, Death Certificates, Marriage Records & Diyorce Records<br />

Order Your Official Certificate Now!<br />

FOLLOW THE STEPS BELOW:<br />

\ iew possible<br />

delivery delays<br />

due to weather.<br />

Birth Certificates<br />

&<br />

Other Searches<br />

1. CHOOSE A STATE 2. SELECT AN AGENCY 3.SELEC T YOUR RECORD<br />

In the map below, click<br />

on the state in which the<br />

birth or other yital<br />

record eyent occurred<br />

or select here:<br />

Select from the agencies<br />

listed, the state or county<br />

office where the v ital record<br />

eyent occured.<br />

Select the birth record or<br />

other vital record and place<br />

your order using one of the<br />

available methods: online, fax<br />

or phone.<br />

Home & State Map<br />

Phone List<br />

Fax List<br />

Address List<br />

International<br />

Agencies<br />

Visit Partner Sites<br />

Order A Passport<br />

■Search Death<br />

Records<br />

Ultimate People<br />

Finder<br />

Backgro<strong>und</strong> Check<br />

Fax and Notary<br />

Sgrviegs<br />

Online Marriage<br />

Records<br />

Check Out Your<br />

Doctor<br />

Unlimited Public<br />

Records<br />

View Real Estate<br />

Büt^ords<br />

Search for Assets<br />

® 2005 CholcePoInt Asset Company (26)<br />

Puerto Rico<br />

3.2 Vital records lm Internet Eine der zahlreichen Webseiten, auf denen die US-amerikanischen wia/records für die Öffentlichkeit<br />

leichter zugänglich gemacht werden. Während einige Seiten kostenlos aufgerufen werden können <strong>und</strong> teilweise von den Staatsregierungen<br />

gesponsert werden, sind andere gebührenpflichtig. Besonders bei Ahnenforschern sind solche Seiten zur Bevölkerungsstatistik<br />

beliebt.<br />

Volkszählung, ln Kambodscha erfolgte die erste<br />

Volkszählung 1962 <strong>und</strong> die letzte 1998. Im September<br />

2007 hat die deutsche B<strong>und</strong>esregierung beschlossen,<br />

im Jahr 2011 eine eingeschränkte Volkszählung<br />

durchzuführen.<br />

Bei internationalen Vergleichen von Volkszählungsdaten<br />

ist zu berücksichtigen, dass die Wahl<br />

der Stichtage beträchtliche Auswirkungen auf einzelne<br />

Ergebnisse haben kann (die Arbeitslosigkeit<br />

ist am 1. Januar höher als am 1. Juni), dass gleiche<br />

Begriffe (zum Beispiel „Erwerbstätigkeit“ oder „Arbeitslosigkeit“)<br />

je nach Land unterschiedlich definiert<br />

werden <strong>und</strong> dass manche Merkmale wie Umgangssprache<br />

oder ethnische Zugehörigkeit einer subjektiven<br />

Selbsteinstufung unterliegen, die von äußeren<br />

Umständen (zum Beispiel Diskriminierung oder Privilegierung<br />

von Minderheiten) beeinflusst werden<br />

kann. Diese subjektive Selbsteinstufung kann zur Folge<br />

haben, dass die Bevölkerungszahl von ethnischen<br />

Minderheiten zwischen zwei Volkszählungen sprung-


128 3 Bevölkerungsgeographie<br />

i l ö<br />

-S>.—<br />

haft in einem Umfang zu- oder abnimmt, der weder<br />

durch demographische Faktoren noch durch Zuoder<br />

Abwanderung erklärt werden kann (in den<br />

USA stieg zum Beispiel die Zahl der Native Americans<br />

zwischen 1980 <strong>und</strong> 2000 sprunghaft an).<br />

Wie problematisch eine Selbst- oder Fremdeinstufung<br />

der Ethnizität sein kann, sieht man am Beispiel<br />

der in den US-amerikanischen Volkszählungen erfassten<br />

Hispanics. Der Begriff Flispanic wurde für<br />

all jene Bürger verwendet, deren kulturelles Erbe<br />

auf einen Staat mit spanischer Landessprache zurückzuführen<br />

ist. Den Fiispanics ist zwar gemeinsam, dass<br />

sie Abstammungsverbindungen nach Lateinamerika<br />

oder Spanien haben. Diese zunächst offensichtliche<br />

Gemeinsamkeit überdeckt allerdings die kulturelle<br />

Vielfalt, die sich hinter dieser allgemeinen Bezeichnung<br />

verbirgt. Denn jemand, der sich als Hispanic bezeichnet,<br />

kann aus Mexiko, Kuba oder Puerto Rico,<br />

aus Spanien oder aus irgendeinem süd- oder mittelamerikanischen<br />

Land zugewandert sein oder Vorfahren<br />

haben, die seit Jahrh<strong>und</strong>erten in Kalifornien oder<br />

New Mexico leben. Ein Hispanic kann schwarze oder<br />

weiße Hautfarbe haben oder zur indianischen Urbevölkerung<br />

zählen. Sollte man deshalb auf diesen Begriffverzichten?<br />

Nein, die Tatsache, dass die Spanisch<br />

sprechende Bevölkerung in den USA in Volkszählungen<br />

oder Schulstatistiken vor 1970 nicht erfasst wurde<br />

<strong>und</strong> somit alle Probleme dieser Bevölkerungskategorie<br />

in der Schule <strong>und</strong> auf dem Arbeitsmarkt in offiziellen<br />

Statistiken negiert werden konnten, hatte noch<br />

größere negative Auswirkungen. Auch das Nicht-zur-<br />

Kenntnis-Nehmen einer Ethnie oder Sprachgruppe<br />

kann zu großen Diskriminierungen führen.<br />

Problematisch ist auch die Einführung der neuen<br />

Kategorie „gemischtrassig“, die 2000 erstmals in einer<br />

US-amerikanischen Volkszählung eingesetzt vmrde.<br />

Diese Kenngröße spiegelt die komplexe, vielsprachige<br />

Welt der US-amerikanischen Demographie wider.<br />

Mit ihrer Hilfe sollen Menschen erfasst werden, die<br />

sich nicht zu einer bestimmten ethnischen Gruppe<br />

zugehörig fühlen - weil ihre Eltern oder Großeltern<br />

nicht aus ein <strong>und</strong> derselben Gruppe stammen - oder<br />

sich nicht auf eine einzige Zugehörigkeit (zum Beispiel<br />

„weiß“ oder „asiatisch“) festlegen wollen.<br />

Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaftler, die nicht<br />

an räumlichen Disparitäten interessiert sind, vertreten<br />

die Ansicht, dass man keine kostspieligen Vollerhebungen<br />

benötige <strong>und</strong> Stichprobenerhebungen ausreichen<br />

würden. Viele Geographen sehen dies anders.<br />

Erstens kann man nur dann eine methodisch einwandfreie<br />

Stichprobe ziehen, wenn die Gr<strong>und</strong>gesamtheit<br />

bekannt ist. Ohne Volkszählung lässt sich<br />

aber die Genauigkeit der Gr<strong>und</strong>gesamtheit nicht beurteilen.<br />

Zweitens besteht selbst bei umfangreichen<br />

Stichproben wie dem Mikrozensus das methodische<br />

Problem der räumlichen Repräsentativität. Drittens<br />

können auch große Stichprobenerhebungen wie<br />

der Mikrozensus schon bei kleinen Merkmalskombinationen<br />

von drei bis vier Variablen —zum Beispiel<br />

Ausbildungsniveau (fünf Ausprägungen) nach Alter<br />

(zwölf Ausprägungen nach Fünf-Jahres-Gruppen)<br />

<strong>und</strong> Geschlecht (zwei Ausprägungen) - kaum unterhalb<br />

der B<strong>und</strong>esländerebene regional differenziert<br />

werden, weil der Stichprobenfehler (Zufallsfehler)<br />

zu groß wird. Mit Daten, die nur nach B<strong>und</strong>esländern<br />

differenziert sind, kann man jedoch weder die Spannbreite<br />

der regionalen Disparitäten erfassen noch ihre<br />

Ursachen erforschen. Von einigen Sozialwissenschaftlern<br />

wird auch übersehen, dass statistische Zusammenhänge<br />

zwischen einzelnen Variablen nicht in<br />

allen räumlichen Kontexten bestehen oder gleich<br />

groß sind. Korrelationen, die aufgr<strong>und</strong> der Gesamtmasse<br />

der Datensätze gewonnen wurden, können in<br />

einzelnen Regionen nicht existieren beziehungsweise<br />

stärker oder schwächer ausfallen als bei der Gesamtzahl.<br />

Deshalb kann man mit Mikrozensus-Befragungen<br />

nur sehr eingeschränkt eine Ursachenforschung<br />

über die Gründe von räumlichen Disparitäten durchführen,<br />

indem man zum Beispiel die Daten nach Gemeindetypen<br />

auswertet.<br />

Volkszählungsergebnisse stehen in der Regel allen<br />

Bürgern zur Verfügung, man kann sogar Sonderauswertungen<br />

der Volkszählungen anfertigen lassen. Die<br />

Nachfrage nach solchen Daten ist in vielen Ländern<br />

sehr groß, sodass die Statistischen Ämter einen Teil<br />

ihrer Kosten über die Nutzer der Daten wieder hereinholen<br />

können. In jenen Ländern, in denen es keine<br />

Volkszählungen mehr geben wird, werden viele Daten<br />

nur noch den staatlichen Behörden, aber nicht<br />

mehr den Bürgern zur Verfügung stehen, sodass<br />

die Gefahr besteht, dass die demokratische Kontrolle<br />

von politischen Entscheidungen schwieriger werden<br />

wird beziehungsweise die Asymmetrie des Zugangs<br />

zu wichtigen Daten größer werden wird. In einer zunehmenden<br />

Zahl von Ländern wird nach Abschaffung<br />

der Volkszählungen der paradoxe Fall eintreten,<br />

dass im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert, also im Zeitalter der Wissens-<br />

<strong>und</strong> Informationsgesellschaft, der Wissenschaft<br />

weniger Daten über die regionalen Disparitäten der<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> Gesellschaftsstruktur zur Verfügung<br />

stehen als am Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Dafür gibt es<br />

dann den „gläsernen“ Bürger, Bankk<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Patienten,<br />

der durch den Gebrauch seiner Kreditkarten<br />

<strong>und</strong> das Surfen im Internet wesentlich mehr Spuren<br />

über deutlich intimere Inhalte hinterlässt beziehungsweise<br />

den kommerziellen Betreibern dieser Netze zur


Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur 129<br />

Verfügung stellt als je in einer Volkszählung erhoben<br />

würden.<br />

Bevölkerungsverteilung<br />

, <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur<br />

I Bevölkerungsverteilung<br />

Ein erster Themenschwerpunkt der Bevölkerungsgeographie<br />

befasst sich mit der räumlichen Verteilung<br />

der Bevölkerung sowie den Ursachen <strong>und</strong> Folgen<br />

von unterschiedlichen Bevölkerungsdichten.<br />

Während zum Beispiel Bangladesh <strong>und</strong> die Niederlande<br />

flächendeckend eine hohe Bevölkerungsdichte<br />

aufweisen, sind in Indien ganz andere Muster der Bevölkerungsverteilung<br />

festzustellen, nämlich besonders<br />

hohe Bevölkerungskonzentrationen entlang<br />

der Küsten <strong>und</strong> Flüsse, aber relativ geringe Dichten<br />

im westlichen Teil des Landes (Abbildung 3.3).<br />

Die geringste Bevölkerungsdichte der Welt findet<br />

man - die Polargebiete <strong>und</strong> Wüsten einmal ausgenommen<br />

- in den dicht bewaldeten Regionen des<br />

Amazonasbeckens.<br />

Erreichbarkeit, Relief, Bodenfruchtbarkeit, Klima<br />

<strong>und</strong> Witterungsbedingungen, Verfügbarkeit <strong>und</strong><br />

Qualität von Wasser, Art <strong>und</strong> Vorkommen verschiedener<br />

natürlicher Ressourcen sind wichtige Faktoren<br />

für die Herausbildung bestimmter Verteilungsmuster.<br />

Weitere Steuerungsgrößen sind die politischen,<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> die historische Entwicklung eines<br />

Landes. So lassen sich zum Beispiel die hohen Bevölkerungskonzentrationen<br />

an der brasilianischen Atlantikküste<br />

auf Handelsstrukturen zurückführen,<br />

die unter der portugiesischen Kolonialherrschaft im<br />

16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert entstanden sind. Ein anderer<br />

wichtiger Faktor sind kulturelle Einflüsse, die sich in<br />

Religionen, kulturellen Traditionen, Wertvorstellungen<br />

oder historischen Erfahrungen äußern können.<br />

Städte wie Medina oder Mekka weisen nicht zuletzt<br />

deshalb bedeutende Bevölkerungskonzentrationen<br />

auf, weil sie heilige Städte des Islams sind.<br />

In Tabelle 3.1 ist die Bevölkerungsverteilung nach<br />

Kontinenten aufgeführt. Asien ist mit 60,5 Prozent<br />

^<br />

V.. •-V •<br />

l<br />

3.3 Bevölkerungsverteilung (2004) Die Weltbevölkerung ist keineswegs gleichmäßig über die Erde verteilt. Karten wie diese<br />

erleichtern es, das Verhältnis zwischen Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> nationalen Einflussfaktoren, welche die Verteilung beeinflussen,<br />

zu verstehen. China <strong>und</strong> Indien sind die bevölkerungsreichsten Länder der Erde, während die Länder der Kernregion der Weltwirtschaft<br />

weniger hohe Bevölkerungszahlen aufweisen.


i<br />

130 3 Bevölkerungsgeographie<br />

3 jn<br />

Tabelle 3.1<br />

! ..................<br />

Kontinent<br />

1<br />

1<br />

1<br />

Geschätzte Bevölkerungszahlen nach Kontinenten<br />

Einwohner<br />

(in Millionen)<br />

Afrika 885 14<br />

^ A sie r^ ^ 3 875 60,5<br />

' Australien,<br />

Neuseeland <strong>und</strong><br />

südpazifische Inseln<br />

33 0,5<br />

Europa 728 11,5<br />

Nordamerika 326 5<br />

Lateinamerika <strong>und</strong><br />

Karibik<br />

549 8,5<br />

Gesamt 6 396 100<br />

Prozent der<br />

Weltbevölkerung ;<br />

Quelle: Population Reference Bureau, Website: www.prb.org.<br />

World Population Data Sheet, 2004<br />

der Weltbevölkerung der mit Abstand bevölkerungsreichste<br />

Erdteil. Innerhalb Asiens weisen China <strong>und</strong><br />

Indien allein 37 Prozent der Bevölkerung des Kontinents<br />

<strong>und</strong> 21 Prozent der Weltbevölkerung auf. An<br />

zweiter <strong>und</strong> dritter Stelle folgen mit 14 <strong>und</strong> 11,5 Prozent<br />

der Weltbevölkerung - schon weit abgeschlagen<br />

- Afrika <strong>und</strong> Europa.<br />

Der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung<br />

drängt sich auf insgesamt nur zehn Prozent der Festlandsfläche,<br />

vor allem in Küstennähe sowie an Seen<br />

oder schiffbaren Flüssen.<br />

Ungefähr 90 Prozent aller Menschen leben nördlich<br />

des Äquators, wo sich der größere Teil der Landmassen<br />

(63 Prozent) befindet. Schließlich konzentriert<br />

sich der Großteil der Weltbevölkerung in gemäßigten<br />

Klimazonen, <strong>und</strong> dort hauptsächlich in Tiefländern<br />

mit fruchtbaren Böden (Abbildung 3.3).<br />

Iii<br />

i 1<br />

3.4 Bevölkerungsverteilung in Ägypten (2004) In Ägypten ist die Verteilung der Bevölkerung eng an das Vorhandensein von<br />

Wasser gekoppelt. So konzentriert sich die Bevölkerung im Norden entlang der Mittelmeerküste <strong>und</strong> im Landesinneren entlang<br />

des Nilufers.


Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur 131<br />

Solche Verteilungsmuster dürfen natürlich nicht<br />

deterministisch interpretiert werden, sondern die<br />

Verteilungen entstehen dadurch, dass die handelnden<br />

Akteure das Potenzial, die Chancen <strong>und</strong> Risiken der<br />

Umwelt einer Bewertung unterzogen haben. Solche<br />

Bewertungen können sich nach der Veränderung<br />

von technologischen, finanziellen oder wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen auch wieder ändern.<br />

Doch nicht nur die globale Bevölkerungsverteilung<br />

ist von Bedeutung. Ebenso gilt es, Bevölkerungskonzentrationen<br />

innerhalb von Ländern, Regionen oder<br />

sogar Stadtregionen zu berücksichtigen. So ist etwa<br />

der Großteil der Bevölkerung Australiens <strong>und</strong> Nordafrikas<br />

entlang der Küsten konzentriert, an denen die<br />

Mehrzahl der großen Städte liegt. In Nordafrika ist<br />

lediglich Ägypten eine Ausnahme, da sich hier die Bevölkerung<br />

nicht nur an der Küste, sondern auch entlang<br />

der Nilufer im Hinterland konzentriert (Abbildung<br />

3.4).<br />

Die Besiedlung der Flussufer unterstreicht die immense<br />

Bedeutung von Wasser für das menschliche<br />

Überleben in Wüstenregionen. In Mexiko sind dagegen<br />

die Küstengebiete aus geographischen <strong>und</strong><br />

historischen Gründen relativ dünn besiedelt, während<br />

die Städte mit hoher Bevölkerungsdichte, so<br />

auch die Metropole Mexiko-Stadt, im Landesinneren<br />

liegen.<br />

Bevölkerungsdichte <strong>und</strong><br />

, Bevölkerungszusammensetzung<br />

In der Regel werden Bevölkerungsdichten mit verschiedenen<br />

Maßzahlen beschrieben, die das Verhältnis<br />

zwischen der Bevölkerungszahl <strong>und</strong> irgendeinem<br />

anderen Aspekt wiedergeben. Die wohl am häufigsten<br />

gebrauchte Maßzahl ist die rohe Bevölkerungsdichte,<br />

die auch Bruttobevölkerungsdichte genannt<br />

wird. Diese berechnet man, indem man die Gesamtzahl<br />

der Bevölkerung einer Raumeinheit durch deren<br />

Gesainiiläche dividiert. Die rohe Bevölkerungsdichte<br />

hat für die Frage der Tragfähigkeit oder Übervölkerung<br />

eine sehr eingeschränkte Aussagekraft. Sie liefert<br />

so gut wie keine Informationen darüber, welche Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen sich aus dem Verhältnis von<br />

Bevölkerungszahl zu Fläche für die in dem betreffenden<br />

Gebiet lebenden Menschen ergeben. Um diese<br />

Möglichkeiten abschätzen zu können, benötigt man<br />

andere Maßzahlen, wie etwa die Dichte des Nahrungsangebotes<br />

(nutritional density) oder die Agrardichte<br />

(agricultural density). Erstere ergibt sich aus<br />

dem Verhältnis von Gesamteinwohnerzahl zu landwirtschaftlicher<br />

Nutzfläche, Letztere aus dem Verhältnis<br />

der Berufstätigen in der Landwirtschaft zur<br />

landwirtschaftlich genutzten Fläche eines Gebiets.<br />

3.5 Einwohnerdichte am Beispiel von Chicago Einwohnerzahl, Höhe <strong>und</strong> Dichte der Bebauung in Chicago sind das Ergebnis<br />

vieler Faktoren. An erster Stelle steht die Bedeutung von Chicago als ein zentraler Knoten innerhalb des globalen Städtesystems.<br />

Diese Funktion beruht auf einer ebenso vielfältigen wie zahlenmäßig breiten Bevölkerungsbasis. Aufgr<strong>und</strong> der überaus<br />

komplexen Wirtschaftsstruktur der Stadt besteht hier ein großer Bedarf an unterschiedlichsten Arbeitskräften, wobei die Spanne<br />

von gering qualifizierten Tätigkeiten im Dienstleistungssektor bis hin zu hoch qualifizierten Fach- <strong>und</strong> Führungskräften reicht.


132 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Die Tragfähigkeit ist allerdings nur ein Teilaspekt. Für<br />

zahlreiche andere Fragen der Bevölkerungs-, Stadt<strong>und</strong><br />

Verkehrsgeographie ist auch die rohe Bevölkerungsdichte<br />

von großer Bedeutung (Abbildung 3.5).<br />

Neben Verteilungs- <strong>und</strong> Dichtemustern untersuchen<br />

Geographen auch räumliche Disparitäten der<br />

Bevölkerungsstrukturen. Wertvolle Hinweise gibt<br />

beispielsweise die Aufgliederung einer Bevölkerung<br />

nach Alter, Geschlecht, Familienstand, Ausbildungsniveau<br />

<strong>und</strong> Erwerbstätigkeit.<br />

Vor besonderen Problemen stehen Länder mit<br />

einem hohen Anteil alter Menschen - <strong>und</strong> in dieser<br />

Situation werden sich bald viele Länder der Kernregion<br />

der Weltwirtschaft (Kapitel 2) befinden, wenn<br />

die Babyboom-Generation, die in verschiedenen<br />

Ländern unterschiedlich definiert wird (in USA die<br />

zwischen 1946 <strong>und</strong> 1964 Geborenen, in Deutschland<br />

die zwischen 1957 <strong>und</strong> 1966 Geborenen), ins Pensionsalter<br />

eintritt. Sobald diese Überalterung eintritt,<br />

werden die betroffenen Staaten einen beträchtlichen<br />

Teil ihrer Ressourcen aufwenden müssen, um die Bedürfnisse<br />

einer großen Zahl von Personen abzudecken,<br />

die sich nicht mehr in nennenswertem Umfang<br />

an der Erwirtschaftung der Mittel beteiligen können,<br />

die zu ihrer Unterstützung benötigt werden. Zudem<br />

kann der schwindende Anteil von Menschen im erwerbsfähigen<br />

Alter zu einem wachsenden Bedarf an<br />

ausländischen Arbeitskräften <strong>und</strong> zu einer hohen Belastung<br />

des Sozialsystems führen. Wenn man die Zahl<br />

der Frauen im gebärfähigen Alter kennt <strong>und</strong> man zudem<br />

noch weitere Informationen über deren Familienstand,<br />

Ausbildungsniveau, Erwerbstätigkeit, derzeitiges<br />

generatives Verhalten <strong>und</strong> so weiter zur<br />

Verfügung hat, so lässt sich das zukünftige Wachstumspotenzial<br />

einer Bevölkerung relativ gut abschätzen.<br />

Bevölkerungen in Industrieländern wie zum Beispiel<br />

Dänemark, die einen geringen Anteil von Frauen<br />

im gebärfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung aufweisen<br />

- die aber ein hohes Ausbildungsniveau, eine<br />

gute sozioökonomische Absicherung <strong>und</strong> vielfältige<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten außerhalb des Haushaltes<br />

haben -, werden im Allgemeinen nur langsam<br />

wachsen, wenn nicht sogar schrumpfen. Entwicklungsländer<br />

wie Kenia, in denen eine große Zahl<br />

von Frauen im gebärfähigen Alter ein niedriges Ausbildungsniveau,<br />

eine geringe sozioökonomische Absicherung<br />

<strong>und</strong> eingeschränkte Berufschancen besitzt,<br />

werden dagegen relativ hohe Wachstumsraten aufweisen.<br />

Die Kenntnis der Zusammensetzung einer Bevölkerung<br />

erlaubt nicht nur Prognosen hinsichtlich der<br />

künftigen demographischen Entwicklung von Regionen,<br />

sondern ist auch für alltägliche Entscheidungen<br />

in Wirtschaft <strong>und</strong> Politik unentbehrlich. So wertet<br />

etwa die Wirtschaft solche Daten für Marketingstrategien<br />

<strong>und</strong> Standortentscheidungen aus. Auch kulturelle<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> die meisten Fachplanungen<br />

(Schulentwicklungsplanung, Verkehrsplanung,<br />

Standorte von Supermärkten <strong>und</strong> so weiter) sind<br />

auf solche regional differenzierte Strukturdaten angewiesen.<br />

Einige Beispiele für die Beurteilung der räumlichen<br />

Verteilung <strong>und</strong> Zusammensetzung spezifischer<br />

Bevölkerungsgruppen, sogenannte geodemographische<br />

Analysen, sind im Exkurs 3.1 „Geographie in<br />

Beispielen - Der Babyboom <strong>und</strong> die Überalterung<br />

der Gesellschaft in den USA“ erläutert. Sie zeigen sowohl<br />

Anwendungen im privatwirtschaftlichen Marketingbereich<br />

als auch Projekte, die auf eine Förderung<br />

des Gemeinwohls abzielen.<br />

I Alterspyramiden<br />

Eine der bekanntesten <strong>und</strong> aussagekräftigsten Methoden<br />

zur Beschreibung der Bevölkerungsstruktur stellen<br />

Alterspyramiden dar. Eine Alterspyramide ist ein<br />

horizontales, nach Alter <strong>und</strong> Geschlecht gegliedertes<br />

Balkendiagramm. Im Allgemeinen werden die Männer<br />

auf der linken <strong>und</strong> die Frauen auf der rechten Seite<br />

des Balkendiagramms dargestellt. Die Altersstufen<br />

sind von unten nach oben von den Jüngsten bis zu<br />

den Ältesten angeordnet. Auf diese Weise lassen<br />

sich die einander gegenüberliegenden Balkenlängen<br />

direkt vergleichen <strong>und</strong> Unterschiede in der Zahl<br />

der Männer <strong>und</strong> Frauen in jeder Altersgruppe erfassen.<br />

Alterspyramiden können auf absoluten Daten<br />

oder Prozentwerten beruhen. Die Balken der Alterspyramide<br />

können noch nach Familienstand oder<br />

nach Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Erwerbstätigkeit untergliedert<br />

werden. Alterspyramiden dienen auch dazu,<br />

sowohl frühere Einflüsse <strong>und</strong> Entwicklungen zu beschreiben<br />

als auch zukünftige Veränderungen <strong>und</strong><br />

Auswirkungen zu prognostizieren. So zeigt etwa<br />

eine Alterspyramide für die B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

für das Jahr 2000 den Einfluss der beiden Weltkriege,<br />

der sich insbesondere in dem Verlust einer<br />

großen Zahl von Männern im wehrfähigen Alter<br />

<strong>und</strong> dem deutlichen Geburtenausfall in diesen Zeiträumen<br />

widerspiegelt (Abbildung 3.6).<br />

Gleichzeitig deutet sie an, wie sehr in einigen Jahren<br />

die Rentenkasse beansprucht werden wird. Bei<br />

vielen Fragestellungen ist es sinnvoll, mit sogenannten<br />

Kohorten zu arbeiten. Kohorten können nicht<br />

nur auf Basis des Lebensalters, sondern je nach Fragestellung<br />

auch anhand von Kriterien wie Heiratsalter<br />

oder Jahr des Studienabschlusses definiert werden.


Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur 133<br />

Überschuss<br />

an Frauen<br />

Verluste im<br />

2. Weltkrieg<br />

1. Weltkrieg<br />

männlich<br />

Nachkriegs-<br />

Geburtenrückgang<br />

im<br />

2. Weltkrieg<br />

weiblich<br />

Geburtenrückgang<br />

im<br />

2. Weltkrieg<br />

Geburtenrückgang<br />

Babyboom<br />

Nachkriegs-<br />

Babyboom<br />

BRD<br />

(in Tausend)<br />

3.6 Die Bevölkerung der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland im Jahr 2000, gegliedert nach Alter <strong>und</strong> Geschlecht Die Alterspyramide<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zeigt das typische Bild eines reichen Industriestaates, dessen Bevölkerungswachstum<br />

nach den Babyboom-Jahren der Nachkriegszeit stark rückläufig war <strong>und</strong> das derzeit durch eine niedrige Geburtenrate <strong>und</strong> eine<br />

negative natürliche Bevölkerungsdichte gekennzeichnet ist. Ebenso spiegelt das Diagramm die demographischen Auswirkungen<br />

zweier verheerender Weltkriege wider. (Quelle: McFalls Jr., J. Population: A Lively Introduction. In: Population Bulletin 58 (4) 2003)<br />

Aus Alterspyramiden kann man nicht nur die demographischen<br />

Auswirkungen von Kriegen, einschneidenden<br />

ökonomischen Krisen, Aus- <strong>und</strong> Zuwanderungswellen<br />

oder wirksamen bevölkerungspolitischen<br />

Maßnahmen ablesen. Sie liefern auch<br />

Informationen, anhand derer sich die möglichen<br />

Folgen von wachsenden oder schrumpfenden Bevölkerungen<br />

abschätzen lassen. Wie aus Abbildung 3.7<br />

zu entnehmen ist, wandelt sich die Gestalt einer<br />

Alterspyramide mit dem Anteil von Personen in<br />

jeder Kohorte. Die Pyramide Malis (Abbildung<br />

3.7a) zeigt zum Beispiel, dass es einen hohen Anteil<br />

von Kindern im Alter zwischen 0 <strong>und</strong> 14 Jahren<br />

gibt. Die deutliche Verbreiterung im unteren Teil<br />

der Pyramide macht deutlich, dass die Einwohnerzahl<br />

in jüngerer Zeit sehr rasch zugenommen hat. Die<br />

Form dieser Pyramide ist typisch für Entwicklungsländer<br />

mit hohen Geburtenraten <strong>und</strong> niedrigen<br />

Sterberaten.<br />

Derartige Alterspyramiden signalisieren Probleme<br />

von erheblicher Tragweite. Zum einen zeigt die Alterspyramide,<br />

dass in Mali angesichts der niedrigen<br />

wirtschaftlichen Produktivität <strong>und</strong> der großen Armut<br />

die vorhandenen Ressourcen bis an die Grenzen ausgeschöpft<br />

werden müssen, um auch nur ein Minimum<br />

an Unterricht, Konsum <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />

für die wachsende Zahl von Kindern zu gewährleisten.<br />

Wenn diese Kinder in das erwerbsfähige Alter<br />

kommen, muss zudem eine große Zahl von Arbeitsplätzen<br />

geschaffen werden, damit die dann Erwachsenen<br />

sich <strong>und</strong> ihre Familien ernähren können. Sobald<br />

sie eigene Familien gründen, sorgt die große<br />

Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter wiederum dafür,<br />

dass die Bevölkerung weiterhin stark anwächst.


134 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Exkurs 3.1<br />

Geographie in Beispielen - Der Babyboom <strong>und</strong> die<br />

Überalterung der Gesellschaft in den USA<br />

Die Babyboom-Generation, die in den USA die zwischen 1946<br />

<strong>und</strong> 1964 Geborenen umfasst (in anderen Ländern ist die<br />

Zeitspanne etwas kürzer), wurde in den USA als eine der<br />

-<br />

33<br />

29<br />

I<br />

folgenreichsten <strong>und</strong> nachhaltigsten demographischen Erscheinungen<br />

beschrieben. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für<br />

zahlreiche europäische Länder. Jedenfalls ist der enorme<br />

.<br />

59<br />

24 35<br />

k<br />

Geburtenanstieg der Nachkriegszeit eine der am häufigsten<br />

-<br />

K<br />

untersuchten, analysierten, negativ oder positiv bewerteten<br />

Erscheinungen. Am Beispiel des Babybooms lässt sich sehr<br />

gut verdeutlichen, welche Vielzahl von Faktoren - politische<br />

<strong>und</strong> ökonomische, soziale <strong>und</strong> kulturelle - demographische<br />

Übergänge beeinflussen.<br />

Warum gab es zwischen 1946 <strong>und</strong> 1964 so viele Geburten?<br />

Bevölkerungswissenschaftler haben keine schlüssige Antwort<br />

auf diese Frage. Tatsächlich hatten Bevölkerungsexperten in<br />

22 22<br />

21<br />

vor dem 1. Weltkrieg<br />

(zwischen 1911 <strong>und</strong><br />

1915 geboren)<br />

10<br />

9<br />

Weltwirtschaftskrise<br />

(zwischen 1930 <strong>und</strong><br />

1935 geboren)<br />

keine Kinder<br />

□ zwei Kinder<br />

I I ein Kind Q drei oder mehr Kinder<br />

19<br />

17<br />

__________<br />

Babyboom<br />

(zwischen 1947 <strong>und</strong><br />

1953 geboren)<br />

den 1940er-Jahren vorausgesagt, dass die Bevölkerungszahl<br />

nicht weiter wachsen würde. Zwar rechnet man gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

damit, dass die Geburtenzahl nach einem Krieg ansteigt. Dennoch<br />

war das Ausmaß des plötzlich auftretenden <strong>und</strong> lang anhaltenden<br />

Geburtenzuwachses nach dem Ende des Zweiten<br />

3.1.1 Drei Generationen von Frauen im Alter zwischen<br />

35 <strong>und</strong> 39 Jahren, nach Zahl der geborenen Kinder<br />

(Quelle: Bouvier, L.; DeVita, C. The Baby Boom: Entering<br />

MidLife. In: Population Bulletin 46 (3) 1991)<br />

Weltkrieges nicht nur für Bevötkerungswissenschaftler, Politiker<br />

<strong>und</strong> Verwaltungsexperten überraschend. Nach der Theorie<br />

des demographischen Übergangs wäre im Zusammenhang mit<br />

Politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Faktoren<br />

der zunehmenden Verstädterung <strong>und</strong> Modernisierung in der<br />

Um den Babyboom zu verstehen, ist es notwendig, neben den<br />

Nachkriegszeit ein Geburtenrückgang zu erwarten gewesen.<br />

demographischen Faktoren auch die politischen <strong>und</strong> wirt­<br />

Auf früheren Trends basierende soziologische Theorien <strong>und</strong><br />

schaftlichen Einflüsse zu erfassen. Die Vereinigten Staaten<br />

Vorhersagen erwiesen sich Jedoch im Falle des Babybooms<br />

<strong>und</strong> Europa erlebten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

als wenig brauchbar.<br />

einen enormen Wirtschaftsaufschwung. Zunächst hatte der<br />

Krieg, <strong>und</strong> in Europa auch der Wiederaufbau der zerstörten<br />

Städte <strong>und</strong> Industrieanlagen, die Wirtschaft angekurbelt, später<br />

resultierte die weitere Belebung aus wichtigen Veränderun­<br />

Bevölkerungswissenschaftler stimmen darin überein, dass der<br />

gen im Verkehrswesen <strong>und</strong> technologischen Innovationen.<br />

Babyboom nicht ausschließlich als eine direkte oder indirekte<br />

Außerdem erweiterte <strong>und</strong> schuf die US-amerikanische Regie­<br />

Folge des Kriegsendes gesehen werden darf. Tatsächlich hat<br />

rung Programme im Bildungs- <strong>und</strong> Wohnungswesen, welche<br />

zwar die Zahl der Eheschließungen (<strong>und</strong> Scheidungen) in dieser<br />

Kriegsheimkehrer in die Lage versetzen sollten, bereits mit<br />

Zeit enorm zugenommen, aber die damit verb<strong>und</strong>ene Steige­<br />

einem gewissen Besitzstand <strong>und</strong> der Chance, ihren wirtschaft­<br />

rung der Geburtenrate beschränkte sich auf die Jahre 1946<br />

lichen Status durch einen College-Abschluss zu verbessern,<br />

<strong>und</strong> 1947. Bis 1950 ist die Geburtenrate sogar gesunken,<br />

eine Ehe zu beginnen. Die durch den Ausbau des Autobahn­<br />

sie begann aber 1951 wieder anzusteigen <strong>und</strong> blieb bis zum<br />

netzes verstärkte Suburbanisierung förderte das Wachstum<br />

Jahre 1964 hoch. Der Babyboom kam nicht dadurch zustande,<br />

des Baugewerbes <strong>und</strong> der Automobilindustrie sowie die Erzeu­<br />

dass die Frauen mehr Kinder bekamen oder die Familiengröße<br />

gung langlebiger Flaushaltsgüter. Mit dem wirtschaftlichen<br />

zunahm, sondern es heirateten insgesamt mehr Menschen,<br />

Boom wuchs naturgemäß auch der Arbeitskräftebedarf. Insbe­<br />

<strong>und</strong> sie bekamen gleich in den ersten Ehejahren jeweils min­<br />

sondere jüngeren Leuten, die meist eine bessere Ausbildung<br />

destens zwei Kinder. Außerdem heirateten junge Frauen in den<br />

genossen hatten als frühere Generationen, bot sich dadurch<br />

1950er- <strong>und</strong> zu Beginn der 1960er-Jahre früher als die vorangegangene<br />

Generation <strong>und</strong> hatten auch früher Kinder (Abbildung<br />

3.1.1).<br />

die Chance, relativ leicht einen gut bezahlten Job zu finden.<br />

Damit waren vielfach erhebliche Zusatzleistungen sowie<br />

gute berufliche Aufstiegsmöglichkeiten verb<strong>und</strong>en.


Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur 135<br />

Die Überalterung der Gesellschaft<br />

Die Kohorte der Babyboomer wird auch in Zukunft enorme<br />

Auswirkungen auf den Rest der Bevölkerung haben, besonders<br />

wenn diese Menschen in die Altersgruppe der 60- bis 80-Jährigen<br />

eintreten werden. Die f<strong>und</strong>amentalste demographische<br />

Veränderung des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts wird die Überalterung<br />

der Gesellschaft sein. Dies ist nicht nur ein Ergebnis des Älterwerdens<br />

der Babyboom-Generation, sondern auch der weltweit<br />

gestiegenen Lebenserwartung <strong>und</strong> der sinkenden Geburtenraten.<br />

Im Jahr 2000 lag das Durchschnittsalter der Weltbevölkerung<br />

bei 26,6 Jahren; für 2050 wird erwartet, dass es bereits<br />

37,8 Jahre betragen wird. Am gravierendsten ist die Überalterung<br />

der Bevölkerung in den Kernregionen. Hier überstieg<br />

1998 die Zahl der älteren Menschen (60 Jahre <strong>und</strong> darüber)<br />

erstmals die Zahl der Kinder unter 15 Jahren. Das Durchschnittsalter<br />

in den Industrieländern wird von 37,5 (2000)<br />

auf 45,6 Jahre (2050) ansteigen, was in vielen Fällen zu einer<br />

Bevölkerungsabnahme führen wird. Die Tabelle 3.1.1 zeigt<br />

einige der Kernregionen, in denen aller Wahrscheinlichkeit<br />

nach der Anteil älterer Menschen steigen <strong>und</strong> ein allgemeiner<br />

Bevölkerungsrückgang erfolgen wird. In diesen überalterten<br />

<strong>und</strong> schrumpfenden Gesellschaften wird zugleich auch der Anteil<br />

der Erwerbstätigen (15-64 Jahre) abnehmen, sodass immer<br />

weniger Arbeitskräfte zur Verfügung stehen, um eine<br />

wachsende Zahl alter Menschen zu versorgen. Für Länder<br />

wie zum Beispiel Spanien, Italien, Japan <strong>und</strong> Deutschland<br />

wird dies ernsthafte Probleme im Bereich des Arbeitsmarktes,<br />

des Wirtschaftswachstums, der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge, der<br />

Renten <strong>und</strong> Sozialleistungen <strong>und</strong> so weiter zur Folge haben.<br />

Obwohl in den peripheren Ländern die Überalterung der Gesellschaft<br />

aufgr<strong>und</strong> der hohen Geburtenraten im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

langsamer verlief, wird sich auch in diesen Ländern in den<br />

nächsten 50 Jahren das Durchschnittsalter der Bevölkerung<br />

von 24,4 Jahren (2000) auf vermutlich 36,7 Jahre (2050) erhöhen,<br />

was momentan einen größeren Anstieg als in den Kernländern<br />

bedeutet. Die Regionen, in denen die Überalterung der<br />

Bevölkerung am schnellsten voranschreitet, sind Ost- <strong>und</strong> Südostasien,<br />

während sie in Afrika bisher am langsamsten verläuft.<br />

Tabelle 3.1.1 Länder, deren Bevölkerung voraussichtlich zurückgehen wird, 2000 <strong>und</strong> 2050<br />

Land oder<br />

Gebiet<br />

Bevölkerung<br />

(in Tausend)<br />

2000 2005 (in<br />

Tausend)<br />

Bevölkerungswandel<br />

(in<br />

Prozent)<br />

Anteil der (über)<br />

65-Jährigen<br />

2000 2005<br />

Prozentuale<br />

Veränderung des<br />

Anteils der (über)<br />

65-jährigen<br />

.......... —<br />

(in Prozent)<br />

Österreich 8 211 7 094 -1 117 -14 15 30 106<br />

Weißrussland 10 236 8 330 -1 907 -19 14 25 86<br />

Belgien 10 161 8 918 -1 243 -12 17 28 65<br />

Bosnien <strong>und</strong> Herzegowina 3 972 3 767 -205 -5 10 27 171<br />

Bulgarien 8 255 5 673 -2 552 -31 16 30 88<br />

China, Hongkong^ 6 927 6 664 -263 -4 11 33 217<br />

Kroatien 4 473 3 673 -800 -18 15 26 77<br />

Kuba 11 201 11 095 -105 -1 10 27 176<br />

Tschechische Republik 10 244 7 829 -2 415 -24 14 33 144<br />

Dänemark 5 293 4 793 -500 -9 15 24 59<br />

Estland 1 396 927 -469 -34 14 29 107<br />

Finnland 5 176 4 898 -278 -5 15 26 72<br />

Deutschland 82 220 73 303 -8 917 -11 16 28 73<br />

Griechenland 10 645 8 232 -2 412 -23 18 34 92<br />

Ungarn 10 036 7 488 -2 548 -25 15 28 92<br />

Italien 57 298 41 197 -16 101 -28 18 35 92


136 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Tabelle 3.1.1<br />

Länder, deren Bevölkerung voraussichtlich zurückgehen wird, 2000 <strong>und</strong> 2050 (Fortsetzung)<br />

Land oder<br />

;Gebiet*<br />

Bevölkerung<br />

(in Tausend)<br />

Bevölkerungswandel Anteil der (über) Prozentuale<br />

65-Jährigen Veränderung des<br />

Anteils der (über)<br />

65-Jährigen<br />

2000 2005 (in<br />

Tausend)<br />

(in<br />

Prozent)<br />

2000 2005 (in Prozent)<br />

Japan 126 714 104 921 -21 793 -17 17 32 86<br />

Lettland 2 357 1 628 -728 -31 14 27 86<br />

Litauen 3 670 2 967 -704 -19 13 27 102<br />

Luxemburg 431 430 -1 0 14 27 84<br />

Niederlande 15 786 14 156 -1 629 -10 14 28 104<br />

Polen 38 765 36 256 -2 509 -6 12 26 118<br />

Portugal 9 875 8 137 -1 738 -18 16 31 99<br />

Rumänien 22 327 16 419 -5 908 -26 13 31 131<br />

Russische Förderation 146 934 121 256 -25 678 -17 13 25 100<br />

Slowakei 5 387 4 836 -551 -10 11 27 139<br />

i<br />

Slowenien 1 869 1 487 -499 -25 14 32 131<br />

Spanien 39 630 30 226 -9 404 24 17 37 117<br />

Schweden 8 910 8 661 -249 -3 17 27 53<br />

Schweiz 7 386 6 745 -641 -9 15 30 104<br />

Ukraine 50 456 39 302 -11 154 -22 14 27 91<br />

Großbritannien 58 830 56 667 -2 163 -4 16 25 56<br />

Jugoslawien 10 640 10 548 -92 -1 13 23 73<br />

* Länder oder Gebiete mit einer Bevölkerung von 150 000 oder mehr im Jahr 2005, ' Seit dem 1. Juli 1997 ist Hongkong eine<br />

Sonderverwaltungszone von China. Quelle: U.N. Population Division, World Population Prospects: The 1998 Revision<br />

Die Auswirkungen der Babyboom-Generation<br />

Durch die Babyboom-Generation hat sich das öffentliche Bildungswesen<br />

gewandelt, sind Regierungsprogramme ins Leben<br />

gerufen worden, veränderten sich Arbeitsmarkt <strong>und</strong><br />

Wahlverhalten sowie die Verteilung öffentlicher Gelder. Die<br />

Auswirkungen erstreckten sich darüber hinaus auf fast alle<br />

Bereiche der Volkskultur - von der Mode über die Musik<br />

bis hin zu neuen physischen <strong>und</strong> psychischen Formen des<br />

Hedonismus. Die Babyboomer haben später geheiratet <strong>und</strong><br />

Diese Entwicklung zu bremsen, erfordert wirksame<br />

Gegenmaßnahmen, wie beispielsweise intensive<br />

Kampagnen zur Geburtenkontrolle sowie verbesserte<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Berufschancen. Ferner gilt es, auf<br />

einen Wandel des gesellschaftlich <strong>und</strong> kulturell bedingten<br />

Leitbildes einer kinderreichen Familie hinzulassen<br />

sich eher scheiden als irgendeine Generation vor ihnen;<br />

Frauen <strong>und</strong> Angehörige von Minderheiten konnten sich<br />

erfolgreicher in außerhäusliche Arbeitsprozesse eingliedern;<br />

<strong>und</strong> schließlich lässt sich mit Fug <strong>und</strong> Recht sagen, dass die<br />

Frauen die Arbeitswelt im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert am stärksten verändert<br />

haben.<br />

Quelle: Bouvier, L.; De Vita, C. The Baby Boom - Entering Midlife.<br />

ln: Population Bulletin 46 (3), 1991; Kinsella, K.; Velkoff,<br />

V. A. An Aging World<br />

arbeiten. Die vergangenen Jahrzehnte haben allerdings<br />

gezeigt, dass kulturelle Einflussfaktoren stärker<br />

sind als die Wirkung staatlicher Programme zur Familienplanung.<br />

Im Gegensatz zu Mali weist die Alterspyramide der<br />

Vereinigten Staaten (Abbildung 3.7b) die für Länder


Bevölkerungsverteilung <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur 137<br />

schnelles W achstum<br />

(Mall)<br />

Alter<br />

langsames W achstum<br />

(Vereinigte Staaten)<br />

Geburtsjahr<br />

Bevöl kerungsrückgang<br />

(Italien)<br />

männlich<br />

10 8 6 4 2 0 2 4 6 8 10<br />

Prozent der Bevölkerung<br />

(a)<br />

männlich<br />

vor 1919<br />

weiblich 1920-1924<br />

1925-1929<br />

1930-1934<br />

1935-1939<br />

1940-1944<br />

1 1945-1949<br />

1 1950-1954<br />

1 1955-1959<br />

i 1960-1964<br />

i 1965-1969<br />

i 1970-1974<br />

i 1975-1979<br />

I 1980-1984<br />

j 1985-1989<br />

i 1990-1994<br />

i 1995-1999<br />

T------- 1--------1--------1--------1<br />

10 8 6 4 2 0 2 4 6 8 10<br />

10 8 6 4 2 0 2 4 6 8 10<br />

Prozent der Bevölkerung<br />

(b)<br />

männlich<br />

weiblich<br />

Prozent der Bevölkerung<br />

(c)<br />

3.7 Alterspyramiden bei raschem, langsamem <strong>und</strong> Nullwachstum einer Bevölkerung im Jahr 2000 Die Form von Alterspyramiden<br />

unterscheidet sich je nach Altersstruktur <strong>und</strong> Sexualproportion einer Bevölkerung. Veränderungen der Geschlechtsproportion<br />

in den verschiedenen Alterskategorien liefern wichtige Informationen über die zeitliche Entwicklung der Wachstumsraten<br />

von Bevölkerungen in verschiedenen Ländern. (Quelle: McFalls Jr., J. Population: A Livefy Introduction. In: Population Bulletin 58 (4)<br />

2003)<br />

mit geringer Wachstumsrate typische Form auf. Tatsächlich<br />

würde die Einwohnerzahl der USA stagnieren,<br />

gäbe es nicht eine beträchtliche Zuwanderung<br />

aus anderen Staaten. Auch in dieser Pyramide ist<br />

die Babyboom-Kohorte deutlich sichtbar. Der Zeitraum<br />

unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

brachte nicht nur enormes wirtschaftliches Wachstum,<br />

sondern mit dem Aufstieg der Vereinigten Staaten<br />

zur führenden Industrienation auch einen deutlichen<br />

politischen <strong>und</strong> technologischen Wandel. Angesichts<br />

des hohen Wohlstandsniveaus <strong>und</strong> aussichtsreicher<br />

Zukunftsperspektiven sorgte die Generation<br />

der aus dem Krieg heimkehrenden Amerikaner für<br />

einen in der Geschichte des Landes beispiellosen Geburtenzuwachs.<br />

Die Alterspyramide von Italien (Abbildung<br />

3.7c) ist zwar jener der Vereinigten Staaten<br />

ähnlich, es besteht aber doch ein entscheidender Unterschied:<br />

Während die Bevölkerung der Vereinigten<br />

Staaten noch geringfügig zunimmt, tendiert in Italien<br />

die Wachstumsrate gegen Null. Für Italien, wo die<br />

Geburtenrate unter der Sterberate liegt, ähnelt das<br />

Diagramm mehr einer Säule als einer Pyramide.<br />

Die Kohorten sind insgesamt etwa gleichmäßig besetzt,<br />

doch die Basis ist deutlich schmaler.<br />

Den wohlhabenden Staaten mit einem hohen Produktiwtätsniveau<br />

wird es trotz niedriger Geburtenraten<br />

leichter gelingen, in den Bereichen Ges<strong>und</strong>heit,<br />

Bildung <strong>und</strong> Konsum ein hohes Niveau zu halten.<br />

Ähnliches dürfte auch hinsichtlich zusätzlicher Arbeitsplätze<br />

gelten, die geschaffen werden müssen,<br />

wenn die heutige Generation der Kinder das erwerbsfähige<br />

Alter erreicht. Ob sich dann allerdings jedem<br />

die gleichen Chancen bieten werden, bleibt abzuwarten,<br />

denn die künftige demographische Entwicklung<br />

stellt auch für die wirtschaftlich stärkeren Staaten eine<br />

große Herausforderung dar. Eine deutlich kleinere<br />

Personenzahl rückt in die Phase höchster Leistungsfähigkeit<br />

vor <strong>und</strong> muss dann eine wachsende Zahl alternder<br />

<strong>und</strong> zunehmend unproduktiver Menschen<br />

unterstützen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen<br />

über die zunehmende Belastung der Rentenkassen<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitssysteme stellt nur die Spitze<br />

eines Eisberges dar (3.1 „Geographie in Beispielen<br />

- Der Babyboom <strong>und</strong> die Überalterung der Gesellschaft<br />

in den USA“).<br />

Bei einem Bevölkerungsrückgang (Abbildung 3.8,<br />

3.9, <strong>und</strong> 3.10) steigen die Infrastrukturkosten pro<br />

Kopf: Schulen, Krankenhäuser, Verwaltungen, Verkehrssysteme,<br />

Sportanlagen <strong>und</strong> so weiter werden<br />

nicht mehr effizient genutzt <strong>und</strong> damit teurer. Eine<br />

Schrumpfung der Infrastruktur, zum Beispiel die<br />

Schließung von Schulen, Einzelhandelsgeschäften,<br />

Postämtern oder die Stilllegung von Buslinien, mindert<br />

die Lebensqualität der dort wohnenden Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> damit auch die Attraktivität der betreffenden<br />

Gemeinden für potenzielle Investoren. Die


138 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Altersstrukturindizes<br />

Altersstrukturindizes stellen die Bevölkerungsstruktur nach<br />

Lebensabschnitten dar <strong>und</strong> venweisen auf eine mögliche unausgewogene<br />

Altersstruktur. Verschiedene Indizes setzen den<br />

Bevölkerungsanteil in den verschiedenen Altersabschnitten<br />

zueinander in Beziehung: a) Der Index der Jugendlichkeit<br />

ist die Zahl der unter 15-Jährigen auf 100 Personen über<br />

64 Jahren oder im erwerbsfähigen Alter (15 bis unter 65 Jahre).<br />

b) Der Altersindex ist der Quotient aus der Zahl älterer<br />

Menschen über 64 Jahren <strong>und</strong> der unter 15 Jahren beziehungsweise<br />

der Personen im erwerbsfähigen Alter, c) Der Abhängigkeitsindex<br />

oder die Belastungsquote setzt die Summe<br />

aus Jugendlichen <strong>und</strong> älteren Menschen zu 100 Personen im<br />

erwerbsfähigen Alter in Beziehung.<br />

Quelle: P. Gans ln: Lexikon der Geographie<br />

mangelnde Binnennachfrage senkt die Umsätze der<br />

Unternehmen <strong>und</strong> erhöht den Druck, Produktionsstätten<br />

in kostengünstigere Nachbarländer zu verlagern.<br />

Diese Verlagerungen fuhren zu Entlassungen<br />

<strong>und</strong> Arbeitslosigkeit, was wiederum eine Abnahme<br />

der Kaufkraft <strong>und</strong> der Binnennachfrage zur Folge hat.<br />

Die Aussagekraft von Alterspyramiden ist nicht auf<br />

die nationale Maßstabsebene beschränkt. Auf der lokalen<br />

<strong>und</strong> regionalen Ebene treten oft ebenso bemerkenswerte<br />

Unterschiede in der Bevölkerungsstruktur<br />

zutage wie bei einem Ländervergleich. Hieraus ergeben<br />

sich verschiedene Fragen, etwa nach den Ursachen<br />

solcher räumlichen Differenzierungen oder<br />

der Bedeutung, die diese für die sozialen Dienstleistungen,<br />

die Finanzierung der Infrastruktur oder zukünftige<br />

Marketingstrategien besitzen. So könnte<br />

etwa ein Zählbezirk mit hohem Kinderanteil Entscheidungsträger<br />

dazu veranlassen, sich für zusätzliche<br />

Sporteinrichtungen einzusetzen. Eine zunehmende<br />

Konzentration alter Menschen könnte dagegen die<br />

Errichtung eines Seniorenzentrums <strong>und</strong> eines Altenpflegeheims<br />

sinnvoll erscheinen lassen.<br />

Eine weitere wichtige Information, die sich aus<br />

Alterspyramiden gewinnen lässt, ist der Abhängigkeitsindex,<br />

ein Maß für die wirtschaftliche Belastung<br />

der Erwerbspersonen durch jüngere <strong>und</strong> ältere, nicht<br />

erwerbstätige Bevölkerungsgruppen.<br />

Um die Höhe der Belastung zu ermitteln, wird eine<br />

Bevölkerung gewöhnlich in drei Alterskohorten untergliedert.<br />

Die Kohorte der Jugendlichen umfasst<br />

alle Personen, die jünger als 15 Jahre sind <strong>und</strong> deshalb<br />

noch eine Pflichtschule besuchen. Die mittlere Kohorte<br />

umfasst die 15- bis 64-Jährigen, die als wirtschaftlich<br />

aktiv <strong>und</strong> produktiv eingeschätzt werden.<br />

Die Kohorte der Alten besteht aus den Mitgliedern<br />

der Bevölkerung, die 65 Jahre <strong>und</strong> älter sind. Von ihnen<br />

wird angenommen, dass sie ihre wirtschaftlich<br />

aktiven <strong>und</strong> produktiven Lebensjahre hinter sich haben.<br />

Unterteilt man die Bevölkerung in diese drei<br />

Gruppen, so lassen sich ein Maß für die Abhängigkeit<br />

der Jungen <strong>und</strong> der Alten von den wirtschaftlich Aktiven<br />

beziehungsweise die finanziellen Belastungen<br />

der erwerbstätigen Altersgruppen ermitteln (Exkurs<br />

„ Altersstrukturindizes“).<br />

Bevölkerungsdynamik<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse<br />

Geburtenraten beziehungsweise<br />

Fertilitätsraten<br />

Die rohe Geburtenrate (RGR) oder crude birth rate<br />

(CBR), die man auch als allgemeine Geburtenrate bezeichnet,<br />

gibt das Verhältnis der Zahl der Lebendgeborenen<br />

in einem Jahr je 1000 Einwohner einer regionalen<br />

Einheit an. Da die rohe Geburtenrate die<br />

Zahl der Geburten zur Gesamtbevölkerung <strong>und</strong> nicht<br />

zu einer bestimmten Altersgruppe oder Kohorte in<br />

Beziehung setzt, ist ihre Aussagekraft relativ gering.<br />

Trotzdem wird sie sehr häufig verwendet, weil für internationale<br />

Vergleiche meistens keine anderen Daten<br />

zur Verfügung stehen.<br />

Das Niveau der rohen Geburtenraten wird von<br />

zahlreichen, je nach Kultur <strong>und</strong> Entwicklungsstand<br />

variierenden Faktoren bestimmt, unter anderem<br />

vom Altersaufbau, dem Ausbildungsniveau der<br />

Frauen, sozialen Normen <strong>und</strong> religiösen Geboten,<br />

dem Ernährungs- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitszustand, aber<br />

auch von politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Strukturen.<br />

Die meisten Bevölkerungswissenschaftler sind<br />

überdies überzeugt, dass in den meisten Ländern<br />

die Verfügbarkeit von Methoden zur Geburtenkontrolle<br />

für die Geburtenrate von entscheidender Bedeutung<br />

ist (Abbildung 3.11).<br />

Die Abbildung 3.12 zeigt, dass fast alle Entwicklungsländer<br />

hohe Geburtenraten aufweisen, während<br />

die Kernregionen der Weltwirtschaft durch sehr<br />

niedrige Geburtenraten gekennzeichnet sind. Die


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 139<br />

F = 2,1<br />

42 Enkel in 2020 600 400 200 0 200 400 600<br />

Männer Bevölkerung 31.12.2020 Frauen<br />

(in Tausend)<br />

800 800 200 400 600 800<br />

Männer Bevölkerung 31.12.2020 ( F —>2,1) Frauen<br />

(in Tausend)<br />

27 Urenkel in 2050<br />

600 400 200 0 200 400 600<br />

Männer Bevölkemng 31.12.2050 Frauen<br />

(in Tausend)<br />

800 800<br />

Männer Bevölkerung 31.12.2050 ( F —>2,1) Frauen<br />

(in Tausend)<br />

3.8 Entwicklung des Altersaufbaus in Deuschland bis 2050 Die Abbildung geht von zwei Szenarien aus: Links ist die Prognose<br />

des Altersaufbaus bei einer Fruchtbarkeit von 1,4 Kinder pro Frau (1,9 bei Migranten, 1,2 bei Deutschen) <strong>und</strong> rechts ist jene<br />

Entwicklung dargestellt, die eintreten würde, wenn es gelänge, die Fruchtbarkeit auf 2,1 zu erhöhen, was etwa dem Wert Frankreichs<br />

entspricht. Bei einer Fertilität von weniger als 2,1 schrumpft die Bevölkerung, bei 2,1 bleibt sie stabil, bei mehr als 2,1 wächst sie.<br />

Bei einer gleichbleibenden Fruchtbarkeit von 1,4 Kindern hätten 100 im Jahr 1960 Geborene im Jahr 1990 65 Kinder, im Jahr 2020<br />

noch 42 Enkel <strong>und</strong> im Jahr 2050 noch 27 Urenkel. Eine Erhöhung der Fruchtbarkeit auf 2,1 würde also zum Bestandserhalt der<br />

Bevölkerung führen.<br />

Aus medizinischen (biologischen) Gründen bleiben nur circa 6 Prozent aller Paare kinderlos. Von den 1965 geborenen Frauen <strong>und</strong><br />

Männern sind Jedoch 32 Prozent, von den Akademikerinnen sogar 42 Prozent kinderlos. (Quelle: Vorlesung, CD Adrian 2005)


140 3 Bevölkerungsgeographie<br />

1998 2004<br />

2015<br />

6,6 Millionen<br />

700000<br />

612000<br />

800 600 400 200 0 200 400 600 800 800 600 400 200 0 200 400 600 800 800 600 400 200 0 200 400 600 800<br />

Männer Bevölkerung 1.1.1998 Frauen Männer Bevölkerung 1.1.2004 Frauen Männer Bevölkerung 1.1.2015 Frauen<br />

(in Tausend) (in Tausend) (in Tausend)<br />

2004<br />

Alte Generation<br />

über 65 jahre<br />

Erwerbsgeneration<br />

20 bis 65 Jahre<br />

¥<br />

Junge Generation<br />

0 bis 20 Jahre<br />

800 600 400 200<br />

Männer Bevölkerung 1.1.1998<br />

(in Tausend)<br />

200 400 600 800 800 600 400 200<br />

Frauen Männer Bevölkerung 1.1.2004<br />

(in Tausend)<br />

200 400 600 800 800 600 400 200<br />

Frauen Männer Bevölkerung 1.1.2015<br />

(in Tausend)<br />

200 400 600 800<br />

Frauen<br />

l»' *!<br />

3.9 Altersaufbau <strong>und</strong> Wirtschaft in Deutschland Der Bevölkerungsrückgang wird nicht nur die Zahl der Schüler, der Haushaltsgründer,<br />

der Immobilien-Erstkäufer, der benötigten Kindergärtnerinnen <strong>und</strong> Lehrpersonen senken, sondern auch die Nachfrage<br />

nach verschiedenen Konsumartikeln für Jugendliche. Dafür werden die Nachfrage nach Plätzen in Seniorenheimen <strong>und</strong> die Zahl des<br />

Pflegepersonals ansteigen. Von Politikern kann man gelegentlich hören, dass der Bevölkerungsrückgang die Zahl der Arbeitslosen<br />

vermindern wird. Dies ist jedoch ein Trugschluss, der durch die Fakten widerlegt wird. Denn die Arbeit ist ja nicht schon da <strong>und</strong> muss<br />

einfach verteilt werden, sondern sie wird durch die Nachfrage geschaffen. Wenn sowohl in Deutschland als auch in den Nachbarländern<br />

die Binnennachfrage sinkt, nimmt auch die Zahl der Arbeitsplätze ab. (Quelle: Vorlesung, CD Adrian 2005)<br />

höchsten Werte finden sich in Afrika, der ärmsten<br />

Region der Erde.<br />

Die rohe Geburtenrate ist nur eine von mehreren<br />

Maßzahlen für die Fruchtbarkeit, <strong>und</strong> sie ist nur bedingt<br />

aussagekräftig, da sie nur sehr wenige Information<br />

über das Fruchtbarkeitspotenzial einer Bevölkerung<br />

in der Zukunft liefert. Detailliertere Einblicke<br />

geben andere Indikatoren wie beispielsweise die partielle<br />

<strong>und</strong> die totale Fruchtbarkeitsrate <strong>und</strong> die Verdoppelungszeit.<br />

Die totale Fruchtbarkeitsrate (TFR)<br />

oder general fertility rate (GFR) gibt die durchschnittliche<br />

Zahl von Kindern an, die eine Frau in dem Zeitintervall<br />

zur Welt bringt, in dem sie als gebärfähig angesehen<br />

wird.<br />

Das gebärfähige Alter wird meistens auf die Altersstufen<br />

zwischen 15 <strong>und</strong> 49 Jahren bezogen. Die totale<br />

Fruchtbarkeitsrate wird vor allem für Prognosen herangezogen,<br />

denn sie gibt wieder, wie die Geburten-


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 141<br />

Sozialquotient JQ+AQ<br />

Altenquotient AQ<br />

70% Zunahme des AQ<br />

wegen Kinderlosigkeit<br />

30% Zunahme des AQ<br />

wegen Lebenserwartung<br />

Jugendquotient JQ<br />

+250% Altenquotient AQ<br />

Belastungsquotient<br />

+150% (JQ + 2xAQ)<br />

+100% Sozialqu. JQ+AQ<br />

+50% Altenquotient (bei<br />

konst. Lebenserwartung)<br />

-33% Jugendquotient JQ<br />

3.10 Altersaufbau <strong>und</strong> Sozialsysteme in Deutschland Wegen des seit 1970 anhaltenden Geburtenrückgangs, des Absinkens<br />

der Fertilität auf 1,4 Kinder pro Frau <strong>und</strong> der steigenden Lebenserwartung steigt der Altersquotient in Deutschland seit 1995 an.<br />

Von 1965 bis 2065 würde der Altersquotient bei gleichbleibender Fertilität <strong>und</strong> konstanter Lebenserwartung um 50 Prozent,<br />

bei steigender Lebenserwartung (0,2 Jahre/pro Jahr) um 250 Prozent ansteigen. Da alte Menschen etwa doppelt so viel kosten<br />

wie Kinder, würde der Belastungsquotient in diesem Zeitraum um 150 Prozent ansteigen, der Sozialquotient um 100 Prozent,<br />

während der jugendquotient um 33 Prozent abnehmen würde. Ab etwa 2035 werden die Finanzierungsprobleme kulminieren.<br />

Da wird die Belastung der Erwerbstätigen durch alte Menschen ihr Maximum erreichen.<br />

Der Altersaufbau der neuen B<strong>und</strong>esländer war bis 1975 etwa gleich dem der alten B<strong>und</strong>esländer. Nach 1975 stieg in der DDR<br />

die Geburtenzahl wieder. In den Jahren vor der Wiedervereinigung betrug sie fast 2 Kinder/Frau. Mit der Wiedervereinigung sank<br />

die Geburtenrate auf unter 1 Kind pro Frau, seit 1995 steigt sie wieder geringfügig an. (Quelle; Vorlesung, CD Adrian 2005)


142 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Tm I<br />

^1^15 * 1 © '” ▼<br />

7 ,<br />

iH -<br />

3.11 Werbung für Geburtenkontrolle in Indien Über Jahrzehnte war Geburtenkontrolle das Ziel internationaler Bevölkerungspolitik.<br />

Doch die Entwicklungsländer lehnten Programme zur Geburtenkontrolle lange Zeit ab, da die Entscheidung für Kinder<br />

als ökonomisch sinnvoll galt. Programme zur Geburtenkontrolle verb<strong>und</strong>en mit verbesserten wirtschaftlichen Chancen <strong>und</strong><br />

Bildungsmöglichkeiten für Frauen erwiesen sich als wesentlich wirkungsvoller als eine allein auf Geburtenbeschränkung abzielende<br />

Politik. In Indien komplizieren allerdings ethnische Fragen die Situation. Jede ethnische Gruppe befürchtet, die Begrenzung der<br />

Geburten könnte dazu führen, dass eine andere Gruppe die eigene rasch an Zahl überflügelt.<br />

NORD­<br />

AMERIKA<br />

■<br />

Atiantischer<br />

Ozean<br />

AFRIKA<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

SÜD­<br />

AMERIKA<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

i ■ -v<br />

AUSTRALIEN<br />

jährliche rohe Geburtenrate<br />

pro 1000 Einwohner<br />

(1990-2003)<br />

Ü b er 49<br />

0 1 5 0 0 3 0 0 0 K ilo m e te r<br />

4 0 b is 49<br />

3 0 b is 39<br />

20 b is 29<br />

ANTARKTIS<br />

Europay<br />

w e n ig e r a ls 20<br />

k e in e A n g a b e n<br />

3.12 Die weltweiten Geburtenraten im Jahr 2004 Die Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten sind oft Indikatoren für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung eines Landes. Beispielsweise unterscheiden sich die Angaben für das Kernland Österreich gravierend von den<br />

Zahlen für Äthiopien, das ein sehr armes <strong>und</strong> unterentwickeltes Land in der Peripherie ist. (Quelle: World Bank, World Development<br />

Indicators, 2004, World Bank, Washington DC.)


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 143<br />

Fruchtbarkeit<br />

Fruchtbarkeit (Fertilität) ergibt sich aus der Zahl der Geburten<br />

je Frau. Sie ist das Ergebnis individueller Entscheidungen darüber,<br />

ob <strong>und</strong> wie viele Kinder eine Frau zur Welt bringt. Biologische<br />

Faktoren beeinflussen die Fertilität, zum Beispiel die<br />

Fähigkeit, Nachkommen hervorzubringen, oder die neunmonatige<br />

Dauer der Schwangerschaft. Geringer als die biologisch<br />

maximale Zahl von etwa 15 Geburten einer Frau liegt die natürliche<br />

Fertilität, die sich ohne bewusst betriebene Geburtenkontrolle<br />

einstellt <strong>und</strong> von sozialen <strong>und</strong> ökonomischen Bedingungen,<br />

zum Beispiel Fleiratsverhalten oder Bildungsstand,<br />

abhängt.<br />

Fruchtbarkeit <strong>und</strong> Sterblichkeit wirken sich auf die natürlichen<br />

Bevölkerungsbewegungen <strong>und</strong> damit auf die Altersstruktur<br />

aus. Geographische Studien analysieren die Fertilität<br />

<strong>und</strong> ihre Veränderungen auf verschiedenen Aggregationsniveaus.<br />

Ansätze zur Erklärung räumlicher Unterschiede konzentrieren<br />

sich auf ökonomische Faktoren, Modernisierungsindikatoren<br />

<strong>und</strong> Familienplanung in einem Staat. Eine vergleichende<br />

Betrachtung der Fruchtbarkeit erfordert eine räumlich<br />

<strong>und</strong>/oder zeitlich differenzierte Datengr<strong>und</strong>lage. Das einfachste<br />

Maß ist die rohe Geburtenrate, crude birth rate<br />

(CBR) oder Geburtenziffer, welche die Zahl der Lebendgeborenen<br />

(B) beispielsweise in einem Kalenderjahr auf 1000 Einwohner<br />

der Bevölkerungszahl zur Jahresmitte (P) beziehungsweise<br />

des mittleren Bevölkerungsstandes bezieht:<br />

CBR =B /Px 1000.<br />

Die rohe Geburtenrate beschreibt das Fruchtbarkeitsniveau<br />

für raumzeitliche Vergleiche unzureichend, da der Anteil der<br />

Frauen im gebärfähigen Alter nicht berücksichtigt wird. Daher<br />

berechnet man bei der allgemeinen Fruchtbarkeitsrate oder<br />

general fertility rate (GFR) die Zahl der Lebendgeborenen (B)<br />

auf 1000 Frauen im gebärfähigen Alter F (mit F,5_44: 15-<br />

44 oder F]5_49: 15-49 Jahre):<br />

GFR = B/Fi5_44 X 1000<br />

oder:<br />

GFR = B/Fi 5-49 X 1000.<br />

An ihre Stelle tritt häufig der child woman ratio (CWR), die Zahl<br />

der Kinder unter fünf Jahren (C0-5) auf 1000 Frauen im gebärfähigen<br />

Alter:<br />

CWR = Co-5/Fi5-49 X 1000.<br />

Räumliche Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit <strong>und</strong><br />

der Altersstruktur gebärfähiger Frauen verzerren den CWR-<br />

Wert. Diesen Nachteil vermeiden altersspezifische Geburtenraten<br />

oder age specific birth rates (ASBRi), die Zahl der<br />

Lebendgeborenen (Bj) auf 1000 Frauen (F|) des jeweiligen<br />

Alters (i):<br />

ASBRi = Bi/FiX 1000.<br />

Ihre grafische Darstellung vermittelt Einblicke in die Ursachen<br />

für räumliche Unterschiede im generativen Verhalten. Die Geburten<br />

der Frauen verteilen sich nicht gleichmäßig über den<br />

gesamten Zeitraum ihrer Fruchtbarkeit. Die Raten in den ausgewählten<br />

Entwicklungsländern (Simbabwe, Mexiko) mit<br />

einem Maximum bei den 20- bis 24-Jährigen übertreffen deutlich<br />

die der Industriestaaten. In Thailand, wo die Zahl der Kinder<br />

je Frau unter die Bestandserhaltung gesunken ist, bildet<br />

sich diese Verteilung auf niedrigem Niveau aus. In den europäischen<br />

Staaten (BRD <strong>und</strong> Spanien) hat sich der maximale<br />

Wert zur Gruppe der 30- bis 34-Jährigen verschoben. Eine<br />

standardisierte <strong>und</strong> von der Bevölkerungsstruktur unabhängige<br />

Kennziffer ist die totale Fruchtbarkeitsrate.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie<br />

rate einer bestimmten Kohorte von Frauen im Zeitablauf<br />

aussieht (Exkurs „Fruchtbarkeit“). Eine totale<br />

Fruchtbarkeitsrate von etwas mehr als 2,0 reicht aus,<br />

um die Reproduktion einer Bevölkerung zu sichern.<br />

Bei diesem Wert sind die Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten<br />

in etwa ausgeglichen, die Bevölkerungszahl bleibt<br />

daher stabil. In vielen Ländern ist jedoch seit längerem<br />

ein Rückgang der Fruchtbarkeit zu beobachten,<br />

dessen Ursachen komplexer Natur sind (Exkurs<br />

„Fruchtbarkeitsrückgang“).<br />

Mit der totalen Fruchtbarkeitsziffer eng verb<strong>und</strong>en<br />

ist die Verdoppelungszeit einer Bevölkerung. Dabei<br />

handelt es sich um ein Maß, das angibt, wie lange es<br />

dauert, bis sich die Einwohnerzahl eines Gebiets verdoppelt.<br />

Wenn also beispielsweise eine Bevölkerung<br />

jährlich um 1,8 Prozent wächst, wird sie sich innerhalb<br />

von etwa 40 Jahren verdoppelt haben —die Weltbevölkerung<br />

nimmt derzeit tatsächlich in diesem<br />

Tempo zu (Exkurs „Bevölkerungsentwicklung“).<br />

Im Gegensatz dazu wird ein Land wie Kenia mit<br />

einem jährlichen Zuwachs von 3,8 Prozent bereits<br />

in 22 Jahren die doppelte Bevölkerungszahl erreicht<br />

haben. Geburtenraten <strong>und</strong> die daraus ableitbare Bevölkerungsdynamik<br />

liefern allerdings nur einen Teil<br />

der Informationen, die man für die Beurteilung des<br />

Wachstumspotenzials einer Bevölkerung benötigt.<br />

Man muss auch die Sterbe- beziehungsweise Mortalitätsraten<br />

kennen.


144 3 Bevölkerungsgeographie<br />

m<br />

Fruchtbarkeitsrückgang<br />

Die im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in den europäischen Ländern beginnende<br />

Verringerung der Zahl der Geburten Je Frau wird als<br />

Fruchtbarkeitsrückgang bezeichnet. Er setzte in Frankreich<br />

schon um 1800 ein, bis zum Ersten Weltkrieg war auch im<br />

übrigen Europa sowie in Nordamerika <strong>und</strong> Ozeanien ein Rückgang<br />

zu verzeichnen. Seit 1950 ist ein Rückgang auch in Afrika,<br />

Asien <strong>und</strong> Lateinamerika zu beobachten.<br />

In Gesellschaften mit einer besonders hohen Säuglingssterblichkeit<br />

erforderte die Bestandserhaltung der Bevölkerung<br />

eine hohe Fruchtbarkeit. Soziale Institutionen <strong>und</strong> Wertvorstellungen<br />

setzen die Bedingungen für eine hohe Fruchtbarkeit.<br />

Beispiele sind patriarchalisch strukturierte Familienverbände,<br />

niedriger sozialer Status von Frauen (deren Ansehen<br />

mit steigender Kinderzahl, insbesondere bei hohem Anteil<br />

von Söhnen, wächst) <strong>und</strong> niedriges Heiratsalter. Die Familie<br />

oder die Sippe bildet in diesen Gesellschaften die Lebensbasis,<br />

Kinder stehen für Prestige, billige Arbeitskräfte <strong>und</strong> soziale<br />

Absicherung. Insgesamt haben Eltern einen ökonomischen<br />

„Nutzen“ von ihren Kindern.<br />

In Gesellschaften mit geringer Fruchtbarkeit geht die Entscheidung<br />

über die Kinderzahl von den Jeweiligen Paaren<br />

selbst aus. Zugleich besteht nur ein geringer Einfluss sozialer<br />

Institutionen. Die Förderung des einzelnen Kindes im Hinblick<br />

auf Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> gute Lebenschancen steht im<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Um diese qualitativen Ziele zu erreichen, begrenzen<br />

Eltern aufgr<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Aufwendungen die<br />

Zahl ihrer Nachkommen. Im Vergleich zur traditionellen Bevölkerungsweise<br />

hat sich die Kosten-Nutzen-Bilanz zwischen den<br />

Generationen zu den Kindern verschoben. Die Erklärung des<br />

Fruchtbarkeitsrückgangs ist komplexer als die des Sterblichkeitsrückgangs,<br />

da der ursächlich wirkende gesellschaftliche<br />

Wandel räumlich, zeitlich <strong>und</strong> gruppenspezifisch differiert. Auf<br />

der individuellen Ebene spielen geänderte Auffassungen zur<br />

Funktion der Familie <strong>und</strong> zur Familienplanung eine Rolle sowie<br />

Bildungsstand <strong>und</strong> Karrierewunsch von Frauen, aus regionaler<br />

Sicht treten zum Beispiel Unterschiede zwischen Stadt <strong>und</strong><br />

Land hervor, auf nationaler Ebene sind Verstädterung <strong>und</strong> Modernisierung<br />

zu nennen.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie<br />

Bevölkerungsentwicklung<br />

il<br />

I*<br />

Als Bevölkerungsentwicklung bezeichnet man gemäß der demographischen<br />

Gr<strong>und</strong>gleichung das Ergebnis des Zusammenspiels<br />

von Geburten, Sterbefällen <strong>und</strong> Wanderungen in einem<br />

Raum <strong>und</strong> einem Zeitabschnitt. Bei positiver Änderung der Einwohnerzahl<br />

spricht man von Bevölkerungswachstum oder-Zunahme,<br />

bei negativer Tendenz von Bevölkerungsrückgang<br />

oder-abnahme <strong>und</strong> bei konstanten Zahlen von Nullwachstum.<br />

Spielen nur die natürlichen Bevölkerungsbewegungen für die<br />

Entwicklung eine Rolle, liegt eine geschlossene Bevölkerung<br />

vor, wenn, wie üblich, auch räumliche Bevölkerungsbewegungen<br />

Einfluss nehmen, eine offene Bevölkerung.<br />

Aus den Einwohnerzahlen Pa <strong>und</strong> Pi^zu zwei Zeitpunkten f/<br />

<strong>und</strong> t2 im Abstand von m Jahren leiten sich aus<br />

Pt2-Pti[^ + rr<br />

die durchschnittliche Jährliche Wachstumsrate r mit<br />

oder in Prozent<br />

r % = r100<br />

<strong>und</strong> die Verdoppelungszeit, die Zeit die eine Bevölkerung<br />

braucht, um sich zu verdoppeln.<br />

In 2<br />

ln{] +r)<br />

ab.<br />

Um die zukünftige Entwicklung <strong>und</strong> damit die Reproduktionskraft<br />

einer Bevölkerung abzuschätzen, berücksichtigt<br />

man bei der totalen Fruchtbarkeitsrate (TFR) nur die weiblichen<br />

Geburten <strong>und</strong> erhält die Bruttoreproduktionsrate (BRR):<br />

weibliche Lebendgeborene<br />

BBR = TFR<br />

alle Lebendgeborene<br />

Die Bruttoreproduktionsrate wird als die Zahl von Töchtern interpretiert,<br />

die eine Frau bei konstant bleibenden altersspezifischen<br />

Fruchtbarkeitsraten zur Welt bringt, ohne die Mortalität<br />

einzubeziehen. Die altersspezifische Sterblichkeit geht<br />

bei der Nettoreproduktionsrate (NRR) ein. Sie ist als die mittlere<br />

Anzahl lebendgeborener Töchter zu interpretieren, die<br />

eine hypothetische Zahl von Frauen im Verlauf ihres Lebens<br />

gebären würde, wenn sich weder die zugr<strong>und</strong>e gelegten altersspezifischen<br />

Geburten- noch Sterberaten verändern. Unter<br />

diesen Annahmen trifft die NRR eine Aussage über die zukünftige<br />

Bevölkerungsentwicklung: Ein Wert von 1 verweist auf<br />

eine konstante, größer 1 auf eine wachsende <strong>und</strong> kleiner 1<br />

auf eine rückläufige Einwohnerzahl hin.<br />

Im Jahre 2000 zählte die Weltbevölkerung mehr als 6 Milliarden<br />

Menschen, im Vergleich zu 1,6 Milliarden im Jahre<br />

1900. Für das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ist ein rasantes Wachstum<br />

kennzeichnend. Dieser Trend begann um 1800 in Europa<br />

mit langfristig rückläufigen Sterberaten <strong>und</strong> verzögert absinkenden<br />

Geburtenraten. Das Öffnen der Bevölkerungsschere<br />

rief zunächst in den Industrienationen, dann mit beginnendem<br />

Sterblichkeitsrückgang auch in den Entwicklungsländern eine<br />

als Bevölkerungsexplosion bezeichnete Dynamik hervor.<br />

130 Jahre dauerte es, bis sich die Weltbevölkerung von 1<br />

auf 2 Milliarden erhöht hatte, <strong>und</strong> diese Zeitspanne verringerte<br />

sich für Jede weitere Milliarde bis heute auf 12 Jahre. Das beschleunigte<br />

Wachstum vollzog sich vor allem in den weniger<br />

entwickelten Staaten. Heute ist die Verdoppelungszeit in<br />

Afrika ausgesprochen niedrig, während in Europa eine Stagnation<br />

oder sogar ein Rückgang der Einwohnerzahlen eingetreten<br />

ist.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 145<br />

Sterberaten beziehungsweise<br />

^ Mortalitätsraten___________<br />

Die rohe Sterberate gibt die Zahl der Todesfälle in<br />

einem Jahr je 1 000 Einv^ohner einer räumlichen Einheit<br />

an. Ebenso wie die rohe Geburtenrate variiert<br />

auch die rohe Sterberate ungefähr mit dem Niveau<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung - Länder mit niedriger<br />

Geburtenrate haben meist auch eine niedrige<br />

Sterberate (Abbildung 3.13).<br />

Auch die rohe Sterberate wird von einer Vielzahl<br />

von Faktoren beeinflusst. Ist die demographische<br />

Struktur einer Bevölkerung durch Männerüberschuss<br />

<strong>und</strong> Überalterung gekennzeichnet, so resultieren daraus<br />

meist höhere Sterberaten. Andere wichtige Einflüsse<br />

auf die Sterblichkeit sind Kriege, Seuchen<br />

(AIDS/HIV), die Verfügbarkeit von Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen,<br />

die Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />

Gesellschaftsschicht, der Beruf <strong>und</strong> sogar der Wohnsitz.<br />

Finanziell schlechter gestellte Bevölkerungsgruppen<br />

weisen eine höhere Sterblichkeit auf als die Mittelschicht.<br />

In den Vereinigten Staaten haben Arbeiter<br />

im Kohlebergbau eine höhere Sterberate als Lehrer,<br />

<strong>und</strong> in städtischen Räumen ist die Sterblichkeit oft<br />

höher als in ländlichen Regionen. Auch in den kommunistischen<br />

Ländern war die Sterblichkeit wesentlich<br />

höher beziehungsweise die Lebenserwartung<br />

deutlich geringer als in den kapitalistischen Ländern.<br />

Die Differenz zwischen Geburten <strong>und</strong> Sterbefällen ergibt<br />

im Falle eines Geburtenüberschusses ein natürliches<br />

Bevölkerungswachstum, im Falle eines Geburtendefizits<br />

eine natürliche Bevölkerungsabnahme.<br />

Sterblichkeitsraten können auch für bestimmte Altersgruppen<br />

oder Geschlechterkohorten ermittelt<br />

werden. Ein häufig verwendetes <strong>und</strong> besonders aussagekräftiges<br />

Maß ist die Säuglingssterblichkeit.<br />

Diese Ziffer ergibt sich aus der Zahl der Todesfälle<br />

von Kindern im ersten Lebensjahr im Vergleich<br />

zur Zahl der Geburten im gleichen Kalenderjahr.<br />

Meist wird sie als Zahl der Todesfälle je 1 000 Lebendgeburten<br />

angegeben.<br />

In vielen Untersuchungen wird die Säuglingssterblichkeit<br />

als wichtiger Indikator sowohl für den Standard<br />

des Ges<strong>und</strong>heitswesens als auch für das allgemeine<br />

sozioökonomische Entwicklungsniveau eines<br />

Landes verwendet. Wie das weltweite Muster erken-<br />

3.13 Die weltweiten Streberaten im Jahr 2004 Das Muster der weltweiten Streberaten unterscheidet sich deutlich von<br />

dem der Geburtenraten. Besonders eines ist auffällig: Die Differenz zwischen den höchsten <strong>und</strong> niedrigsten Sterberaten ist<br />

kleiner als die Differenzen der höchsten <strong>und</strong> niedrigsten Geburtenraten. Dies spiegelt den Einfluss von Faktoren wider, die mit<br />

der mittleren Phase des demographischen Wandels verb<strong>und</strong>en sind. (Quelle: World Bank, World Development Indicators, 2004,<br />

World Bank, Washington DC.)


146 3 Bevölkerungsgeographie<br />

12<br />

ü b e r 150<br />

100 b is 150<br />

50 b is 100<br />

29 b is 50<br />

10 b is 20<br />

u n te r 10<br />

k e in e A n g a b e n<br />

3.14 Weltweite Säuglingssterblichkeit im Jahr 2004 Die Geographie der Armut bestimmt das Muster der oben dargestellten<br />

Säuglingssterblichkeitsraten <strong>und</strong> ist die Gr<strong>und</strong>lage für eine Analyse der Beziehungen zwischen Bevölkerungsvariablen <strong>und</strong><br />

sozialen Bedingungen. Die Säuglingssterblichkeitsraten ähneln den weltweiten Sterberaten auffallend. In beiden Fällen weist<br />

das subsaharische Afrika die höchsten Raten auf. Die Kindersterblichkeitsraten werden durch eine Vielzahl von Faktoren in die<br />

Flöhe getrieben wie beispielsweise eine unzureichende oder gänzlich fehlende Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge für Mutter <strong>und</strong> Kind <strong>und</strong><br />

eine schlechte Nahrungsmittelversorgung der Kinder. (Quelle: Hammond Atlas o f the World. New York: Oxford University Press,<br />

1993. aktualisiert nach: World Bank, World Development Indicators, 2004, World Bank, Washington DG.)<br />

iw<br />

I<br />

nen lässt, ist die Säuglingssterblichkeit in den unterentwickelten<br />

Ländern Afrikas <strong>und</strong> Asiens hoch, während<br />

sie in den wirtschaftlich höher entwickelten Ländern<br />

Europas <strong>und</strong> Nordamerikas ein niedriges Niveau<br />

aufweist. Letzteres ist auf die bessere Ernährungssituation<br />

<strong>und</strong> die bessere ges<strong>und</strong>heitliche Versorgung<br />

der Mütter in den Industriestaaten zurückzuführen<br />

(Abbildung 3.14).<br />

Auch unterhalb der globalen Maßstabsebene, beim<br />

Vergleich von Ländern, Regionen <strong>und</strong> Städten, zeigen<br />

sich beträchtliche Unterschiede in der Säuglingssterblichkeit.<br />

So weisen etwa in den Vereinigten Staaten<br />

die African Americans <strong>und</strong> auch andere ethnische<br />

Minderheiten in städtischen <strong>und</strong> ländlichen Bereichen<br />

eine doppelt so hohe Säuglingssterblichkeit<br />

auf wie der Landesdurchschnitt.<br />

Mit der Slerberate verb<strong>und</strong>en ist die Lebenserwartung.<br />

Darunter verstehen Bevölkerungswissenschaftler<br />

die durchschnittliche Anzahl von Lebensjahren,<br />

die ein Neugeborenes nach der statistischen Wahrscheinlichkeit<br />

erreichen wird. Es überrascht nicht.<br />

dass dieser Wert von Land zu Land, von Region zu<br />

Region <strong>und</strong> sogar innerhalb von Städten <strong>und</strong> zwischen<br />

verschiedenen sozialen Schichten sowie rassischen<br />

<strong>und</strong> ethnischen Gruppen stark variiert. In Afrika<br />

hat vor allem das Ausbildungsniveau der Mütter<br />

beziehungsweise die Frage, ob diese Analphabetinnen<br />

sind oder lesen <strong>und</strong> schreiben können, einen großen<br />

Einfluss auf die Säuglingssterblichkeit. Die höchste<br />

Lebenserwartung haben derzeit die Japaner. Ein<br />

Kind, das im Jahre 2000 in den Vereinigten Staaten<br />

geboren wurde, konnte erwarten, mehr als 77 Jahre<br />

zu leben. Wenn man allerdings dieses Kind nach<br />

Merkmalen wie Geschlecht <strong>und</strong> ethnische Gruppe<br />

näher charakterisiert, so ergibt sich eine große<br />

Schwankungsbreite. Ein Junge aus der Gruppe der<br />

African Americans hat eine Lebenserwartung von<br />

71,8 Jahren, bei einem Jungen aus der Gruppe der<br />

Anglo Americans sind es 77,8 Jahre. Jn den meisten<br />

Ländern haben Frauen eine höhere Lebenserwartung<br />

als Männer. Eine Ausnahme bilden nur jene Länder,<br />

in denen eine schlechte Versorgung der Frauen nach


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 147<br />

der Geburt eine hohe Müttersterblichkeit nach sich<br />

zieht <strong>und</strong> in denen sich die Bevorzugung von Knabengeburten<br />

in einer höheren Säuglingssterblichkeit<br />

der Mädchen äußert. In Deutschland lag im Jahre<br />

2000 die durchschnittliche Lebenserwartung für<br />

einen neugeborenen Jungen bei 74,4 Jahren <strong>und</strong><br />

für ein Mädchen bei 80,6 Jahren.<br />

Die Lebenserwartung kann durch Umweltbedingungen,<br />

Arbeitsbedingungen, Ernährung, Alkoholismus<br />

<strong>und</strong> andere Faktoren beeinflusst werden. Ein<br />

weiterer Schlüsselfaktor für die Lebenserwartung<br />

sind Epidemien, durch welche sich Bevölkerungszahl<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur in kurzer Zeit gr<strong>und</strong>legend<br />

ändern können. Heutzutage können sich Epidemien<br />

infolge der weltweiten Verkehrsströme rasch über<br />

große Distanzen hinweg ausbreiten, sodass sie verheerende<br />

Auswirkungen haben können. Auch darin<br />

tirücken sich die zunehmenden Interdependenzen<br />

in einer globalisierten Welt aus. Von Epidemien können<br />

verschiedene Bevölkerungsgruppen unterschiedlich<br />

stark betroffen sein, <strong>und</strong> auch die Auswirkungen<br />

einer Seuche können lokal oder regional variieren, je<br />

nach der quantitativen Verfügbarkeit <strong>und</strong> der Qualität<br />

von medizinischen Einrichtungen sowie des Nahrungsmittelangebots.<br />

Eine der heute am weitesten verbreiteten Pandemien<br />

ist HIV/AIDS (menschliches Immunschwäche-Virus/erworbenes<br />

Immunschwäche-Syndrom).<br />

Die Krankheit ist mittlerweile von Südostasien bis<br />

zu den Ländern Afrikas südlich der Sahara zu einem<br />

ernsten Problem geworden <strong>und</strong> hat auch Europa <strong>und</strong><br />

die Vereinigten Staaten erfasst. Gegenwärtig scheinen<br />

die islamischen Länder des Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas<br />

sowie Südamerika am wenigsten betroffen zu<br />

sein, obwohl es in den letzten Jahren im Nahen Osten<br />

<strong>und</strong> Nordafrika, vor allem in Dschibuti, Somalia <strong>und</strong><br />

dem Sudan, einen merklichen Anstieg bei der Ausbreitung<br />

von HIV/AIDS geben hat. Osteuropa <strong>und</strong><br />

die Russische Föderation erfahren gegenwärtig den<br />

weltweit schnellsten Anstieg der Infektionsraten. Im<br />

lahr 2001 waren in der Russischen Föderation 1 Million<br />

Menschen mit HIV/AIDS infiziert. Die Übertragung<br />

schreitet vermutlich deshalb hier so schnell voran,<br />

weil die Zahl der jungen Drogensüchtigen, die<br />

sich bei der Benutzung unsteriler Injektionsnadeln<br />

anstecken, ebenfalls stetig zunimmt.<br />

Medizinische Geographen haben Wichtiges zur<br />

Klärung der Verbreitungswege von HIV/AIDS beigetragen.<br />

Die Medizinische Geographie ist ein Teilgebiet<br />

der Geographie, das sich mit der räumlichen Verbreitung<br />

von Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Krankheiten beschäftigt.<br />

Diese räumliche Perspektive beinhaltet die kartographische<br />

Erfassung von Krankheiten (disease<br />

mapping) <strong>und</strong> die Darstellung ihrer Ausbreitung.<br />

Die medizinische Geographie spielt zunehmend<br />

eine wichtige Rolle, denn Krankheiten, von denen<br />

man annahm, dass sie ausgerottet seien, wie zum<br />

Beispiel Tuberkulose oder Diptherie treten wieder<br />

auf; Krankheiten wie Ebola verbreiten sich in Gebiete,<br />

in denen sie bisher unbekannt waren, <strong>und</strong> Krankheiten,<br />

die bisher feste geographische Ausbreitungsgrenzen<br />

hatten, wie zum Beispiel das Hämorrhagische<br />

Dengue-Fieber oder die Malaria, finden sich<br />

plötzlich in Regionen, in denen sie bisher nicht vorgekommen<br />

sind. Das größte Problem, mit dem sich<br />

medizinische Geographen zurzeit beschäftigen, ist die<br />

Ausbreitung von HIV/AIDS. Im Mittelpunkt der Forschungen<br />

stehen vor allem die Fragen: Wo entstand<br />

die Krankheit? Wie breitet sie sich aus? Welcher<br />

Zusammenhang besteht zwischen HIV/AIDS <strong>und</strong><br />

anderen gesellschaftlichen Phänomenen? Wie hat<br />

sich die Epidemiologie von HIV/AIDS im Laufe<br />

der Zeit verändert?<br />

In den Vereinigten Staaten erkrankten zum Beispiel<br />

in der Anfangsphase vorwiegend männliche Homosexuelle<br />

sowie Drogenabhängige, die Injektionsnadeln<br />

gemeinsam benutzt hatten, an AIDS. Räumlich<br />

häuften sich in einem frühen Stadium die Fälle an<br />

Orten mit einer hohen Konzentration dieser beiden<br />

Bevölkerungsgruppen, etwa in San Francisco, New<br />

York, Los Angeles <strong>und</strong> Südflorida. Seit ihrem ersten<br />

Auftreten hat sich die Krankheit - oft mit unterschiedlichen<br />

Auswirkungen - nach dem hierarchischen<br />

Diffusionsmuster auch auf andere Gruppen<br />

wie Bluter <strong>und</strong> andere Empfänger von Blutkonserven<br />

ausgedehnt. Wenngleich in den USA die innerstädtischen<br />

Bereiche am stärksten betroffen sein dürften,<br />

tritt AIDS in allen Regionen der Vereinigten Staaten<br />

auf, in wachsendem Ausmaß auch in der heterosexuellen<br />

männlichen <strong>und</strong> weiblichen Bevölkerung. Besonders<br />

alarmierend ist die steigende HIV/AIDS-Infektionsrate<br />

unter heterosexuellen Jugendlichen <strong>und</strong><br />

in der Altersgruppe der Zwanzigjährigen - eine Gruppe,<br />

die lange Zeit nicht von der Krankheit betroffen<br />

war.<br />

In Zentralafrika zeigt sich indes ein anderes Verbreitungsmuster.<br />

Dort sind heterosexuelle Personen<br />

beiderlei Geschlechts, die keine Drogen konsumieren,<br />

in gleichem Ausmaß erfasst. Die räumliche Ausbreitung<br />

von HIV/AIDS erfolgte in Afrika entlang der<br />

Straßen, Flüsse <strong>und</strong> Küsten, die alle wichtige Transportrouten<br />

im Rahmen von regionalen Marktsystemen<br />

sind. Die zentralafrikanischen Länder, einschließlich<br />

der Demokratischen Republik Kongo<br />

(ehemals Zaire), Sambia, Uganda, Ruanda <strong>und</strong> der<br />

Zentralafrikanischen Republik, sind besonders stark


148 3 Bevölkerungsgeographie<br />

3.15 Anteile der Erwachsenen <strong>und</strong> Kinder mit HIV/AIDS im Jahr 2001 Die höchsten HIV/AIDS-lnfektionsraten haben<br />

Länder der Peripherie <strong>und</strong> Semiperipherie. In Asien <strong>und</strong> dem subsaharischen Afrika leben 89 Prozent der weltweit mit HIV/AIDS<br />

infizierten Menschen. Die Zahl der Erwachsenen <strong>und</strong> Kinder mit HIV/AIDS in Afrika unterscheidet sich gravierend von den Raten<br />

in Nordamerika <strong>und</strong> Europa. Afrika weist die höchsten Todesraten infolge von HIV/AIDS-lnfektionen auf. Kampagnen in einigen<br />

Ländern, insbesondere in Simbabwe <strong>und</strong> Uganda, haben dazu beigetragen, dass die Zahl der Neuinfektionen <strong>und</strong> damit auch die<br />

Zahl der Todesfälle durch HIV/AIDS eingedämmt werden konnte. (Quelle: U.N. AIDS Organzation, Website: www.unaids.org)<br />

h T*<br />

I<br />

von HIV/AIDS betroffen. Schätzungen zufolge sind<br />

im subsaharischen Afrika etwa 28 Millionen Menschen<br />

mit dem Virus infiziert (Abbildung 3.15).<br />

In diesen Ländern ist keine Region von der Ausbreitung<br />

der Krankheit verschont geblieben, aber besonders<br />

schlimm ist die Situation in den Städten. Dass<br />

die Zahl der Infizierten in diesen Staaten weiter ansteigt,<br />

hängt auch damit zusammen, dass sich hier<br />

ein sehr großer Teil der Bevölkerung in der Altersstufe<br />

höchster biologischer Reproduktionstätigkeit befindet.<br />

Noch ist AIDS nicht heilbar, aber einigen Ländern<br />

ist es immerhin gelungen, das Ausbreitungstempo zu<br />

verringern. Finnland hat zum Beispiel die Diffusion<br />

des HIV durch eine intensive Aufklärungskampagne<br />

<strong>und</strong> den Aufbau optimaler Ges<strong>und</strong>heitsdienste für<br />

die gesamte Bevölkerung erfolgreich verlangsamt.<br />

Nur wenige afrikanische Länder südlich der Sahara<br />

verfügen indes auch nur annähernd über die Mittel,<br />

um ähnliche Gegenmaßnahmen ergreifen zu können<br />

- zu groß ist die Armut <strong>und</strong> der Mangel an Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen,<br />

wobei politische Ineffizienz <strong>und</strong><br />

oft auch Instabilität erschwerend hinzukommen. Allerdings<br />

scheint es, dass Uganda, ein Land mit einer<br />

extrem hohen HIV/AIDS-Rate, derzeit einen Rückgang<br />

der Neuinfektionen verzeichnet. Bürgeraktivisten<br />

erreichten im Sommer 2000 im südafrikanischen<br />

Durban, dass mehrere große Pharmaunternehmen<br />

den Preis von Medikamenten gegen HIV/AIDS drastisch<br />

senkten, sodass vor Ort <strong>und</strong> in einigen anderen<br />

Teilen Afrikas die Medikamente nun bedeutend<br />

preiswerter an HIV/AIDS-Infizierte abgegeben werden<br />

können. In vielen südafrikanischen Ländern erschweren<br />

die wirtschaftlichen Bedingungen <strong>und</strong> kulturelle<br />

Einstellungen den Versuch, die Ausbreitung<br />

der Krankheit einzudämmen. In Kambodscha <strong>und</strong><br />

Thailand gelang es jedoch durch groß anlegte Präventionsprogramme,<br />

die Ausbreitung der Seuche langsam<br />

aufzuhalten. Die Zahl der Neuinfektionen sank<br />

zwischen 1991 <strong>und</strong> 2003 von 140 000 Fällen auf circa<br />

21 000 pro Jahr, was zu einem Großteil auf die niedrigeren<br />

Preise der Medikamente gegen HIV/AIDS<br />

<strong>und</strong> eine umfassendere Antiretroviral (ARV)-Therapie<br />

zurückzuführen ist.<br />

Die Theorie des demographischen<br />

I Übergangs____________________<br />

Viele Bevölkerungswissenschaftler sind der Ansicht,<br />

dass Fruchtbarkeit <strong>und</strong> Sterblichkeit direkt mit<br />

dem wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Entwicklungsstand<br />

eines Landes, einer Region oder eines Ortes<br />

Zusammenhängen. Unter Hinweis auf die Geschichte<br />

des demographischen Wandels in Europa


Bevölkerungsdynamik <strong>und</strong> Bevölkerungsprozesse 149<br />

5 .0 0 - 6 .6 8<br />

2 .5 0 - 4 ,9 9<br />

1 .5 0 - 2 ,4 9<br />

1 .0 0 - 1 ,4 9<br />

0 ,7 5 - 0 .9 9<br />

0 .5 0 - 0 ,7 4<br />

0 ,2 5 - 0 ,4 9<br />

0 ,0 0 - 0 ,2 4<br />

0 .2 5 - - 0 . 0 1<br />

106 -<br />

47 — .0 .5 0 - - 0 .2 6<br />

32 — * 0 ,7 5 > .0 ,5 1<br />

18 - 1 .0 0 - - 0 . 7 6<br />

35 ■ ■ - 1 .5 0 - - 1 , 0 1<br />

• 2 ,5 0 - .1 ,5 1<br />

- 5 ,0 0 - - 2 . 5 1<br />

- 8 ,0 0 - - 5 . 0 1<br />

3.16 Bevölkerungsentwicklung in Europa 1 9 3 9 - 1950 (mittleres jährliches Wachstum in Prozent) Der Zeitraum zwischen<br />

1939 <strong>und</strong> 1950 war in Europa das Jahrzehnt der menschlichen <strong>und</strong> demographischen Katastrophen. Viele Millionen gefallene Soldaten<br />

<strong>und</strong> Ziviltote, Opfer des Holocaust <strong>und</strong> des Gulag, Flüchtlinge, Vertriebene, Deportierte <strong>und</strong> der Geburtenausfall führten zu einer<br />

dramatischen Veränderung der Bevölkerungsdynamik. Die Sowjetunion verlor in diesem Zeitraum etwa 20 Millionen Menschen, Polen<br />

6 Millionen, Deutschland 5,5 Millionen, Jugoslawien 2 Millionen, Großbritannien, Frankreich <strong>und</strong> Italien etwa 400 000 Menschen.<br />

Gleichzeitig nahm Deutschland (vor allem die amerikanische <strong>und</strong> britische Besatzungszone) etwa 12 Millionen Flüchtlinge <strong>und</strong><br />

Vertriebene auf (der größte Teil wurde in der amerikanischen <strong>und</strong> britischen Besatzungszone aufgenommen) <strong>und</strong> Finnland etwa<br />

300 000, sodass diese beiden Länder in dieser Zeitperiode einen starken Bevölkerungsanstieg erlebten. Weitere Veränderungen<br />

ergaben sich durch große Umsiedlungsaktionen innerhalb der Sowjetunion, unter der vor allem Wolgadeutsche, Krimtataren <strong>und</strong><br />

Tschetschenen litten. (Quelle: Schüler et al. 2007, S. 20)<br />

stellten sie fest, dass viele der ökonomischen, politischen,<br />

sozialen <strong>und</strong> technologischen Veränderungen<br />

in Verbindung mit Industrialisierung <strong>und</strong> Verstädterung<br />

zu einer Entwicklung beigetragen haben, die sie<br />

als demographischen Übergang bezeichnen (Abbildungen<br />

3.16 - 3.19). Dabei handelt es sich um ein<br />

Modell der Veränderung des generativen Verhaltens<br />

der Menschen beim Übergang von einer vorindustriellen<br />

zu einer industriellen Gesellschaft, bei dem<br />

hohe Geburten- <strong>und</strong> Sterbeziffern durch niedrige abgelöst<br />

werden. Sobald eine Gesellschaft diesen Schritt<br />

vollzieht, verlangsamt sich das Bevölkerungswachstum.<br />

Nach der Modellvorstellung ist dies auf verbesserte<br />

Produktionstechniken <strong>und</strong> einen höheren Lebensstandard<br />

zurückzuführen, der nicht zuletzt das<br />

Ergebnis von Verbesserungen auf den Gebieten der<br />

Medizin, der Bildung <strong>und</strong> der Hygiene darstellt.<br />

Wie Abbildung 3.20 illustriert, folgt auf die vorindustrielle<br />

Phase mit hohen Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten<br />

(Phase 1) zunächst eine kritische Übergangsphase<br />

(Phase 2), die wiederum von einer Periode mit geringen<br />

Werten des natürlichen Bevölkerungswachstums<br />

<strong>und</strong> des Wachstums überhaupt abgelöst wird. Erst<br />

danach mündet die Entwicklung in die industrielle<br />

Phase mit niedrigen Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten ein<br />

(Phase 4). Die Übergangsphase mit raschem Wachstum<br />

ergibt sich direkt aus der früher einsetzenden<br />

<strong>und</strong> sehr rasch ablaufenden Abnahme der Sterblichkeitsrate,<br />

während die Fruchtbarkeitsrate noch auf<br />

einem Niveau bleibt, das dem einer noch nicht indus-


150 3 Bevölkerungsgeographie<br />

JCr'W/<br />

2Cr\\':<br />

%Vle<br />

E<br />

jyi ■<br />

5.00 -107,68<br />

2,50 - 4,99<br />

'.5 0 - 2,49<br />

1.00 - 1,49<br />

0.25 - 0,99<br />

0 ,5 0 - 0,74<br />

0.25 - 0,49<br />

0,00 - 0,24<br />

■0,25- -0,01<br />

-0.50- 41,26<br />

■0,75- .0.51<br />

-1.00- -0,76<br />

-1.50- -1,01<br />

■2,50- -1,51<br />

■3,13- -2.51<br />

-^V<br />

r<br />

nach NUTS-Regionen 2/jrÖ}l^r_Aquivalentg^y^'<br />

i<br />

i<br />

'i**i>*<br />

V<br />

250 500 km<br />

\ 4<br />

3.17 Bevölkerungsentwicklung in Europa 1960- 1970 (mittleres jährliches Wachstum in Prozent) Das durch das Wirtschaftsw<strong>und</strong>er<br />

ausgelöste, anhaltende Wirtschaftswachstum akzentuierte die räumlichen Muster der Bevölkerungsdynamik, die sich<br />

schon in den 1950er-Jahren herausgebildet hatten. Der bis 1964 anhaltende Geburtenüberschuss <strong>und</strong> die innereuropäischen<br />

Migrationsbewegungen führten besonders in den wirtschaftlich dynamischen Gebieten von Deutschland <strong>und</strong> Frankreich zu einem<br />

starken Zuzug von Gastarbeitern <strong>und</strong> damit zu einem Bevölkerungsanstieg, der vor allem auf Kosten der ländlichen Peripherie<br />

Spaniens, Portugals, Italiens <strong>und</strong> Griechenlands erfolgte. Aber auch die Touristenziele an der Küste des Mittelmeers verzeichneten<br />

einen starken Zuzug. In Schweden, Finnland, Ungarn <strong>und</strong> Bulgarien verschob sich das demographische Wachstum zugunsten<br />

der Städte. In England, Frankreich, Belgien <strong>und</strong> den Niederlanden kam es zu Rück- <strong>und</strong> Einwanderungen aus den ehemaligen<br />

Kolonien. Die Abwanderung aus der DDR wurde durch den Mauerbau verlangsamt. (Quelle: Schüler et al. 2007, S. 24)<br />

trialisierten Region entspricht. Es ist jedoch darauf<br />

hinzuweisen, dass bei der Beschreibung des demographischen<br />

Übergangs sowohl die Anzahl der Phasen als<br />

auch deren Bezeichnung je nach Autor variieren können<br />

(Exkurs „Demographischer Übergang“).<br />

Manche Bevölkerungswissenschaftler haben darauf<br />

hingewiesen, dass viele Entwicklungs- <strong>und</strong><br />

Schwellenländer offenbar in der Übergangsphase,<br />

die auch als „demographische Falle“ bezeichnet wurde,<br />

steckengeblieben sind. Die Abbildung 3.21 veranschaulicht<br />

die Disparität zwischen den Kernländern<br />

der Weltwirtschaft <strong>und</strong> jenen Regionen, die nicht<br />

dem Zentrum angehören. Im Gegensatz zu einer<br />

massiven Verringerung der Sterbeziffer sind in den<br />

meisten Entwicklungsländern die Fruchtbarkeitsziffern<br />

relativ hoch geblieben.<br />

Der Gr<strong>und</strong> für den zeitlich verzögerten Rückgang<br />

der Fruchtbarkeitsraten im Vergleich zu den Sterblichkeitsraten<br />

liegt darin, dass zwar neue <strong>und</strong> bessere<br />

Methoden zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten<br />

entwickelt wurden, dass sich aber diejenigen sozialen<br />

Gr<strong>und</strong>haltungen, die dem Wunsch nach Kinderreichtum<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen, erst in jüngster Zeit zu<br />

ändern begonnen haben. Während früh industrialisierte<br />

Staaten wie England oder Schottland den demographischen<br />

Übergang in ungefähr 150 Jahren, beginnend<br />

um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, durchlaufen<br />

haben, ist in den meisten peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Ländern die Übergangsphase noch<br />

nicht abgeschlossen.


Bevölkerungsbewegungen 151<br />

3.18 Bevölkerungsentwicklung in Europa 1 9 90 -200 0 (mittleres jährliches Wachstum in Prozent) In diesem Jahrzehnt<br />

bildete sich wiederum eine demographische West-Ost-Differenzierung heraus. Die abnehmenden Geburtenzahlen, die im Kommunismus<br />

gesunkene Lebenserwartung <strong>und</strong> die nach der Wende möglichen Wegzüge nach dem Westen führten in den meisten<br />

Ländern Mittel- <strong>und</strong> Osteuropas (eine Ausnahme waren Polen <strong>und</strong> die Slowakei) zu einer Bevölkerungsabnahme. Vor allem Ostdeutschland<br />

erfuhr durch den Fall der Mauer nochmals einen starken Bevölkerungsverlust. Gewinner waren in der Regel die<br />

Hauptstadtregionen. Dagegen stieg die Bevölkerung der Türkei <strong>und</strong> Aserbeidschans stark an. (Quelle: Schüler et al. 2007, S. 29)<br />

Viele Bevölkerungsgeographen zweifeln daran,<br />

dass das Modell des demographischen Übergangs<br />

überall anwendbar ist.<br />

Die Kritik hat dazu geführt, dass dieser Erklärungsansatz<br />

in der Bevölkerungsgeographie an Bedeutung<br />

verloren hat. Ein Einwand lautet, dass die Industrialisierung,<br />

die nach der Theorie wesentlich ist für den<br />

Übergang von Phase 2 zu Phase 3, in peripheren Ländern<br />

selten aus eigener Kraft geschieht. Dementsprechend<br />

ist es dort nicht zu ähnlichen demographischen<br />

Entwicklungen, wie etwa der Erhöhung des Lebensstandards,<br />

gekommen, die beispielsweise in Europa<br />

zu beobachten waren, wo die Industrialisierung im<br />

Wesentlichen durch inländisches Kapital initiiert<br />

wurde. Andere Kritiker des Modells nennen verschiedene<br />

Faktoren, die einen demographischen Übergang<br />

auf der Basis wirtschaftlichen Wachstums hemmen:<br />

den Mangel an Facharbeitern, den hohen Anteil an<br />

Analphabeten, die soziale Stellung der Frauen, die<br />

Bedeutung der Ahnenverehrung <strong>und</strong> der Sippe sowie<br />

den schleppenden technologischen Fortschritt.<br />

Mit anderen Worten: Während der demographische<br />

Übergang eine für die Kernregionen charakteristische<br />

Entwicklung sein mag, scheint das Modell auf die<br />

Peripherie nur bedingt übertragbar zu sein.<br />

, Bevölkerungsbewegungen<br />

Neben der Bevölkerungsdynamik durch Tod <strong>und</strong><br />

Reproduktion gibt es eine dritte wichtige Einflussgröße,<br />

nämlich die Wohnsitzverlagerung von Personen.


152 3 Bevölkerungsgeographie<br />

5EST^.'-<br />

« V/<br />

2.0 0 - 3,17<br />

1.00- 1,99<br />

0,75 - 0,99<br />

0,50 - 0,74<br />

0 ,2 5 - 0,49<br />

0,00 - 0.24<br />

-0,25 - -0,01<br />

-0,50--0,26<br />

-0,75--0,51<br />

-1,00-A76<br />

-1,57--1,01<br />

-4-.<br />

■<br />

h-fe,.<br />

\ (<br />

K ,<br />


Bevölkerungsbewegungen 153<br />

3.20 Das Modell des demographischen Übergangs Der Übergang von einer stabilen Bevölkerung mit hohen Geburten- <strong>und</strong><br />

Sterberaten zu einer stabilen Bevölkerung mit niedrigen Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten vollzieht sich in deutlich voneinander unterscheidbaren<br />

Phasen (Angaben pro 1000 Einwohner pro Jahr). Anhand von Basisinformationen über die Geburten- <strong>und</strong> Sterbeziffern<br />

sowie die Einwohnerzahl eines Landes lässt sich dessen Position innerhalb des demographischen Übergangsprozesses bestimmen.<br />

Unter Bevölkerungsexperten ist das Modell allerdings umstritten. Nicht wenige unter ihnen sind der Auffassung, es sei nur auf<br />

die demographischen Entwicklungen in Ländern der Kernregion anwendbar.<br />

Demographischer Übergang<br />

Als demographischer Übergang (demographische Transformation)<br />

wird ein mehr oder minder regelhafter Wandel der<br />

natürlichen Bevölkerungsbewegungen von relativ hohen Geburten-<br />

<strong>und</strong> Sterbeziffern zu vergleichsweise niedrigen Werten<br />

bezeichnet. Mit dem Übergang von der traditionellen<br />

zur modernen Bevölkerungsweise, dessen Ursachen in weit<br />

reichenden gesellschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Veränderungen,<br />

in Europa insbesondere in der fortschreitenden Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> Verstädterung, zu suchen sind, steigt das<br />

natürliche Bevölkerungswachstum aufgr<strong>und</strong> der verzögert absinkenden<br />

Geburtenziffer zeitlich begrenzt an. Der Verlauf<br />

lässt sich in fünf Transformationsphasen untergliedern:<br />

1. prätransformative Phase: hohe demographische Umsatz-<br />

bei geringen Geburtenüberschussziffern; vorübergehend<br />

auch Geburtendefizite aufgr<strong>und</strong> kurzfristig stark<br />

variierender Sterberaten<br />

2. frühtransformative Phase: eher konstante bis sogar<br />

leicht zunehmende Geburtenrate bei zurückgehender Sterberate;<br />

durch das Auseinanderlaufen der beiden Graphen<br />

Geburtenrate <strong>und</strong> Sterberate spricht man von der Öffnung<br />

der Bevölkerungsschere; das natürliche Wachstum steigt an<br />

3. mitteltransformative Phase: weiteres Absinken der Mortalität<br />

<strong>und</strong> langsamer Beginn des Fruchtbarkeitsrückgangs;<br />

maximale natürliche Wachstumsraten; die Bevölkerungsschere<br />

ist jetzt am weitesten geöffnet<br />

4. spättransformative Phase: beschleunigte Verringerung<br />

der Geburtenrate, nur noch geringfügig rückläufige Sterberate;<br />

die Zuwachsrate wird langsam geringer; die Bevölkerungsschere<br />

beginnt sich zu schließen<br />

5. posttransformative Phase: niedrige Umsatzziffern; geringes<br />

natürliches Wachstum bis hin zu einem Bevölkerungsrückgang;<br />

leicht steigende Sterberate wegen des zunehmenden<br />

Anteils älterer Menschen<br />

Als Konsequenz des demographischen Übergangs ändern<br />

sich Altersstruktur <strong>und</strong> Geschlechtsproportion. Der beschriebene<br />

schematische Verlauf, auch Modell des demographischen<br />

Übergangs genannt, trifft weitgehend für Europa, Nordamerika,<br />

Australien/Neuseeland sowie Japan zu. Je später<br />

sich die Bevölkerungsschere öffnet, desto kürzer ist der Übergang.<br />

In Frankreich setzte in etwa zur gleichen Zeit der Rückgang<br />

von Geburten- <strong>und</strong> Sterberate um 1800 ein, das natürliche<br />

Wachstum verzeichnete nie überdurchschnittliche Werte.<br />

In den weniger entwickelten Ländern sank die Sterblichkeit<br />

Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sehr rasch ab <strong>und</strong> der Fruchtbarkeitsrückgang<br />

erfolgte verzögert. Geburten- <strong>und</strong> Sterberate<br />

entwickeln sich stark auseinander, was eine stark positive Bevölkerungsentwicklung<br />

über einen relativ langen Zeitraum zur<br />

Folge hat. Das variable Übergangsmodell versucht, die in der<br />

Realität bezüglich Beginn, Verlauf <strong>und</strong> Größenordnung der Raten<br />

auch auf regionaler Ebene zu beobachtende Vielfalt des<br />

demographischen Übergangs zu erfassen. Das Modell bildet<br />

auch einen Rahmen für Erklärungsansätze. Allerdings betonen<br />

sie zu sehr den Fruchtbarkeitsrückgang <strong>und</strong> beziehen nicht die<br />

demographischen Auswirkungen von Migrationen ein. Zu<br />

einer Prognose ist das Modell ungeeignet, da ökonomische,<br />

soziale <strong>und</strong> kulturelle Bedingungen regional zu sehr variieren.<br />

Die Entwicklung im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion mit<br />

einem markanten Anstieg der Sterblichkeit bei Männern<br />

(Übersterblichkeit) <strong>und</strong> stark sinkender Fruchtbarkeit lässt<br />

sich zum Beispiel nicht in das Modell einordnen.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie


' i f 154 3 Bevölkerungsgeographie<br />

50 r<br />

40<br />

-Geburtenrate<br />

M<br />

30 -<br />

Geburten rate ^<br />

■Sterberate<br />

20 -<br />

Sterberate'<br />

10 -<br />

Peripherie<br />

Kernraum<br />

Bevölkerungs-<br />

\wachstum<br />

1775<br />

1800<br />

1850 1900<br />

Jahr<br />

1950 2000 2050<br />

S!s^i<br />

3.21 Weltweite Trends in der Entwicklung der Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten (17 75-2050) Während sich die Sterberaten<br />

auf der ganzen Welt verringert haben, steigen die Geburtenraten in einem Großteil der Peripherie noch immer an. Die Grafik<br />

illustriert den Einfluss des Entwicklungsstandes auf das generative Verhalten von Bevölkerungen. Überdies enthält die Abbildung<br />

eine optimistische Prognose, nach der in den peripheren Regionen die Geburtenraten bis zur Mitte des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts weiter<br />

fallen, während in den Ländern des Zentrums die Geburten- <strong>und</strong> Sterbeziffern niedrig bleiben. (Quelle: Allen, T.; Thomas, A. Poverty<br />

and Development in the 1990s. London, Oxford University Press, 1992)<br />

iw I<br />

gen können enorme politische, ökonomische <strong>und</strong><br />

kulturelle Auswirkungen haben. Länder wie die Vereinigten<br />

Staaten, Deutschland oder Frankreich profitierten<br />

von der Immigration einer großen Zahl von<br />

Hilfsarbeitern, die sich mit Niedrigstlöhnen zufriedengaben<br />

<strong>und</strong> damit zu einer Senkung der Arbeitskosten<br />

beitrugen. Allerdings können hieraus in Zeiten<br />

wirtschaftlicher Rezession soziale Spannungen<br />

erwachsen, wenn arbeitslose Einheimische die Immigranten<br />

beschuldigen, ihnen die Arbeitsplätze wegzunehmen,<br />

oder diesen die staatlichen Unterstützungen<br />

neiden. Weltstädte, Universitätsstädte <strong>und</strong> andere<br />

Zentren erhalten andererseits den Großteil ihrer<br />

hoch Qualifizierten durch Zuwanderung.<br />

Bevölkerungswissenschaftler haben verschiedene<br />

Möglichkeiten entwickelt, um Migrationsraten zu ermitteln.<br />

Berechnungen von Immigrations- <strong>und</strong> Emigrationsraten<br />

sind Gr<strong>und</strong>lage für die Feststellung der<br />

Brutto- <strong>und</strong> Nettomigrationsraten in einem Untersuchungsgebiet.<br />

Die Bruttomigration gibt die Gesamtzahl<br />

an Zu- <strong>und</strong> Abwanderern an, die Nettomigration<br />

(Wanderungsbilanz) die Bevölkerungszu- oder<br />

-abnahme infolge von Wanderungsgewinnen oder<br />

-Verlusten. Die Erfassung der Migration ist außerordentlich<br />

wichtig, da die Einwohnerzahl eines<br />

Landes, einer Region oder eines Ortes nicht nur<br />

von den Geburten- <strong>und</strong> Sterbeziffern, sondern<br />

auch vom Wanderungsgeschehen abhängt.<br />

Migrationsraten allein vermitteln allerdings nur<br />

einen kleinen Teil der Information, die man zum<br />

Verständnis der Migrationsdynamik <strong>und</strong> ihrer Auswirkungen<br />

auf allen Maßstabsebenen benötigt. Allgebrain<br />

drain<br />

Die Abwanderung von wissenschaftlich ausgebildeten, hoch<br />

qualifizierten Fachkräften wird als brain drain (Auszug des Geistes)<br />

bezeichnet. Der Begriff wurde erstmals 1962 in einem Bericht<br />

der British Royal Society über die negativen Konsequenzen<br />

der Abwanderung von wissenschaftlich ausgebildeten Fachkräften<br />

verwendet. Er impliziert, dass die Abwanderung der<br />

hoch Qualifizierten im Herkunftsgebiet einen Mangel an Humanressourcen<br />

auslöst <strong>und</strong> dem Auswanderungsland schadet.<br />

Erstens gehen die Investitionen für die Ausbildung der Auswanderer<br />

verloren <strong>und</strong> zweitens nehmen diese Wissen <strong>und</strong> Innovationspotenzial<br />

mit, das die Herkunftsländer selbst dringend<br />

benötigen würden. Bisher wurde vorwiegend der brain drain<br />

zwischen Entwicklungsländern <strong>und</strong> Industrieländern erforscht.<br />

Untersuchungen zum brain drain zwischen Regionen desselben<br />

Staates sind noch relativ selten, obwohl sie, wie das Beispiel<br />

Qstdeutschand zeigt, gravierende Konsequenzen haben können.<br />

Unter brain overflow versteht man eine Auswanderung<br />

von Hochqualifizierten aus einem Land, das mehr Hoch Qualifizierte<br />

ausbildet als sein Arbeitsmarkt aufnehmen kann. Brain<br />

exchange bezeichnet eine internationale Migration von hoch<br />

Qualifizierten zwischen in verschiedenen Staaten lokalisierten<br />

Betrieben eines transnationalen Konzerns.<br />

Quelle: P. Meusburger In: Lexikon der Geographie


Bevölkerungsbewegungen 155<br />

mein treffen Migranten ihre Entscheidungen bezüglich<br />

einer Ortsveränderung aufgr<strong>und</strong> von Push- <strong>und</strong><br />

Pull-Faktoren.<br />

Push-Faktoren sind Ereignisse oder Bedingungen,<br />

die eine Person veranlassen, den Wohnstandort zu<br />

wechseln. Dabei kommt eine Vielzahl von Motiven<br />

infrage, von sehr persönlichen, wie der Unzufriedenheit<br />

mit den Wohnverhältnissen, bis hin zu widrigen<br />

Umständen wie Krieg, einschneidenden wirtschaftlichen<br />

Verschlechterungen oder ökologischen Problemen.<br />

Pull-Faktoren sind Anreize, derentwegen<br />

Migranten an einen bestimmten Ort streben. Auch<br />

hier weisen die auslösenden Motive ein breites Spektrum<br />

auf, von rein individuellen (wie dem dringenden<br />

Wunsch, am Meer zu wohnen) bis hin zu stark strukturbestimmten<br />

(wie ausgeprägtem Wirtschaftswachstum<br />

<strong>und</strong> daraus resultierenden guten Einkommensdiancen).<br />

Gewöhnlich entsteht der Wanderungsentschluss<br />

aus einer Kombination von Push- <strong>und</strong> Pull-Faktoren.<br />

Von freiwilliger Wanderung spricht man, wenn sich<br />

der Migrant aus freien Stücken zu einer Ortsveränderung<br />

entschließt. Die meisten Wanderungsmodelle<br />

übersehen allerdings die Tatsache, dass Arbeitsplätze<br />

für höher qualifizierte oder spezialisierte Berufe nur<br />

in Zentren ab einer gewissen Größe angeboten werden,<br />

sodass es für viele hoch Qualifizierte gar keine<br />

Alternative gibt, als ihre Herkunftsregion zu verlassen,<br />

wenn sie einen ihrer Qualifikation entsprechenden<br />

Arbeitsplatz einnehmen wollen. Vertikale soziale<br />

Mobilität beziehungsweise berufliche Karriereschritte<br />

sind deshalb häufig mit einer Migration verb<strong>und</strong>en.<br />

In vielen Fällen gründet sich die Entscheidung zur<br />

Migration daher teils auf frei getroffene Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> teils auf äußere Zwänge. Ein besonderes<br />

Problem stellen Zwangsmigrationen wie Flucht,<br />

Vertreibung <strong>und</strong> Umsiedlung dar. Nach Berichten<br />

der Vereinten Nationen gab es im Jahre 2004 weltweit<br />

insgesamt 17,08 Millionen Menschen, die zur Migration<br />

gezwungen waren beziehungsweise als Flüchtlinge<br />

galten. Auch die Flucht vor Hungersnöten,<br />

lebensbedrohenden Umweltzerstörungen oder -katastrophen<br />

sowie vor politischer Verfolgung oder<br />

Unterdrückung kann als Zwangsmigration definiert<br />

werden. Flüchtlinge sind Personen, die durch politische<br />

Zwangsmaßnahmen, Kriege oder Existenz gefährdende<br />

Notlagen veranlasst wurden, ihre Heimat<br />

vorübergehend oder auf Dauer zu verlassen. Die<br />

Flüchtlingsproblematik ist ein erhebliches globales<br />

Problem, aber auch die Zahl der Displaced Persons<br />

(DP) - Personen, die sich aufgr<strong>und</strong> von Kriegsfolgen<br />

zwangsweise außerhalb ihrer Heimatstaaten aufhalten<br />

- steigt weltweit an. Das Flüchtlingsschicksal ist<br />

fraglos eine der tragischsten Situationen, in die ein<br />

Mensch geraten kann.<br />

Freiwillige internationale<br />

I Migration______________<br />

Die verschiedenen Auswanderungswellen von Europa<br />

in die Vereinigten Staaten wurden zwar in hohem<br />

Maße durch ökonomische <strong>und</strong> politische Faktoren<br />

ausgelöst, die überwiegende Mehrheit dieser Menschen<br />

entschloss sich jedoch mehr oder weniger freiwillig,<br />

ihre angestammte Heimat zu verlassen. Unter<br />

den Migranten waren sowohl religiöse Dissidenten,<br />

politische Revolutionäre <strong>und</strong> Kriminelle, die sich<br />

einer Unterdrückung oder Bestrafung entziehen wollten,<br />

als auch solche, die angeworben wurden, die ihre<br />

wirtschaftliche Situation verbessern wollten oder abgeschoben<br />

vmrden, um das Armutsproblem der Herkunftsgemeinden<br />

zu lösen. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entschlossen<br />

sich beispielsweise viele Nordeuropäer im<br />

Zuge von Anwerbungskampagnen US-amerikanischer<br />

Eisenbahnunternehmen zur Emigration in<br />

die Vereinigten Staaten. Die Eisenbahngesellschaften<br />

suchten ihre Profite zu maximieren, indem sie den<br />

Immigranten die riesigen Flächen verkauften, die<br />

sie von der B<strong>und</strong>esregierung als Teilabgeltung für<br />

den Bau von Eisenbahnlinien quer durch das Land<br />

erhalten hatten.<br />

In anderen Fällen ist mit der Migration keine auf<br />

Dauer geplante Wohnsitzveränderung verb<strong>und</strong>en.<br />

Saisonwanderung oder Arbeitswanderung auf Zeit<br />

ist schon lange ein unverzichtbarer Teil der Weltwirtschaftsordnung<br />

<strong>und</strong> ein Faktor, den Regierungen wie<br />

Unternehmen zeitweise ganz bewusst eingesetzt haben.<br />

Personen, die für einen bestimmten Zeitraum<br />

emigrieren, um in einem anderen Land eine Arbeitsstelle<br />

anzutreten, werden als Gastarbeiter bezeichnet.<br />

Die zeitlich befristeten Arbeitsverhältnisse von Nordafrikanern<br />

in der französischen Automobilindustrie<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Wanderungen sind ein<br />

gutes Beispiel für diesen Prozess <strong>und</strong> seine Verbindung<br />

von lokalen, nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Maßstäben. Arbeitskräfte in andere Länder auszusenden,<br />

ist für viele periphere <strong>und</strong> semiperiphere Staaten<br />

eine wichtige wirtschaftliche Strategie, die nicht nur<br />

die Arbeitslosigkeit vor Ort verringert, sondern es<br />

den Arbeitern auch ermöglicht, verhältnismäßig große<br />

Geldsummen an ihre zu Hause gebliebenen Familien<br />

zu überweisen. Dieses Arrangement hilft den Familien<br />

der Arbeiter, sich wirtschaftlich über Wasser<br />

zu halten. Gleichzeitig verstärkt Arbeitsmigration


156 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Wanderung<br />

Von internationaler Wanderung (Außenwanderung) spricht<br />

Migrationsprozesse sind von einer größeren Vielfalt geprägt,<br />

man, wenn alter <strong>und</strong> neuer Wohnstandort zu verschiedenen<br />

die sich aus der Kombination von Siedlungsstruktur der Zu-<br />

1--<br />

‘Â-<br />

P 1<br />

Staatsgebieten gehören. Dieser Typ von Migration verzeich-<br />

nete seit dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert eine deutliche Zunahme. Die<br />

wichtigsten Ströme waren die europäischen Überseewanderungen<br />

nach Nord- <strong>und</strong> Südamerika, die erzwungenen Sklavenwanderungen<br />

(Sklavenhandel) aus Afrika in die Neue<br />

Welt sowie die Arbeitskräftewanderungen (Arbeitsmigration)<br />

von Chinesen <strong>und</strong> Indern. Das Beispiel USA belegt die großen<br />

Schwankungen bei den Immigrationen sowie die sich ändernde<br />

Zusammensetzung der Zuzüge nach Auswanderungsländern.<br />

Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert sind Migrationen aus politischen Gründen<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> kriegerischer Auseinandersetzungen weit<br />

verbreitet. Hierzu zählen die Vertreibungen im Zusammenhang<br />

mit dem Zweiten Weltkrieg, die Vertriebenen, die<br />

nach der Teilung Indiens als Moslems nach Pakistan beziehungsweise<br />

als Hindus in die Indische Union zogen, <strong>und</strong> die<br />

Flüchtlinge in Asien oder Afrika.<br />

In Europa wurden die Gastarbeiterwanderungen aus den<br />

Mittelmeerländern in Richtung Norden vom Zustrom aus<br />

der Dritten Welt <strong>und</strong>, nach dem Zusammenbruch des Warschauer<br />

Paktes, aus Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa abgelöst (zum<br />

Beispiel Aussiedler in Deutschland). Heute sind Italien <strong>und</strong><br />

Spanien Einwanderungsländer <strong>und</strong> wichtiger Anziehungspunkt<br />

für Afrikaner. Die Zuzüge in die USA stammen vor allem<br />

aus der Karibik, Zentralamerika sowie Ostasien, die Golfregion<br />

erhält Migranten aus dem Vorderen Orient sowie dem asiatischen<br />

Raum.<br />

Die neoklassische Argumentation erklärt internationale<br />

Migrationen mit großräumigen Unterschieden hinsichtlich<br />

des Einkommens, des wirtschaftlichen Wachstums <strong>und</strong> der<br />

Nachfrage nach Arbeitskräften (Push-Pull-Modelle). Durch<br />

die individuelle Entscheidung für eine Auswanderung erhofft<br />

sich der Migrant eine Maximierung zukünftiger Nutzen, <strong>und</strong><br />

in Abstimmung mit anderen Haushaltsmitgliedern ist oft<br />

eine Diversifizierung der Existenzgr<strong>und</strong>lage im Sinne einer Risikominimierung<br />

beabsichtigt (cosf-öene/yf-Modelle). Ein weiteres<br />

Konzept geht von der Segmentierung der Arbeitsmärkte<br />

aus. Die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften verursacht Zuwanderungen<br />

aus Staaten mit niedrigeren Löhnen. Der Weltgesellschaftsansatz<br />

differenziert aus soziologischer Sicht zwischen<br />

Makro- <strong>und</strong> Mikroebene. Auf der Makroebene ruft das<br />

ökonomische Gefälle zwischen Ländern internationale Migrationen<br />

hervor, auf der Mikroebene nehmen Personen in potenziellen<br />

Herkunftsgebieten bestehende Disparitäten aufgr<strong>und</strong><br />

einer fortschreitenden Homogenisierung von Werten <strong>und</strong> Normen<br />

sowie Informationsdurchdringung eher wahr.<br />

Beispiele für interregionalen Wanderungen (Binnenwanderungen)<br />

sind in Entwicklungsländern gegenwärtig hauptsächlich<br />

Land-Stadt-Wanderungen, die häufig mit der Metro-<br />

polisierung einhergehen <strong>und</strong> zur Entvölkerung peripher gelegener,<br />

wenig dicht besiedelter Räume führen können, ln den<br />

Industriestaaten steuerten Land-Stadt-Wanderungen ebenfalls<br />

entscheidend das städtische Wachstum zu Beginn der<br />

Industrialisierung. Mit fortschreitender Verstädterung verloren<br />

sie jedoch an Bedeutung, <strong>und</strong> die heutigen interregionalen<br />

<strong>und</strong> Abwanderungsgebiete, der Wanderungsmotive sowie<br />

der persönlichen Merkmale der Migranten ergeben. Hierzu tragen<br />

die fortschreitende Dekonzentration (Desurbanisierung,<br />

Exurbanisierung, Counterurbanisierung) <strong>und</strong> die weitgehende<br />

Auflösung des Gegensatzpaares Land-Stadt bei.<br />

Positive Wanderungsbilanzen verzeichnen zumeist Agglomerationen<br />

mit einem vielseitigen Arbeitsplatzangebot, beruflichen<br />

Aufstiegschancen, guten Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Wachstumschancen, während Wanderungsverluste<br />

die ehemals von Kohle <strong>und</strong> Stahl geprägten<br />

altindustrialisierten Verdichtungsräume kennzeichnen. Ländliche<br />

Räume registrieren dann positive Bilanzen, wenn sie über<br />

eine gewisse städtische Infrastruktur in Mittelzentren verfügen,<br />

gut erreichbar sind <strong>und</strong> sich durch landschaftliche Attraktivität<br />

auszeichnen. Regionstypen mit positiver Bewertung<br />

durch potenzielle Migranten (zum Beispiel der Münchener<br />

Raum oder das Alpenvorland) liegen im Süden Deutschlands,<br />

sodass sich in den 1980er-Jahren eine mit Nord-Süd-Wanderung<br />

bezeichnete Komponente der verschiedenen Migrationsströme<br />

ausbildete. Im anschließenden Jahrzehnt überlagerten<br />

die Ost-West-Wanderungen zwar diesen Trend, er ist aber<br />

nach wie vor zu erkennen. Vergleichbare Tendenzen sind in<br />

Großbritannien zugunsten von East Anglia, Cornwall oder<br />

Devon als bevorzugte Regionen zu beobachten, für Frankreich<br />

ist die Mittelmeerküste, für den USA Florida oder Kalifornien<br />

zu nennen.<br />

Intraregionale Wanderungen (innerregionale Wanderungen)<br />

umfassen jene Wohnungswechsel, bei denen sich alter<br />

<strong>und</strong> neuer Wohnstandort in derselben Region befinden. Beispiele<br />

sind Stadt-Umland-Wanderungen, Nahwanderungen<br />

oder Umzüge.<br />

Es bestehen enge Beziehungen zwischen intraregionalen<br />

Wanderungen <strong>und</strong> dem Lebenszyklus eines Haushaltes.<br />

Jede Phase ist mit bestimmten Anforderungen an die Wohnung<br />

(zum Beispiel Größe, Ausstattung, Wohnumgebung)<br />

<strong>und</strong> ihre Lage innerhalb der Region verknüpft. Änderungen<br />

im Lebenszyklus bewirken ein Auseinanderdriften zwischen<br />

Wohnbedürfnissen <strong>und</strong> ihrer Erfüllung, <strong>und</strong> dieser Stress<br />

kann eine Migration auslösen. Zu Beginn des Lebenszyklus<br />

verlässt ein Junger Erwachsener die elterliche Wohnung <strong>und</strong><br />

gründet einen eigenen Haushalt. Diese Wanderungen Junger<br />

Menschen sind häufig interregional auf die Kernstädte in<br />

den Agglomerationen gerichtet. Die Ein- oder Zweipersonenhaushalte<br />

suchen preiswerten Wohnraum nahe der Arbeitsoder<br />

Ausbildungsstätte <strong>und</strong> finden ihn in zentral gelegenen<br />

Wohngebieten. Nach der Geburt von Kindern erhöhen sich<br />

die Bedürfnisse zumindest bezüglich der Wohnungsgröße,<br />

<strong>und</strong> ein Umzug in eine Wohnung oder ein eigenes Haus in einer<br />

weniger zentralen Lage ist wahrscheinlich. Erlauben die wirtschaftlichen<br />

Verhältnisse diesen Schritt zu keinem Zeitpunkt,<br />

führt die einkommensbedingte Immobilität zu Konzentration<br />

<strong>und</strong> Segregation sozial benachteiligter Gruppen. Mit dem<br />

Wechsel in ein eigenes Haus werden weitere Familienwanderungen<br />

unwahrscheinlich, häufig ziehen erst wieder die Eltern<br />

mit dem Erreichen des Ruhestandes um. Dieser vereinfachte<br />

i 1


Bevölkerungsbewegungen 157<br />

Ablauf spiegelt die Realität nur begrenzt wider: Heirat <strong>und</strong> Familiengründung<br />

treffen nicht auf alle zu, zunehmende Scheidungsraten<br />

<strong>und</strong> Wiederverheiratung erzeugen ebenfalls Wanderungen,<br />

die zu einer früheren Phase im Lebenszyklus zurückführen<br />

können. Jedoch bewirken nicht nur der Wandel<br />

in der Haushaltszusammensetzung sowie Einkommensverbesserungen<br />

intraregionale Migrationen, sondern es wirken<br />

sich auch äußere Faktoren, welche die Wohnumgebung prägen,<br />

aus, wie beispielsweise ein Anstieg des Verkehrslärms,<br />

Mietpreissteigerungen oder das Eindringen einer bestimmten<br />

ethnischen Gruppe in das Wohngebiet.<br />

Die Motive, die Anlass zur Migration geben, beeinflussen<br />

die Wahl des neuen Wohnstandortes. Dabei spielen vorhandene<br />

Informationen <strong>und</strong> Vorstellungen des Haushaltes über<br />

den Wohnungsmarkt eine Rolle, des Weiteren die Art der Informationsbeschaffung<br />

über freie Wohnungen sowie das<br />

Suchverhalten. Sie weisen erhebliche sozialgruppenspezifische<br />

Unterschiede auf. So begrenzen Einkommen <strong>und</strong> Beruf<br />

nicht nur die Suche räumlich auf bestimmte Wohngebiete,<br />

sondern sie haben auch Einfluss auf die Höhe <strong>und</strong> Vergaberichtlinien<br />

des Kredits zum Kauf einer Wohnung oder eines<br />

Hauses. Diskriminierungen auf dem Wohnungsmarkt oder gesetzliche<br />

Vergabebedingungen wie im Falle von Sozialwohnungen<br />

begrenzen ebenfalls die Auswahl einer neuen Wohnung.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie<br />

die weltwirtschaftliche Dominanz der Industrieländer.<br />

Die Situation birgt jedoch Risiken in sich,<br />

denn wirtschaftlicher Abschwung in den Gastländern<br />

kann dazu führen, dass die Überweisungen in die<br />

Heimatländer stark zurückgehen <strong>und</strong> sich deren wirtschaftliche<br />

Lage dadurch weiter verschlechtert.<br />

Manche Staaten fördern <strong>und</strong> koordinieren durch<br />

bestimmte Programme die Auswanderung ihrer<br />

Staatsbürger. So haben die Philippinen ein Programm<br />

{overseas contract worker, OCW-Programm), das den<br />

Bedarf in anderen Staaten erfasst <strong>und</strong> durch die auf<br />

den Philippinen verfügbaren Arbeitskräfte zu decken<br />

versucht. Dabei ist das Verhältnis von Männern <strong>und</strong><br />

Frauen, die sich an dem Programm beteiligen, zahlenmäßig<br />

in etwa ausgeglichen, hinsichtlich der Art<br />

der Beschäftigung dagegen höchst unausgewogen.<br />

Die Männer nehmen vorwiegend höher qualifizierte<br />

Positionen ein, während die Frauen meist nur im<br />

Dienstleistungs- <strong>und</strong> Unterhaltungssektor eine Beschäftigung<br />

finden. Daneben sind auch bemerkenswerte<br />

räumliche Unterschiede zu beobachten: Gut<br />

ausgebildete Frauen (wie Ärztinnen oder Krankenschwestern),<br />

die insgesamt nur einen kleinen Prozentsatz<br />

aller im Ausland arbeitenden philippinischen<br />

Frauen darstellen, sind vorwiegend in den Vereinigten<br />

Staaten <strong>und</strong> in Kanada tätig. Typischer ist allerdings<br />

das Schicksal der philippinischen Frauen, die<br />

im Rahmen des OCW-Programms nach Hongkong,<br />

Singapur <strong>und</strong> Japan geschickt wurden: In den beiden<br />

erstgenannten Ländern sind sie fast ausschließlich als<br />

Haushaltshilfen tätig, in Japan arbeiten sie dagegen<br />

häufig in der sogenannten „Unterhaltungsbranche“,<br />

was vielfach gleich bedeutend mit Prostitution ist.<br />

Dabei werden die Frauen nicht mehr als Individuen<br />

gesehen, sondern als Ware, die man teilweise sogar<br />

nach Katalog anfordert. Scharfe Kritik am OCW-Programm<br />

haben feministische Gruppen <strong>und</strong> Menschenrechtsorganisationen<br />

geübt, die in dieser Behandlung<br />

von Frauen eine moderne Form der Sklaverei<br />

sehen.<br />

Im Rahmen der internationalen Migration nimmt<br />

vor allem die grenzüberschreitende Migration zu, bei<br />

der Menschen ihren Wohnsitz <strong>und</strong>/oder ihre Arbeit<br />

dauerhaft oder vorübergehend zwischen den Nationalstaaten<br />

verlegen (Abbildung 3.22)<br />

Einige Emigranten sind Niedriglohnbezieher wie<br />

beispielsweise die mexikanischen Einwanderer in<br />

den Vereinigten Staaten, die als ungelernte Arbeitskräfte<br />

in der verarbeitenden Industrie, der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> dem Dienstleistungssektor beschäftigt<br />

sind. Diese Auswanderer haben typischerweise zwei<br />

gleichberechtigte Wohnsitze - einen in Mexiko <strong>und</strong><br />

einen in den USA. Den Kontakt zwischen beiden Orten<br />

halten sie durch Besuche <strong>und</strong> Telefonate <strong>und</strong> das<br />

Schicken von beträchtlichen Geldsummen an Familienangehörige<br />

in Mexiko. Andere grenzüberschreitende<br />

Emigranten arbeiten in höher qualifizierten Berufen,<br />

wie zum Beispiel Hongkong-Chinesen, die sich<br />

in Vancouver niedergelassen haben. Kanada hat zur<br />

Förderung seiner Wirtschaft ein Einwanderungsprogramm<br />

für Geschäftsleute eingeführt. Danach erhalten<br />

Personen mit einem jährlichen Nettoeinkommen<br />

von 500 000 kanadischen Dollar (405 433 US-Dollar),<br />

die sich verpflichten, eine Investition von 350 000 kanadischen<br />

Dollar (283 803 US-Dollar) in einem kanadischen<br />

Unternehmen zu tätigen, ohne die sonst<br />

üblichen Wartezeiten ein Einwanderungsvisum.<br />

Hongkong-Chinesen, die nach Vancouver einwandern<br />

<strong>und</strong> in beiden Ländern umfangreiche Investitionen<br />

tätigen, erhalten nach 3 Jahren die kanadische<br />

Staatsbürgerschaft <strong>und</strong> dürfen ihre eigene Staatsangehörigkeit<br />

behalten. Grenzüberschreitende Emigranten<br />

wandern nicht nur nach Nordamerika aus, sondern<br />

auch in andere Länder mit ausreichenden Arbeitsmöglichkeiten<br />

wie zum Beispiel Frankreich,<br />

Deutschland, Saudi-Arabien <strong>und</strong> Südafrika. In den


158 3 Bevölkerungsgeographie<br />

" f T " r<br />

B<strong>und</strong>esrepublik D eu tsch lan d<br />

Die deutsche Regierung schätzt,<br />

Iran <strong>und</strong> Pak ista n<br />

Iran <strong>und</strong> Pakistan haben weiterhin die höchste<br />

C h in a<br />

In China leben über<br />

Indien<br />

Indiens große <strong>und</strong> vielfältige Flücht­<br />

dass fast eine Million Flüchtlinge<br />

Flüchtlingsbevölkerung, für die der U N H C R zustän­<br />

290 000 anerkannte<br />

lingsbevölkerung besteht unter an­<br />

aus w esteuropäischen Ländern in<br />

dig ist - die Afghanen. Nachdem 1990 mit 6,2 Millio­<br />

Flüchtlinge <strong>und</strong> praktisch<br />

derem aus schätzungsweise 100 000<br />

Deutschland leben. Aber nicht alle<br />

nen Flüchtlingen der Spitzenwert erreicht war, liegt<br />

alle von ihnen stammen<br />

Tibetanern, 66 000 Sri Lankern,<br />

von ihnen haben den vollen Flücht­<br />

die Zahl heute bei über 3,5 Millionen afghanischer<br />

aus Vietnam. Die meisten<br />

15 000 Buthanern <strong>und</strong> 14 000 Afgha­<br />

lingsstatus des Hohen Flüchtlings­<br />

Flüchtlinge. Außerdem leben im Iran mehr als 500 000<br />

sind ethnische Chinesen,<br />

nen. W ie andere Länder in der<br />

kommissars der Vereinten Nationen<br />

irakische Flüchtlinge. Der Iran hat mit einer Zahl von<br />

die sich seit 1979 in<br />

Region hat Indien die 1951 verab­<br />

(U N H C R ) gewährt bekommen. Die<br />

über 1,8 Millionen Flüchtlinge die höchste<br />

China aufhalten.<br />

schiedete Genfer Flüchtlingskon­<br />

meisten der Flüchtlinge, die in den<br />

letzten zehn Jah ren nach Deutsch­<br />

Flüchtlingsbevölkerung weltweit.<br />

vention <strong>und</strong> das 1967 ergänzend<br />

dazu von den Vereinten Nationen<br />

land gekommen sind, stammen aus<br />

beschlossene Flüchtlingsprotokoll<br />

dem ehem aligen Jugoslaw ien, der<br />

nicht unterzeichnet. Die Regierung<br />

Türkei, Irak <strong>und</strong> Iran.<br />

hat dem U N H C R den Kontakt zu<br />

den meisten Flüchtlingen in Indien<br />

untersagt.<br />

M ig ra tio n s s trö m e<br />

'<br />

750 00 0 o d e r m eh r<br />

---- m e h r a ls 50 000<br />

u n d w e n ig e r a ls 750 000<br />

M ig ra tio n s s trö m e u n te r 50 000<br />

sin d n ic h t d a rg e s te llt<br />

2 I<br />

f t J I 1<br />

3.22 Freiwillige Migration im globalen Maßstab im Jahr 1999 Die Karte zeigt das komplexe Geflecht von Wanderungsströmen<br />

von Menschen, die ihren Wohnort aus freien Stücken über Grenzen hinweg verlagern. Jeder dieser Ströme ist auf eine Vielzahl<br />

individueller Entscheidungen zurückzuführen. Dennoch ist klar ersichtlich, dass internationale Migration vorwiegend auf die Länder<br />

der Kernregion ausgerichtet ist. (Quelle: Segal, A. An Atlas o f International Migration. New Providence, NJ, Hans Zell Publishers/<br />

Bowker-Saur, 1993, S. 23. Kartenprojektion: Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die<br />

Bezeichnung „Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster<br />

Fuller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

1990er-Jahren sind Tausende Chinesen nach Budapest<br />

eingewandert, weil sie dort mit den sogenannten<br />

Chinesenmärkten nicht nur Ungarn, sondern auch<br />

den Balkan, die Slowakei <strong>und</strong> die Ukraine vor allem<br />

mit billiger Bekleidung versorgten <strong>und</strong> enorme Verdienstmöglichkeiten<br />

vorfanden. Bei der legalen Einwanderung<br />

nutzten viele Chinesen eine Gesetzeslücke<br />

Ungarns. Denn um ausländisches Kapitel anzulocken,<br />

bekam in Ungarn jeder Ausländer eine Aufenthaltsgenehmigung,<br />

der ein Unternehmen gründete.<br />

Mithilfe ungarischer Rechtsanwälte gründeten<br />

daraufhin Tausende Chinesen Ein-Mann-Unternehmen<br />

(Abbildung 3.23).<br />

Erzwungene internationale<br />

, Migration_______________<br />

Unfreiwillige internationale Migration ist ein weltweites<br />

Phänomen, wobei Vertreibung <strong>und</strong> zwangsweise<br />

Umsiedlung von Flucht zu unterscheiden<br />

sind, wenn es die Daten ermöglichen. Frühe historische<br />

Beispiele einer erzwungenen Migration sind unter<br />

anderem die Sklaventransporte von Afrika nach<br />

Amerika, die Vertreibung der französischsprachigen<br />

Akadier durch die Briten aus Neuf<strong>und</strong>land, die Vertreibung<br />

der Protestanten aus dem Erzbistum Salz-


Bevölkerungsbewegungen 159<br />

3.23 „Vier Tiger Markt“ in Budapest (a <strong>und</strong> b) Aus der Sicht chinesischer Auswanderer <strong>und</strong> der Presse Chinas war Budapest<br />

zu Beginn der 1990er-Jahre gleichsam das europäische Eldorado, in dem man in kürzester Zeit reich werden konnte <strong>und</strong> wo man<br />

dank eines speziellen Abkommens zwischen China <strong>und</strong> Ungarn mit relativ liberalen Einwanderungsvorschriften konfrontiert war.<br />

Deshalb strömten zwischen 1991 <strong>und</strong> 1995 schätzungsweise 40 000 Chinesen nach Budapest. Auf dem 70 ha großen „Vier Tiger<br />

Markt“ in der Josefstadt wurden vor allem billige Textilprodukte angeboten, die Abnehmer aus ganz Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa fanden.<br />

Einerseits trugen diese Chinamärkte wesentlich dazu bei, dass die armen Bevölkerungsschichten Ungarns die Einkommenseinbußen<br />

unmittelbar nach der Wende verkraften konnten. Andererseits hat die ungarische Bekleidungsindustrie durch die importierten<br />

Billigwaren Zehntausende Arbeitsplätze verloren, c) „Asia Centre“ in Budapest Aus Sicht der chinesischen Regierung soll Budapest<br />

zum „Eurogate“ Chinas beziehungsweise zum wichtigsten Handels- <strong>und</strong> Logistikzentrum Chinas in Europa werden, ln unmittelbarer<br />

Nähe des „China M art“ wurde auch ein modernes Asienzentrum errichtet, d) Chinesisch-ungarische Schule in Budapest.<br />

bürg, die Vertreibung <strong>und</strong> Flucht von r<strong>und</strong> 17 Millionen<br />

Deutschen aus Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg (Exkurs „Vertreibung <strong>und</strong> Flucht<br />

der Deutschen aus ihren Heimatgebieten“) oder die<br />

ethnischen Säuberungen im Gefolge des Zerfalls<br />

von lugoslawien (Exkurs „Kriegsbedingte Zwangsmigration“).<br />

Diese erzwungenen Migrationen hatten sowohl für<br />

die Herkunfts- als auch für die Zielgebiete nachhaltige<br />

ökonomische Auswirkungen. Der Handel mit afrikanischen<br />

Sklaven, der vom 17. bis zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

einen integralen Bestandteil der westeuropäischen<br />

Wirtschaftsentwicklung darstellte (die größten Sklavenhändlernationen<br />

waren die Briten <strong>und</strong> Niederländer),<br />

hat riesige Vermögen angehäuft. Der Vorsprung<br />

Großbritanniens bei der industriellen Revolution<br />

wurde zum Teil mit den Vermögen finanziert, die<br />

durch Sklavenhandel erworben wurden. Auch der<br />

Baumwoll-, Zuckerrohr- <strong>und</strong> Tabakanbau in den<br />

Südstaaten der USA basierte in erster Linie auf Sklavenarbeit.<br />

Abbildung 3.26 zeigt die Regionen in Amerika,<br />

welche am meisten Sklaven eingeführt haben.<br />

In Deutschland waren die Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebenen<br />

ganz wesentlich am sogenannten Wirtschafts-


160 3 Bevölkerungsgeographie<br />

5ö\V; >o-f^-------T7W7<br />

2.00 - 8,46<br />

1.00- 1,99<br />

0,75- 0,99 .<br />

' ’mss:<br />

0,00- 0,24<br />

•0,25--0,0U<br />

I -0,75 - 4),5i<br />

•6.83 - -2,01 i<br />

/C-.V % -<br />

10"W.<br />

nach NUTS-Regionen 2 / l i o o e r Äq<br />

/ -<br />

t :<br />

a<br />

\ ><br />

i>0-E • “<br />

i i<br />

250 500 km<br />

3.24 Wanderungsbilanz in Europa im Jahr 2000 Ein Vergleich der beiden Karten 3.19 <strong>und</strong> 3.24 zeigt sehr deutlich, wie Mittel-,<br />

West- <strong>und</strong> Teile Südeuropas ihr Defizit hinsichtlich der natürlichen Bevölkerungsbewegung durch die Zuwanderung kompensieren<br />

können. Was die Wanderungsbilanz betrifft, so haben Irland, das südliche Großbritannien, die Benelux-Staaten, Nordwest- <strong>und</strong><br />

Süddeutschland <strong>und</strong> Norditalien sowie die Küstenregionen des westlichen Mittelmeers die größten Zuwanderungsraten. Die stärksten<br />

Wanderungsverluste verzeichneten die Türkei, die Länder östlich des früheren Eisernen Vorhangs, Nordskandinavien <strong>und</strong> Nordfrankreich.<br />

(Quelle: Schüler et al. 2007, S. 41)<br />

A n te il d e r Serbisch- u n d K ro a tisch sp ra c h ige n , in %<br />

81 ■ ■ 3 ,S 0 -11,11<br />

125 2,50- 3.49<br />

282 1,50- 2,49<br />

222 I I 1.00- 1.49<br />

426 I 1 0,50- 0.99<br />

1760 I I 0,00- 0,49<br />

Schweiz 1,42%<br />

Serbisch- <strong>und</strong> Kroatischsprachige 2000<br />

8 332<br />

5 000<br />

2 000<br />

500<br />

103 350<br />

nach Gemeinden<br />

3.25 ►


Bevölkerungsbewegungen 161<br />

A n te il d e r A lb a n is c h s p ra c h ig e n , in %<br />

Albanischsprachige 2000<br />

96 ■ ■ 3,50-13,61<br />

1S( 2 ,5 0 - 3,49<br />

299 1 .S 0- 2.49<br />

294 — 1 ,0 0 - 1,49<br />

399 I I 0,50 - 0,99<br />

1650 r I 0,00 - 0,49<br />

Schweiz 1,30%<br />

nach Gemeinden<br />

A n te il d er Türkisch- u n d K u rd isch sp ra c h ige n , in %<br />

117 ■ ■ 1 .5 0 - 6,25<br />

377 ■ ■ 0 ,4 0 - 1,49<br />

2Ss | | H 0 ,1 8 - 0,39<br />

359 I I 0,01 - 0,17<br />

I7M 0.00<br />

Türkisch- Kürdischsprachige 2000<br />

4 002<br />

2 000<br />

500<br />

Schweiz 0,61%<br />

nach Gemeinden<br />

3.25 Ausländer in der Schweiz Wie sehr die Zielgebiete von internationalen Migrationen nach ökonomischen Motiven ausgewählt<br />

werden, zeigen die Wohnorte der in die Schweiz zugewanderten Serben, Kroaten, Albaner <strong>und</strong> Türken. Ihre Zielgebiete sind<br />

nahezu identisch, nämlich die wirtschaftlich am meisten prosperierenden Regionen der Schweiz. Zwischen den Verteilungsmustern<br />

dieser Sprachgruppen gibt es kaum Unterschiede, mit Ausnahme der Tatsache, dass Albaner zu einem geringfügig größeren Teil<br />

in ländlichen Gebieten <strong>und</strong> Kleinstädten wohnen als die anderen Gruppen. (Quelle: Schüler et al. 2007, S. 136, 137)


162 3 Bevölkerungsgeographie<br />

0 EUROPA<br />

BRITISCH<br />

NORDAMERIKA<br />

1000 2000 Kitometer<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Louisiana ©<br />

Atlantischer<br />

Große Antillen Ozean<br />

v^(siehe Kartenausschnitt)<br />

I I Madeira. Kanarische Inseln u. j<br />

Kapverdische Inseln O •<br />

V .,<br />

Kleine Antillen<br />

^<br />

M itte ia m e rika u.<br />

vana<br />

Surinam e<br />

Guyana<br />

60'W<br />

\ 9 n epul<br />

P uerto Rico<br />

US-amerikanische<br />

Jungfem -Inseln<br />

Britische Jungfem -Inseln<br />

j Panama,<br />

' K olum bien i<br />

E cuador<br />

Sklavenimporte<br />

•Gi<br />

3600 000<br />

.G uateloupe<br />

-2400 000<br />

-1 600 000<br />

Niederiändtsche Antmai<br />

121J’W<br />

MartiniqtJe'-<br />

. G renada'<br />

•Barbados<br />

nidad<br />

jo C hile __ ,<br />

80;W [ ^ 6 0 ‘ W<br />

I Bolivien,paraguay,<br />

Argen^|l«en u. Uruguay<br />

-800000<br />

—400 000<br />

—200000<br />

---------- 100000<br />

- 25 000<br />

3.26 Der Handel mit afrikanischen Sklaven vom 17. bis zum 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Die Karte gibt die Zahl der Sklaven wieder, die<br />

aus Afrika nach Amerika verschleppt wurden. Unter den größten „Einfuhrländern“ von Sklaven waren Brasilien mit 3,647 Millionen,<br />

die Großen Antillen mit 2,421 Millionen <strong>und</strong> die Kleinen Antillen mit 1,619 Millionen importierten Sklaven in einem Zeitraum<br />

von 200 Jahren. Von den Antillen gelangte später ein Teil der Sklaven in die USA. Die größten Sklavenhändler stammten aus<br />

Großbritannien, den Niederlanden <strong>und</strong> Portugal. (Quelle: Curtin, Ph. D. The Atlantic Slave Trade: A Census. Madison, Wl (University<br />

of Wisconsin Press) 1969)<br />

w<strong>und</strong>er der 1950er- <strong>und</strong> 1960er-Jahre beteiligt, während<br />

sich das ehemalige Sudetenland wirtschaftlich<br />

bis heute nicht von der Vertreibung der Sudetendeutschen<br />

erholt hat.<br />

Ein aktuelles Beispiel einer konfliktbedingten<br />

Emigration ist die Auswanderung von Libanesen,<br />

Kurden <strong>und</strong> Palästinensern aus dem Nahen Osten.<br />

Wie die Abbildung 3.27 zeigt, sind Libanesen <strong>und</strong><br />

Kurden aufgr<strong>und</strong> von Kriegen <strong>und</strong> Bürgerkriegsunruhen<br />

auf der ganzen Welt verteilt. Besonders der<br />

Bürgerkrieg im Libanon von 1975 bis 1990 führte<br />

zu einer besonders hohen Zahl von Auswanderern<br />

<strong>und</strong> auch der Angriff Israels im Jahre 2006 sowie<br />

die Auseinandersetzungen zwischen den libanesischen<br />

Konfliktparteien haben erneut zu großen Auswanderungen<br />

geführt.<br />

Die Abbildung 3.28 zeigt die Verteilung der palästinensischen<br />

Flüchtlinge im Nahen Osten seit der<br />

israelische Staat 1948 errichtet wurde.<br />

Freiwillige Binnenwanderung<br />

Migrationen laufen in der Regel nicht kontinuierlich<br />

ab, sondern in Form von Wanderungswellen. So haben<br />

etwa in den Vereinigten Staaten in den letzten<br />

200 Jahren drei große <strong>und</strong> einander überlappende<br />

Binnenwanderungswellen die Bevölkerungsgeographie<br />

des Landes verändert. Wie der Großteil aller<br />

Wanderungsaktivitäten waren auch diese drei Wellen<br />

mit weit reichenden politischen, ökonomischen <strong>und</strong><br />

sozialen Wandlungen verb<strong>und</strong>en.<br />

Die erste Welle setzte um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

im Zuge der Kolonisation ein <strong>und</strong> nahm<br />

bis in das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein stetig an Stärke<br />

zu. Sie bestand aus zwei Teilen: einer massiven Abwanderung<br />

aus dem ländlichen Bereich in die Städte<br />

im Zuge der Industrialisierung <strong>und</strong> einer ausgeprägten<br />

Wanderungsbewegung von der bereits dichter besiedelten<br />

Ostküste in das Landesinnere. Der Zug nach<br />

Westen, der spontan <strong>und</strong> gegen das ausdrückliche<br />

Verbot einer solchen Ausbreitung durch die Briten<br />

während der britischen Kolonialzeit einsetzte, wurde


Bevölkerungsbewegungen 163<br />

Vertreibung <strong>und</strong> Flucht der Deutschen aus ihren Heimatgebieten<br />

Vor der Vertreibung<br />

Deutsche Bevölkerung im Jahre 1939<br />

Ostgebiete des Deutschen Reiches<br />

9 575 000<br />

davon Ostpreußen 2 473000<br />

Ost-Pommern 1 884000<br />

Ost-Brandenburg 642 000<br />

Schlesien 4 577000<br />

Tschechoslowakei<br />

Baltische Staaten <strong>und</strong> Memelland<br />

Danzig<br />

Polen<br />

Ungarn<br />

Jugoslawien<br />

Rumänien<br />

davon zusammen**<br />

3 477 000<br />

250 000<br />

380 000<br />

1 371 000<br />

623 000<br />

537 000<br />

786 000<br />

16 999 000<br />

Geburtenüberschuss 1939-1945<br />

+ 659 000<br />

17 658 000<br />

Kriegsverluste 1939-1945<br />

Deutsche Bevölkerung bei Kriegsende<br />

- 1 100 000<br />

16 558 000<br />

davon *• dazu in der Sowjetunion 1,5 bis 2 Millionen<br />

Nach der Vertreibung<br />

Vertrieben<br />

aus den Ostgebieten des<br />

Deutschen Reiches 6 944 000<br />

aus der Tschechoslowakei 2 921 000<br />

aus den übrigen Ländern 1 865 000<br />

11 730 000<br />

In der Heimat verblieben (Stand 1950)<br />

in den Ostgebieten des<br />

Deutschen Reiches 1 101000<br />

in der Tschechoslowakei 250 000<br />

in den übrigen Ländern 1 294 000<br />

Vermutlich noch lebende Gefangene<br />

(1950)<br />

Vertreibungsverluste<br />

in den Ostgebieten des<br />

Deutschen Reiches<br />

in der Tschechoslowakei<br />

in den übrigen Ländern<br />

Kriegsverluste<br />

Vertreibungsverluste<br />

1 225 000<br />

267 000<br />

619000<br />

1 100 000<br />

2 111 000<br />

2 645 000<br />

72 000<br />

14 447 000<br />

2 111 000<br />

16 558 000<br />

Gesamt-Verluste: 3 211 000 Menschen, das sind 18,9% der<br />

in den Vertreibungsgebieten im Jahre 1939<br />

ansässigen deutschen Bevölkerung<br />

(Quelle: Das B<strong>und</strong>esministerium für Vertriebene, Flüchtlinge<br />

<strong>und</strong> Kriegsgeschädigte. Deutsche Politik 1961. Sonderdruck<br />

aus dem Tätigkeitsbericht der B<strong>und</strong>esregierung. Bonn<br />

1962, S. 4.)


164 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Kriegsbedingte Zwangsmigration<br />

Bei kriegsbedingten Zwangsmigrationen ist zwischen Flüchtlingen,<br />

Vertriebenen <strong>und</strong> Deportierten zu unterscheiden.<br />

Flüchtlinge haben in einem gewissen Rahmen die Entscheidungsfreiheit,<br />

den Zeitpunkt <strong>und</strong> das Ziel ihrer Flucht selbst<br />

zu bestimmen. Vertriebene werden von amtlichen Stellen (Behörde,<br />

Polizei, Militär) gezwungen, ihre Fleimat innerhalb eines<br />

bestimmten Zeitraums zu verlassen, Deportierte werden<br />

zwangsweise von einem Gebiet in ein anderes verschleppt<br />

<strong>und</strong> haben, anders als Flüchtlinge oder Vertriebene, keinen<br />

Einfluss darauf, wohin sie gebracht werden. Oft ist mit Deportation<br />

aucti Zwangsarbeit verb<strong>und</strong>en.<br />

Es hat zu allen Zeitepochen immer wieder große Flüchtlingsströme<br />

gegeben, das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert war Jedoch die Epoche<br />

mit den meisten <strong>und</strong> umfangreichsten Zwangsmigrationen.<br />

In Europa wurden diese Zwangsmigrationen vor allem<br />

durch den Ersten <strong>und</strong> Zweiten Weltkrieg, die ungarische Revolution<br />

von 1956 <strong>und</strong> den Balkankrieg ausgelöst. Aber<br />

auch Afrika, Südasien, Ostasien <strong>und</strong> Palästina haben große<br />

Flüchtlingsströme, Vertreibungen <strong>und</strong> Umsiedlungsaktionen<br />

erfahren. In Europa haben zwischen 1918 <strong>und</strong> 1939 die folgenden<br />

größeren Zwangsmigrationen stattgef<strong>und</strong>en (nach Kulischer<br />

1948, S. 248 ff):<br />

25 Deutschland<br />

26 Iran<br />

27 Pakistan


Bevölkerungsbewegungen 165<br />

• 1,2 Millionen Griechen aus der Türkei nach Griechenland<br />

(1922-23) sowie 0,4 Millionen Türken aus Griechenland<br />

in die Türkei (1921-28)<br />

• 1,15 Millionen Russen aus Russland in das übrige Europa<br />

(1918-22)<br />

• 1,1 Millionen Polen aus Russland nach Polen (1918-25)<br />

• 0,9 Millionen Polen aus dem ehemaligen russischen <strong>und</strong><br />

österreichischen Teil Polens in den früher deutschen Teil<br />

Polens (1918-21)<br />

• 0,7 Millionen Deutsche aus dem westlichen Polen, Danzig<br />

<strong>und</strong> dem Memelgebiet nach Deutschland (1918-25)<br />

• 0,65 Millionen Italiener von Italien nach Frankreich (1919-<br />

39)<br />

• 0,45 Millionen Polen aus Polen nach Frankreich (1919 — 39)<br />

Nach einer amtlichen Publikation des B<strong>und</strong>esministeriums<br />

für Vertriebene, Flüchtlinge <strong>und</strong> Kriegsgeschädigte aus dem<br />

Jahre 1961 beträgt die Zahl der im Gefolge des Zweiten Weltkrieges<br />

in der BRD angekommenen Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebenen<br />

insgesamt 11 730 000 Menschen. Während der Flucht<br />

<strong>und</strong> Vertreibung umgekommen (<strong>und</strong> in den 11,7 Millionen<br />

nicht enthalten) sind nach dieser Quelle 2 111 000 Menschen<br />

(Exkurs „Vertreibung <strong>und</strong> Flucht der Deutschen aus ihren Flei-<br />

matgebieten“). Dazu kommen noch weitere 3 621 300 Menschen,<br />

die zwischen 1945 <strong>und</strong> 1960 aus der DDR <strong>und</strong> Ostberlin<br />

in den Westen geflohen sind (davon 2 738 566 zwischen<br />

1949 <strong>und</strong> 1961) <strong>und</strong> 412 127 Aussiedler, die im Zeitraum von<br />

1950 bis 1960 in die BRD kamen. Weitere 730 000 Deutsche<br />

aus Ostmitteleuropa (vor allem aus Ungarn <strong>und</strong> Rumänien)<br />

wurden nach Kriegsende zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion<br />

verschleppt, wobei 37 Prozent zu Tode kamen.<br />

Aus der DDR flohen vor allem junge Menschen <strong>und</strong> Menschen<br />

mit sogenannten „Intelligenzberufen“ einschließlich Ingenieuren<br />

<strong>und</strong> Technikern. Allein zwischen 1958 <strong>und</strong> 1961<br />

flohen 513 Flochschullehrer (darunter 118 Lehrstuhlinhaber)<br />

<strong>und</strong> 1 606 sonstige Wissenschaftler aus der DDR in den Westen,<br />

was etwa der Wissenschaftlerzahl einer mittelgroßen Universität<br />

entsprach.<br />

Die Wohnraumversorgung der Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebenen<br />

erforderte gewaltige wirtschaftliche Anstrengungen.<br />

Während im September 1950 erst 22 Prozent der Vertriebenenhaushalte<br />

in normalen Wohnungen lebten, waren es 1956<br />

bereits 63 Prozent <strong>und</strong> 1960 71 Prozent. 1956 waren<br />

bereits 10,2 Prozent der Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebenen Flausbesitzer.<br />

Noch im Jahre 1961 war nach dem Tätigkeitsbericht der<br />

B<strong>und</strong>esregierung jeder vierte B<strong>und</strong>esbürger ein Vertriebener<br />

oder Flüchtling, in den B<strong>und</strong>esländern Schleswig-Flolstein<br />

<strong>und</strong> Niedersachsen traf dies sogar auf jeden dritten Einwohner<br />

zu. Nur das Saarland, Rheinland-Pfalz <strong>und</strong> West-Berlin lagen<br />

deutlich unter diesem Durchschnitt.<br />

P. Meusburger<br />

nach der Amerikanischen Revolution zur offiziellen<br />

Siedlungspolitik (Abbildung 3.29).<br />

Die US-amerikanische Regierung förderte dann<br />

für mehr als ein Jahrh<strong>und</strong>ert die West-Migration<br />

im Rahmen der Expansionsstrategie des Staates.<br />

Ziel war es, den Siedlungsdruck im dicht mit Städten<br />

besetzten Osten zu mildern <strong>und</strong> durch die Förderung<br />

des Ideals des autarken Farmers ein Gegengewicht zur<br />

ökonomischen Dominanz dieser wirtschaftlich blühenden<br />

Region zu schaffen. In den 200 Jahren zwischen<br />

1790 <strong>und</strong> 1990 verlagerte sich der Bevölkerungsschwerpunkt<br />

der Vereinigten Staaten immer<br />

weiter nach Westen. Ausgelöst wurde diese Ost-<br />

West-Wanderung vor allem durch Kapitalinvestitionen<br />

<strong>und</strong> Innovationen im Verkehrs- <strong>und</strong> Kommunikationswesen.<br />

Die zweite große Welle, die in den frühen 40erlahren<br />

des vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzte <strong>und</strong><br />

bis in die 70er-Jahre andauerte, bestand in der massiven<br />

<strong>und</strong> sehr raschen Abwanderung von überwiegend<br />

.'Afroamerikanern aus dem ländlich geprägten<br />

Süden in die Städte des Südens, Nordens <strong>und</strong> Westens.<br />

Obwohl es bereits vorher hohe Anteile von Afroamerikanern<br />

in Städten wie Chicago <strong>und</strong> New York<br />

gegeben hatte, wuchs deren Zahl nun enorm an, da<br />

die Aufhebung der Sklaverei <strong>und</strong> die Mechanisierung<br />

der Baumwollernte viele Menschen zur Abwanderung<br />

aus den ländlichen Gebieten veranlasste. Bevor<br />

die Mechanisierung die Zahl der Arbeitsplätze stark<br />

einschränkte, war die Saisonarbeit als Baumwollpflücker<br />

für die Afroamerikaner im Süden der USA<br />

eine sehr wichtige Einnahmequelle. Gleichzeitig gingen<br />

von den großen Städten auch Pull-Effekte aus;<br />

Seit den frühen 40er-Jahren eröffneten sich gute Arbeitschancen<br />

in der Rüstungsindustrie, da die schon<br />

in den Städten lebenden Arbeiter zum Kriegsdienst<br />

eingezogen wurden. In der Nachkriegszeit wirkte<br />

sich ein noch wichtigerer Katalysator auf diese Migration<br />

aus: Die wachsende Bedeutung des Massenkonsums<br />

führte zu einer Umorientierung der Industrie<br />

auf die Konsumgüterproduktion, die wiederum<br />

einen hohen Bedarf an ungelernten <strong>und</strong> angelernten<br />

Arbeitskräften mit sich brachte. Die räumliche Verteilung<br />

der weißen <strong>und</strong> schwarzen Bevölkerung in<br />

den Vereinigten Staaten veränderte sich dadurch<br />

gr<strong>und</strong>legend.<br />

Die dritte Welle der Binnenwanderungen begann<br />

kurz nach dem Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong> dauert bis<br />

heute an. Sie stand in direktem Zusammenhang<br />

mit den Auswirkungen der Verteidigungspolitik der<br />

Regierung sowie mit den Aktivitäten in der Politik<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft des Landes. Nach Kriegsende erlebte<br />

der Teil der Vereinigten Staaten, der südlich des 37.<br />

Breitenkreises liegt <strong>und</strong> früher als sunbelt bezeichnet


1■<br />

166 3 Bevölkerungsgeographie<br />

^ ■<br />

i?<br />

150°W 12(rw<br />

90*0 12(T0 160"O 180'<br />

Ü'<br />

- ■<br />

p-<br />

I I<br />

NOfdbcher Wendekreis<br />

P a z ifi s c h e r<br />

Ozean<br />

PN<br />

i2trw aj-w ^®i..60-w ^ »"W<br />

Liban esen<br />

m e h r a ls 250000<br />

2 5 0 0 0 0 o d e r w e n ig e r<br />

Kurden<br />

m e h r a is 100 000<br />

1 0 0 0 0 0 o d e r w e n ig e r<br />

3.27 Die kurdische <strong>und</strong> libanesische Diaspora im Jahr 1990 Palästinenser, Libanesen <strong>und</strong> Kurden gehören zu jenen<br />

Völkern des Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas, die am weitesten über die ganze Welt verstreut leben. Die Karte zeigt die weltweiten<br />

Zielländer der aus ihrer Heimat ausgewanderten Libanesen <strong>und</strong> Kurden (die Verteilung der palästinensischen Flüchtlinge geht<br />

aus Abbildung 3.29 hervor). (Quelle: Aaron Segal, An Atlas o f International Migration, London, Hans Zell 1993, S. 95, 103)<br />

'f l<br />

wurde, eine Zunahme der Bevölkerung um 97,9 Prozent.<br />

Im gleichen Zeitraum wuchs die Einwohnerzahl<br />

im Mittleren Westen <strong>und</strong> im Nordosten, jenen Regionen,<br />

die als „Snowbelt“, „Frostbelt“ oder auch „Rustbelt“<br />

bezeichnet werden, nur um insgesamt 33,3 Prozent.<br />

In Abbildung 3.30 ist eine Karte des U. S. Census<br />

Bureau wiedergegeben, die für die Jahre 1980 bis 1990<br />

die beträchtlichen Bevölkerungszunahmen in den<br />

westlichen, südwestlichen <strong>und</strong> südöstlichen B<strong>und</strong>esstaaten<br />

belegt. Seit den späten 1980er-Jahren haben<br />

sich der Mittlere Westen <strong>und</strong> Nordosten jedoch stabilisiert<br />

<strong>und</strong> verzeichnen sogar in vielen Fällen einen<br />

Bevölkerungszuwachs.<br />

Die Abbildung 3.31 zeigt die Bevölkerungsveränderung<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zwischen<br />

1990 <strong>und</strong> 1997.<br />

Das durch die Stadt-Rand-Wanderung von Bevölkerung<br />

(<strong>und</strong> Wirtschaftsbetrieben) bewirkte flächenhafte<br />

Wachstum großer städtischer Siedlungen wird<br />

als Suburbanisierung bezeichnet. Die ersten Anzeichen<br />

einer solchen Entwicklung finden sich in den<br />

Vereinigten Staaten schon im späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

als reiche Stadtbewohner begannen, sich in landschaftlich<br />

reizvolleren Gebieten an den Stadträndern<br />

niederzulassen. Später flohen die Bürger vor den<br />

neuen Immigranten <strong>und</strong> deren zunehmendem Einfluss<br />

auf die Stadtpolitik in die suburbs.<br />

Einen erneuten Aufschwung erlebte die Suburbanisierung<br />

dann mit der Einführung neuer Verkehrstechnologien<br />

- zuerst den von Pferden gezogenen<br />

Straßenbahnen, dann den Stadtbahnlinien <strong>und</strong><br />

schließlich dem privaten Pkw. Jede dieser Innovationen<br />

ermöglichte es den Menschen, in der gleichen<br />

oder sogar kürzeren Zeit längere Arbeitswege zurückzulegen.<br />

Sie verlagerten daher in großer Zahl ihren<br />

Wohnsitz in Stadtrandsiedlungen, nicht zuletzt deshalb,<br />

weil viele von ihnen der Ansicht waren - <strong>und</strong><br />

immer noch sind -, dort eine gesündere, sicherere<br />

<strong>und</strong> vor allem auch für Kinder besser geeignete<br />

Wohnumgebung vorzufinden. Übergeordnete wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> politische Entwicklungen beeinflussten<br />

die persönliche Lebensgestaltung zusätzlich.<br />

Für die Umverteilung der amerikanischen Bevölkerung<br />

im Zuge der dritten Wanderungswelle ist<br />

der Pull-Effekt ökonomischer Anreize die wohl<br />

nächstliegende Erklärung. Risikokapital wurde nicht


Bevölkerungsbewegungen 167<br />

3.28 Verteilung der palästinensischen Flüchtlinge in Nahen Osten im Jahr 2000 Die Karte zeigt die Verteilung der aus<br />

Palästina geflohenen Menschen, die in Zeltlagern <strong>und</strong> Siedlungen in den Nachbarländern Israels leben. Eine der größten Streitfragen in<br />

den Verhandlungen zwischen Israelis <strong>und</strong> Palästinensern ist die Frage, ob es den Flüchtlingen erlaubt werden wird, in ihre Fleimat<br />

zurückzukehren, <strong>und</strong> wenn Ja, ob sic dort auch siedeln können —angesichts der Tatsache, dass ihr Land inzwischen größtenteils von<br />

israelischen Siedlern in Besitz genommen wurde. Über 200 000 Juden leben inzwischen auf ehemals palästinensischem Land.<br />

Darunter sind auch einige der radikalsten Jüdischen Nationalisten der Region. Und obwohl es bei der letzten Vertreibungs- <strong>und</strong><br />

Räumungsaktionen zu heftigen Protesten kam, waren die Siedler letztlich gezwungen, das Land zu verlassen, als Teile des Westjordanlandes<br />

wieder unter palästinensischer Kontrolle standen. (Quelle: The Guardian, 14. Oktober 2000, S. 5)


3.29 Die West-Verlagerung des Bevölkerungsschwerpunktes in den Vereinigten Staaten (1790-2000) Wenn bekannt ist,<br />

wo sich der Bövölkerungsschwerpunkt eines Landes zu einer bestimmten Zeit befand, dann können Wanderung, Wachstum,<br />

Verteilung <strong>und</strong> Konzentration der Bevölkerung nachvollzogen werden. Die Abbildung zeigt deutlich die Ausdehnung der amerikanischen<br />

Grenze. Obwohl der Osten schon frühzeitig der am dichtesten besiedelte Teil der USA war, verlagerte sich das demographische<br />

Zentrum nach Westen, als immer mehr Menschen dorthin abwanderten <strong>und</strong> die Bevölkerung des Westens durch die<br />

Zunahme der Geburtenraten anwuchs. (Abdruck mit Erlaubnis der Prentice Hall, aus Rubenstein, J.M., The Cultural Landscape:<br />

An Introduction to Human Geography, 1996, S. 122, weitere Quelle Volkszählungsdaten in den USA, 2000)<br />

U I I<br />

3.30 Die Veränderung der Einwohnerzahi in den B<strong>und</strong>esstaaten der USA zwischen 1980 <strong>und</strong> 1990 Die Karte der Veränderung<br />

der Einwohnerzahlen in den 50 US-B<strong>und</strong>esstaaten von einer Volkszählung zur nächsten lässt erkennen, welche Gebiete<br />

die größten Bevölkerungszuwächse aufweisen <strong>und</strong> wo die Bevölkerung abgenommen hat. Solche Veränderungen haben wichtige<br />

Auswirkungen unter anderem etwa auf die Verteilung von Wahlmännern oder auch auf die Situation von Problemregionen wie<br />

dem Rustbelt mit seinem Verlust an Industriearbeitsplätzen. Die Bevölkerungsumverteilung zugunsten des Sunbelt in jüngerer<br />

Zeit ist ebenso klar erkennbar.<br />

in eine Verbesserung der überalterten <strong>und</strong> absterbenden<br />

Industriegebiete in den Städten des Nordostens<br />

<strong>und</strong> Mittleren Westens investiert, sondern an Standorten<br />

im Sunbelt, wo niedrigere Gr<strong>und</strong>stückspreise<br />

<strong>und</strong> geringere Lohnkosten die Ansiedlung von Produktionsbetrieben<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungsunternehmen<br />

profitabler machten. Zwar zeigt sich in der Volkszählung<br />

von 1990 eine Verringerung der Zuwanderung<br />

in den Sunbelt; doch ist in den Vereinigten Staaten<br />

durch die Veränderungen der Bevölkerungsvertei-


Bevölkerungsbewegungen 169<br />

Bevölkerungsveränderung in den 90er Jahren, nach Raumordnungsregionen<br />

Typen der Bevölkerungsveränderung<br />

Binnenwanderungs-Saldo 1997<br />

in %<br />

4.0<br />

0.0<br />

t<br />

tritt<br />

n ich t auf<br />

i<br />

tritt<br />

n ich t auf<br />

__ ___<br />

-7.3 -4.0 0.0 2.0 4.3<br />

Natürlicher Saldo 1990-1997 in %<br />

Häufigkeiten<br />

□rai<br />

^j~n|Tn<br />

12 37 34 14<br />

Natürlicher Saldo<br />

von 1990 bis 1997 in %<br />

T T T JI<br />

T H<br />

5 28 42 22<br />

Binnenwanderungssaldo<br />

je 1000 Einwohner 1997<br />

Institut für Länderk<strong>und</strong>e. Leipzig 1999 0 2S so 75 imkrn<br />

3.31 Bevölkerungsveränderung in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zwischen 1990 <strong>und</strong> 1997 Die Veränderungen der<br />

Bevölkerungsverteilung zwischen 1990 <strong>und</strong> 1997 wurden im Wesentlichen durch die Ost-West-Wanderung, die Zuwanderungen aus<br />

dem Ausland <strong>und</strong> auch durch die stark gesunkenen Geburtenraten in Ostdeutschland verursacht. Die Abbildung kombiniert den<br />

Binnenwanderungssaldo 1997 mit dem Saldo der natürlichen Bevölkerungsbewegung zwischen 1990 <strong>und</strong> 1997. (Quelle: A/ai/orra/at/as<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Gesellschaft <strong>und</strong> Staat, Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1999.)<br />

lung am Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein räumliches<br />

Muster entstanden, das mit den Strukturen, wie sie<br />

vor 150 Jahren bestanden, nichts mehr gemein hat.<br />

Hierin zeigt sich der bedeutende Einfluss politischer<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Veränderungen auf individuelle<br />

Entscheidungsprozesse.<br />

.Auch in anderen Teilen der Welt hat die Landflucht<br />

ähnlich dramatische Auswirkungen gehabt,<br />

obwohl sich diese auf lokaler <strong>und</strong> regionaler Ebene<br />

teilweise in vollkommen anderer Weise manifestieren<br />

als in den Vereinigten Staaten. Sogenannte Squattersiedlungen,<br />

meist aus Vorgef<strong>und</strong>enen Materialien jeglicher<br />

Art errichtete Hüttenviertel, umgeben ringförmig<br />

alle größeren Städte vieler Entwicklungsländer<br />

<strong>und</strong> stellen die dortigen Behörden bezüglich der Bereitstellung<br />

selbst primitivster Dienstleistungen auf<br />

den Gebieten Ges<strong>und</strong>heit, Abfallbeseitigung, Bildung<br />

<strong>und</strong> Arbeit vor fast unlösbare Probleme. Mancherorts,<br />

etwa in Brasilien, bemüht man sich, die Zuzügler<br />

zu anderen Wohnstandorten umzulenken. So ließ die<br />

brasilianische Regierung Straßen in das Amazonasgebiet<br />

bauen, wodurch manche Migranten in die


170 3 Bevölkerungsgeographie<br />

I ,<br />

Grenzgebiete umgeleitet wurden. Dennoch lastet auf<br />

großen Städten wie etwa Rio de Janeiro ein gewaltiger<br />

Bevölkerungsdruck.<br />

Indonesien hat einen anderen Weg beschritten,<br />

um eine überaus ungleiche Bevölkerungsverteilung<br />

in den Griff zu bekommen. Im Jahre 1990 hatte<br />

das Land ungefähr 180 Millionen Einwohner, von denen<br />

mehr als 60 Prozent auf den Inseln Java <strong>und</strong> Bali<br />

lebten, die zusammen nur 7 Prozent der Landfläche<br />

des Staates einnehmen. Wegen des enormen Bevölkerungswachstums<br />

drängen jährlich 2 Millionen zusätzliche<br />

Jobsuchende auf den Arbeitsmarkt. Die Regierung<br />

hat deshalb Programme entwickelt, die den<br />

Menschen Anreize zum Umzug in weniger dicht besiedelte<br />

Regionen bieten sollen.<br />

Alerdings gehen in Indonesien die Bemühungen<br />

in Richtung einer Umverteilung der Bevölkerung<br />

auf die dünner besiedelten Inseln schon auf die Wende<br />

zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert zurück, als das Gebiet noch<br />

unter niederländischer Kolonialherrschaft stand.<br />

Viele Jahre hindurch bot man ausgewählten Land<strong>und</strong><br />

Arbeitslosen Anreize zur Umsiedlung in neue,<br />

landwirtschaftlich ausgerichtete Siedlungen auf den<br />

äußeren Inseln. Seit 1984 ist die Regierung aber unter<br />

dem Druck eines eingeschränkten Entwicklungsbudgets<br />

dazu übergegangen, Investitionen in arbeitsintensive<br />

Betriebe in bereits bestehenden Siedlungsgebieten<br />

zu fördern. Bisher sind in Indonesien mehr<br />

als 1,5 Millionen Menschen umgesiedelt, über 60 Prozent<br />

von ihnen auf nur eine große Insel, Sumatra.<br />

L<br />

Erzwungene Binnenwanderung<br />

Unter den erzwungenen Wanderungsbewegungen in<br />

den Vereinigten Staaten ist der trail of tears, der „Pfad<br />

der Tränen“, am bekanntesten - eine tragische Episode,<br />

bei der der gesamte Stamm der Cherokee gezwungen<br />

wurde, sein bis dahin durch Verträge gesichertes<br />

Siedlungsgebiet in Georgia zu verlassen <strong>und</strong><br />

nach Oklahoma zu ziehen (Abbildung 3.32). Obwohl<br />

sie sich lange mit legalen Mitteln dagegen gewehrt<br />

hatten, mussten ungefähr 16 000 Cherokees in den<br />

frühen dreißiger Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts quer<br />

über den Kontinent ab wandern. Auf ihrem beschwerlichen<br />

Weg litten sie an Dürre, Hunger, Kälte <strong>und</strong><br />

Krankheit. Man schätzt, dass mindestens ein Viertel<br />

von ihnen die Strapazen nicht überlebte.<br />

3.32 Der T ra il o f T e a rs in den dreißiger Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Der Indian R em o val A c t aus dem Jahre 1830 regelte<br />

den angeblich freiwilligen Tausch von Siedlungsgebieten der Indianerstämme im Osten gegen Land, das die Regierung westlich<br />

des Mississippi erworben hatte, um dort Reservate für die indianische Bevölkerung einzurichten. In \A/irklichkeit schuf das Gesetz<br />

die Gr<strong>und</strong>lage dafür, die zuvor vertraglich zugesicherten Besitzrechte der Indianer zu annulieren. Da diese Rechte von der Regierung<br />

missachtet wurden, blieb den Angehörigen der Choctaw, Chickasaw, Cherokee, Seminole <strong>und</strong> Creek sowie anderer im Osten<br />

beheimateter Stämme letztlich nichts übrig, als nach Westen in die für sie vorgesehenen Gebiete umzusiedeln. Die Karte zeigt<br />

die Wanderungswege dieser Indianerstämme aus ihren angestammten Wohngebieten in die von der B<strong>und</strong>esregierung festgelegten<br />

Indian T e rrito ries. (Quelle: Waldman, C. A tla s o f the N o rth A m e rica n Indian. © 1995 Carl Waldman. Wiedergabe mit<br />

Genehmigung von Facts On File, Inc. New York)


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 171<br />

Berücksichtigt man die nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Zusammenhänge, so lassen sich die erzwungenen<br />

Wanderungen der amerikanischen Urbevölkerung<br />

im Verlauf des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts als eine Folge<br />

weit reichender politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher Entwicklungen<br />

sehen. Es gab eine massive Zuwanderung<br />

von Europäern in die Vereinigten Staaten, <strong>und</strong> die<br />

Wirtschaft stand an der Schwelle einer städtisch-industriellen<br />

Revolution. Die Urbevölkerung der östlichen<br />

Landesteile wurde von den Weißen als ein<br />

Hemmnis für die Ausweitung der Wirtschaft betrachtet,<br />

welche von räumlicher Expansion abhing. Der<br />

wachsende Wohlstand der angloamerikanischen Bevölkerung<br />

war insofern nur durch die Aneignung von<br />

Indianerland zu sichern.<br />

In jüngerer Zeit haben Bürgerkriege, ethnische<br />

Konflikte, Hungersnöte, schlechte wirtschaftliche<br />

Bedingungen <strong>und</strong> politische Unterdrückung in den<br />

Ländern südlich der Sahara, von Südafrika bis zum<br />

Sudan, eine ganze Serie von erzwungenen Binnenwanderungen<br />

ausgelöst. Diesem Prozess kommt in<br />

Verbindung mit internationalen erzwungenen Wanderungen<br />

entscheidende Bedeutung zu, denn 80 Prozent<br />

der weltweiten Bevölkerungszunahme in der<br />

nächsten Dekade werden auf die ärmsten Länder<br />

der Welt entfallen.<br />

Andere Beispiele für erzwungene Binnenwanderungen<br />

in jüngerer Zeit liefern China <strong>und</strong> Südafrika,<br />

ln den späten 1960er- <strong>und</strong> den 1970er-Jahren zwang<br />

die chinesische Regierung im Rahmen der Kulturrevolution<br />

10 bis 17 Millionen Bürger zum Umzug in<br />

die Dörfer, um sie dort umzuerziehen <strong>und</strong> dem Dogma<br />

Mao’s zum Sieg zu verhelfen. Ein anderes Beispiel<br />

betrifft Südafrika in den Jahren zwischen 1960 <strong>und</strong><br />

1980, als die Politik der Apartheid etwa 3,6 Millionen<br />

Schwarze dazu zwang, in die von der Regierung eingerichteten<br />

sogenannten homelands umzusiedeln -<br />

eine Entwurzelung, die viel persönliches Leid ausgelöst<br />

hat.<br />

In jüngster Zeit hat die „Öko-Migration“, eine<br />

durch Degradierung des Bodens <strong>und</strong> wichtiger anderer<br />

natürlicher Ressourcen erzwungene Wanderung,<br />

eine neue Kategorie von Flüchtlingen geschaffen. So<br />

hat etwa in Bangladesh die Besiedlung überschwemmungsgefährdeter<br />

Gebiete seit den 1860er-Jahren zu<br />

hohen Verlusten an Menschenleben <strong>und</strong> Gütern geführt.<br />

Zudem mussten in der Folge bei gefährlichen<br />

Flutereignissen zeitweilig eine beträchtliche Zahl von<br />

I^crsonen zwangsweise umgesiedelt werden. Die<br />

Hungerkatastrophe der Jahre 1984/85 in Äthiopien<br />

war nicht nur eine Folge von Dürre <strong>und</strong> Schädlingsplagen,<br />

die Ursachen lagen ebenso in einer verfehlten<br />

staatlichen Politik sowie in Maßnahmen der Regierung,<br />

welche vorwiegend der städtischen Bevölkerung<br />

zugute kamen, während man die von Umweltbeeinträchtigungen<br />

in besonderem Maße betroffenen<br />

Landbewohner ihrem Schicksal überließ. Schließlich<br />

zwingen Dammbauten <strong>und</strong> Bewässerungsprojekte<br />

weltweit jährlich 1 bis 2 Millionen Menschen zur Abwanderung.<br />

Im Sommer 2002 waren in Malawi, Simbabwe, Lesotho<br />

<strong>und</strong> Angola 10 Millionen Menschen mit dem<br />

Hungertod konfrontiert, woraufhin H<strong>und</strong>erttausende<br />

ihre Dörfer auf der Suche nach Nahrung <strong>und</strong> Arbeit<br />

verließen <strong>und</strong> in die Städte zogen.<br />

Bevölkerungsprobleme<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungspolitik<br />

Eine zentrale Frage lautet; Wie viele Menschen kann<br />

die Erde verkraften, ohne dass die vorhandenen Ressourcen<br />

aufgebraucht oder in kritischem Maße ausgebeutet<br />

werden? Der Zusammenhang zwischen Bevölkerungszahl<br />

<strong>und</strong> verfügbaren Ressourcen <strong>und</strong> die<br />

Frage, ob die Tragfähigkeit der Erde schon überschritten<br />

ist, beschäftigt Bevölkerungspolitiker <strong>und</strong><br />

Experten seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

I Bevölkerung <strong>und</strong> Ressourcen<br />

Ausgelöst wurde die Debatte über die Tragfähigkeit<br />

der Erde durch die Schriften des englischen Geistlichen<br />

Thomas Robert Malthus (1766-1834), der in<br />

seiner Theorie über das Verhältnis von Bevölkerungszahl<br />

<strong>und</strong> Nahrungsangebot die Ressourcen als limitierenden<br />

Faktor des Bevölkerungswachstums erkannte.<br />

Seine Überlegungen wurden 1798 in einem<br />

berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel An<br />

Essay on the Principle of Population veröffentlicht.<br />

In dieser Schrift formuliert Malthus die These, dass<br />

sich die Bevölkerung in geometrischer Reihe, die<br />

Nahrungsmittelproduktion aber nur in arithmetischer<br />

Reihe vermehre.<br />

Das Werk von Malthus muss im historischen Kontext<br />

seiner Zeit gesehen werden. In der englischen<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> Industrie war es damals - in erster<br />

Linie aufgr<strong>und</strong> von technologischen Innovationen<br />

- zu gewaltigen Veränderungen gekommen. Dadurch<br />

waren traditionelle Formen der Arbeit schneller verloren<br />

gegangen, als neue Arbeitsplätze geschaffen<br />

werden konnten. Unter diesen Bedingungen etablierte<br />

sich in der wohlhabenden Oberschicht Englands


172 3 Bevölkerungsgeographie<br />

K<br />

Iw " “<br />

allgemein die Auffassung, dass in der Bevölkerung ein<br />

Überschuss an Arbeitskräften existiere, für die es<br />

keine Verwendung gebe. Die vielen, die in der Landwirtschaft<br />

kein Auskommen mehr fanden, wurden zu<br />

einer Last für die Armenfürsorge. Man erließ sogenannte<br />

poor laws, um das Bettlerwesen <strong>und</strong> das Verhalten<br />

der Bettler in der Öffentlichkeit zu reglementieren.<br />

In der oben erwähnten Schrift bestand Malthus darauf,<br />

dass das menschliche Reproduktionsvermögen<br />

unendlich viel größer sei als das Potenzial des Bodens,<br />

die notwendigen Nahrungsmittel zu liefern. Er<br />

glaubte, aus dieser Prämisse ein Naturgesetz ableiten<br />

zu können, nach dem die wachsende Bevölkerung<br />

unweigerlich das begrenzte Nahrungsangebot erschöpfen<br />

müsse. Als Lösung für dieses Ungleichgewicht<br />

propagierte Malthus die Einführung von Gesetzen,<br />

welche die menschliche Reproduktion, insbesondere<br />

armer Bevölkerungsschichten, regeln <strong>und</strong> begrenzen<br />

sollte.<br />

Die Thesen von Malthus blieben durchaus nicht<br />

unwidersprochen, <strong>und</strong> einflussreiche Denker wie<br />

William Godwin, Karl Marx <strong>und</strong> Friedrich Engels kritisierten<br />

seine Prämissen <strong>und</strong> Vorstellungen. Godwin<br />

argumentierte, dass kein Übel die Menschheit treffen<br />

könnte, das diese nicht auch zu beseitigen in der Lage<br />

sei. Marx <strong>und</strong> Engels stimmten im Wesentlichen darin<br />

überein, dass technologische Entwicklung <strong>und</strong><br />

eine gerechte Verteilung der Ressourcen das Problem<br />

lösen würden.<br />

Die Debatte über diese Fragen hat auch viele Geographen<br />

beschäftigt (unter anderem Albrecht Penck)<br />

<strong>und</strong> dauert bis heute an, wobei für beide Gr<strong>und</strong>haltungen<br />

immer wieder interessante <strong>und</strong> überzeugende<br />

Argumente vorgebracht werden. Neben anderen hat<br />

sich auch der Geograph David Harvey mit der Beziehung<br />

zwischen der Bevölkerung <strong>und</strong> den natürlichen<br />

Ressourcen intensiv beschäftigt <strong>und</strong> die Mängel ini<br />

Ansatz von Malthus aufgezeigt. In Anlehnung an<br />

Marx postuliert Harvey, dass ganz andere Sichtweisen<br />

<strong>und</strong> Lösungen dieses Problems gef<strong>und</strong>en werden<br />

können. Diese, so seine Auffassung, gründeten auf<br />

menschlicher Kreativität <strong>und</strong> im sozialen Kontext geschaffenen<br />

Innovationen, mit deren Hilfe sich durch<br />

technologischen <strong>und</strong> sozialen Wandel Möglichkeiten<br />

böten, die nur scheinbar limitierenden Umweltbedingungen<br />

zu überwinden (Exkurs „Bevölkerungsmaximum<br />

- Bevölkerungsoptimum“).<br />

Die Neo-Malthusianer, die auch gut 200 Jahre<br />

nach Malthus’ Schrift über die Prinzipien des Bevölkerungswachstums<br />

von der Richtigkeit der darin formulierten<br />

Thesen überzeugt sind, sagen eine „Bevölkerungskatastrophe“<br />

voraus. Sie glauben, dass die<br />

ständig wachsende Weltbevölkerung die Ressourcen<br />

erschöpfen könnte <strong>und</strong> damit die größte Gefahr<br />

für die Umwelt darstellt. Obwohl sie betonen, dass<br />

es die Bewohner der industriellen Kernländer sind,<br />

die den weitaus größten Teil der natürlichen Ressourcen<br />

verbrauchen, vertreten sie <strong>und</strong> andere doch die<br />

Ansicht, dass nur eine strikte weltweite Geburtenkontrolle<br />

das Problem lösen kann. Selbst Zwangsmaßnahmen<br />

der Geburtenbeschränkung dürften dabei<br />

kein Tabuthema sein.<br />

Anhänger eines gemäßigteren Ansatzes argumentieren<br />

jedoch, dass das Verhalten einer Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> die Politik einer Regierung viel größeren Einfluss<br />

auf die Umweltbedingungen <strong>und</strong> die künftige Verfügbarkeit<br />

natürlicher Ressourcen haben als die Bevölkerungszahl<br />

als solche. Die Vertreter dieser Denkrichtung<br />

lehnen es ab, die Bevölkerungsfrage als rein biologisches<br />

Problem zu sehen, in dessen Konsequenz<br />

eine stetig wachsende Bevölkerung zwangsläufig in<br />

die ökologische Katastrophe führt. Sie weisen auch<br />

das wirtschaftlich begründete Szenario zurück.<br />

Bevölkerungsmaximum - Bevölkerungsoptimum<br />

Unter Bevölkerungsmaximum versteht man die größte Anzahl<br />

von Personen, die in einem Raum unter den gegebenen<br />

naturräumlichen, sozioökonomischen <strong>und</strong> kulturellen Bedingungen<br />

gerade noch das Existenzminimum erreicht. Die Frage<br />

nach dem Bevölkerungsmaximum steht im Zusammenhang<br />

mit der Übervölkerung eines Raumes <strong>und</strong> unterliegt im<br />

Vergleich zum Bevölkerungsoptimum rein quantitativen Gesichtspunkten.<br />

Das Bevölkerungsmaximum ist ein Grenzwert,<br />

der sich aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren<br />

wie Wirtschaftskraft, Handel, verfügbare Technologie, Ressourcen,<br />

Infrastruktur oder Lebensstandard ergibt, <strong>und</strong> ist<br />

eine Orientierung zur Berechnung der Tragfähigkeit eines<br />

Raumes.<br />

Bevölkerungsoptimum ist die Anzahl von Personen, die<br />

zu einem bestimmten Zeitpunkt <strong>und</strong> bei maximaler Nutzung<br />

der Ressourcen den höchst möglichen Lebensstandard erlaubt.<br />

Weder eine Verringerung der Einwohnerzahl noch<br />

ihre Erhöhung erbringt Vorteile für die betrachtete Bevölkerung.<br />

Das Bevölkerungsoptimum ist im Vergleich zum Bevölkerungsmaximum<br />

qualitativ zu interpretieren <strong>und</strong> unterliegt<br />

Wertungen <strong>und</strong> Zielsetzungen. Als Indikatoren können zum<br />

Beispiel Bruttoinlandsprodukt je Kopf, Arbeitslosigkeit, Lebenserwartung,<br />

Wohnversorgung, Umweltbelastung <strong>und</strong> so<br />

weiter herangezogen werden.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 173<br />

nach dem technologische Innovationen <strong>und</strong> sensible<br />

Marktmechanismen das Bevölkerungswachstum<br />

steuern <strong>und</strong> damit eine Katastrophe verhindern würden.<br />

Für sie ist das Problem eher ein politisches, <strong>und</strong><br />

zwar eines, mit dem sich die Regierungen bisher nicht<br />

beschäftigt haben, weil es ihnen an Willen <strong>und</strong> Bereitschaft<br />

mangelt, einen Prozess der Umverteilung von<br />

Wohlstand oder Ressourcen zur Verminderung der<br />

Armut - einem mit starkem Bevölkerungswachstum<br />

eng korrelierenden Phänomen - in Gang zu setzen.<br />

Diese Sorge hat zur Gründung internationaler Organe<br />

geführt, die das Bevölkerungswachstum beobachten<br />

<strong>und</strong> oft auch zu beeinflussen versuchen.<br />

Des Weiteren zielte eine ganze Reihe von internationalen<br />

Konferenzen darauf ab, einer weltweit akzeptablen<br />

Bevölkerungspolitik schrittweise näher zu kommen.<br />

Vielfach stützen sich solche politischen Bemühungen<br />

auf den Gr<strong>und</strong>gedanken, dass Länder <strong>und</strong><br />

Regionen nur dann eine bessere Ghance zur Erhöhung<br />

ihres Entwicklungsstandes erhalten, wenn es ihnen<br />

gelingt, die Bevölkerung davor zu bewahren, die<br />

natürlichen Ressourcen zu erschöpfen <strong>und</strong> den Arbeitsmarkt<br />

zu überlasten.<br />

Bevölkerungspolitik <strong>und</strong><br />

I Bevölkerungsprogramme<br />

Die gegenwärtigen Befürchtungen - besonders die,<br />

dass es möglicherweise schon heute mehr Menschen<br />

gibt, als die Erde verkraften kann - haben zur Entwicklung<br />

internationaler <strong>und</strong> nationaler politischer<br />

Maßnahmen <strong>und</strong> Programme geführt. Unter Bevölkerungspolitik<br />

versteht man Regierungsvorhaben,<br />

die auf die Lösung aller oder eines Teils der Probleme<br />

abzielen, die sich aus der Größe, Zusammensetzung<br />

<strong>und</strong> Verteilung einer Bevölkerung ergeben. Mithilfe<br />

von Bevölkerungsprogrammen versucht man, diese<br />

Konzepte in die Praxis umzusetzen. Während die Bevölkerungspolitik<br />

Ziele festlegt, stellen Programme<br />

das Werkzeug zu deren Verwirklichung dar.<br />

Das Ziel der internationalen Bevölkerungspolitik<br />

in den letzten beiden Jahrzehnten war meist eine<br />

weltweite Verringerung der Geburtenzahl. Um dies<br />

zu erreichen, setzte man in erster Linie auf Programme<br />

zur Geburtenkontrolle <strong>und</strong> Familienplanung<br />

(Exkurs „Familienplanungsprogramme“). Dahinter<br />

stand die Sorge vor einer unkontrollierten Zunahme<br />

der Weltbevölkerung, an der die Peripherie<br />

<strong>und</strong> die Semiperipherie deutlich höheren Anteil ha-<br />

3.33 Projektion der Entwicklung der Weltbevölkerung nach Großregionen bis 2150 Die Abbildung zeigt die mittlere<br />

Variante der weltweiten Bevölkerungsentwicklung, eine Variante, die in der Mitte dreier möglicher Szenarien angesiedelt ist. In<br />

dieser Projektion wächst die Bevölkerung in den peripheren Ländern, allerdings in unterschiedlichem Maße. Der größte Bevölkerungsanstieg<br />

wird in Afrika erwartet, gefolgt von Asien (ohne China), für das geschätzt wird, dass sich der Bevölkerungsanstieg<br />

bis zum Jahr 2150 stabilisieren wird. Weniger dramatisch sind die Voraussagen für Lateinamerika. Für die Kernländer der Erde<br />

wird erwartet, dass das Bevölkerungswachstum bis 2150 ungefähr gleich bleibt oder langsam zurückgeht. Obwohl die Gesamtbevölkerungszahl<br />

bis zum Jahr 2150 enorm ansteigen wird, deuten die Voraussagen der mittleren Variante auf ein allmähliches<br />

Einpegeln des Bevölkerungswachstums hin. (Quelle: Hauchler, L, Kennedy, P., Global Trends: The World Almanac o f Development<br />

and Peace. 1994, S. 109)


174 3 Bevölkerungsgeographie<br />

1'<br />

r<br />

i<br />

i - '<br />

h<br />

; ■<br />

■' \<br />

4, -■ :<br />

3.34 Die Weltbevölkerung im Jahre 2020 Die Karte gibt eine Vorstellung davon, wie sich die Bevölkerungszahlen der einzelnen<br />

Länder bis zum Jahre 2020 verändern könnten. Auch wenn für die Mehrzahl der Staaten ein Bevölkerungsanstieg erwartet wird,<br />

so dürften die Unterschiede von Land zu Land doch enorm sein. So geht man etwa für Saudi-Arabien <strong>und</strong> Afghanistan von einem<br />

deutlichen Anstieg aus, während in den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Europa mit nur geringfügig zunehmenden oder stagnierenden<br />

Bevölkerungszahlen zu rechnen ist. Für Italien wird ein Bevölkerungsrückgang prognostiziert, für die Niederlande ein Wachstum<br />

um lediglich fünf Prozent.<br />

ben als die Länder der Kernregion. Eine Begleiterscheinung<br />

des ungleichen Bevölkerungswachstums<br />

in Industriestaaten <strong>und</strong> Entwicklungsländern ist<br />

eine deutlich ausgeprägte soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Ungleichheit sowie eine allumfassende Degradierung<br />

<strong>und</strong> Zerstörung der Umwelt.<br />

Abbildung 3.33 zeigt das aktuelle <strong>und</strong> bis 2150 erwartete<br />

Bevölkerungswachstum in den verschiedenen<br />

Regionen der Erde. Besonders deutlich wird hier der<br />

Unterschied zwischen der Entwicklung in den Kernländern<br />

<strong>und</strong> der Peripherie. Der United Nations<br />

Population F<strong>und</strong> geht davon aus, dass die Weltbevölkerung<br />

in jedem Jahr um 90 Millionen Menschen<br />

wächst. Das bedeutet, dass bei einem Anhalten des<br />

derzeitigen Trends um das Jahr 2050 fast 9 Milliarden<br />

erreicht sein werden. Im Vergleich dazu betrug<br />

der Bevölkerungszuwachs während des gesamten<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts weniger als 1 Milliarde. In Abbildung<br />

3.34 ist die wahrscheinliche Entwicklung der<br />

Weltbevölkerung bis 2020 dargestellt.<br />

Das Verteilungsbild der erwarteten Bevölkerungsentwicklung<br />

ist interessant. Demnach wäre der Zuwachs<br />

fast ausschließlich auf Afrika, Asien <strong>und</strong> Lateinamerika<br />

konzentriert, während die Bevölkerungszahlen<br />

in Europa <strong>und</strong> Nordamerika nur geringfügig<br />

ansteigen oder teilweise sogar zurückgehen würden.<br />

Die in Tabelle 3.2 aufgeführten unterschiedlichen Raten<br />

des natürlichen Bevölkerungswachstums verdeutlichen<br />

diesen Sachverhalt.<br />

An der Wende zum 21. Jahrh<strong>und</strong>ert fanden sich<br />

im wirtschaftlichen Zentrum des globalen Systems<br />

32 Staaten mit Nullwachstum oder Bevölkerungsabnahme,<br />

in der Peripherie dagegen 39 mit natürlichen<br />

Zuwachsraten von 3,0 Prozent <strong>und</strong> darüber. Eine<br />

solche Zuwachsrate bedeutet, dass sich die Bevölkerung<br />

innerhalb von etwa 24 Jahren verdoppelt. Angesichts<br />

dieser Besorgnis erregenden Situation <strong>und</strong><br />

der daraus erwachsenden Konsequenzen für die<br />

Lebensqualität <strong>und</strong> die Umwelt hat man sich zu<br />

gemeinsamen Aktionen auf internationaler Ebene<br />

entschlossen.<br />

Unter der Regie der Vereinten Nationen finden in<br />

Zehnjahresabständen internationale Konferenzen zur<br />

Erarbeitung globaler bevölkerungspolitischer Ziele<br />

<strong>und</strong> Richtlinien statt. Aus jeder dieser Zusammenkünfte<br />

resultieren klar formulierte Forderungen zur


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 175<br />

Familienplanungsprogramme<br />

Familienplanungsprogramme haben zur Aufgabe, Leistungen<br />

<strong>und</strong> Methoden zur Empfängnisverhütung in einer Bevölkerung<br />

bekannt zu machen, zu verbreiten <strong>und</strong> anzubieten. Familienplanung<br />

<strong>und</strong> damit eine Geburtenkontrolle ist zurzeit weltweit<br />

für über 100 Millionen Frauen nicht möglich, da sie keinen<br />

Zugang zu Verhütungsmitteln haben. Hinter diesem unmet<br />

need stehen nicht nur das Problem der Verfügbarkeit von Verhütungsmitteln,<br />

sondern auch mangelnde Kenntnis, kulturelle<br />

Traditionen sowie die Ablehnung von Geburtenkontrolle durch<br />

den männlichen Partner. Familienplanungsprogramme sollten<br />

daher auf Aufklärung, Freiwilligkeit, ges<strong>und</strong>heitlich unbedenkliche<br />

Methoden, Berücksichtigung des sozialen Umfeldes <strong>und</strong><br />

die Einbeziehung der Ehemänner setzen. Wichtig bei der Aufklärung<br />

sind auch Ansprechpartner gleichen Geschlechts.<br />

Quelle: P. Gans In: Lexikon der Geographie<br />

Herabsetzung der Fertilität in Industrie- <strong>und</strong> Entwicklungsländern.<br />

1974 wurde eine solche Konferenz<br />

in Bukarest (Rumänien) abgehalten. Damals wurden<br />

zwei gegensätzliche Wege zur Verringerung des Bevölkerungsanstiegs<br />

vorgeschlagen <strong>und</strong> teilweise sogar<br />

die Meinung vertreten, dass das Problem der Überbevölkerung<br />

in Wirklichkeit gar nicht existiere. Während<br />

die Industrieländer davor warnten, dass durch<br />

eine zu große Zahl von Geburten in den gering entwickelten<br />

Ländern der Peripherie eine „demographische<br />

Zeitbombe“ ticke, beschuldigten diese Länder<br />

ihrerseits die Industriestaaten des beabsichtigten Genozids.<br />

Sie argumentierten, dass nicht die Peripherie,<br />

sondern die Kernländer durch ihre Industrien <strong>und</strong><br />

den hohen Verbrauch von natürlichen Ressourcen,<br />

etwa des Erdöls, die Hauptverursacher von Umweltschädigungen<br />

seien. Der beste Weg zur Verringerung<br />

der Fertilität sei nicht Familienplanung, wie die Kernländer<br />

vorschlügen, sondern wirtschaftliche Entwicklung.<br />

Zehn Jahre nach Bukarest wurden in Mexiko-<br />

Stadt allerdings die genau entgegengesetzten Standpunkte<br />

vertreten: Die peripheren Staaten forderten<br />

mehr Familienplanungsprogramme <strong>und</strong> die kostenlose<br />

Verteilung von Kontrazeptiva, während die Länder<br />

der Kernregion die Ansicht vertraten, Entwicklung<br />

sei das „beste Verhütungsmittel“.<br />

Tabelle 3.2 Weltweite demographische Indikatoren im Jahr 2004 Die Tabelle zeigt den enormen Bevölkerungsdruck der<br />

von den peripheren Ländern ausgeht. Ihre Bevölkerung ist seit 1998 ungefähr viermal so groß wie die Bevölkerung der Kernländer<br />

<strong>und</strong> weist eine natürliche Zuwachsrate auf, die ebenfalls etwa viermal so hoch ist wie die der Kernländer. In den asiatischen Ländern<br />

lebt der größte Anteil der weltweiten Bevölkerung. Dennoch gilt die natürliche Zuwachsrate in Asien als gemäßigt <strong>und</strong> das wirtschaftliche<br />

Entwicklungsniveau ist - gemessen am Bruttosozialprodukt - höher als der Durchschnitt aller peripheren Länder.<br />

Am stärksten beunruhigt sind die Demographen über die Bevölkerungsdynamiken in Afrika, das eine natürliche Zuwachsrate von<br />

jährlich 2,4 Prozent <strong>und</strong> ein durchschnittliches Bruttosozialprodukt von nur 2 100 US-Dollar pro Kopf verzeichnet<br />

:Region<br />

1<br />

i<br />

Bevölkerung<br />

Mitte 2004<br />

(in Millionen)<br />

natürliches<br />

Wachstum<br />

(Jährliche<br />

Zunahme in<br />

Prozent)<br />

Geburtenrate<br />

Üe 1 000<br />

Menschen)<br />

Sterberate<br />

üe 1000<br />

Menschen)<br />

Lebenserwartung<br />

(Jahre zum<br />

Zeitpunkt der<br />

Geburt)<br />

BSP pro<br />

Kopf<br />

(US-Dollar<br />

2004)<br />

Welt 6 396 1,3 21 9 67 7 590<br />

höher entwickelte Länder 1 206 0,1 11 10 76 23 690<br />

geringer entwickelte Länder 5 190 1,5 24 8 65 3 850<br />

Afrika 885 2,4 38 14 52 2 100<br />

Asien 3 875 1,3 20 7 67 4 610<br />

Lateinamerika <strong>und</strong> Karibik 549 1,6 22 6 72 6 820<br />

Europa 728 -0,2 10 12 74 17 730<br />

Nordamerika 326 0,5 14 8 78 35 390<br />

Australien, Neuseeland<br />

<strong>und</strong> südpazifische Inseln<br />

33 1,0 17 7 75 19 960<br />

Quelle: 2004 Worlds Population Data Sheet. Washington DC. Population Reference Bureau


176 3 Bevölkerungsgeographie<br />

1970er-Jahre] hatten etliche schwarzafrikanische Staaten der schwarzafrikanischen Christen <strong>und</strong> Moslems [glaubt] bis<br />

t: -■<br />

einen annähernd gleichen sozioökonomischen Standard wie heute fest an eine reale Machtausübung der Ahnen - <strong>und</strong> folglich<br />

auch an die metaphysische Verpflichtung, fruchtbar zu<br />

t -: / damals weite Teile Süd- <strong>und</strong> Südostasiens. ... [Schon 1990]<br />

Hohe Geburtenraten in Schwarzafrika -<br />

Warum Famiiienpianungsprogramme wenig bewirken<br />

i :4<br />

Oft wird seine Rückständigkeit betont: Einkommens- <strong>und</strong> Bildungsstand,<br />

medizinische Versorgung wie Urbanisierung seien<br />

geringer als anderswo - <strong>und</strong> die bescheidenen Fortschritte<br />

seien auch erst später erreicht worden als etwa in Asien. Doch<br />

Die obersten Götter Schwarzafrikas sind ... in erster Linie<br />

für Fruchtbarkeit zuständig - für die der Menschen wie für die<br />

des Ackers. Darin ... wurzelt die gläubige Überzeugung, dass<br />

nur eine Frau, die schon viele Kinder geboren hat <strong>und</strong> weitere<br />

all diese Faktoren erklären die anhaltend hohe Fertilität in den gebären wird, tugendsam ist; wenn nicht, muss sie sündig,<br />

^■ r_ i<br />

Ländern südlich der Sahara nicht wirklich. [Noch Mitte der wenn nicht gar von Gr<strong>und</strong> auf böse sein.... [Auch die] Mehrheit<br />

sieht dies ganz anders aus. In Asien sind die Einkommen<br />

viel schneller gestiegen als in Afrika [<strong>und</strong> auch die] Fertilität<br />

[ist] in Asien um mehr als ein Drittel gesunken. ... Die asiatischen<br />

Staaten verdanken diesen Erfolg rigorosen staatlichen<br />

Programmen zur Familienplanung.... Kenia <strong>und</strong> Ghana führten<br />

ihre Familienplanungsprogramme etwa gleichzeitig ein wie Indonesien<br />

<strong>und</strong> Thailand; in Asien sind jedoch r<strong>und</strong> sechsmal so<br />

viel Frauen zu wirksamen Empfängnisverhütungsmethoden<br />

übergegangen.<br />

In Afrika versagten die Programme nicht deshalb, weil<br />

empfängnisverhütende Mittel nicht verfügbar gewesen wären,<br />

sondern großenteils deshalb, weil niemand sie haben wollte.<br />

... Es ist ein Problem der Einstellung: Während in anderen Entwicklungsländern<br />

- selbst in den ärmsten Gebieten Asiens<br />

<strong>und</strong> Lateinamerikas - die Frauen ... glücklich sind, wenn<br />

sie es bei vier Kindern belassen können, wünscht sich eine<br />

Afrikanerin durchschnittlich doppelt so viele, <strong>und</strong> die afrikanischen<br />

Männer, ohnehin häufig polygam, streben eine noch<br />

größere Familie an.<br />

Die wichtigste Ursache für den Kinderreichtum Schwarzafrikas<br />

sehen wir in gesellschaftlichen <strong>und</strong> familiären Strukturen,<br />

wie sie unter den dortigen Lebensbedingungen über viele<br />

Generationen entstanden sind. Hier herrschen völlig andere<br />

Verhältnisse als etwa in Europa oder in Asien. ...<br />

In Schwarzafrika ist das soziale Leben auf eine ganz eigene<br />

Weise mit dem religiösen verwoben, <strong>und</strong> dieses sozioreligiöse<br />

System, das die hohe Fertilität fortbestehen lässt, unterscheidet<br />

sich gr<strong>und</strong>sätzlich von denen in Europa, Asien oder Amerika.<br />

Es wäre falsch zu sagen, es sei primitiver, stärker alten<br />

Traditionen verhaftet oder rückständiger. Es ist einfach ganz<br />

anders. ...<br />

Die Seele des afrikanischen Gesellschaftsverständnisses<br />

ist die hohe Wertschätzung von Ahnen <strong>und</strong> Stammlinie.<br />

[Dies äußert sich] in dem Glauben, dass die Geister der Ahnen<br />

das Leben ihrer Nachfahren tatkräftig mitbestimmen. Im sozialen<br />

Verhalten wirkt sich das so aus, dass man sich aufs<br />

engste an die Sippe geb<strong>und</strong>en fühlt: Die innere Heimat -<br />

<strong>und</strong> oft auch das Zuhause für das ganze Leben - bietet die<br />

Herkunftsfamilie, [nicht die Beziehung zum Ehepartner]. ...<br />

Der Glaube an die übermächtige Bedeutung der Ahnengeister<br />

<strong>und</strong> an die auferlegte Verpflichtung der Nachkommen,<br />

den Fortbestand der eigenen Ahnenlinie zu sichern, hat das<br />

soziale Selbstverständnis tief geprägt: Die Stammeslinie<br />

wird als Zentrum <strong>und</strong> gleichsam ewige Institution verstanden,<br />

in der die Lebenden lediglich als Bewahrer auf Zeit eingesetzt<br />

sind. ...<br />

sein. ...<br />

Frauen haben in der afrikanischen Gesellschaft doppelten<br />

Wert: weil sie die Kinder gebären <strong>und</strong> weil sie den Großteil der<br />

Feldarbeit leisten. ... Man unterscheidet auch nicht so strikt<br />

zwischen ehelichen <strong>und</strong> unehelichen Kindern. Vielmehr zählt<br />

vor allem die Fruchtbarkeit. So sind denn auch die emotionalen<br />

Bindungen <strong>und</strong> ökonomischen Verpflichtungen durch eine<br />

Ehe ziemlich schwach ausgeprägt; die Trennungsquote ist in<br />

vielen Regionen hoch. Und vielfach ist die Polygynie noch üblich:<br />

Typischerweise teilen 20 bis 50 Prozent der Frauen ihren<br />

Mann mit anderen Ehefrauen, <strong>und</strong> die meisten müssen damit<br />

rechnen, dass er sich noch Nebenfrauen nehmen wird. ... Infolge<br />

der besonderen Eheform gilt in Afrika als soziale Gr<strong>und</strong>einheit<br />

nicht die Familiengemeinschaft aus Eltern <strong>und</strong> Kindern,<br />

sondern nur die Frau mit ihren Kindern, die ... auch größtenteils<br />

selbst für sich <strong>und</strong> diese Kinder zu sorgen hat. [Weil in<br />

Afrika die Väter <strong>und</strong> Mütter oft gar nicht die Hauptlast des<br />

Unterhalts ihrer Kinder tragen, sind auch die Erwartungen<br />

westlicher Bevölkerungswissenschaftler nicht eingetroffen,<br />

dass die Kinderzahl aus ökonomischen Gründen eingeschränkt<br />

werde.]<br />

In Afrika ist auch die Versorgung unehelicher Kinder meist<br />

kein sonderliches Problem: Die Verwandtschaft nimmt sie gewöhnlich<br />

gern auf als ein willkommenes weiteres Glied der<br />

Sippe. Diese zu vergrößern <strong>und</strong> fortzuführen, zählt mehr als<br />

die Keuschheit der Frau vor der Ehe. ... Die verheiratete afrikanische<br />

Frau ist zwar, was ihre Sexualität angeht, erstaunlich<br />

frei; aber darüber, ob sie noch ein weiteres Kind bekommen<br />

sollte, hat sie so gut wie kein Mitspracherecht. Mit Entrichten<br />

des Brautpreises ... gehören die Kinder aus der Ehe zur<br />

Stammlinie des Mannes; deshalb bestimmen allein er <strong>und</strong><br />

seine Sippe, ob Kinder gezeugt werden, ln Ibadan bek<strong>und</strong>ete<br />

nicht einmal 1 Prozent der verheirateten Frauen, sie könnten<br />

auch nur daran denken, sich gegen den Willen ihres Mannes<br />

gegen weitere Kinder zu entscheiden. ...<br />

Gewöhnlich erhält ein Vater von seinen Kindern mehr, als<br />

er für sie aufwendet - <strong>und</strong> sogar, wenn er Frau <strong>und</strong> Kinder<br />

vernachlässigt oder ausgesprochen schlecht behandelt, werden<br />

seine Kinder ihn das nicht durch nachlassende Fürsorge<br />

spüren lassen.<br />

[In Afrika gibt es] kein einfaches Konzept dafür, von wem<br />

ein Kind zu versorgen sei. Da viele Männer von mehr als einer<br />

Frau Kinder haben, sind Halbgeschwister genau so alltäglich<br />

<strong>und</strong> akzeptiert wie Vollgeschwister. Und das Oberhaupt einer<br />

ländlichen Sippe mit alten Lebenstraditionen legt auch Wert<br />

darauf, dass seine Kinder nicht etwa zwischen ihren eigenen


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 177<br />

Sprösslingen <strong>und</strong> ihren Nichten <strong>und</strong> Neffen einen Unterschied<br />

machen. In Nigeria, der Elfenbeinküste, Sierra Leone <strong>und</strong> noch<br />

in einigen anderen Staaten leben, wie ... Untersuchungen ergaben,<br />

mitunter die Hälfte aller Kinder nicht bei ihren biologischen<br />

Eltern. Oft werden sie von Onkeln <strong>und</strong> Tanten großgezogen.<br />

... Aufgr<strong>und</strong> dieser komplizierten Abhängigkeiten hat<br />

eine Frau nicht zwangsläufig so viele Kinder zu versorgen,<br />

wie sie selbst geboren hat; deshalb wird sie auch kaum aus<br />

wirtschaftlichen Überlegungen eine Geburtenkontrolle wünschen.<br />

[Auch] die Besitzverhältnisse stützen solche Beziehungsstrukturen<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen. Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden gehören<br />

der ganzen Sippe.... Anders als in Eurasien, wo große Familien<br />

ihren Landbesitz durch Erbteilung schließlich aufsplittern, sind<br />

[große] Familien in Afrika im Vorteil: Sie können eher Äcker<br />

oder Weiderechte hinzugewinnen. Da im Übrigen niemand<br />

Agrarland als individuelles Eigentum haben kann <strong>und</strong> teure<br />

landwirtschaftliche Geräte bis in die Gegenwart kaum gebräuchlich<br />

waren, konnte man in die Landwirtschaft nur Menschen<br />

investieren. In diesem Sinne gilt als wohlhabend, wer<br />

als Sippenoberhaupt viele Frauen <strong>und</strong> Kinder auf dem Feld arbeiten<br />

lassen kann. ...<br />

Unfruchtbaren Frauen hat man früher übel mitgespielt: Sie<br />

mussten zu ihrer Stammsippe zurückkehren <strong>und</strong> wurden dann<br />

oft selbst dort für den Rest ihres Lebens in eine Hütte außerhalb<br />

des Dorfes verbannt, damit sie niemandem durch ihre<br />

Nähe schadeten. ...<br />

Noch auf der Weltbevölkerungskonferenz in Bukarest<br />

1974 äußerten sich fast alle afrikanischen Regierungen<br />

sehr skeptisch gegenüber nationalen Familienplanungsprogrammen;<br />

nur Kenia <strong>und</strong> Ghana hatten sich damals schon<br />

dafür engagiert.<br />

[Obwohl seither sowohl in der Einstellung zu hohen Geburtenraten<br />

als auch hinsichtlich der Familienstrukturen,<br />

der Stellung der Frau <strong>und</strong> der Besitzverhältnisse ein Wandel<br />

zu beobachten ist, kann wegen der breiten Basis der Alterspyramiden<br />

nicht mit schnellen Erfolgen der Bevölkerungspolitik<br />

gerechnet werden.]<br />

Quelle: Caldwell, J.C.; Caldwell, P. Ursachen der Überbevölkerung<br />

Schwarzafrikas. In: Meusburger P. (Hrsg.) Anthropogeographie.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1997.<br />

S. 22-30<br />

Familienbudget<br />

getrennt<br />

Polygynie in Prozent<br />

B R 5 40 bis 50<br />

I I 20 bis 40<br />

unter 20<br />

Soziale Strukturen in Afrika<br />

südlich der Sahara. Soziale<br />

Strukturen <strong>und</strong> Wertvorstellungen<br />

haben in Afrika südlich<br />

der Sahara eine wirksame<br />

Geburtenbeschränkung sehr<br />

lange verhindert. Als wichtige<br />

Einflussfaktoren für das generative<br />

Verhalten sind unter<br />

anderem die soziale <strong>und</strong> ökonomische<br />

Stellung der Frau<br />

<strong>und</strong> die Familienstrukturen zu<br />

nennen. Die Karte zeigt die<br />

räumliche Verbreitung <strong>und</strong><br />

Intensität der Polygynie, die<br />

Gebiete mit getrenntem <strong>und</strong><br />

gemeinsamen Familienbudget<br />

<strong>und</strong> den Anteil der Haushalte,<br />

denen Frauen als Familienvorstand<br />

vorstehen. In Vielehen<br />

(Polygynie) sind die<br />

Beziehungen zwischen Ehepartnern<br />

wesentlich weniger<br />

stabil, die Verantwortung für<br />

das Aufziehen der Kinder ist<br />

leichter auf andere abzuwälzen,<br />

sodass ein großer Teil<br />

der Kinder nicht bei ihren<br />

Eltern, sondern bei Verwandten<br />

aufwächst.<br />

(Grafik: Patricia J. Wynne)


178 3 Bevölkerungsgeographie<br />

I i<br />

■i^


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 179<br />

kosten, die Fortsetzung seiner Stammlinie aber wegen des Ahnenkults eminent wichtig ist, hat der Mann gewöhnlich kein Interesse<br />

an einer modernen Geburtenregelung. Da Unfruchtbarkeit für Frauen einen Fluch <strong>und</strong> extreme Diskriminierung bedeutet, sehen<br />

auch Frauen wenig Anreize, die Zahl der Kinder zu verringern. Nach der Entrichtung des Brautpreises haben in traditionellen Sippen<br />

die Frauen auch das Recht verloren, über die Zahl der Kinder selbst zu bestimmen. In Eurasien ist die Fläche des der Familie selbst<br />

gehörenden Gr<strong>und</strong>es, weniger die Zahl der Kinder, dafür maßgebend, wie viel eine Familie erntet. Je mehr Nachkommen da sind,<br />

desto weniger bleibt bei der Erbteilung für den einzelnen. In Eurasien bilden Eltern <strong>und</strong> Kinder die Kernfamilie <strong>und</strong> beide sind für die<br />

Versorgung der Kinder verantwortlich. Aus diesen Gründen bestand nicht erst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, sondern schon in der Agrargesellschaft<br />

früherer Jahrh<strong>und</strong>erte ein ökonomisches Interesse an der Beschränkung der Geburtenzahlen. (Grafik: Patricia J. Wynne)


180 3 Bevölkerungsgeographie<br />

Die bisher letzte Konferenz dieser Serie, die International<br />

Conference on Population and Development,<br />

fand 1994 in Kairo statt. Schon die Bezeichnung<br />

des Treffens drückt aus, wie sehr sich die<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> Maßnahmen durch 20 Jahre Bevölkerungspolitik<br />

<strong>und</strong> entsprechende Programme<br />

gewandelt haben. Jetzt standen nicht mehr ansteigende<br />

Zuwachsraten der Weltbevölkerung im Mittelpunkt,<br />

vielmehr hob man hervor, dass in fast allen<br />

Ländern der Erde ein Rückgang der Geburtenraten<br />

in teils erheblichem Umfang festzustellen sei. Die<br />

Konferenzteilnehmer erkannten, dass eine Stabilisierung<br />

der Weltbevölkerung auf einem bestimmten<br />

Niveau in überschaubarer Zukunft erreicht werden<br />

könnte. Daher einigten sich Vertreter der höher<br />

wie der geringer entwickelten Staaten darauf, dass<br />

die Bemühungen zur Herabsetzung der Wachstumsraten<br />

weitergeführt werden sollten, bis die Bevölkerungszahl<br />

- <strong>und</strong> zwar je eher, desto besser - ihren<br />

Gipfelwert erreichen würde. Die daraus resultierende<br />

Politik verlangte von den Regierungen nicht nur die<br />

Bereitstellung von Familienplanungsprogrammen für<br />

alle; sie forderte außerdem gezielte Schritte zur Bekämpfung<br />

von Armut <strong>und</strong> Krankheiten <strong>und</strong> zur Verbesserung<br />

der Bildungschancen - insbesondere für<br />

Mädchen <strong>und</strong> Frauen - sowie Maßnahmen in Richtung<br />

einer umweltverträglichen <strong>und</strong> nachhaltigen<br />

Entwicklung. Die Tagung in Kairo war die erste<br />

von drei internationalen Bevölkerungskonferenzen,<br />

bei der fast alle teilnehmenden Staaten einem Plan<br />

zur Stabilisierung der Weltbevölkerung zustimmten.<br />

Dieser sollte weder die Entscheidungsfreiheit hinsichtlich<br />

der Familiengröße einschränken noch eine<br />

bestimmte Bevölkerungs- <strong>und</strong> Entwicklungspolitik<br />

sowie entsprechende Maßnahmen vorschreiben.<br />

Die in Kairo definierten Ziele wurden auch auf der<br />

aktuellsten Bevölkerungskonferenz, dem Jahrtausendgipfel<br />

der Vereinten Nationen im Jahre 2000,<br />

wieder aufgegriffen.<br />

Die Konferenz von Kairo führte zu der Einsicht,<br />

dass ein weltweit einheitliches politisches Konzept<br />

nicht geeignet ist, die Probleme der Übervölkerung<br />

zu lösen. Damit wurde dem Umstand Rechnung getragen,<br />

dass die historischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Gegebenheiten, der Stand <strong>und</strong> die Ziele wirtschaftlicher<br />

Entwicklung sowie die politischen Strukturen<br />

höchst unterschiedlich sind, <strong>und</strong> dies nicht nur<br />

von Land zu Land, sondern häufig auch von Region<br />

zu Region. Daraus folgt, dass Programme <strong>und</strong> Ansätze<br />

zur Verringerung der Bevölkerungszahlen speziell<br />

auf die jeweiligen Verhältnisse eines Landes oder<br />

einer Region zugeschnitten sein müssen.<br />

Als Beispiel möge Chinas Familienplanungspolitik<br />

mit der Beschränkung auf ein Kind je Haushalt dienen.<br />

Offensichtlich wird die Geburtenrate durch diese<br />

Reglementierung gesenkt <strong>und</strong> das Bevölkerungswachstum<br />

insgesamt gebremst. Da für China jedoch<br />

nur sehr wenige Daten verfügbar sind, ist wenig darüber<br />

bekannt, ob diese Politik in allen Landesteilen<br />

zum Tragen kommt. So vermuten einige Bevölkerungsexperten,<br />

dass die Maßnahmen in erster Linie<br />

in den Städten greifen, während auf dem Land mit<br />

ihrer Einhaltung kaum zu rechnen sei. Die Vorschriften<br />

zur Familienplanung in China regeln auch das<br />

Mindestalter für eine Eheschließung, belohnen Paare,<br />

die nur ein Kind haben, <strong>und</strong> bestrafen Familien mit<br />

zwei oder mehr Kindern, wobei sich die Nachteile mit<br />

zunehmender Kinderzahl verschärfen. Ausnahmen<br />

wurden nur für einige Minderheiten genehmigt.<br />

In Indien werden im Rahmen der Familienplanungspolitik<br />

kostenlos Verhütungsmittel verteilt<br />

<strong>und</strong> Beratungen zur Familienplanung angeboten.<br />

Beides hat sich positiv auf die Absenkung der Geburtenrate<br />

ausgewirkt. Andere Länder wie Sri Lanka,<br />

Thailand, Kuba oder der indische Teilstaat Kerala haben<br />

eine geringere Geburtenrate nicht durch eine<br />

amtliche Beschränkung der Familiengröße erreicht,<br />

sondern durch die Verbesserung <strong>und</strong> Öffnung des<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Bildungswesen, insbesondere für<br />

Frauen.<br />

Bevölkerungswissenschaftler <strong>und</strong> Politiker stimmen<br />

heute weitgehend darin überein, dass zwischen<br />

der gesellschaftlichen Stellung der Frau <strong>und</strong> der Fertilität<br />

ein enger Zusammenhang besteht. Frauen, die<br />

Zugang zu Bildung <strong>und</strong> Arbeitsplätzen haben, bekommen<br />

durchschnittlich weniger Kinder, da sie<br />

wirtschaftlich unabhängiger sind <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Anerkennung für sie nicht mehr eine Frage der<br />

Kinderzahl ist. So haben zum Beispiel in Botswana<br />

Frauen ohne Schulbildung durchschnittlich 5,9 Kinder,<br />

während Frauen, die 4 bis 6 Schuljahre absolviert<br />

haben, nur 3,1 Kinder zur Welt bringen. In Senegal<br />

beträgt die durchschnittliche Kinderzahl bei Frauen<br />

ohne Schulbildung 7 Kinder gegenüber 3,6 Kindern<br />

bei Frauen mit 10 absolvierten Schuljahren. Ähnliche<br />

Werte gelten für Asien <strong>und</strong> Südamerika.<br />

Ein höheres Maß an Gleichberechtigung von Männern<br />

<strong>und</strong> Frauen innerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Haushalts<br />

scheint ebenfalls zu einer Verringerung der<br />

Fertilität beizutragen. In kleinen Inselbevölkerungen<br />

mit früher starkem Bevölkerungswachstum, zum<br />

Beispiel auf Bali, Barbados oder Mauritius, erwiesen<br />

sich Programme als äußerst erfolgreich, die eine<br />

freiwillige Selbstbeschränkung bezüglich der Kinderzahl<br />

auf der Basis einer Aufklärungskampagne für


Bevölkerungsprobleme <strong>und</strong> Bevölkerungspolitik 181<br />

Männer <strong>und</strong> Frauen über die zu erwartenden positiven<br />

Auswirkungen zum Ziel hatten. So konnte auf<br />

Mauritius in nur 24 Jahren (zwischen 1962 <strong>und</strong><br />

1986) eine Herabsetzung der Kinderzahl von 5,8<br />

auf 1,9 erreicht werden. Es ist daher nicht verw<strong>und</strong>erlich,<br />

dass die Bevölkerungskonferenz des Jahres 1994<br />

klar <strong>und</strong> übereinstimmend zwei Hauptaussagen herausstellte:<br />

• Zwangsmaßnahmen, einschließlich der staatlichen<br />

Festlegung von Sterilisationsquoten, die Menschen<br />

dazu zwingen, gegen ihre persönlichen Moralvorstellungen<br />

zu handeln, sind strikt abzulehnen.<br />

• Das Wachstum der Wellbevölkerung lässt sich am<br />

wirkungsvollsten verringern, indem man die<br />

rechtliche Stellung, das Ausbildungsniveau <strong>und</strong><br />

die wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Situation von Mädchen<br />

<strong>und</strong> Frauen verbessert.<br />

Will man den Status der Frauen <strong>und</strong> Mädchen dem<br />

der Männer einigermaßen angleichen, so gilt es, ein<br />

breites Umfeld in Betracht zu ziehen. Anerkannte Bevölkerungsexperten<br />

haben nachgewiesen, dass in vielen<br />

Entwicklungsländern bei den Frauen eine deutliche<br />

„Übersterblichkeit“ vorliegt. Schätzungen zufolge<br />

müssten heute ungefähr 60 bis 100 Millionen mehr<br />

Frauen leben, würden in vielen Teilen der Welt nicht<br />

Knaben bevorzugt. So kommt es nicht selten zur Abtreibung<br />

weiblicher Föten, zu einer Benachteiligung<br />

von Mädchen bei der Ernährung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsfürsorge<br />

<strong>und</strong> sogar zur Tötung weiblicher Säuglinge.<br />

In Ländern wie China ist die zumindest auf den ersten<br />

Blick erfolgreiche Politik der staatlich verordneten<br />

Ein-Kind-Familie mit unmenschlichen Begleiterscheinungen<br />

verb<strong>und</strong>en. Sowohl die US-amerikanische<br />

Presse wie auch andere internationale Medien<br />

veröffentlichen seit Jahren Berichte darüber, in welchem<br />

Ausmaß diese Politik in einem Land, in dem es<br />

als besonders wichtig erachtet wird, Söhne zu haben -<br />

während Töchter wenig gelten -, zur Tötung von<br />

.Mädchen geführt hat. In Ländern wie Indien, wo<br />

die Geburt eines Jungen gesellschaftlich höher bewertet<br />

wird als die eines Mädchens, ist bei Mädchen nicht<br />

nur eine deutlich höhere Säuglingssterblichkeit festzustellen<br />

als bei Knaben. Kindestötung kann zwar<br />

nicht leicht nachgewiesen werden, aber die Verschiebung<br />

der üblichen Geschlechtsproportion zugunsten<br />

der lungen deutet darauf hin. In China kommt es<br />

nicht selten zu selektiven Abtreibungen, weil die Geburt<br />

eines Jungen bevorzugt wird.<br />

Erfolge bei der Verlangsamung des Bevölkerungswachstums<br />

in den Entwicklungsländern hängen in<br />

hohem Maße davon ab, ob es gelingt, die Lebensqualität<br />

zu verbessern <strong>und</strong> der Bevölkerung, vor allem<br />

den Frauen, die Chance zu geben, freie Entscheidungen<br />

zu treffen.<br />

Nachhaltige Entwicklung^<br />

I gender <strong>und</strong> Bevölkerungsfragen<br />

Globalisierung führt zu einem steigenden Frauenanteil<br />

in regulären Arbeitsverhältnissen, sodass zu erwarten<br />

ist, dass die Bedeutung von Frauen in Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft überall zunimmt <strong>und</strong> die Geburtenrate<br />

weltweit abnimmt. Große Firmen, die Exportgüter<br />

herstellen, stellen für Jobs am Fließband bevorzugt<br />

Frauen ein, da sie ihnen weniger Lohn als<br />

Männern zahlen müssen. Frauen können somit<br />

von einer steigenden Erwerbsquote profitieren,<br />

aber sie können auch einer impliziten oder expliziten<br />

Diskriminierung aufgr<strong>und</strong> ihres Geschlechts ausgesetzt<br />

sein. In der Zulieferindustrie, vor allem in der<br />

Bekleidungsbranche, stellen Frauen einen Großteil<br />

der Beschäftigten. Allerdings erhalten sie niedrige<br />

Löhne <strong>und</strong> arbeiten unter schlechteren Bedingungen.<br />

Die Globalisierung führt auch zu einem steigenden<br />

Anteil von Heim- <strong>und</strong> Telearbeit sowie Teilzeitbeschäftigung.<br />

In Großbritannien ist der Beschäftigtenanteil<br />

dieses Sektors von 17 Prozent im Jahre 1965 auf<br />

40 Prozent (1991) gestiegen. Ähnliche Veränderungen<br />

fanden auch in vielen anderen Ländern statt,<br />

in denen inzwischen Frauen zu 70 bis 80 Prozent<br />

die Arbeitskräfte in der Heim-, Tele- <strong>und</strong> Teilzeitarbeit<br />

stellen. Diese Entwicklung hat positive <strong>und</strong> negative<br />

Seiten: Informelle Arbeitsverhältnisse sind oft gut<br />

vereinbar mit familiären Aufgaben, aber zumeist unsicher<br />

<strong>und</strong> unterbezahlt.<br />

Für die Verbesserung des Lebensstandards von<br />

Frauen, Männern <strong>und</strong> Kindern weltweit spielt wirtschaftliche<br />

Entwicklung die zentrale Rolle. Internationale<br />

Institutionen setzen zunehmend auf nachhaltige<br />

wirtschaftliche Entwicklung. Sie soll als Mittel<br />

dienen, die Geburten zu begrenzen <strong>und</strong> durch Armutsbekämpfung<br />

eine höhere Lebensqualität zu gewährleisten.<br />

Bisher fanden zahlreiche Tagungen<br />

<strong>und</strong> Konferenzen zur nachhaltigen Entwicklung statt,<br />

von denen der Milleniumsgipfel der Vereinten Nationen<br />

2000 am bedeutendsten war. Tabelle 3.3 listet die<br />

Ziele auf, durch deren Umsetzung die wirtschaftliche<br />

Entwicklung angekurbelt <strong>und</strong> die Armut weltweit bekämpft<br />

werden sollen. Diesbezügliche Maßnahmen<br />

sind die Bereitstellung von Hilfsgeldern, Handel,<br />

Schuldenerlass, die Stärkung demokratischer Kräfte<br />

<strong>und</strong> Institutionen <strong>und</strong> die Vermeidung von negativen<br />

Einflüssen wirtschaftlicher Entwicklung auf die Umwelt.<br />

Die von den Vereinten Nationen definierten


182 3 Bevölkerungsgeographie<br />

V t<br />

^ V<br />

Tabelle 3.3. Die UN-Milleniumsziele Die Ziele <strong>und</strong> Vorhaben<br />

basieren auf der UN-Milleniumserklärung <strong>und</strong> wurden von<br />

der UN-Generalversammlung als Bestandteile des Entwicklungsplanes<br />

des UN-Generalsekretärs zur Umsetzung der<br />

UN-Deklaration bestätigt. Das Entwicklungsprogramm der<br />

Vereinten Nationen arbeitet mit weiteren Abteilungen, Finanzbeihilfen<br />

<strong>und</strong> Programmen der Vereinten Nationen, der Weltbank,<br />

dem Internationalen Währungsfond <strong>und</strong> der Organisation<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit <strong>und</strong> Entwicklung zusammen,<br />

um über 40 quantifizierbare Indikatoren zu ermitteln,<br />

die den Erfolg der Maßnahmen bewerten<br />

möglichen. Dazu sollen die historisch gewachsenen<br />

Bedingungen berücksichtigt werden, um lokale Entwicklungspfade<br />

zu initiieren. Nachhaltigere Entwicklung<br />

weltweit wird als Möglichkeit gesehen, auch das<br />

Bevölkerungswachstum <strong>und</strong> die Lebensbedingungen<br />

der Menschen in der Peripherie positiv zu beeinflussen.<br />

Zusätzlich erschließt sie neue Märkte für Produkte<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen aus den Kernländern<br />

<strong>und</strong> verbreitet das kapitalistische Weltsystem.<br />

Ziele <strong>und</strong> Vorhaben<br />

Ziel 1: Extreme Armut <strong>und</strong> Hunger beseitigen<br />

Ziel 2: Gr<strong>und</strong>schulausbildung für alle gewährleisten<br />

L Fazit<br />

Et:«<br />

Ziel 3: Gleichstellung von Männern <strong>und</strong> Frauen <strong>und</strong><br />

größeren Einfluss der Frauen fördern<br />

Ziel 4: Die Kindersterblichkeit senken<br />

Ziel 5: Die Ges<strong>und</strong>heit der Mütter verbessern<br />

Ziel 6: HIV/AIDS, Malaria <strong>und</strong> andere Krankheiten<br />

bekämpfen<br />

Ziel 7: Eine nachhaltige Umwelt gewährleisten<br />

Ziel 8: Eine globale Partnerschaft im Dienst der<br />

Entwicklung schaffen<br />

Millenium-Entwicklungsziele {millenium development<br />

goals, MDG) basieren auf einer Zusammenarbeit<br />

von hoch <strong>und</strong> gering entwickelten Ländern. In<br />

Venezuela arbeiten die Vereinten Nationen beispielsweise<br />

mit einem Erdölkonzern <strong>und</strong> Amnesty International<br />

zusammen, um den Gerichten des Landes<br />

verständliche Richtlinien zur Handhabung von Gesetzen,<br />

Regularien <strong>und</strong> strittigen Fragen im Bereich<br />

der Menschenrechte an die Hand zu geben. In Umweltbelangen<br />

arbeiten in Äthiopien die Vereinten Nationen<br />

mit Bauern zusammen. Gefördert werden Anbau<br />

<strong>und</strong> Vermarktung traditioneller Feldfrüchte <strong>und</strong><br />

darüber hinaus wird das landeseigene Forschungszentrum<br />

für Biodiversität unterstützt <strong>und</strong> die Bauern<br />

werden ermuntert, Saatgutbanken anzulegen. Im Gegenzug<br />

erzielen die Bauern durch die Zusammenarbeit<br />

ein sicheres Einkommen.<br />

Die acht wichtigsten MDG spiegeln den neoliberalen<br />

Wandel in der internationalen Entwicklung wider:<br />

Wie in Kapitel 1 gezeigt, befürworten Vertreter<br />

des Neoliberalismus eine Reduzierung der staatlichen<br />

Eingriffe in den Wirtschaftshaushalt <strong>und</strong> die Privatisierung<br />

von Staatsbetrieben. Das am stärksten durch<br />

die Vereinten Nationen geförderte Ziel neoliberaler<br />

Entwicklungspolitik ist es, peripheren Ländern ein<br />

den Kernländern ähnliches Wohlstandsniveau zu er­<br />

Die Bevölkerungsgeographie ist direkt verknüpft mit<br />

den komplexen Prozessen der Globalisierung. Die<br />

Verteilung der Weltbevölkerung hat sich seit dem<br />

15. lahrh<strong>und</strong>ert mit der Ausdehnung kapitalistischer<br />

Wirtschaftsformen dramatisch verändert. Es kam zu<br />

neuen Kontakten zwischen unterschiedlichsten Völkern<br />

<strong>und</strong> es entstanden neue Muster internationaler,<br />

nationaler <strong>und</strong> regionaler Wanderungen. Als der Kapitalismus<br />

in Europa entstand, wies die Weltbevölkerung<br />

hohe Geburtenraten, hohe Sterberaten <strong>und</strong> eine<br />

verhältnismäßig geringe Mobilität auf. Vier Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

später zeigte sich ein ganz anderes, räumlich<br />

sehr stark differenziertes Bild mit teils enormen regionalen<br />

Unterschieden. Während nämlich in den wirtschaftlich<br />

starken Ländern des Zentrums sowohl die<br />

Geburten- wie auch die Sterberaten niedrig sind, haben<br />

die peripheren <strong>und</strong> semiperipheren Länder im<br />

Allgemeinen hohe Geburten- <strong>und</strong> relativ niedrige<br />

Sterberaten. Eine der Ausnahmen bilden die afrikanischen<br />

Länder südlich der Sahara, wo HIV/AIDS die<br />

Sterberaten dramatisch erhöht hat. Die Wanderungsraten<br />

unterscheiden sich ebenfalls erheblich, <strong>und</strong> es<br />

ist davon auszugehen, dass sich darin die vielfältigen<br />

<strong>und</strong> engen politischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Verflechtungen zwischen Kernregion <strong>und</strong> Peripherie<br />

widerspiegeln.<br />

Das Beispiel des Zuzugs von Arbeit suchenden Personen<br />

aus ehemaligen Kolonien in die früheren Mutterländer<br />

vermittelt einen Einblick in die Dynamik<br />

der Weltwirtschaft. Ähnliches gilt für den Zustrom<br />

von Arbeitsmigranten aus dem Nordosten <strong>und</strong> Mittleren<br />

Westen der USA in den sunbelt, den Südosten,<br />

Südwesten <strong>und</strong> Westen des Landes, wo sich in den<br />

70er- <strong>und</strong> 80er-)ahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eine Fülle<br />

neuer Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnete. Beide<br />

Beispiele machen deutlich, welch bedeutende Rolle<br />

die Bevölkerung hinsichtlich der Dynamik räumlicher<br />

Prozesse spielt.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 183<br />

Letztendlich sind Sterbe-, Geburten- <strong>und</strong> Wanderungsraten<br />

die Variablen, welche das Bevölkerungswachstum<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungsverteilung maßgeblich<br />

bestimmen. Als Indikatoren liefern sie aussagekräftige<br />

Informationen über lokale <strong>und</strong> regionale Transformationsprozesse,<br />

die sich innerhalb der übergeordneten<br />

Strukturen des Weltsystems vollziehen.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Applegard, R.T. Emigration Dynamics in Developing Countries.<br />

Ashgate (Brookfield VT) 1998.<br />

Bähr, J. Bevölkerungsgeographie. 4. Aufl. UTB, Stuttgart (Ulmer)<br />

2004.<br />

Bean, F. D. At the Crossriads. In; Mexican Migration and U. S. Po-<br />

liticy. Lanham, MD and London (Rowman & Littlefield) 1997.<br />

Bernard, R. M.; Rice, B. R. Sunbelt Cities. In: Politics and Growth<br />

Since World War ii. Austin (University of Texas Press) 1983.<br />

Berry, B.J. L. The Decline o f the Aging Metropolis. In: Cultural<br />

Bases and Social Process. In; Sternlieb, G.; Hughes, J.W.<br />

(Hrsg.) Post-Industrial America. In: Metropolitan Decline<br />

and Inter-Regional Job Shifts. New Brunswick, NJ (Center<br />

for Urban Policy Research) 1975, S. 175-186.<br />

Birdsall, N.; Kelley, A.C.; Sinding, S.A.W. Population Matters:<br />

Demographic Change, Economic Growth and Poverty in the<br />

Developing World. New York (Oxford University Press) 2001.<br />

Bouvier, L.; De Vita, D. The Baby Boom-Entering Midlife. In: Population<br />

Bulletin 46 (3) (1991) S. 2-33.<br />

Castles, S.; Castles, M.; Miller, J. The Age o f Migration. In: International<br />

Population Movements in the Modern World. 1. Aufl.<br />

1993.<br />

Cernea, M.M.; Me Dowell, C. Risks and Reconstructing: Experiences<br />

o f Resettlers and Refugees. 2000.<br />

Clark, D. Post-Industrial America. In: 71Geographical Perspective.<br />

New York & London (Methuen) 1984.<br />

Cans, P.; Kemper F.J. Bevölkerung. In: Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2001.<br />

Graham, D. Population Geography. London (Routledge) 2004.<br />

Heer, D. M.; Grisby, J.S. Society and Population. Englewood<br />

Cliffs, NJ (Prentice Hall) 1992.<br />

Johnston, R.J. The American Urban System. In: A Geographical<br />

Perspective. New York (St. Martin's Press) 1982.<br />

Kinsela, K.; Velkoff, V.A. An Aging World: 2001. U.S. Census<br />

Bureau, Series P95/01-1, Washington, DC (U.S. Government<br />

Printing Office) 2001.<br />

Klein, H. S. A Population History o f the United States. Cambridge<br />

(Cambridge University Press) 2004.<br />

Kuls, W.; Kemper, F.J. Bevölkerungsgeographie. 3. Aufl. Stuttgart,<br />

Leipzig (Teubner) 2000.<br />

Künstler, J. H. The Long Emergencey: Surviving the Converging<br />

Catastrophes o f the Twenty-First Century. New York (Atlantic<br />

Monthly Press) 2005.<br />

Lemann, N. The Promised Land. In: The Great Black Migration and<br />

How It Changed America. New York (Alfred Knopf) 1991.<br />

Lexikon der Geographie. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 200If.<br />

Macunovich, D. J. Birth Quake The baby Boom and Ist Aftershocks.<br />

Chicago (University of Chicago Prss) 2002.<br />

Mann, C.C. How Many Is Too Many? Atlantic Monthly February<br />

(1993) S. 47-67.<br />

Martin, P.; Widgren, J. International Migration: Facing the challenge.<br />

Population Bulletin 57, 2001.<br />

McFalls, J. Jr. Population: A Lively Introduction. Population Bulletin,<br />

58(4), 2003, S. 27.<br />

McIntosh, A.C.; Finkle, J. “ The Gairo Conference on Population<br />

and Development: A New Paradigma?” Population and Development<br />

Review, 21(2), 223-260, 1995.<br />

Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Staat. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1999.<br />

Portes, A.; Rumbaut, R. Immigrant America. In: A Portrait. Berkeley<br />

(University of California Press) 1996.<br />

Schuler, M.; Dessemontet, P.; Jemelin, C.; Jarne, A.; Pasche, N.;<br />

Haug, W. Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz. Zürich<br />

(Verlag Neue Zürcher Zeitung).<br />

Suärez-Orozco; Marcelo M. Crossings. In: Mexican Immigration<br />

in Interdisciplinary Perspectives. Cambridge, MA and London<br />

(Harvard University, David Rockefeller Center for Latin American<br />

Studies; Distributed by Harvard University Press) 1998.<br />

U. N. Development Programme Partnership to Fight Poverty: Annual<br />

Report. New York and Oxford (Oxford University Press)<br />

2001.<br />

U.N. Population Division World Population Ageing: 1950-2050.<br />

New York (United Nations) 2002.<br />

U.N. Population Division “Population Ageing and Living Arrangements<br />

o f Older Persons: Critical Issue and Policy Response”,<br />

United Nations Population Bulletin, Special Issue Nos. 42/<br />

43. New York (United Nations) 2001.<br />

U. N. Population F<strong>und</strong> The State o f World Population, 2000: Lives<br />

Together, Worlds Apart: Men and Women in a Time o f Change.<br />

New York (The F<strong>und</strong>) 2000.<br />

U. N. Population F<strong>und</strong> The State o f World Population. New York<br />

(The F<strong>und</strong>) 2001.<br />

World Bank World Development Indicators. Washington, DC<br />

(World Bank) 2000.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Bödeker, H.E.; Hinrichs, E. (Hrsg.) Alphabetisierung <strong>und</strong> Litera-<br />

lisierung in Deutschland in der Frühen Neuzeit. Tübingen<br />

(Niemeyer) 1999.<br />

Caldwell, J.C.; Caldwell, P. Ursachen der Überbevölkerung<br />

Schwarzafrikas. In: Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeogra-<br />

phie. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1997. S.<br />

22-30.<br />

Hauser, J. A. Zur Theorie der demographischen Transformation.<br />

In: Zeitschrift zur Bevölkerungswissenschaft 7 (1981) S.<br />

255-271.<br />

Kulischer, E. M. Europe on the Move. War and Population Changes,<br />

1917-1947. New York (Columbia University Press)<br />

1948.<br />

Meusburger, P. Bildungsgeographie. Wissen <strong>und</strong> Ausbildung in<br />

der räumlichen Dimension. Heidelberg.<br />

Weeks J.R. Population. An Introduction to Concepts and Issues.<br />

Belmont, Cal. (Wadsworth) 1989.


4 Natur -<br />

Gesellschaft -<br />

Technologie<br />

Gleichzeitig zur Mobilität von Menschen, Ideen, Geld <strong>und</strong> Gütern im Zuge<br />

der Globalisierung breiten sich seit alters her auch Kranklieiten aus. In der<br />

Alten Welt wurden sie durch Insekten, Nagetiere <strong>und</strong> von Mensch zu<br />

Mensch von einer Region auf die andere übertragen. So brach die Beulenpest<br />

im Spätmittelalter zunächst in China aus <strong>und</strong> wurde von dort über<br />

Ratten, die sich auf den europäischen Handelsschiffen befanden, nach Westasien<br />

<strong>und</strong> Europa eingeschleppt. Nachdem im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte ein<br />

Drittel der europäischen Bevölkerung an der Beulenpest starb, tauchte die<br />

Krankheit bis in das 17. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein in regelmäßigen Abständen immer<br />

wieder epidemieartig auf Der Kontakt zwischen Europa <strong>und</strong> der Neuen<br />

Welt im 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert begünstigte auf beiden Seiten die Ausbreitung<br />

neuer Krankheiten, sodass einige indigene, zuvor isolierte Bevölkerungsgruppen<br />

der Neuen Welt, ausstarben. Derart erlagen zum Beispiel<br />

die Arawak, eine Gruppe karibischer Ureinwohnern, einem Grippevirus,<br />

das die Schweine auf den Schiffen von Christoph Kolumbus in sich trugen.<br />

Sar-Virus <strong>und</strong> Vogelgrippe zeigen gegenwärtig, dass die im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

erzielten Fortschritte in der Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge es zumindest in einigen<br />

Teilen der Welt ermöglichten, Krankheiten von globaler Bedeutung<br />

weitgehend schnell einzudämmen. Andere Krankheiten wie Malaria<br />

<strong>und</strong> Typhus konnten in Westeuropa, Nordamerika, Australien <strong>und</strong> Japan<br />

sogar völlig ausgerottet werden, treten allerdings in den peripheren Regionen<br />

der Erde noch immer auf <strong>und</strong> sind keine Randerscheinung, sondern<br />

führen zu einer hohen Anzahl von Todesfällen. An Tuberkulose sterben<br />

jedes Jahr über 2 Millionen Menschen, weitere 8 Millionen erkranken daran.<br />

Malaria verursacht 1 Million Todesfälle jährlich <strong>und</strong> über 41 Prozent<br />

der Weltbevölkerung leben in der Gefahr, an Malaria zu erkranken. Beide<br />

Krankheiten beeinträchtigen das Leben der Menschen in der Peripherie,<br />

die unter Kriegen, mangelnder medizinischer Versorgung <strong>und</strong> einer wachsenden<br />

Arzneimittel- <strong>und</strong> Insektizidresistenz leiden. Zudem kommt es in<br />

einigen Regionen der Erde zum Wiederaufleben verschiedener Krankheiten,<br />

von denen man annahm, dass sie bereits ausgerottet seien.<br />

Als zentrale Ursache dafür wird auch der globale Klimawandel genannt.<br />

Aus diesen <strong>und</strong> anderen Gründen zieht die Klimaänderung weltweit ein<br />

verstärktes Interesse von Wissenschaftlern, Umweltorganisationen <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitsexperten auf sich. Inzwischen arbeiten in vielen Ländern Klimaexperten<br />

<strong>und</strong> Epidemiologen zusammen, um die Entstehungs- <strong>und</strong><br />

Ausbruchsbedingungen (wieder)auftretender Krankheiten besser zu erforschen.<br />

Die Wissenschaftler nehmen an, dass bestimmte Klimafaktoren —<br />

beispielsweise milde Winter verb<strong>und</strong>en mit anhaltenden Dürreperioden<br />

<strong>und</strong> Hitzewellen - den Lebenszyklus der Viren beschleunigen. Diese klimatischen<br />

Ereignisse sind das Ergebnis eines globalen Klimawandels, also<br />

einer langfristigen Veränderung der Erdatmosphäre.


186 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

I<br />

I<br />

4.1 Satellitenbildaufnahme der Elbe (rechts: normaler Wasserstand; links: während der Überschwemmung im August)<br />

(created by NASA).<br />

Als Auslöser für den Wandel des Erdklimas werden<br />

vor allem anthropogene Einflüsse wie Abholzung <strong>und</strong><br />

Verbrennung fossiler Brennstoffe angesehen, die zu<br />

Klimaveränderungen führen: Dies sind beispielsweise<br />

insgesamt wärmere Temperaturen, Rückgang des<br />

Meereises <strong>und</strong> der Schneedecken in der nördlichen<br />

Hemisphäre, Abschmelzen der Gebirgsgletscher <strong>und</strong><br />

Anstieg der Niederschlagsmenge in höheren Breitengraden.<br />

Der Wandel des Klimas als Folge der Wechselwirkungen<br />

zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur ist eine<br />

Veränderung, die langfristige Folgen haben wird,<br />

die nur schwer wieder umgekehrt werden können.<br />

So waren sommerliche Niederschläge in Böhmen<br />

<strong>und</strong> Sachsen im August 2002 die Ursache für das<br />

Jahrh<strong>und</strong>erthochwasser im Erz- <strong>und</strong> Riesengebirge.<br />

Mit bis zu 350 Litern pro Quadratmeter erreichten<br />

am 13. <strong>und</strong> 14. August im östlichen Erzgebirge die<br />

Niederschläge ihren Höhepunkt. In Folge dessen<br />

trat die Elbe über die Ufer <strong>und</strong> setzte weite Teile<br />

Tschechiens (Region um Prag), Sachsen (Sächsische<br />

Schweiz, Dresden, Meißen) <strong>und</strong> Sachsen-Anhalts<br />

(Wittenberg) unter Wasser (Abbildung 4.1). In Dresden<br />

erreichte der Pegel am 17. August die Höchstmarke<br />

von 9,40 Meter, in Pirna sogar 11,50 Meter.<br />

ledoch trugen nicht allein die hohen Niederschläge<br />

zu diesen großflächigen Überschwemmungen bei,<br />

sondern auch der schlechte Zustand des Waldes in<br />

diesen Gebieten. Der Boden konnte die Niederschlagsmengen<br />

nicht auffangen, wodurch das Wasser<br />

direkt in die Täler abfloss. Die Verkürzung <strong>und</strong> Einengung<br />

des Elbflusslaufes zur Erhöhung der Fließgeschwindigkeit<br />

<strong>und</strong> die fehlenden Retensionsflächen<br />

(seit 1850 verlor die Elbe 86 Prozent ihrer natürlichen<br />

Retensionsflächen) wirkten dazu noch unterstützend.<br />

Trotz hoher wirtschaftlicher Schäden <strong>und</strong> Einbußen<br />

konnte durch Evakuierung der Bevölkerung eine<br />

dramatisch hohe Anzahl personeller Opfer verhindert<br />

werden. Ein anderes Beispiel zeigt, dass dem nicht immer<br />

so ist. Dem Seebeben vom 26. Dezember 2004<br />

mit einer Stärke von 9,3 auf der Richterskala, das<br />

an der Nordwestküste Sumatras, am Golf von Bengalen,<br />

der Andamanensee <strong>und</strong> in Südasien einen Tsunami<br />

auslöste, fielen nach Schätzungen insgesamt<br />

228 000 Menschen zum Opfer. Auch wenn nicht anthropogene<br />

Veränderungen als Ursache für diese Naturkatastrophe<br />

zu nennen sind, sind es fehlende<br />

Frühwarnsysteme, ein schlechtes Informationsnetz<br />

<strong>und</strong> die bedenkenlose Bebauung der Küstenabir)<br />

><br />

4.2 Die Verwüstungen in der Küstenregion<br />

Banda Aceh aufgenommen im Januar 2005<br />

(© National Geographie Society)


4 Natur - Gesellschaft - Technologie 187<br />

schnitte, die zu der dramatisch hohen Anzahl Toter<br />

<strong>und</strong> Verletzter geführt haben (Abbildung 4.2).<br />

Unzureichende <strong>und</strong> mangelhaft durchgesetzte<br />

Bauvorschriften haben auch in New Orleans dazu geführt,<br />

dass zahlreiche Holzbauten entstanden, die besonders<br />

anfällig für Windschäden sind. Hinzu<br />

kommt, dass die dringend notwendige Sanierung<br />

der Deiche entlang des Mississippis, die es erst ermöglichen,<br />

dass einige Stadtteile fast 1,5 Meter unter Meeresspiegelniveau<br />

liegen können, wiederholt aufgeschoben<br />

wurde. Die Gegend um New Orleans ist<br />

des Öfteren von starken Winden betroffen, die<br />

Strom-, Telefon- <strong>und</strong> Nachrichtenleitungen lahmlcgen,<br />

aber die Bausubstanz nicht zerstören. Die Sturmflut<br />

die mit „Katrina“ kam, durchbrach jedoch die<br />

Dämme, sodass über 80 Prozent des Stadtgebietes<br />

überschwemmt tvurden. Neben dieser technischen<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit gibt es auch eine soziale: Trotz eines<br />

umfangreichen Evakuierungsplans für New Orleans<br />

waren Zehntausende Menschen aus Armut, Angst<br />

oder anderen Gründen nicht in der Lage, die Stadt<br />

vor „Katrinas“ Ankunft zu verlassen <strong>und</strong> befanden<br />

sich in direkter Gefahr (Abbildung 4.3).<br />

Während des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts stieg der globale<br />

Meeresspiegel um 20 Zentimeter, <strong>und</strong> ein aktueller<br />

Bericht des Britain Meteorological Office warnt davor,<br />

dass im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert die Zahl der Überschwemmungen<br />

um mehr als das Neunfache des jetzigen<br />

Wertes zunehmen wird, wobei vier Fünftel des<br />

Zuwachses in Süd- <strong>und</strong> Südostasien erfolgen werden.<br />

Ein weiteres Ansteigen des Meeresspiegels wäre für<br />

einige Länder katastrophal: Beispielsweise liegen 70<br />

Prozent der Fläche von Bangladesh oder auch der<br />

größte Teil des fruchtbaren Nildeltas in Ägypten<br />

auf Meereshöhe. Landwirte in Europa <strong>und</strong> Nordamerika<br />

würden dagegen von höheren Durchschnittstemperaturen<br />

profitieren, da sie durch eine stärkere Diversifizierung<br />

des Anbaus höhere Gewinne erwirtschaften<br />

könnten.<br />

Diese Beispiele zeigen, dass auch in Zukunft die<br />

Erforschung der Mensch-Umwelt-Beziehungen die<br />

zentrale Aufgabe der Geographie bildet. Im folgenden<br />

Kapitel kommt es zur ausführlichen Analyse des Dreigespanns<br />

aus Gesellschaft, Natur <strong>und</strong> Technologie.<br />

Denn die Gesellschaft setzt Technologien ein, um<br />

die Natur zu verändern <strong>und</strong> ihren Bedingungen an-<br />

4.3 Der Weg des Hurrikans „Katrina“ Die von der Nationalen Behörde für ozeanographische <strong>und</strong> atmosphärische Forschung<br />

<strong>und</strong> dem National Weather Service der USA erstellte Karte zeigt grafisch die Spur des Hurrikans „Katrina“, der über das südliche<br />

Florida <strong>und</strong> den Golf von Mexiko fegte <strong>und</strong> dann ein zweites Mal das Land traf <strong>und</strong> sich über die Spitze des Landzipfels von<br />

Florida, Alabama <strong>und</strong> Louisiana bewegte. (Quelle: http://www.nhc.noaa.gov/refresh/graphicsät+shtml/084543.shtml?swath?large)


188 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

I !<br />

zupassen. In diesem Zusammenhang ist nicht allein<br />

auf die Nutzbarmachung der Natur hinzuweisen,<br />

sondern vordergründig die Einflussnahme des<br />

Menschen auf die Natur zu reflektieren. Dabei<br />

wird auch zum Ausdruck kommen, dass Erdbeben,<br />

Wirbelstürme <strong>und</strong> Überschwemmungen Naturerscheinungen<br />

mit immenser Zerstörungskraft sind.<br />

Die Ausmaße <strong>und</strong> tatsächlichen Auswirkungen dieser<br />

natürlichen Vorgänge sind jedoch in großem Maße<br />

durch den technologischen Stand der betroffenen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> den Einsatz des technologischen<br />

Know-hows bestimmt.<br />

Schlüsselsätze<br />

Natur, Gesellschaft <strong>und</strong> Technologie sind über ein<br />

komplexes Beziehungsgeflecht miteinander verb<strong>und</strong>en.<br />

Aus unserer Sicht ist „Natur“ sowohl<br />

die Gesamtheit aller vom Menschen unabhängigen<br />

Gegebenheiten als auch eine soziale Konstruktion.<br />

Betrachtet man Natur als Ergebnis gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse, so gilt es, ein Verständnis für<br />

die Vielzahl der heute existierenden Naturauffassungen<br />

zu entwickeln, die zu einem großen Teil<br />

an die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen<br />

geknüpft sind. Ebenso wichtig ist es, die kulturgeschichtlichen<br />

Hintergründe des heutigen Naturbegriffes<br />

<strong>und</strong> seiner verschiedenen Facetten zu kennen.<br />

In der westlichen, von jüdisch-christlichen<br />

Traditionen geprägten Kultur herrscht die prinzipielle<br />

Auffassung vor, dass die Natur etwas sei, das<br />

dem Menschen dienen solle.<br />

Unser heutiges Verständnis von Natur - <strong>und</strong> die<br />

Art <strong>und</strong> Weise unseres Umgangs mit ihr - hat<br />

sich, beginnend mit der Altsteinzeit, über Jahrtausende<br />

hinweg entwickelt. Schon in einer sehr frühen<br />

Phase der Menschheitsgeschichte wurde die<br />

Natur einerseits verehrt, andererseits aber auch<br />

ausgebeutet. In jüngerer Zeit haben die Prozesse<br />

der Verstädterung <strong>und</strong> Industrialisierung Umweltschädigungen<br />

in vorher nie gekanntem Ausmaß<br />

bewirkt.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft hat auch Umweltprobleme<br />

zu einer Angelegenheit von globaler<br />

Dimension werden lassen. Entwaldung, saurer Regen<br />

<strong>und</strong> radioaktiver Niederschlag bedrohen uns<br />

alle. Letztlich waren es Umweltkrisen globalen<br />

Ausmaßes, die in den vergangenen Jahrzehnten<br />

vielerorts zu neuen Erkenntnissen <strong>und</strong> zu einem<br />

Umdenken hinsichtlich unseres Umgangs mit<br />

der Natur beigetragen haben.<br />

L<br />

Wechselwirkungen zwischen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Natur<br />

In Kapitel 2 wurde ein einfaches Modell der Mensch-<br />

Umwelt-Beziehungen diskutiert, in dem in erster Linie<br />

die unabänderlichen Gegebenheiten der Natur<br />

das menschliche Handeln bestimmen <strong>und</strong> diesem<br />

Grenzen setzen. Diesen Ansatz bezeichnet man als<br />

Natur- <strong>und</strong> Geodeterminismus. Ein anderes Modell<br />

geht davon aus, dass nicht nur die Umwelt den Menschen<br />

prägt, sondern dass umgekehrt auch der<br />

Mensch durch den Einsatz von technologischen Mitteln<br />

<strong>und</strong> durch gesellschaftliche Institutionen die<br />

Umwelt formt. Bei dem zweiten, in den folgenden<br />

Abschnitten näher erläuterten Modell liegt das<br />

Hauptaugenmerk auf den komplexen Interaktionsmustern,<br />

die das Verhältnis von Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Umwelt bestimmen.<br />

In den vergangenen dreißig Jahren hat das Interesse<br />

an den Beziehungen zwischen Umwelt, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Technologie wieder stark zugenommen,<br />

da Umweltprobleme inzwischen von lokalen oder regionalen<br />

Beeinträchtigungen zu globalen Problemen<br />

angewachsen sind. Das gesteigerte Interesse wurde<br />

besonders deutlich, als es auf dem dritten Umweltgipfel<br />

in Kyoto 1997 zur Unterzeichnung des Kyotoprotokolls<br />

kam (der erste Umweltgipfel fand 1972 in<br />

Stockholm statt; der zweite 1992 in Johannesburg).<br />

Das Kyotoprotokoll ist bis zum Jahr 2012 gültig<br />

<strong>und</strong> hält die vereinbarten Ziele zur Verringerung<br />

des Ausstoßes von Treibhausgasen fest; jedoch haben<br />

bis heute nicht alle Staaten das Protokoll unterzeichnet<br />

(Abbildung 4.4). Im Juli 2002 trafen sich die<br />

Staatschefs <strong>und</strong> andere mit Umweltfragen befasste<br />

Persönlichkeiten auf einem weiteren Umweltgipfel<br />

im südafrikanischen Johannesburg.<br />

Obwohl seit Rio <strong>und</strong> Kyoto kein gr<strong>und</strong>legender<br />

Wandel erfolgt ist, gab es doch eine Reihe wichtiger<br />

Neuerungen <strong>und</strong> Ansätze wie beispielsweise die Einrichtung<br />

neuer internationaler Institutionen, die Umweltmaßnahmen<br />

fördern <strong>und</strong> überwachen oder die<br />

Reduzierung bleihaltiger Kraftstoffe. Ein großer Fortschritt<br />

war es, dass sich das wissenschaftliche <strong>und</strong> öffentliche<br />

Interesse seit 1992 verstärkt globalen Umweltfragen<br />

zuwendet.<br />

Die gestiegene Zahl von Umweltkrisen, die immer<br />

weitere Gebiete betreffen, führte zu einem erneuten<br />

Interesse an der Mensch-Natur-Beziehung. In der<br />

Vergangenheit setzte man bei der Lösung der meisten<br />

Umweltprobleme auf technische Maßnahmen. Heute<br />

hingegen scheint der technologische Fortschritt Um-


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 189<br />

Q Q /<br />

unterzeichnet <strong>und</strong> ratifiziert<br />

unterzeichnet, Ratifizierung ausstehend<br />

unterzeichnet, Ratifizierung abgelehnt<br />

keine Position<br />

4.4 Stand der Unterzeichnung <strong>und</strong> Ratifizierung des Kyoto-Protokolls im Jahr 2005<br />

Weltprobleme eher zu verstärken als zu vermindern.<br />

Daher gaben Forscher <strong>und</strong> Umweltaktivisten die TVnnahme<br />

auf, dass nur die Technologie Umweltprobleme<br />

zu lösen vermag <strong>und</strong> suchten stattdessen nach<br />

neuen Ansätzen. Die kenianische Forscherin <strong>und</strong><br />

Friedensnobelpreisträgerin von 2004, Wangari Maathai<br />

(Abbildung 4.5), rief zum Beispiel ein Aufforstungsprojekt<br />

von Frauen ins Leben: die sogenannte<br />

Green-Belt-Bewegung, die Umweltschutz mit wirtschaftlicher<br />

Entwicklung verbindet. Die Ziele des<br />

Selbsthilfeprojektes sind es, die lokale Biodiversität<br />

zu schützen, die Bodenerosion zu vermeiden <strong>und</strong><br />

die Waldbedeckung Kenias, die zurzeit weniger als<br />

2 Prozent der Landesfläche beträgt, sukzessive zu erhöhen.<br />

Die Green-Belt-Bewegung zielt darauf ab,<br />

durch eine Wiederaufforstungskampagne die biologische<br />

Artenvielfalt zu bewahren <strong>und</strong> zu erhöhen. Die<br />

Einnahmen aus dem Verkauf von Setzlingen für die<br />

Wiederaufforstung kommen lokalen Gruppen zugute.<br />

Unter denen, die sich systematisch mit Umweltfragen<br />

befassen - dazu zählen auch viele Geographinnen<br />

<strong>und</strong> Geographen -, wächst die Überzeugung, dass<br />

Umwelt <strong>und</strong> Gesellschaft nicht unabhängig voneinander<br />

betrachtet werden können, sondern untrennbar<br />

miteinander verb<strong>und</strong>en sind. Der schonende<br />

Umgang mit natürlichen Ressourcen ist nicht nur<br />

eine Frage des richtigen Einsatzes technologischer<br />

.Mittel. Vielmehr sind unser Verständnis von Natur<br />

<strong>und</strong> Umweltproblemen - einschließlich der Ansätze<br />

zu ihrer Bewältigung - von gesellschaftlichen Gegebenheiten<br />

bestimmt. Ein Ansatz, der Natur, Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Technologie als interaktive Komponenten<br />

4.5 Wangari Maathai Im Jahr 2004 bekam die Umweltaktivistin,<br />

Wissenschaftlerin <strong>und</strong> Vize-Umweltministerin von<br />

Kenia, Wangari Maathai, als erste afrikanische Frau den<br />

Friedensnobelpreis. Dr. Maathai erhielt den Nobelpreis für<br />

ihre Arbeit in der Green-Belt-Bewegung in Kenia <strong>und</strong> anderswo.<br />

Die Green-Belt-Bewegung ist eine Graswurzelbewegung, die<br />

beteiligt ist an Baumpflanzungen, der Erhaltung der Biodiversität,<br />

der Bürger- <strong>und</strong> der Umweltbildung, der Fürsprache <strong>und</strong><br />

der Vernetzung, der Ernährungssicherung <strong>und</strong> dem Capacity<br />

Building Vür Frauen <strong>und</strong> Mädchen. Das Ziel der Bewegung ist es,<br />

auf Fragen der nachhaltigen Entwicklung durch ökologische<br />

Alternativen zur Technologie einzugehen.


190 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

eines komplexen Systems versteht, bietet die Möglichkeit,<br />

neue Fragen zu stellen <strong>und</strong> Alternativen<br />

zum derzeitigen Umgang mit der Natur zu entwickeln.<br />

Zuvor bedarf es jedoch der Klärung einiger<br />

zentraler Begriffe <strong>und</strong> der Beschäftigung mit verschiedenen<br />

Naturauffassungen. Daran anschließend gilt es<br />

zu prüfen, welche Konzepte der Nutzung von Natur<br />

einen Wandel des jeweiligen Naturverständnisses mit<br />

sich brachten.<br />

Es ist nochmals festzuhalten, dass trotz wiederholter<br />

Bemühungen zur Bewältigung von Umweltproblemen<br />

diese nach wie vor bestehen. Am Beginn<br />

des dritten Jahrtausends besteht zum Beispiel das<br />

Pestizidproblem noch immer, <strong>und</strong> zwar weltweit.<br />

Seit den 1970er-Jahren organisierte sich eine weit<br />

verzweigte Bewegung von ökologisch orientierten<br />

Bürgerinitiativen, die Alternativen zur herrschenden<br />

Wachstumsideologie entwickelte. Aus diesen Impulsen<br />

für eine umfassende politische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Erneuerung gingen in Deutschland am Ende<br />

der 1970er-Jahre „Die Grünen“ als neue politische<br />

Partei hervor, zu deren Spitze auch Petra Kelly gehörte<br />

(Abbildung 4.6).<br />

Während in der Vergangenheit technische Lösungen<br />

als Allheilmittel galten, sehen wir heute, dass es<br />

offenbar anderer Ansätze bedarf, um mit Umweltproblemen<br />

tatsächlich fertig zu werden. In Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Praxis sucht man daher nach alternativen Lösungen.<br />

, Natur als kulturelles Konzept<br />

Die zentralen Begriffe dieses Kapitels - Natur, Gesellschaft,<br />

Technologie - haben ganz bestimmte Bedeutungsinhalte.<br />

Während im Folgenden der Wandel der<br />

mit diesen Begriffen verb<strong>und</strong>enen Vorstellungen ausführlich<br />

diskutiert werden soll, halten wir an einer<br />

Gr<strong>und</strong>auffassung fest, dass Natur das Produkt gesellschaftlicher<br />

Verhältnisse ist. Wie man die Natur sah<br />

<strong>und</strong> sieht, ist somit abhängig vom Betrachtungszeitpunkt,<br />

kulturellen Wertvorstellungen sowie den jeweils<br />

bestehenden Bedürfnissen <strong>und</strong> Möglichkeiten.<br />

Natur ist nicht nur etwas Materielles, sondern zugleich<br />

Spiegelbild einer Gesellschaft. Philosophische<br />

Ansätze, Glaubensrichtungen <strong>und</strong> Ideologien bestimmen,<br />

wie Menschen über die Natur denken <strong>und</strong> wie<br />

sie sich Natur zunutze machen. Wie sehr eine Gesellschaft<br />

in die Natur eingreift, hängt in hohem Maße<br />

vom technologischen Know-how <strong>und</strong> den kulturellen<br />

Normen hinsichtlich der Nutzung der natürlichen<br />

Ressourcen ab.<br />

Unter Gesellschaft versteht man eine zweckgeb<strong>und</strong>ene,<br />

aus Nützlichkeitserwägungen entstandene,<br />

meist in sich arbeitsteilig gegliederte Gruppe von<br />

Menschen, die zusammen leben <strong>und</strong> arbeiten. So entwickelt<br />

auch jede soziale Gruppe ihr eigenes Verhältnis<br />

zur Natur. Demnach bestehen zwischen Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Natur enge Wechselwirkungen.<br />

Das Maß der gegenseitigen Abhängigkeit von Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Natur wird für gewöhnlich durch<br />

Technologie im weiteren Sinne bestimmt. Deren<br />

Komponenten sind Wissen, Geräte, Fähigkeiten<br />

<strong>und</strong> Fertigkeiten sowie der soziokulturelle Kontext.<br />

Geht man davon aus, dass alle diese Komponenten<br />

den technologischen Stand einer Gesellschaft ausmachen,<br />

dann ergibt sich eine Definition, die drei unterschiedliche,<br />

jedoch gleichermaßen wichtige Aspekte<br />

einschließt. Technologie umfasst demnach:<br />

physische Objekte oder von Menschen gefertigte<br />

Gegenstände (zum Beispiel den Pflug)<br />

Aktivitäten oder Prozesse (zum Beispiel die Stahlerzeugung)<br />

Wissen oder Know-how (zum Beispiel die Biotechnologie)


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 191<br />

Durch die Einbeziehung von Werkzeugen, Anwendungen<br />

<strong>und</strong> Wissen macht diese Definition deutlich,<br />

welches die wesentlichen Komponenten der Prozesse<br />

<strong>und</strong> ihrer Auswirkungen sind, die beim Einsatz von<br />

Technologie durch den Menschen zum Tragen kommen.<br />

Messbarer Ausdruck der Erscheinungsformen<br />

<strong>und</strong> Auswirkungen von Technologie ist beispielsweise<br />

der Industrialisiermigsgrad einer Gesellschaft oder<br />

auch deren Pro-Kopf-Energieverbrauch.<br />

Die beschriebenen Begriffsinhalte reflektieren die<br />

heutige Denkweise hinsichtlich der Beziehung zwischen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Natur. Jahrh<strong>und</strong>erte hindurch<br />

prägten sowohl das vorherrschende Bild der Natur als<br />

auch deren äußere Realität die Haltung des Menschen<br />

gegenüber der Umwelt <strong>und</strong> den durch sie vorgegebenen<br />

Einschränkungen. Wie sehr sich diese Vorstellungen<br />

im Laufe der Zeit gewandelt haben, zeigt<br />

sich an literarischen <strong>und</strong> künstlerischen Zeugnissen,<br />

Religionen, Rechtssystemen <strong>und</strong> am technologischen<br />

Fortschritt.<br />

Aus Sorge über globale Umweltveränderungen bemüht<br />

man sich in jüngerer Zeit verstärkt darum, die<br />

Zusammenhänge zwischen derlei Veränderungen<br />

<strong>und</strong> sozialen Wandlungsprozessen zu ergründen. Unter<br />

der Prämisse, dass bestimmte gesellschaftliche<br />

Veränderungen unter Umständen in sehr enger Beziehung<br />

zu spezifischen Umweltveränderungen stehen<br />

können, wurde eine häufig angewandte Formel<br />

entwickelt, mit deren Hilfe sich der social impact,<br />

die Einwirkungen einer Gesellschaft auf die Umwelt,<br />

ermitteln lässt. Sie lautet I = PAT <strong>und</strong> setzt den Druck<br />

einer menschlichen Population auf die natürlichen<br />

Ressourcen in Beziehung zum Wohlstandsniveau<br />

<strong>und</strong> dem technologischen Stand einer Gesellschaft.<br />

/ (impact), der Einfluss auf die natürlichen Ressourcen,<br />

wird gleichgesetzt mit dem Produkt RAT, wobei<br />

P (Population) für die Bevölkerungszahl, A (affluence)<br />

für das Wohlstandsniveau (bemessen am Pro-Kopf-<br />

Einkommen) <strong>und</strong> T (technology) für einen Technologiefaktor<br />

stehen. So würde sich beispielsweise der unterschiedliche<br />

Umwelteinfluss (I) zweier Haushalte in<br />

verschiedenen Ländern durch ihren Energieverbrauch<br />

aus dem Produkt aus der Zahl der Haushaltsmitglieder,<br />

dem Pro-Kopf-Einkommen der Haushaltsmitglieder<br />

<strong>und</strong> der Art der Energiegewinnung<br />

dieser Haushalte ergeben.<br />

Jede der drei Variablen dieser Gleichung muss als<br />

komplex angesehen werden, sonst könnte man zu falschen<br />

Schlüssen kommen. So geht man etwa ganz allgemein<br />

davon aus, dass der direkte Druck auf die natürlichen<br />

Ressourcen mit global sinkenden Bevölkerungszahlen<br />

abnimmt. Es gibt indes auch die Ansicht,<br />

dass ein Ansteigen der Weltbevölkerung durchaus<br />

positive Folgen haben könnte, da eine größere Zahl<br />

von Menschen mehr Arbeit leisten <strong>und</strong> das Innovationspotenzial<br />

erhöhen würden. Auf diese Weise, so<br />

die Argumentation, könnten die gegenwärtigen <strong>und</strong><br />

künftigen Probleme, die sich aus der Begrenztheit<br />

der natürlichen Ressourcen ergeben, besser gelöst<br />

werden als im Falle eines Bevölkerungsrückgangs.<br />

Ganz offensichtlich ist also die Frage, was „Übervölkerung“<br />

bedeutet, nicht leicht zu beantworten<br />

(Kapitel 3).<br />

Ebenso ist zu berücksichtigen, dass sich die Frage<br />

nach dem Einfluss des Wohlstandsniveaus nicht einfach<br />

mit der Formulierung „weniger ist mehr“ abtun<br />

lässt. Zweifellos bedeutet zunehmender Wohlstand -<br />

bemessen am Produkt von Pro-Kopf-Konsum, Konsumentenzahl<br />

<strong>und</strong> Umwelteinflüssen der eingesetzten<br />

technologischen Mittel - einen erhöhten Verbrauch<br />

natürlicher Ressourcen <strong>und</strong> einen verstärkten<br />

Ausstoß umweltbelastender Abfälle. Dennoch ist<br />

schwer abzuschätzen, wann diesbezüglich eine „kritische“<br />

Grenze erreicht <strong>und</strong> wie viel Wohlstand „zu<br />

viel“ ist. Außerdem lässt sich belegen, dass die wohlhabenden<br />

Länder besser in der Lage sind, die Umwelt<br />

zu schützen, als arme Länder. Richtig ist jedoch auch,<br />

dass dies häufig durch den Export von Abfällen <strong>und</strong><br />

die Verlagerung von umweltschädlichen Fertigungsprozessen<br />

in periphere Regionen erzielt wird. Letzteres<br />

kann dort zwar zunächst zur Steigerung des Wohlstands<br />

beitragen, wenn gleichzeitig auch Arbeitsplätze<br />

exportiert werden. Nach allem, was wir über die sozioökonomischen<br />

Mechanismen der Industrienationen<br />

wissen, erhöht sich dadurch möglicherweise<br />

die soziale Stabilität in den Entwicklungsländern.<br />

Dies könnte das Wertesystem <strong>und</strong> die hieraus resultierenden<br />

Haltungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen letztlich<br />

dahingehend beeinflussen, dass auch in der Peripherie<br />

weitere Umweltschutzmaßnahmen ergriffen werden.<br />

Doch wann überschreitet Umweltbewusstsein<br />

die Grenze zwischen Notwendigkeit <strong>und</strong> Luxus? Hinsichtlich<br />

der von einer Gesellschaft ausgehenden Umwelteinwirkungen<br />

ist die Rolle des Wohlstands folglich<br />

ebenso schwer abzuschätzen wie die der Bevölkerungszahlen.<br />

Nicht weniger komplex ist die Bedeutung von<br />

Technologie, der dritten Variablen, die es zu berücksichtigen<br />

gilt. Festzuhalten ist, dass Technik die Umwelt<br />

in unterschiedlicher Weise beeinflusst, nämlich<br />

durch:<br />

• die Gewinnung von Rohstoffen<br />

• die Emission von Schadstoffen beziehungsweise<br />

die Produktion von Abfall bei Erzeugung <strong>und</strong><br />

Transport von Gütern sowie bei der Bereitstellung<br />

von Dienstleistungen


192 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

• durch die Emission von Schadstoffen beziehungsweise<br />

die Produktion von Abfall beim Konsum<br />

von Gütern <strong>und</strong> der Inanspruchnahme von<br />

Dienstleistungen<br />

Technik ist komplex, weil sie gegensätzliche Wirkungen<br />

haben kann: Eine technologische Innovation hat<br />

eventuell zur Folge, dass die Nachfrage nach einer bereits<br />

genutzten Ressource abnimmt <strong>und</strong> Bedarf an<br />

einer neu erschlossenen, in großer Menge verfügbaren<br />

Ressource entsteht. Technologie kann Probleme<br />

gleichermaßen lösen wie auslösen. Letzteres gilt etwa<br />

für die Kernenergie, die vielfach als „sauberer“ <strong>und</strong><br />

effizienter gilt als die Energieumwandlung von Kohle<br />

oder Erdöl. Dieses Verfahren der Stromerzeugung<br />

birgt indes trotz intensiver Bemühungen vonseiten<br />

der Wissenschaft erhebliche Risiken in sich.<br />

Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass Bevölkerungszunahme,<br />

wachsender Wohlstand <strong>und</strong> technologische<br />

Kapazität wichtige Komponenten für sozialen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Fortschritt darstellen, dessen<br />

Umweltauswirkungen jedoch überaus komplexer<br />

Natur sind. Im Laufe des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts erkannte<br />

man immer deutlicher, dass diese Komplexität eine<br />

dreifache Gefahrenquelle für die Umwelt als solche<br />

<strong>und</strong> die Verfügbarkeit <strong>und</strong> Qualität natürlicher Ressourcen<br />

darstellt. Die spezifischen Auswirkungen der<br />

genannten drei Variablen werden im Verlauf dieses<br />

Kapitels näher betrachtet.<br />

I Kulturökologie<br />

Die Kulturökologie befasst sich als Teildisziplin der<br />

Geographie mit dem Verhältnis von Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> Natur in dem Sinne, dass sie die Abstimmung<br />

kultureller Bedürfnisse des Menschen mit der vorhandenen<br />

natürlichen Umwelt analysiert. Einer ihrer<br />

prominentesten Vertreter war der amerikanische<br />

Kulturgeograph Carl Sauer, aus dessen Mensch-Umwelt-Geographie<br />

(Berkeley School of Geograpy) die<br />

moderne Kulturökologie entstand. In den Anfängen<br />

der Kulturökologie stand die Frage der Anpassung<br />

einer Gesellschaft an die Natur im Mittelpunkt. Die<br />

moderne Kulturökologie geht forschungslogisch weniger<br />

davon aus, dass die Natur einen bestimmenden<br />

Einfluss auf den Menschen hat <strong>und</strong> fragt stärker aus<br />

der Sicht der gesellschaftlichen Akteure, beispielsweise<br />

danach, wie verschiedene kulturelle Gemeinschaften<br />

mit Umweltphänomenen wie Niederschlagsvariabilität<br />

umgehen. Welche Technologien werden<br />

eingesetzt, um Steilhänge zu bewirtschaften (zum<br />

Beispiel Terrassenbau oder Bewässerung)? Von Interesse<br />

sind also die Organisationsformen, die Menschen<br />

aufbauen, um ihre natürliche Umwelt effizient<br />

nutzen zu können <strong>und</strong> diese Einrichtungen aufrechtzuerhalten.<br />

Diese Strategien der Menschen, ihre Bedürfnisse<br />

unter bestimmten Rahmenbedingungen (zum Beispiel<br />

natürliche Bedingungen oder technische Möglichkeiten)<br />

zu befriedigen, zeichnet sich mitunter<br />

sehr deutlich in der Landschaft ab, wie zum Beispiel<br />

die Reisterrassen in Südostasien (Abbildung 4.7) oder<br />

die Kanäle <strong>und</strong> Rückhaltebecken im Südwesten der<br />

USA. Mit fortschreitender Technik wird es immer<br />

mehr möglich, die Natur zum Beispiel durch Einsatz<br />

von Biotechnologie <strong>und</strong> Agrochemikalien, die eine<br />

Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge ermöglichen,<br />

den gesellschaftlichen Bedürfnissen (zum Beispiel<br />

schnell wachsende Bevölkerung) anzupassen.<br />

m<br />

4.7 Reisterrassen in<br />

Südostasien Südostasien<br />

wird auch als die<br />

„Reisschüssel“ der<br />

Menschheit bezeichnet.<br />

Reis bildet dort überall<br />

das Gr<strong>und</strong>nahrungsmittel<br />

der ländlichen Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> es haben sich<br />

verschiedene Techniken<br />

zur optimalen Nutzung<br />

der ursprünglichen Naturlandschaft<br />

herausgebildet.


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 193<br />

Die kulturelle Anpassung der Natur an die Bedürfnisse<br />

des Menschen beinhaltet jedoch nicht nur die<br />

Nutzbarmachung <strong>und</strong> Kultivierung von Natur, sondern<br />

der Mensch verursacht durch seine Eingriffe oft<br />

gravierende Umwelt- <strong>und</strong> Naturschäden, die von<br />

Umweltverschmutzung bis zur Zerstörung der natürlichen<br />

Lebensgr<strong>und</strong>lagen reichen. Beispielsweise begünstigt<br />

die intensive Bewirtschaftung von Steilhängen<br />

die Bodenerosion <strong>und</strong> durch den Einsatz von<br />

Chemikalien in der Landwirtschaft werden nahe gelegene<br />

Seen <strong>und</strong> Flüsse mit Giftstoffen verseucht. Als<br />

„Nebenprodukte“ der Industriellen Revolution entstanden<br />

Unmengen von Müll <strong>und</strong> Schadstoffen, die<br />

Land, Wasser <strong>und</strong> Atmosphäre verunreinigen, sodass<br />

in vielen Teilen der Erde die Luft stark verschmutzt<br />

<strong>und</strong> die Ges<strong>und</strong>heit der dort lebenden Menschen beeinträchtigt<br />

sind.<br />

Unter dem Eindruck der massiven Umgestaltung<br />

der Natur durch den Menschen fordern Geographinnen<br />

<strong>und</strong> Geographen wie Neil Smith <strong>und</strong> Margaret<br />

Fitzsimmons, dass die Bezeichnungen „natürliche“<br />

Umwelt oder unberührte Wildnis nicht länger verwendet<br />

werden. Sie schlagen stattdessen die Bezeichnung<br />

„soziale Produktion von Natur“ vor, um die<br />

Lbnformung von Natur <strong>und</strong> Landschaft durch den<br />

Menschen (insbesondere durch die Marktwirtschaft<br />

<strong>und</strong> die Prozesse auf dem Arbeitsmarkt) zu beschreiben.<br />

Indem die Geographie den Einfluss des Menschen<br />

auf die Umwelt <strong>und</strong> dessen soziale Ursachen <strong>und</strong> Folgen<br />

untersucht <strong>und</strong> diskutiert, hat sie maßgeblichen<br />

Anteil daran, dass die globale Dimension dieses Wandels<br />

ins allgemeine Bewusstsein gerückt ist. Von besonderem<br />

Interesse sind die weltweite Nutzung von<br />

fossilen Brennstoffen <strong>und</strong> der Wandel in der Landnutzung,<br />

da sich diese Vorgänge durch die Freisetzung<br />

von Kohlendioxid <strong>und</strong> die Abholzung der<br />

Wälder massiv auf das Klima (Erderwärmung) <strong>und</strong><br />

die Biodiversität (Abnahme der Artenvielfalt) auswirken.<br />

Religiöse Gr<strong>und</strong>haltungen<br />

I gegenüber der Natur<br />

Das 1967 erschienene Buch Traces on the Rhodian<br />

Shore des Geographen Clarence Glacken ist ein<br />

gr<strong>und</strong>legendes Werk über die historische Entwicklung<br />

der Natur- <strong>und</strong> Landschaftsauffassungen. Seiner<br />

Anlage nach enzyklopädisch, ist es eine wichtige Informationsquelle<br />

für jeden, den interessiert, wie sich<br />

das Verhältnis verschiedener Gesellschaften gegenüber<br />

der Natur bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert gewandelt<br />

hat. Glacken zeigt in seinem Buch unter anderem<br />

auf, dass die Idee einer vom Menschen getrennt existierenden<br />

Natur auf das antike Griechenland zurückgeht.<br />

Tatsächlich gilt dies auch für den heute verbreiteten<br />

Naturbegriff, dem die Vorstellung einer Dichotomie<br />

von Mensch <strong>und</strong> - nicht vom Menschen erzeugter<br />

- Natur zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Die jüdisch-christliche Tradition dürfte unser heutiges<br />

Naturverständnis am nachhaltigsten beeinflusst<br />

haben. Die jüdisch-christliche Naturauffassung geht<br />

davon aus, dass Gott die Natur erschaffen hat. Ebenso<br />

ist der Mensch —<strong>und</strong> darunter verstanden die Naturphilosophen<br />

früherer Jahrh<strong>und</strong>erte ausschließlich<br />

den Mann - ein Geschöpf Gottes. Anders als die Natur<br />

formte Gott den Menschen jedoch „nach seinem<br />

Bilde“. Mensch <strong>und</strong> Natur sind daher aus dieser Sicht<br />

etwas Verschiedenes.<br />

Die auf der jüdisch-christlichen Tradition basierende<br />

Überzeugung, dass der Mensch die Natur beherrschen<br />

müsse, ist zwar weit verbreitet, steht aber<br />

beileibe nicht allein. Selbst innerhalb des jüdischchristlichen<br />

Kulturkreises blieb sie nicht unwidersprochen<br />

- hingewiesen sei beispielsweise auf Franz<br />

von Assisi. Man sollte sich daher vor Augen halten,<br />

dass die Herrschaft des Menschen über die Natur<br />

zwar im Zentrum des jüdisch-christlichen Glaubens<br />

verankert ist, dass aber sowohl das Alte wie das<br />

Neue Testament Texte enthalten, die in stärkerem<br />

Maße ein Miteinander von Mensch <strong>und</strong> Natur betonen.<br />

In der Tat finden sich in allen religiösen Traditionen<br />

einander widersprechende Naturauffassungen.<br />

Allgemein betrachtet spiegeln sie sehr unterschiedliche<br />

Haltungen des Menschen gegenüber der Natur<br />

wider. Die taoistische Natursicht hebt klar hervor,<br />

dass die Natur um ihrer selbst Willen existiert <strong>und</strong><br />

durch sich selbst Wert besitzt, nicht dadurch, dass<br />

sie dem Menschen nützt. Der Taoismus, eine Religion,<br />

die ein Jahrtausend vor Christi Geburt in China<br />

entstand, strebt die Harmonie zwischen Mensch <strong>und</strong><br />

Natur an, wobei die Natur nicht als eine auszubeutende<br />

Ressource betrachtet wird, sondern als komplexer<br />

Lebenszusammenhang, den es zu respektieren <strong>und</strong> zu<br />

verehren gilt (Exkurs „Geomantik“).<br />

Das buddhistische Naturverständnis gründet sich<br />

auf die tiefe Überzeugung, dass nichts aus <strong>und</strong> durch<br />

sich selbst existiert <strong>und</strong> alles Teil eines natürlichen,<br />

komplexen <strong>und</strong> dynamischen Ganzen ist, in dem alles<br />

mit allem zusammenhängt. Innerhalb dieses Ganzen<br />

fällt dem Menschen eine besondere Rolle zu, weil er<br />

allein zur Reflexion <strong>und</strong> zu bewusstem Handeln fähig<br />

ist. Daher steht es Menschen nicht an zu handeln, als


194 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Exkurs 4.1<br />

Geographie in Beispielen -<br />

••<br />

Kulturökologie <strong>und</strong> Politische Ökologie<br />

In einem Forschungsprojekt in der zentralen Andenregion Südamerikas<br />

(ein Gebiet, das die gebirgigen Teile Perus, Boliviens<br />

<strong>und</strong> Ecuadors umfasst) untersuchen Kulturökologen, wie sich<br />

der traditionelle heimische Ackerbau durch die im 1A. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

aus Spanien importierten landwirtschaftlichen Neuerungen<br />

verändert hat. Die Transformation der in den Anden beheimateten<br />

kulturellen Bräuche <strong>und</strong> Lebensgewohnheiten begann<br />

im Jahre 1531 mit der Landung des Spaniers Francisco Pizarro<br />

in Peru <strong>und</strong> der nachfolgenden Unterwerfung des politisch,<br />

technologisch <strong>und</strong> kulturell hoch entwickelten Inkareichs.<br />

Die Spanier importierten (hauptsächlich über Nicaragua <strong>und</strong><br />

Mexiko) nicht nur eigene Nutzpflanzen <strong>und</strong> -tiere, sondern<br />

auch praktisches Wissen über die Herstellung von Geräten<br />

<strong>und</strong> Werkzeugen <strong>und</strong> ein ausgeprägtes Bewusstsein dafür,<br />

was ein „zivilisiertes“ Leben sei. In den 90er-Jahren des 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts hatte sich bereits ein ganzes Merkmalbündel<br />

der spanischen Kultur mit dem ländlichen Kultursystem der<br />

Andenbevölkerung zu einer bäuerlichen Mischkultur verwoben,<br />

in der sich stark vereinfachte materielle Aspekte der spanischen<br />

Lebensform mit wichtigen (jedoch veränderten) Methoden<br />

des Ackerbaus <strong>und</strong> des Hütens von Viehherden, landwirtschaftlichen<br />

Techniken sowie Siedlungsmustern der Inkas<br />

verbanden. Dass die Mischkultur nach vier Jahrh<strong>und</strong>erten, <strong>und</strong><br />

trotz der gegenwärtig starken Einflüsse der Globalisierung, immer<br />

noch erkennbar ist, beruht auf einer Kombination der folgenden<br />

Faktoren; der starken Verwurzelung der Bauern im<br />

Brauchtum, ihrer geographischen Isolation <strong>und</strong> der Ärmlichkeit<br />

ihrer Lebensumstände.<br />

Um 1620 war die indigene Bevölkerung in den Anden um<br />

90 Prozent zurückgegangen. Der Rest der Bevölkerung war gezwungen,<br />

die bisherige Lebensweise gr<strong>und</strong>legend zu ändern.<br />

Im Inkareich mit seiner großen Bevölkerungsbasis wurde<br />

einst intensiver Ackerbau betrieben, man legte Bewässerungssysteme<br />

<strong>und</strong> Feldterrassen an <strong>und</strong> pflügte die Böden der Berghänge.<br />

Nach dem starken Bevölkerungsrückgang fehlten<br />

jedoch die Arbeitskräfte für eine derart intensive Ackerwirtschaft,<br />

sodass die Bevölkerung zur Weidewirtschaft überging.<br />

Die stärksten Auswirkungen auf das bäuerliche Leben in den<br />

Zentralanden hatte letztlich die Einführung von Haustieren aus<br />

der Alten Welt (Abbildung 4.1.1).<br />

Während sich der traditionelle Denkansatz der Kulturlandschaft<br />

vorrangig mit den menschlichen Einwirkungen auf die<br />

natürliche Umwelt sowie deren Form <strong>und</strong> Geschichte auseinandersetzt,<br />

untersucht die Kulturökologie, inwiefern kulturelle<br />

Prozesse die Anpassung des Menschen an die Umwelt beeinflussen.<br />

Kulturelle Anpassung umfasst die von menschlichen<br />

Gemeinschaften angewandten komplexen Strategien, die ihnen<br />

eine erfolgreiche Existenz als Teil eines natürlichen Systems<br />

ermöglichen. Die Kulturökologie ist sich der Rolle des Menschen<br />

als Bestandteil komplexer Ökosysteme bewusst <strong>und</strong> hat erfasst,<br />

dass sein Umgang mit Ressourcen von kulturellen Glaubens<br />

Vorstellungen, Bräuchen, Werten <strong>und</strong> Traditionen sowie übergeordneten<br />

Institutionen <strong>und</strong> Machtverhältnissen abhängt.<br />

Der kulturökologische Ansatz beinhaltet drei Hauptpunkte;<br />

• Kulturelle Gruppen <strong>und</strong> ihre Umwelt sind durch systemische<br />

Beziehungen miteinander verb<strong>und</strong>en. Um zu verstehen,<br />

wie Umwelt <strong>und</strong> Kultur sich gegenseitig formen,<br />

muss die Kulturökologie untersuchen, wie der Mensch<br />

die natürlichen Ressourcen mithilfe einer Reihe von Strategien<br />

nutzbar macht.<br />

4.1.1 Webende Frau in den Anden<br />

Schafe sind eigentlich nicht in den Anden<br />

heimisch, dennoch sind sie in der Region<br />

seit der Kolonialzeit weit verbreitet.<br />

Schafe sind gut angepasst an große<br />

Höhen <strong>und</strong> liefern Wolle <strong>und</strong> Fleisch.


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 195<br />

• Kulturelles Verhalten ist als Funktion der kulturspezifischen<br />

Mensch-Umwelt-Beziehungen zu verstehen, wobei sowohl<br />

materielle als auch nichtmaterielle Kulturelemente bedeutsam<br />

sind. Ergebnisse werden durch intensive Feldforschung<br />

gewonnen.<br />

• Die meisten kulturökologischen Untersuchungen beschäftigen<br />

sich mit der Nahrungsmittelproduktion in ländlichen,<br />

peripheren Räumen, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen,<br />

wie sich Veränderungen auf die Beziehungen zwischen<br />

kulturellen Gemeinschaften <strong>und</strong> der Umwelt auswirken.<br />

Kulturökologie interessiert sich vor allem für Aspekte wie<br />

Nahrungsmittelproduktion oder demographische Veränderungen<br />

<strong>und</strong> ihre Auswirkungen auf die bestehenden Ökosysteme.<br />

Ferner gilt ihr Interesse der ökologischen Nachhaltigkeit. Die<br />

Kulturökologie erforscht statt großer Kulturräume oder -regio-<br />

nen kleine Gruppen <strong>und</strong> die von ihnen angewendeten Strategien<br />

der Anpassung an einen bestimmten Ort oder eine bestimmte<br />

Umgebung.<br />

Das oben erläuterte Beispiel aus den südamerikanischen<br />

Anden zeigt, wie Kulturökologen die komplexen Beziehungen<br />

zwischen Kulturgemeinschaften <strong>und</strong> ihrer Umwelt untersuchen.<br />

Die Forschung war in der Lage, den Einfluss der Kultur<br />

sowie der Umweltbedingungen auf die getroffenen Auswahlentscheidungen<br />

aufzuzeigen. Einige Kritiker führen jedoch<br />

ins Feld, das der konzeptionelle Rahmen der Kulturökologie<br />

die Auswirkungen der politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Institutionen<br />

<strong>und</strong> Praktiken auf die Kultur-Umwelt-Beziehung außer<br />

Acht lässt.<br />

In den 80er-Jahren des 20. Jahrh<strong>und</strong>ert begannen die Kulturökologen<br />

ihren Fokus von der Mensch-Umwelt-Beziehung<br />

einer einzelnen Gruppe wegzubewegen <strong>und</strong> einen weiteren Untersuchungsrahmen<br />

aufzuspannen. Als Ergebnis entstand die<br />

politische Ökologie, eine Verschmelzung von politischer Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Kulturökologie. Die politische Ökologie betont.<br />

dass die Mensch-Umwelt-Beziehungen nur dann angemessen<br />

erfasst werden können, wenn auf den Zusammenhang zwischen<br />

den Mustern des Ressourcenverbrauchs <strong>und</strong> den politischen<br />

wie ökonomischen Kräften Bezug genommen wird. Wie<br />

die wissenschaftliche Beschäftigung mit Landwirtschaft,<br />

Industrialisierung, Verstädterung <strong>und</strong> verschiedenen anderen<br />

geographischen Phänomenen erfordert auch diese Perspektive<br />

eine Untersuchung der Einflüsse von Staat <strong>und</strong> Markt<br />

auf die Nutzung der vorhandenen Ressourcen durch eine bestimmte<br />

Gruppe.<br />

Die politische Ökologie befasst sich zwar mit den gleichen<br />

Mensch-Umwelt-Komponenten wie die Kulturökologie, da sie<br />

diese aber nicht isoliert, sondern im Gefüge politischer <strong>und</strong><br />

wirtschaftlicher Beziehungen betrachtet, gilt sie als umfassender<br />

als die Kulturökologie.<br />

Eine Fallstudie über die Bananenproduktion auf St. Vincent<br />

<strong>und</strong> den Grenadinen, einem Inselstaat in der Karibik, illustriert<br />

diesen Unterschied (Abbildung 4.1.2). Die Landwirte auf der<br />

Hauptinsel St. Vincent haben sich seit Anfang der 1980er-Jah-<br />

re, als der Rückgang der lokalen Nahrungsmittelproduktion<br />

einsetzte, auf den Anbau von Bananen für den Export verlegt.<br />

Ohne die Ermittlung der maßgeblichen politischen Ursachen<br />

<strong>und</strong> überregionalen wirtschaftlichen Einflüsse ließe sich der<br />

zeitliche Zusammenfall dieser beiden Entwicklungen nicht erklären.<br />

Hier kamen sowohl entmutigende Faktoren als auch Anreize<br />

zum Tragen. Zu den Hemmnissen für eine inländische Nahrungsmittelproduktion<br />

zählen eingeschränkte Vermarktungsmöglichkeiten,<br />

der Diebstahl von Pflanzen, Konkurrenz<br />

durch billige Lebensmittelexporte <strong>und</strong> eine ungenügende Förderung<br />

des Ausbaus der landwirtschaftlichen Produktion<br />

durch die Regierung. Anreize bilden staatliche Subventionen<br />

für exportorientierten Anbau, Kreditmöglichkeiten für Bananenpflanzer<br />

<strong>und</strong> der große britische Markt für Bananen aus<br />

Karibisches<br />

Meer<br />

Portsmouth<br />

Morne Diablotin<br />


196 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

- 1<br />

— Fortsetzung Exkurs 4.1 ------------------------<br />

der Karibik. Aus dieser Kombination von Faktoren ergibt sich<br />

für die allgemeine Nahrungsmittelproduktion trotz der gleichen<br />

Umweltbedingungen eine weitaus weniger vorteilhafte<br />

politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Lage als für die Bananenplantagen.<br />

Da der Anbau für den Export eine potenziell lukrativere<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich sicherere Perspektive darstellt, ist die Produktion<br />

für den lokalen Markt nicht zuletzt auch wegen sich<br />

ändernder Ernährungsgewohnheiten die weniger attraktive<br />

Wahl für Landwirte.<br />

An diesem Fallbeispiel aus St. Vincent wird deutlich, dass<br />

der politisch-ökologische Ansatz einen Rahmen für die Untersuchung<br />

der Auswirkungen globaler wirtschaftlicher Prozesse<br />

auf lokale Kulturen <strong>und</strong> Gepflogenheiten bietet. Darüber<br />

hinaus zeigt das Beispiel, wie staatliche Politik <strong>und</strong> staatliches<br />

Flandeln sowie die weltweite wirtschaftliche Nachfrage<br />

lokale Entscheidungen beeinflussen. Einheimische kulturelle<br />

Bräuche, insbesondere traditionelle Ernährungsgewohnheiten,<br />

sind dabei zu verschwinden, während die Menschen<br />

einen Geschmack <strong>und</strong> eine Vorliebe für preiswerte <strong>und</strong><br />

Zeit sparende landwirtschaftliche Importerzeugnisse (einschließlich<br />

Mehl <strong>und</strong> Reis) entwickeln. Leider setzt sich die<br />

lokale Wirtschaft durch die Produktion für den Export immer<br />

auch den Wechselfällen der globalen Wirtschaft aus. So ergeben<br />

sich aus den jüngsten Änderungen der EU-Politik in<br />

Verbindung mit Bananenimporten (Importquoten, Zölle) negative<br />

Folgen für den Bananenanbau auf St. Vincent.<br />

seien sie über die Natur erhaben. Vielmehr soll ihre<br />

Fürsorge allem Lebenden - egal ob Mensch, Tier oder<br />

Pflanze - <strong>und</strong> ihr Bemühen der Unversehrtheit des<br />

Universums gelten.<br />

Die islamische Natursicht hat mit der jüdischchristlichen<br />

sehr viel gemein, sieht man einmal von<br />

der Tatsache ab, dass es in allen Religionen unterschiedliche<br />

Strömungen gibt. Der Koran, das heilige<br />

Buch des Islam, bekräftigt den Glauben, dass Himmel<br />

<strong>und</strong> Erde zum Wohl des Menschen erschaffen wurden,<br />

der in der Schöpfung an höchster Stelle steht.<br />

Anders als im jüdisch-christlichen Glauben hat Allah<br />

dem Menschen die Autorität über die Natur jedoch<br />

nicht als ein absolutes Recht eingeräumt, sondern<br />

als Prüfstein für seinen Gehorsam, seine Loyalität<br />

<strong>und</strong> seine Dankbarkeit gegenüber Gott. Der Erde<br />

Schaden zuzufügen, widerspricht dem Willen Allahs,<br />

ihr mit Verantwortung zu begegnen, bezeugt Respekt<br />

<strong>und</strong> ist nach dessen Wunsch.<br />

Stammesreligionen, wie sie in Nord- <strong>und</strong> Südamerika<br />

sowie in Afrika existieren, zeichnen sich ebenfalls<br />

durch sehr unterschiedliche Naturanschauungen aus.<br />

Dennoch haben diese Religionen auch manches gemeinsam.<br />

Stark vereinfacht formuliert, herrscht in ihnen<br />

der Glaube vor, dass der Mensch Teil einer komplexen<br />

natürlichen Welt ist. Animistische Religionen<br />

waren vor der Ankunft der Europäer sowohl in Afrika<br />

als auch auf dem amerikanischen Doppelkontinent<br />

<strong>und</strong> in Asien weit verbreitet. Als animistische Naturauffassung<br />

wird die Sicht oder der Glaube bezeichnet,<br />

dass alle natürlichen Phänomene, seien sie belebt<br />

oder unbelebt, eine Seele besitzen. In den meisten<br />

Ausprägungen des Animismus sieht sich der Mensch<br />

als Bindeglied zwischen belebter <strong>und</strong> unbelebter Natur.<br />

So vermögen viele Urvölker den Menschen nicht<br />

losgelöst von der Natur, <strong>und</strong> die Natur nicht ohne<br />

Verbindung zu übernatürlichen Kräften zu sehen.<br />

Im Animismus besteht die Vorstellung einer Verwandtschaft<br />

zwischen der Welt der Natur <strong>und</strong> der<br />

Welt des Menschen.<br />

Umweltphilosophien <strong>und</strong><br />

, Naturschutz___________<br />

Wie bereits erwähnt ist Natur ein in hohem Maße<br />

durch soziale Ideen <strong>und</strong> Werte geprägtes Konstrukt.<br />

Als Ergebnis dessen gibt es sehr viele unterschiedliche<br />

Naturauffassungen unter den verschiedenen Gesellschaften<br />

<strong>und</strong> Kulturen. Zurzeit wird unser Blick<br />

auf die Natur vor allem von der jüdisch-christlichen<br />

Tradition bestimmt, die den Menschen als Herrscher<br />

über die Natur ansieht <strong>und</strong> die Natur als Objekt, das<br />

es zu zähmen <strong>und</strong> zu dominieren gilt. Aber es gibt<br />

auch andere Sichtweisen, die sich gr<strong>und</strong>legend von<br />

der jüdisch-christlichen Deutung unterscheiden,<br />

wie vor allem die Umweltphilosophien, die im 19.<br />

<strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert aufkamen <strong>und</strong> eine radikalere<br />

politische Auffassung von Natur, die im späten<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert an Popularität gewann.<br />

Das Beispiel des amerikanischen Naturphilosophen<br />

<strong>und</strong> Schriftstellers Henry David Thoreau<br />

(1817-1862) zeigt vielleicht am deutlichsten, wie<br />

sich im Westen die Naturvorstellungen der nordamerikanischen<br />

Indianer mit anderen ökologischen Ansätzen<br />

verbanden. Berühmt wurde Thoreau, der die<br />

Natur in der Umgebung seiner Geburtsstadt Concord<br />

im US-B<strong>und</strong>esstaat Massachusetts intensiv erlebte<br />

<strong>und</strong> studierte, durch sein Buch Waiden. Darin berichtet<br />

er über die beiden Jahre, die er allein mit der Natur<br />

in einer Holzhütte am Waiden Pond, einem kleinen<br />

See, nur wenige Kilometer von Concord entfernt, verbracht<br />

hat. Thoreaus Denken steht in krassem Gegensatz<br />

zu der damals herrschenden Auffassung von einer<br />

dem Menschen untergeordneten Natur. Viele sehen in


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 197<br />

Geomantik<br />

Der Begriff Geomantik oder Geomantie (griechisch für „Erdweissagung“)<br />

wird seit der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts von<br />

westlichen Wissenschaftlern für das chinesische Feng-Shui<br />

(Wind <strong>und</strong> Wasser) oder das koreanische pungsu verwendet.<br />

Unter Feng-Shui versteht man die Kunst oder Wissenschaft,<br />

für Städte, Häuser, Verkehrswege <strong>und</strong> Grabstätten die richtigen<br />

Standorte so auszuwählen, dass diese mit den Lebenskräften<br />

der Natur (ch’i) im Einklang sind. Spätestens seit dem 2.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. haben die Chinesen die Erde als lebenden<br />

Organismus betrachtet, vergleichbar mit dem Körper des Menschen.<br />

Von der Erde wird angenommen, dass sie atmet <strong>und</strong><br />

Adern hat, durch die das ch’i, die Lebenskraft (Lebensessenz),<br />

fließt. Weil die Lebenskraft der Erde nicht an jedem Standort<br />

gleich groß ist, müssen Geomanten den besten Ort aussuchen.<br />

Das Gegenteil von ch’i ist sha, ein schädlicher Wind (eine<br />

schädliche Ausdünstung). Sha kann durch ungünstige landschaftliche<br />

Konfigurationen, gerade Linien oder schlechte Konstellationen<br />

von Kompassrichtungen entstehen.<br />

Die Lebenskraft hat zwei Ströme, die als yang <strong>und</strong> yin bezeichnet<br />

werden. Yin beherrscht die Erde, es symbolisiert das<br />

Weibliche, Dunkle, Weiche, Kalte, Stillstehende oder Destruktive.<br />

Yang beherrscht den Himmel, es repräsentiert das Männliche,<br />

die Kräfte des Lichts, das Feuer, das Warme, Harte, Bewegliche<br />

<strong>und</strong> Konstruktive. Berge, Hügel, hohe <strong>und</strong> steile Böschungen<br />

sind männlich (yang), Täler, Schluchten <strong>und</strong> r<strong>und</strong>e<br />

Höhenrücken sind weiblich {yin). Yang <strong>und</strong> yin wirken komplementär<br />

aufeinander <strong>und</strong> müssen im richtigen Verhältnis (zum<br />

Beispiel 3:2) zueinander stehen. Die besonders günstigen Standorte,<br />

welche sehr hohe Lebensenergien {ch’i) haben <strong>und</strong> deshalb<br />

Glück, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Reichtum bringen, liegen dort, wo sich<br />

Lebensadern der Erde kreuzen <strong>und</strong> wo männliche <strong>und</strong> weibliche<br />

Geländeformen {ying <strong>und</strong> yang) ineinander übergehen.<br />

Aus Sicht der Feng-Shui-Meister hat das Wasser die größte<br />

Bedeutung, weil es das ch’i festhält. Die zweitwichtigste Bedeutung<br />

hat der Wind, der nicht zu stark wehen sollte, weil<br />

sich sonst das ch'i verflüchtigt. Änderungen in der Relation<br />

zwischen Wind <strong>und</strong> Wasser werden für Erfolge <strong>und</strong> Misserfolge<br />

verantwortlich gemacht.<br />

Während die Energie spendenden Adern in Windungen angelegt<br />

sind, folgen die negativen Kräfte {sha) geraden Linien.<br />

Bergketten, Straßen oder Flüsse, die in geraden Linien verlaufen,<br />

haben negative Einflüsse <strong>und</strong> sollten nicht auf einen in<br />

Frage kommenden Standort zeigen. Wenn der Gr<strong>und</strong>riss einer<br />

Stadt aus geraden Linien bestand, muss zumindest die Umgebung<br />

so beschaffen sein, dass die ungünstigen Einflüsse gerader<br />

Linien aufgehoben wird.<br />

Einen ungünstigen Standort kann man durch die Anlage<br />

eines Grabens (Teichs) oder das Pflanzen von Baumreihen aufwerten.<br />

Zu den wichtigsten Regeln gehörte unter anderem,<br />

dass Gebäude auf geneigtem, gut entwässertem Gelände angelegt<br />

werden; dass Berge, Hügel oder Bäume auf der Nordseite<br />

des Hauses liegen sollten, damit sie Schutz vor den<br />

schädlichen Winden aus dem Norden bieten; dass der Eingang<br />

in eine Stadt oder in ein Haus immer im Süden liegt; dass Geländeformen,<br />

die yang repräsentieren, immer im Osten <strong>und</strong><br />

jene, die für yin stehen, im Westen liegen sollten. Der Süden<br />

ist - als Quelle der Wärme, des Lichtes <strong>und</strong> Lebens - die bevorzugte<br />

Himmelsrichtung, während mit dem Norden wegen<br />

der kalten Winde eine negative Konnotation verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Deshalb sind alte chinesische Karten nach Süden orientiert.<br />

Um sich vor den Unheil bringenden Winden aus dem Norden<br />

schützen zu können, sollte eine Stadt im Norden von einem<br />

Berg umgeben sein oder ein Haus auf der Nordseite einen<br />

Bambushain haben.<br />

Vom Geomanten oder Feng-Shui-Meister wird erwartet,<br />

dass er aufgr<strong>und</strong> seiner intuitiven Fähigkeiten <strong>und</strong> seiner<br />

Kenntnis bestimmter Theorien aus der Anordnung <strong>und</strong><br />

Form von Bergen, Hügeln, Geländekanten, Ebenen, Flüssen<br />

<strong>und</strong> dem Lauf der Gestirne <strong>und</strong> so weiter herauslesen<br />

kann, in welchem Maße ein Standort von den positiven <strong>und</strong><br />

negativen Kräften der Natur beeinflusst wird.<br />

Früher hätte kein chinesischer Bauer ein Haus gebaut oder<br />

eine Grabstätte errichtet, ohne den Rat von Geomanten eingeholt<br />

zu haben. Die Geomantik übte in ganz Ostasien einen<br />

großen Einfluss auf das Siedlungsbild <strong>und</strong> die Landschaftsgestaltung<br />

aus. Als die europäischen Kolonialmächte in China<br />

gerade verlaufende Straßen, Eisenbahnen <strong>und</strong> Telegrafenleitungen<br />

bauten, hat dies wegen der Verletzung von Feng-<br />

Shui-Regeln zahlreiche Konflikte ausgelöst. Nach der kommunistischen<br />

Revolution (1949) wurde in China Feng-Shui bekämpft.<br />

Die Dienste von Feng-Shui-Experten werden jedoch<br />

heute wieder in Anspruch genommen, selbst beim Bau von<br />

Hochhäusern (Kapitel 11).<br />

Feng-Shui-Haus in Repulse Bay, Hongkong.<br />

P. Meusburger


198 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Thoreau den Begründer einer amerikanischen ökologisch<br />

orientierten Philosophie.<br />

Thoreau zeigte sich beeindruckt von der Stärke<br />

<strong>und</strong> Rohheit der Natur. Wiederholt beschrieb er<br />

ihre ungestüme, bisweilen explosive Kraft, von der<br />

er meinte, sie könnte die Vorherrschaft des Menschen<br />

brechen, wenn sie nicht unter Kontrolle gehalten<br />

werde. Andererseits betonte er auch die Ganzheitlichkeit<br />

<strong>und</strong> Vernetztheit der Natur, in der Nahrungsketten<br />

existieren, innerhalb derer die Vögel von den<br />

Würmern <strong>und</strong> die Fische von den Fliegen abhängen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Besonders hervorzuheben ist, dass<br />

Thoreau die Natur als ein heilsames Gegenmittel betrachtete<br />

gegen die negativen Auswirkungen der von<br />

der Technologie beherrschten Zivilisation auf die<br />

Landschaften Amerikas <strong>und</strong> auf den Charakter der<br />

Amerikaner. Die Kleinstadt Concord, in der Thoreau<br />

lebte, befand sich nur 20 Meilen westlich von Boston<br />

<strong>und</strong> etwa gleich weit entfernt von den nördlich gelegenen<br />

Industriestädten Lowell <strong>und</strong> Lawrence, die sich<br />

in jenen Tagen sprunghaft entwickelten. Obwohl er<br />

sein Leben in einer noch weitgehend ländlichen Umgebung<br />

verbrachte, sah er deutlich die Auswirkungen<br />

der industriellen Revolution, die rings umher in vollem<br />

Gange war.<br />

Es gibt gute Gründe dafür, Thoreaus Sicht der<br />

Natur als eine Reaktion auf die Einflüsse einer frühen<br />

Form von Globalisierung zu betrachten. Seine Erk<strong>und</strong>ung<br />

der Tier- <strong>und</strong> Pflanzenwelt r<strong>und</strong> um Concord<br />

hatte das Ziel, den Zustand zu rekonstruieren, in dem<br />

sich die Landschaft vor der Kolonisation <strong>und</strong> der<br />

massiven Einwanderung aus Europa bef<strong>und</strong>en hatte.<br />

Thoreau, der von Rousseau beeinflusst war <strong>und</strong> für<br />

Individualismus, Nonkonformismus <strong>und</strong> ein naturverb<strong>und</strong>enes<br />

Leben eintrat, spielte eine wichtige Rolle<br />

für die Verbreitung der Romantik in den USA. Die<br />

Romantik ist als geistige <strong>und</strong> künstlerische Bewegung<br />

Ende des 18. jahrh<strong>und</strong>erts in Europa entstanden -<br />

ihre Schwerpunkte in Deutschland waren in jena<br />

<strong>und</strong> Heidelberg - <strong>und</strong> wurde Mitte des 19. jahrh<strong>und</strong>erts<br />

vom Realismus abgelöst. Sie war gekennzeichnet<br />

durch eine Rückbesinnung auf die Tradition, Sprache<br />

<strong>und</strong> Religion der jeweiligen Völker, ihre Schlüsselbegriffe<br />

waren Emotion, Verinnerlichung, subjektives<br />

Welterleben, Aufgehobenheit des Menschen in der<br />

Unendlichkeit der Natur. Die Anhänger dieser Philosophie<br />

betonten die gegenseitige Abhängigkeit <strong>und</strong><br />

Verb<strong>und</strong>enheit von Mensch <strong>und</strong> Natur. In direkter<br />

Opposition zu den Vertretern des jüdisch-christlichen<br />

Naturverständnisses glaubten die Romantiker,<br />

dass jedes Geschöpf - ob Mensch oder irgendein anderes<br />

Wesen - etwas Göttliches in sich trage, das Respekt<br />

verdient. Das Göttliche des Menschen, der nur<br />

ein Teil des Ganzen sei, zeige sich vor allem in dessen<br />

ehrfurchtsvoller Eingliederung in die Gemeinschaft<br />

der Natur.<br />

Ein Zweig der amerikanischen Romantik, der<br />

Transzendentalismus, hat die heutige Gr<strong>und</strong>haltung<br />

zur Natur ebenfalls beeinflusst. Am eloquentesten<br />

vertreten wurde diese in hohem Maße eklektizistische<br />

Bewegung von dem Unitarierprediger Ralph Waldo<br />

Emerson, einem Nachbarn <strong>und</strong> Zeitgenossen Thoreaus,<br />

der zum Dichter <strong>und</strong> Philosophen geworden war.<br />

Emerson <strong>und</strong> viele andere Anhänger der romantischen<br />

Schule verstanden die Philosophie des Transzendentalismus<br />

als das Streben des Menschen, über<br />

die Natur <strong>und</strong> die Grenzen des eigenen Körpers<br />

hinauszugelangen, dorthin, wo der Geist über dem<br />

Stofflichen steht <strong>und</strong> ein mystisches <strong>und</strong> spirituelles<br />

Leben an die Stelle des primitiven <strong>und</strong> barbarischen<br />

tritt. Thoreau <strong>und</strong> Emerson gehören in den USA zu<br />

denen, die unsere heutigen Vorstellungen hinsichtlich<br />

der Beziehungen zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur<br />

sehr stark geprägt haben.<br />

Im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert griffen Schriftsteller wie<br />

Gifford Pinchot <strong>und</strong> Politiker wie Theodore Roosevelt<br />

die Ideen Thoreaus <strong>und</strong> Emersons auf. Sie mahnten<br />

zu einem besonnenen Umgang mit den natürlichen<br />

Ressourcen <strong>und</strong> zur Bewahrung der Natur -<br />

eine Forderung, die bis heute gilt. Naturschutz im<br />

weiteren Sinne bedeutet, die natürlichen Ressourcen<br />

mit Bedacht zu nutzen, wobei nicht Ausbeutung, sondern<br />

planvolles <strong>und</strong> verantwortliches Handeln den<br />

Umgang einer Gesellschaft mit ihrer Umwelt bestimmen<br />

sollte - verantwortliches Handeln sowohl gegenüber<br />

zukünftigen Generationen als auch gegenüber<br />

der Natur als solcher. Naturschutzgruppen wie der<br />

Sierra Club, eine in den USA seit langem bestehende<br />

<strong>und</strong> weit verbreitete private Organisation, verfolgen<br />

im Wesentlichen eben jene Ziele. Dieser Verein verfügt<br />

über eine große Rechtsabteilung, die bei Bekanntwerden<br />

gemeinschaftlicher oder individueller<br />

Verletzungen von b<strong>und</strong>esstaatlichen oder nationalen<br />

Umweltschutzbestimmungen juristische Schritte gegen<br />

die Verantwortlichen unternimmt.<br />

Wenngleich der Begriff „Umweltschutz“ erst seit<br />

1970 als Übersetzung des englischen Begriffs environmental<br />

protection in den deutschen Sprachgebrauch<br />

übernommen wurde, so entstanden im deutschen<br />

Sprachraum bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Strömungen, die gegen eine überwiegend<br />

technisch-ökonomisch orientierte Naturauffassung<br />

gerichtet waren <strong>und</strong> das Erleben von Natur in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> stellten. Zu nennen wären etwa der<br />

österreichische Alpenverein (seit 1862), der Schweizer<br />

Alpen-Club (gegründet 1863) <strong>und</strong> der deutsche


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 199<br />

Alpenverein (gegründet 1869), deren ursprüngliches<br />

Ziel die Erschließung <strong>und</strong> Erforschung der Bergwelt<br />

sowie die Förderung des Bergsteigens <strong>und</strong> Bergwanderns<br />

war. Um 1895 gründete Hermann Hoffmann in<br />

Berlin den rousseauistisch geprägten „Wandervogel“,<br />

der als Ausgangspunkt der deutschen Jugendbewegung<br />

gilt <strong>und</strong> als wesentlichen Aspekt den Ausbruch<br />

aus der städtischen Zivilisation <strong>und</strong> die Hinwendung<br />

zum Erlebnis Natur propagierte. Etwa zur gleichen<br />

Zeit bildeten sich erste Interessengruppen zum organisierten<br />

Schutz der Umwelt, von denen sich jedoch<br />

die meisten mit dem Schutz der Vogelwelt befassten.<br />

Kurz vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende wurde 1899 in Stuttgart<br />

dann der Naturschutzb<strong>und</strong> Deutschland<br />

(NABU) e.V. gegründet, ln der Folgezeit wurde die<br />

Umweltproblematik immer komplexer, sodass sich<br />

die Tätigkeitsbereiche bestehender Organisationen<br />

erweiterten <strong>und</strong> sich ständig neue Gruppen mit<br />

neuen Zielsetzungen bildeten. Nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg erwachte in Europa erst nach Beendigung<br />

der wirtschaftlichen Aufbauphase zu Beginn der<br />

1960er-Jahre das Umweltbewusstsein langsam zu<br />

neuem Leben. Unter anderem wurde im Jahre<br />

1961 der World Wide F<strong>und</strong> for Nature (WWF) als<br />

World Wildlife F<strong>und</strong> mit Sitz in der Schweiz gegründet.<br />

Zwei Jahre später etablierte sich der WWF<br />

Deutschland als gemeinnützige, unabhängige <strong>und</strong><br />

überparteiliche Stiftung, die wie der WWF International<br />

ihre Naturschutzarbeit auf die drei Lebensräume<br />

Meere <strong>und</strong> Küsten, Binnenland- <strong>und</strong> Feuchtgebiete<br />

sowie Wälder konzentriert. 1971 wurde die internationale<br />

Umweltschutzorganisation Greenpeace gegründet,<br />

die auch im deutschen Sprachraum eine bedeutende<br />

Rolle spielt.<br />

Damit wurden die ersten Schritte zu einem gesellschaftlichen<br />

Wertewandel gesetzt, der dann in verschiedenen<br />

Aktionen, vor allem gegen die Nutzung<br />

der Atomkraft, seinen Ausdruck fand. Diese Bewusstseinsbildung<br />

<strong>und</strong> das Engagement früher politisch<br />

nicht aktiver Bevölkerungsgruppen führte in weiterer<br />

Folge auch zu einer Veränderung der politischen<br />

Landschaft <strong>und</strong> zur Gründung „Grüner“ Parteien<br />

in Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz.<br />

Verfechtern radikaler Ansätze gilt Naturschutz im<br />

herkömmlichen Sinn als eine Bewegung der bürgerlichen<br />

Mitte, die in ihren Zielen zu kurz greift - sei es,<br />

weil sie das politische <strong>und</strong> wirtschaftliche System, das<br />

die Ausbeutung der Natur betreibt, unangetastet lässt,<br />

sei es aufgr<strong>und</strong> der Überzeugung, dass die Natur, als<br />

etwas Heiliges, zu erhalten sei <strong>und</strong> nicht genutzt werden<br />

dürfe. Jene Position des Naturschutzes, die im<br />

angloamerikanischen Raum im Unterschied zu conserx'ation<br />

als preservation bezeichnet wird, erhebt<br />

die Forderung, bestimmte Habitate, Arten <strong>und</strong> Ressourcen<br />

dem Zugriff des Menschen ganz zu entziehen,<br />

gleichgültig, mit welchen positiven oder auch<br />

negativen Auswirkungen auf die jeweiligen Ökosysteme<br />

oder Umweltelemente dies verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Gruppen wie Earth First!, die ähnliche Ziele verfolgen,<br />

operieren oft jenseits der Grenzen etablierter Institutionen.<br />

Während der Sierra Club Umweltsünder<br />

vor Gericht bringt, greift Earth First! auch zu illegalen<br />

Methoden, die oft als „Ökoterrorismus“ bezeichnet<br />

werden. So treiben die Umweltaktivisten beispielsweise<br />

große Nägel in Bäume, um zu verhindern,<br />

dass diese gefällt werden, <strong>und</strong> auch, um ihren politischen<br />

Zielen Nachdruck zu verleihen. Derlei gezielte<br />

Kampagnen richten sich unmittelbar gegen Maßnahmen<br />

des Staates oder privatwirtschaftlicher Unternehmen,<br />

die Earth First! entsprechend der Philosophie<br />

der Organisation als Vergehen an der Umwelt<br />

betrachten, auch wenn die geplanten Eingriffe rechtlich<br />

einwandfrei sind.<br />

Greenpeace ist eine Umweltschutzorganisation,<br />

die sich sowohl von Earth First! wie auch vom Sierra<br />

Club unterscheidet. Entscheidend ist dabei, dass<br />

Greenpeace global ausgerichtet ist, die Organisation<br />

also sowohl Mitglieder in aller Welt als auch internationale<br />

Interessensphären vertritt (Abbildung 4.7).<br />

Bei ihrem Kampf gegen Umweltverschmutzung<br />

<strong>und</strong> Umweltzerstörung setzt Greenpeace sowohl<br />

die Strategien von Earth First! als auch die des Sierra<br />

Club ein, nämlich zum einen spektakuläre Einzelaktionen<br />

vor Ort <strong>und</strong> zum anderen formaljuristisches<br />

Vorgehen auf internationaler Ebene. Greenpeace vertritt<br />

die Gr<strong>und</strong>auffassung, dass alle Orte der Erde<br />

untereinander vernetzt sind <strong>und</strong> etwas, das irgendwo<br />

auf der Welt geschieht, für jeden von uns Folgen hat.<br />

Dies drückt sich sowohl in der Mitgliederstruktur aus<br />

- die Zentrale befindet sich zwar in Amsterdam, daneben<br />

gibt es aber Büros in den meisten Industrieländern<br />

- wie auch in der Zielvorstellung, die Umweltverschmutzung<br />

weltweit zu stoppen.<br />

Organisationen wie Earth First! <strong>und</strong> Greenpeace<br />

sind der konkrete Ausdruck neuerer Ansätze hinsichtlich<br />

des Verständnisses der Wechselbeziehungen<br />

zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur, die seit der Veröffentlichung<br />

des Buches Silent Spring druch Rachel L. Carson<br />

1962 das umweltbezogene philosophische Denken<br />

bestimmt haben (Abbildung 4.9). In jüngerer<br />

Zeit entstandene Strömungen - Umweltethik (environmental<br />

ethics), Ökofeminismus (ecofeminism), Umweltgerechtigkeit<br />

(environmetal justice) oder die radikalökologische<br />

Bewegung deep ecology - teilen die<br />

Überzeugung, dass „Natur“ ebenso eine physische Gegebenheit<br />

wie ein Produkt gesellschaftlich verwurzel-


200 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

r \ t d E u r o p e<br />

s s c p s i<br />

¡HOWMt!<br />

i W '<br />

4.8 Greenpeace-Protest in Europa Das am Brandenburger<br />

Tor in Berlin befestigte Plakat wurde von Greenpeace Europa<br />

angebracht, einer der vielen regionalen Gruppen der Organisation.<br />

Aktivisten wie die von Greenpeace <strong>und</strong> anderen Umweltorganisationen<br />

in Europa <strong>und</strong> Nordamerika lehnten den<br />

Irakkrieg aus humanitären <strong>und</strong> Umweltschutzgründen ab. Der<br />

Krieg am Persischen Golf (1991) führte zu einem Umweltdesaster,<br />

als irakische Truppen Öl in den Persischen Golf leiteten<br />

<strong>und</strong> 732 Erdölquellen in Kuwait entzündeten, als sie aus dem<br />

Land flohen. Die Protestanten sowie Gleichgesinnte würden als<br />

Basis der globalen Wirtschaft lieber eine andere Energiequelle<br />

als Erdöl sehen.<br />

ter Denkweisen ist. All dies sind alternative, wenn<br />

auch sehr unterschiedliche Zugänge zum Verständnis<br />

gesellschaftlich geprägter Vorstellungen von Natur.<br />

Umweltethik ist eine auf die Natur ausgerichtete<br />

philosophische Perspektive, die moralische Prinzipien<br />

als Leitlinie für das Verhalten gegenüber der Umwelt<br />

definiert. Sie insistiert auf der moralischen Verpflichtung<br />

der Gesellschaft, sich der Natur gegenüber<br />

genau so zu verhalten, wie wir es gemäß unseren<br />

moralischen Gr<strong>und</strong>sätzen gegenüber anderen Mitgliedern<br />

der Gesellschaft tun. Es gibt dabei eine ganze<br />

Reihe unterschiedlicher Denkrichtungen, denen aber<br />

im Wesentlichen eines gemeinsam ist; das Postulat,<br />

dass sich unser Umgang mit der Natur an denselben<br />

4.9 Rachel L. Carson (1 9 0 7 - 1964) Rachel L. Carson war<br />

von Beruf Biologin <strong>und</strong> arbeitete für den U.S. Fish and Wildlife<br />

Service. 1951 erschien ihr Buch The Sea Aro<strong>und</strong> Us, in dem sie<br />

die Naturgeschichte der Ozeane beschreibt. Es fand mehr als<br />

2 Millionen Leser <strong>und</strong> wurde in 32 Sprachen übersetzt. Die<br />

größte Wirkung erzielte jedoch ihr Buch Silent Spring, das<br />

erstmals die Umwelteinwirkungen von chemischen Schädlingsbekämpfungsmitteln<br />

kritisch beleuchtete.<br />

Wertmaßstäben zu orientieren habe, die wir für den<br />

zwischenmenschlichen Umgang als gut <strong>und</strong> richtig<br />

erachten. Die Auffassung, Tiere - egal ob Säugetiere<br />

oder Insekten - hätten ebenso wie Bäume oder Felsen<br />

die gleichen Rechte wie Menschen, löste heftige Kontroversen<br />

aus. Viele empfanden es als Provokation,<br />

das Recht auf Unversehrtheit <strong>und</strong> ein glückliches<br />

Leben, das dem Menschen zugestanden wird, auf<br />

die außerhalb des Menschen existierende Natur ausdehnen<br />

zu wollen.<br />

Der Ökofeminismus weist zahlreiche Übereinstimmungen<br />

mit dieser philosophischen Perspektive<br />

auf, dennoch ist der Gr<strong>und</strong>gedanke ein anderer. Diese<br />

Bewegung sieht die Hauptursache der gegenwärtigen<br />

Umweltmisere in den patriarchalen Strukturen der<br />

Gesellschaft, die Männern einen höheren Stellenwert<br />

zuerkennt als Frauen. Da in patriarchalen Gesellschaften<br />

Frauen als Teil der Natur gesehen werden,<br />

können beide gleichermaßen unterdrückt <strong>und</strong> ausgebeutet<br />

werden. Das Spektrum des Ökofeminismus ist<br />

außerordentlich breit. Es reicht von einer auf die Natur<br />

ausgerichteten Spiritualität, verb<strong>und</strong>en mit der<br />

Verehrung einer weiblichen Gottheit - nicht unähnlich<br />

dem Animismus der Urvölker -, bis hin zu stär-


Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur 201<br />

ker politisch orientierten Gruppen, die gegen die Dominanz<br />

von Modellen auftreten, in denen alles abgewertet<br />

wird, was nicht männlich ist. Manche Anhängerinnen<br />

des Ökofeminismus vertreten gleichzeitig<br />

auch Ziele der Umweltethik, wobei diese Denkrichtung<br />

nicht nur in den Industrieländern, sondern<br />

auch in den Entwicklungsländern weit verbreitet<br />

ist. Hier sind es vorwiegend die Frauen, die vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> rasch zunehmender Umweltschädigungen<br />

Verantwortung für die Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong><br />

das Wohlergehen ihrer Familien tragen. Das gemeinsame<br />

Ziel aller Varianten des Ökofeminismus ist die<br />

Überwindung des Patriarchats in der westlichen Kultur<br />

zugunsten einer Geisteshaltung, die der kulturellen<br />

wie auch der biologischen Diversität einen hohen<br />

Wert beimisst.<br />

Die radikalökologische Bewegung „Deep Ecology“<br />

ist verwandt mit dem Ökofeminismus. Der zugr<strong>und</strong>e<br />

liegende Ansatz beinhaltet zwei Schlüsselkomponenten:<br />

Selbsterkenntnis <strong>und</strong> Gleichwertigkeit aller<br />

Elemente der Biosphäre. Selbsterkenntnis bedeutet<br />

hier, der Mensch muss lernen, dass auch er Teil<br />

der außermenschlichen Welt ist; Gleichwertigkeit<br />

aller Biosphärenelemente heißt, dass die Erde (oder<br />

die Biosphäre) Zentrum allen Lebens ist <strong>und</strong> alle Teile<br />

der Natur, nicht nur der Mensch, den gleichen<br />

Respekt <strong>und</strong> die gleiche Behandlung verdienen. Die<br />

Anhänger der Deep-Ecology-Bewegung gehen davon<br />

aus, dass es zwischen der Menschheit <strong>und</strong> allem, was<br />

außerhalb des Menschen existiert, keine klare Trennlinie<br />

gibt. Ferner betrachten sie das Universum als<br />

etwas, das sich aus komplexen <strong>und</strong> überaus dichten<br />

Bcziehungsgeflechten aufbaut. Der Glaube an die gegenseitige<br />

Beziehung aller Dinge zueinander, so ihre<br />

Hoffnung, führe die Gesellschaft weg von einer Vorstellung,<br />

die in der Natur nichts anderes als eine nützliche<br />

Rohstoffquelle sieht, hin zu einem respektvollen<br />

Umgang mit der Erde.<br />

Die Anhänger der Umweltgerechtigkeit (environmental<br />

justice) führen Umweltbeeinträchtigungen in<br />

ihrem unmittelbaren Lebensumfeld durch benachbarte<br />

Fabriken oder Sondermülldeponien auf eine<br />

strukturelle <strong>und</strong> institutionalisierte Ungleichheit zurück,<br />

die in den Industrieländern wie auch den Entwicklungsländern<br />

verbreitet ist. Diese Gruppen weisen<br />

ausdrücklich auf den Unterschied zwischen ihren<br />

Forderungen <strong>und</strong> den Zielen von Organisationen wie<br />

dem Sierra Club, Earth First! oder Greenpeace hin.<br />

Deren Einsatz für die Umwelt sehen sie als den Kampf<br />

von Angehörigen einer bürgerlichen Mittelschicht für<br />

ihre spezifischen Interessen. Ihnen geht es indes nicht<br />

um Fragen der Lebensqualität von der Art, wie lange<br />

es noch Wälder geben wird, durch die man wandern<br />

kann, sondern um das bloße wirtschaftliche <strong>und</strong> physische<br />

Überleben. Probleme wie diese lassen sich<br />

nicht im Gerichtssaal lösen, sondern nur durch eine<br />

Umverteilung der wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Ressourcen <strong>und</strong> eine Veränderung der menschlichen<br />

Verhaltensweisen. Die Themen, die hierbei berührt<br />

werden, sind überaus komplexer Natur. Sie berühren<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen des menschlichen Zusammenlebens<br />

<strong>und</strong> betreffen Aspekte wie Profitgier, Konsumverzicht,<br />

Energieverbrauch, Machtansprüche, Vorurteile,<br />

Rassismus <strong>und</strong> vieles andere mehr.<br />

Die Umweltgerechtigkeitsbewegung ist nicht nur<br />

auf die Industrieländer beschränkt, denn weltweit<br />

sind es nicht die reichen Bevölkerungsgruppen der<br />

Industrieländer, sondern vor allem die ärmere Bevölkerung<br />

der wenig industrialisierten Länder, die von<br />

den negativen Folgen wirtschaftlichen Entwicklung<br />

für die Umwelt betroffen ist. Obwohl die meisten<br />

für eine Verbesserung der Lebensbedingungen der<br />

Armen der Welt sind, haben einige ernsthafte Vorbehalte<br />

gegenüber einer Anhebung des Lebensstandards<br />

auf das Niveau der Industrieländer <strong>und</strong> des wohlhabenden<br />

Teils der Weltbevölkerung. Globalisierungsforscher<br />

argumentieren, dass einige der weltweit<br />

höchsten Lebensstandards gesenkt werden müssten,<br />

um anderswo die Lebensbedingungen zu verbessern,<br />

denn die hohen Standards, die eine ausgedehnte wirtschaftliche<br />

Entwicklung erfordert, können nicht auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage umweltverträglicher Entwicklung bereitgestellt<br />

werden.<br />

Das Wissen über die qualitative <strong>und</strong> quantitative<br />

Begrenztheit der natürlichen Ressourcen hat zu der<br />

Einsicht geführt, dass das Wohlstandsniveau, das gegenwärtig<br />

in den Kernregionen besteht, nicht auf<br />

Dauer gehalten wird. Inzwischen wird nicht mehr<br />

nur über die Zukunft wirtschaftlicher Entwicklung<br />

debattiert, sondern zunehmend auch über Fragen<br />

der Nachhaltigkeit <strong>und</strong> darüber, wie wirtschaftlicher<br />

Aufschwung ohne eine anhaltende Schädigung der<br />

Umwelt erreicht werden kann.<br />

Alle diese Ansätze belegen die wachsende Besorgnis<br />

angesichts der Folgewirkungen der Globalisierung.<br />

Saurer Regen, Entwaldung, die Ausrottung<br />

von Arten, Reaktorkatastrophen, giftige Abfälle -<br />

all dies hat einen Prozess des Nachdenkens darüber<br />

in Gang gesetzt, welches Verhältnis zwischen Natur<br />

<strong>und</strong> Technologie wir in Zukunft anstreben wollen. Sicherlich<br />

hat keine der hier vorgestellten Denkrichtungen<br />

ein Allheilmittel anzubieten, aber jede von ihnen<br />

kann wichtige Kritikpunkte aufzeigen <strong>und</strong> vor allem<br />

darauf aufmerksam machen, dass Umweltkrisen<br />

keine eindimensionalen Probleme sind <strong>und</strong> es folglich<br />

einfache Lösungen nicht geben wird.


202 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

p '<br />

: ■<br />

S I<br />

I<br />

N<br />

i<br />

Technologisch-wissenschaftlicher<br />

Fortschritt <strong>und</strong> Wandel des<br />

I Naturverständnisses___________<br />

An dieser Stelle sei nochmals auf das zurückgegriffen,<br />

was über die im westlichen Denken tief verwurzelte<br />

Vorstellung hinsichtlich der Mensch-Umwelt-Beziehungen<br />

gesagt wurde - die Auffassung, dass der<br />

Mensch als „Krone der Schöpfung“ dazu berufen<br />

sei, die „wilde“ Natur zu zähmen <strong>und</strong> zu dominieren.<br />

Im Kern hatte dieser Gr<strong>und</strong>gedanke über Jahrtausende<br />

Bestand, wenngleich seine Bezeichnungen wechselten.<br />

Nach jüdisch-christlichem Glauben hat Gott den Menschen<br />

nach seinem Bilde erschaffen. Somit steht dieser<br />

über der Natur <strong>und</strong> soll sie deshalb auch beherrschen.<br />

Das Christentum vertrat also von Anfang an die<br />

Auffassung, dass die Natur dominiert werden müsse.<br />

Diese Idee kam indes mehr in religiöser <strong>und</strong> spiritueller<br />

Hinsicht zum Tragen als in politischer <strong>und</strong> sozialer.<br />

Erst im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert wandte sich die christliche<br />

Theologie von ihrer vom Alltagsleben abgehobenen<br />

Position ab <strong>und</strong> verschloss nicht länger die Augen<br />

vor naturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten zuvor herrschte in weiten Teilen Europas<br />

die Vorstellung von der Erde als einem belebten<br />

Ganzen, Innerhalb dessen das alltägliche Leben der<br />

Menschen in enger Beziehung zur natürlichen Ordnung<br />

der Dinge ablief. Die am häufigsten gebrauchte<br />

Metapher, in der die Abhängigkeit des Menschen von<br />

seinesgleichen <strong>und</strong> der Erde zum Ausdruck kam, war<br />

die eines Organismus. Aber auch dieser organische<br />

Naturbegriff beinhaltete zwei diametral entgegengesetzte<br />

Anschauungen: einerseits den Glauben an<br />

eine nährende <strong>und</strong> fürsorgliche Mutter Erde, <strong>und</strong> andererseits<br />

die tief verwurzelte Furcht vor einer gewalttätigen<br />

<strong>und</strong> unbeherrschbaren Natur, die imstande<br />

war, das menschliche Leben ins Chaos zu stürzen.<br />

In beiden Fällen wurden die Erde <strong>und</strong> die Natur<br />

als weiblich interpretiert.<br />

Zwei der im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert prominentesten Befürworter<br />

der Naturwissenschaften <strong>und</strong> der Technik<br />

waren die englischen Philosophen Francis Bacon<br />

(1561-1626) <strong>und</strong> Thomas Hobbes (1588-1679).<br />

Sie wirkten daran mit, dass sich die herrschende Vorstellung<br />

von der Natur als Organismus veränderte. In<br />

Anlehnung an die christliche Glaubenslehre beschrieben<br />

sie die Natur als etwas, das dem Menschen unterlegen<br />

ist. Sie hinterfragten die Vorstellung einer dem<br />

Wohl des Menschen dienenden Natur <strong>und</strong> waren bestrebt,<br />

die Forderung nach einer Beherrschung der<br />

ungeordneten <strong>und</strong> chaotischen Natur rational zu begründen.<br />

Die feministische Umwelthistorikerin Carolyn<br />

Merchant schreibt hierzu: „Der Wandel der vorherrschenden<br />

Symbolik war direkt geknüpft an Veränderungen<br />

menschlicher Haltungen <strong>und</strong> Verhaltensweisen<br />

gegenüber der Erde. Während das Bild der fürsorglichen<br />

Mutter Erde das strikte, kulturell verankerte<br />

Gebot dessen repräsentiert, was dem Menschen<br />

aus gesellschaftlicher <strong>und</strong> moralischer Sicht zu tun erlaubt<br />

ist <strong>und</strong> was nicht, ließen die neuen Vorstellungen<br />

der Überlegenheit <strong>und</strong> Macht des Menschen über<br />

die Natur deren Ausbeutung berechtigt erscheinen.<br />

Die Gesellschaft bedurfte dieser neuen Bilder im Voranschreiten<br />

des Kommerzialisierungs- <strong>und</strong> Industrialisierungsprozesses,<br />

der aus Aktivitäten wie Bergbau,<br />

Trockenlegung, Entwaldung oder Rodung bestand,<br />

aus Aktivitäten also, welche die Erde unmittelbar veränderten.<br />

Dazu setzte man eine Fülle neuer Technologien<br />

ein - Hub- <strong>und</strong> Druckpumpen, Kräne, Windmühlen,<br />

Zahnräder, Ventile, Ketten, Kolben, Tretmühlen,<br />

Wasserräder, Walkmühlen, Schwungräder,<br />

Blasebälge, Bagger, Kübelketten, Kraftübertragung<br />

über Zahn- oder Treibräder, Kurbeln, Flaschenzüge,<br />

Kegel-, Zylinder- <strong>und</strong> Kronenräder, Nockenwellen<br />

<strong>und</strong> Exzenter, Klinkenräder, verstellbare Schraubenschlüssel<br />

sowie Klemmen <strong>und</strong> Schrauben jeglicher<br />

Ausführung <strong>und</strong> Kombination“ ^ (Abbildung 4.10).<br />

Umweltveränderungen durch<br />

den frühen Menschen<br />

Die vorangegangenen Ausführungen haben möglicherweise<br />

den Eindruck entstehen lassen, der Einfluss<br />

des Menschen auf die natürlichen Ökosysteme sei bis<br />

in die frühe Neuzeit relativ gering geblieben. Doch<br />

obwohl der Mensch der Alt- <strong>und</strong> Jungsteinzeit<br />

über keinerlei komplizierte Werkzeuge, geschweige<br />

denn Maschinen verfügte, hat er bereits die Umwelt<br />

in teils erheblichem Maße verändert. Dafür gibt es<br />

eine Fülle von Belegen. Wie sich der Mensch seiner<br />

Umwelt gegenüber verhielt, hing für gewöhnlich davon<br />

ab, wie er diese wahrnahm. Es gibt aber auch viele<br />

Beispiele dafür, dass sich Denken <strong>und</strong> Handeln widersprechen<br />

konnten. Die folgenden Abschnitte zeigen,<br />

dass der heutige Mensch eine Umwelt geerbt hat,<br />

in der selbst seine frühesten Vorfahren bereits deutliche<br />

Spuren hinterließen.<br />

Merchant, C. The Death o f Nature. San Francisco (Harper and Row)<br />

1979. S. 2-3.


Umweltveränderungen durch den frühen Menschen 203<br />

4.10 Die Inwertsetzung der Natur Der Holzschnitt aus dem<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert zeigt die unterschiedliche Verwendung von Holz<br />

<strong>und</strong> Wasser in der Bergbauindustrie des späten Mittelalters <strong>und</strong><br />

der Renaissance. Das Motiv zeigt die Ausbeutung der Natur, im<br />

Gegensatz zur Auffassung der Natur als freigebiger Mutter.<br />

(Nach einem Holzschnitt von Georg Agricola. Georgius Agricola,<br />

De Re Metallica, übersetzt von der ersten lateinischen Ausgabe<br />

von 1556 von Herbert Clark Hoover <strong>und</strong> Lou Henry Hoover,<br />

S. 337)<br />

Umweltemwirkungen des<br />

I steinzeitlichen Menschen<br />

Man nimmt an, dass Menschen seit etwa 6 Millionen<br />

lahren die Erde bewohnen. Es gibt allerdings kaum<br />

Hinweise darauf, wie die frühesten Hominiden in ihrer<br />

natürlichen Umwelt lebten <strong>und</strong> überleben konnten.<br />

.Man weiß nur, dass ihre Zahl nicht groß war. Daher<br />

gibt es nur wenige F<strong>und</strong>e, seien es Werkzeuge<br />

oder im weitesten Sinne künstlerische Zeugnisse,<br />

aus denen wir etwas über die Beziehung dieser Menschen<br />

zu ihrer Umwelt erfahren können. Die ältesten<br />

Nachweise, die uns einen Einblick in das Verhältnis<br />

von Mensch <strong>und</strong> Natur gestatten, stammen aus dem<br />

Paläolithikum, also aus der Zeit etwa 1,5 Millionen<br />

Jahre vor heute. Die Bezeichnung Paläolithikum (Altsteinzeit)<br />

wurde als Name dieser frühesten Kulturperiode<br />

der Menschheitsgeschichte gewählt, weil in<br />

ihr erstmalig bearbeitete Steinwerkzeuge benutzt<br />

wurden.<br />

Die Menschen der Altsteinzeit waren Jäger <strong>und</strong><br />

Sammler, die in kleinen Gruppen zusammenlebten.<br />

Ihre Nahrung bestand aus Früchten <strong>und</strong> Beeren sowie<br />

aus Wild <strong>und</strong> Fischen. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage war ein<br />

Bevölkerungswachstum größeren Umfangs nicht<br />

möglich. Man nimmt an, dass in den Grasländern<br />

<strong>und</strong> Savannen Afrikas ein 2,5 Quadratkilometer großes<br />

Gebiet gerade ausreichte, um den notwendigsten<br />

Bedarf zweier Menschen an pflanzlicher <strong>und</strong> tierischer<br />

Nahrung zu decken. Um unter solchen Bedingungen<br />

überleben zu können, waren die Menschen zu<br />

weiträumigen Wanderungen gezwungen. Auf diese<br />

Weise breitete sich der damalige Mensch über große<br />

Gebiete aus <strong>und</strong> schuf so die Gr<strong>und</strong>lage für die heutige<br />

Verteilung der Weltbevölkerung (Abbildung<br />

4.11).<br />

Man hat nicht nur Werkzeuge aus der frühen Altsteinzeit<br />

gef<strong>und</strong>en, es gibt auch Belege für die zentrale<br />

Bedeutung, die die Jagd für die Existenzsicherung der<br />

damals lebenden Menschen <strong>und</strong> darüber hinaus besaß.<br />

So zeigen zum Beispiel die Höhlenmalereien von<br />

Altamira in Spanien, dass die Jagd die Denkweise der<br />

Menschen maßgeblich bestimmte. Aus der Tatsache,<br />

dass die Menschen der Steinzeit in kleinen Gruppen<br />

lebten, die auf ihren Wanderungen immer größere<br />

Entfernungen zurücklegten, könnte man zunächst<br />

folgern, dass ihr Einfluss auf die Umwelt gering<br />

war. Man weiß aber, dass sie das Feuer kannten<br />

<strong>und</strong> es auch auf vielfältige Weise nutzten. Mithilfe<br />

des Feuers lockten sie Wild an, um es zu erlegen,<br />

sie hielten damit Raubtiere fern <strong>und</strong> wärmten sich<br />

an ihm. Sie brannten Flächen ab, damit sich auf ihnen<br />

Pflanzenarten ansiedeln konnten, die Grasfresser wie<br />

Antilopen <strong>und</strong> Rehe anzogen.<br />

Die Auswirkungen häufiger <strong>und</strong> ausgedehnter<br />

Brände auf die Umwelt sind erheblich. Feuer verändert<br />

oder zerstört die Vegetation, seien es ganze Wälder<br />

oder ausgedehnte Grasfluren (Abbildung 4.12).<br />

Wie man bei Bränden immer wieder beobachten<br />

kann, verwandelt die Hitze manche Pflanzenarten<br />

in Asche, während andere, die eine hohe Feuerresistenz<br />

besitzen, den Brand überstehen. Auf diese Weise<br />

begünstigt das Feuer bestimmte Arten <strong>und</strong> fördert de-


204 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

vor mehr als 1 Mio. Jahren<br />

vor mehr als 100000 Jahren<br />

vor mehr als 10000 Jahren<br />

in den letzten 2000 Jahren<br />

4.11 Die Besiedlung<br />

der Erde Die Karte zeigt<br />

die Ausbreitungswege<br />

<strong>und</strong> den zeitlichen Ablauf<br />

der Wanderungen des<br />

Menschen, die aus der<br />

ständigen Suche nach<br />

Nahrung resultierten.<br />

Dargestellt sind Wanderungsbewegungen<br />

über<br />

einen Zeitraum von mehr<br />

als 1 Million Jahre.<br />

(Quelle; Ponting, C.;<br />

Green, A. History of the<br />

World. London (Sinclair-<br />

Stevenson) 1991, S. 25.<br />

Wiedergabe mit Genehmigung<br />

von Reed Consumer<br />

Books Ltd.)<br />

ren Wachstum, während es andere auslöscht. Brände<br />

schädigen oder verändern jedoch nicht nur den Bewuchs<br />

selbst. Oft vernichtet Feuer den Pflanzenbestand,<br />

der den Boden stabilisiert. Bei starken Regenfällen<br />

kommt es auf solchen Flächen zu verstärkter<br />

linearer Bodenerosion <strong>und</strong> in Hanglagen zu flächenhaftem<br />

Bodenabtrag, wenn nicht sogar zur vollständigen<br />

Denudation ganzer Landstriche. Es steht außer<br />

Frage, dass der Gebrauch des Feuers durch den Steinzeitmenschen<br />

mit vielfältigen Umwelteinflüssen dieser<br />

Art verb<strong>und</strong>en war.<br />

Die Archäologie nimmt an, dass viele große nordamerikanische<br />

Tierarten vor etwa 11 000 Jahren verschwanden.<br />

Am Ende des Pleistozäns starben große,<br />

weniger laufschnelle Säuger aus, darunter das Mastodon,<br />

das Mammut, der Höhlenbär, das Wollnashorn<br />

<strong>und</strong> der Riesenhirsch. Die Archäologen sind über<br />

diese Tatsache deshalb besonders erstaunt, weil die<br />

genannten Arten mehr als zwei Drittel der gesamten<br />

Großfauna in diesen Gebieten ausgemacht hatten.<br />

Über die Ursache gerade ihres Verschwindens gehen<br />

die Meinungen auseinander. Erklärungen in Richtung<br />

eines Klimawandels oder großräumiger katastrophaler<br />

Naturereignisse befriedigen nicht, da sich<br />

beides nicht in dem Maße selektiv ausgewirkt haben<br />

kann, dass nur Tiere der Großfauna verschwinden.<br />

Eine andere Begründung wäre, dass die Menschen<br />

der älteren Steinzeit durch ihre Jagd- <strong>und</strong> Sammelmethoden<br />

direkt für die Ausrottung der Großfauna<br />

verantwortlich waren. Auf den ersten Blick mag es<br />

zwar wenig plausibel erscheinen, dass „primitive“<br />

Jagdtechniken derart weit reichende Auswirkungen<br />

gehabt haben sollen. Vergegenwärtigt man sich allerdings<br />

das bereits Gesagte, den Pro-Kopf-Flächenbedarf<br />

der damaligen Menschen von mehr als einem<br />

Quadratkilometer als Nahrungsbasis, so ist dieser Zusammenhang<br />

nicht mehr ohne Weiteres von der<br />

Hand zu weisen. Hinzu kommt, dass sich mit der Zunahme<br />

der Bevölkerung <strong>und</strong> dem wachsenden Nahrungsbedarf<br />

der Druck auf die Tierwelt verstärkte,<br />

wobei die größten <strong>und</strong> langsamsten Säuger, die<br />

weniger rasch flüchten konnten, sicherlich am leichtesten<br />

zu erlegen waren.<br />

Man weiß, dass die Menschen der frühen Steinzeit<br />

die Waffen, insbesondere Steinmesser <strong>und</strong> Speerspitzen,<br />

mit denen sie ihre Jagdbeute töteten, laufend<br />

verbesserten. Mit der Verwendung doppelschneidiger<br />

Speerspitzen - nach ihrem ersten F<strong>und</strong>ort in New<br />

Mexico bezeichnet man diese als „Clovis-Speerspitzen“<br />

- erhöhte sich die Wahrscheinlichkeit, ein<br />

Tier nicht nur zu verletzen, sondern es bereits mit<br />

dem ersten Speerwurf zu töten. Diese Spitzen sind<br />

beidseitig zugespitzt, wobei ihre Länge mehr als das<br />

Doppelte der Breite misst. Der Clovis-Speer wurde<br />

bei der Jagd auf große Beutetiere wie Bisons verwendet.<br />

Gelegentlich nutzten paläolithische Jäger auch<br />

bestimmte Landschaftsformen aus, um eine größere<br />

Zahl von Tieren in natürliche Fallen zu locken, in<br />

denen diese entweder gleich umkamen oder aber<br />

leicht getötet werden konnten. So trieb man beispielsweise<br />

ganze Herden in Schluchten, um sie dort einzukesseln,<br />

oder hetzte sie auf Felsabhänge zu, über die


Umweltveränderungen durch den frühen Menschen 205<br />

4.12 Feuer <strong>und</strong> seine Auswirkungen aus die Landschaft Feuer kann verheerende Folgen für die Landschaft haben. Besonders<br />

heiße Brände können nicht nur die Oberflächenvegetation verbrennen, sondern auch das organische Material im Boden. Der Verlust<br />

dieses organischen Materials <strong>und</strong> anderer Nährstoffe verhindert die Regeneration der Vegetation. Ohne Vegetation, die den<br />

Boden verankert, können schwere Regenfälle zur massiven Bodenerosion führen. Das Bild zeigt das östliche Arizona, den Ort<br />

an dem sich das Rodeo- <strong>und</strong> das Chediski-Feuer im Jahr 2002 vereinigten.<br />

sie in die Tiefe stürzten. Andere Gruppen von Steinzeitjägern<br />

begnügten sich mit der Jagd auf Niederwild,<br />

wie etwa Kaninchen, dem sie mit Fallen <strong>und</strong><br />

kleinen Wurfgeschossen nachstellten.<br />

Errungenschaften <strong>und</strong> Umwelteinflüsse<br />

des neolithischen<br />

, Menschen___________________<br />

Dem neolithischen (jungsteinzeitlichen) Menschen<br />

ist die Entwicklung von Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht -<br />

ein erster Sieg der Technologie über die Natur - gelungen.<br />

Während der Beginn der Jungsteinzeit bei<br />

etwa 10 000 Jahre vor heute anzusetzen ist, so lässt<br />

sich der Übergang von neolithischen Jäger-Sammler-Gesellschaften<br />

zu solchen, die Pflanzenbau <strong>und</strong><br />

V'iehhaltung betrieben, nicht genau festlegen. Die<br />

mit diesem kolossalen Umbruch beginnende Periode<br />

bezeichnet man als „erste agrarische Revolution“ oder<br />

„neolithische Revolution“ (Kapitel 9). Klimatisch fällt<br />

sie mit der beginnenden Wiedererwärmung nach<br />

dem Ende der letzten Kaltzeit zusammen.<br />

ln jener Zeit stellten sich in den tiefer gelegenen<br />

Beckcnlandschaften Umweltbedingungen ein, unter<br />

denen sich Pflanzen kultivieren <strong>und</strong> Tiere domestizieren<br />

ließen. Damit notwendigerweise verb<strong>und</strong>en<br />

war der Übergang zu einer sesshaften Lebensweise<br />

in festen <strong>und</strong> dauerhaften Siedlungen. Die ersten Erfolge<br />

wurden mit leichter zähmbaren Tierarten<br />

(Pflanzenfressern) <strong>und</strong> genügsamen Pflanzenarten<br />

(mit großen Samen <strong>und</strong> hoher Trockenresistenz) erzielt.<br />

Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage konnten zunächst kleinere<br />

Gruppen das Nomadenleben aufgeben. Wie in<br />

Kapitel 2 ausgeftihrt wurde, verfeinerten die sesshaften<br />

neolithischen Bevölkerungsgruppen die Viehhaltungs-<br />

<strong>und</strong> Anbaumethoden ständig weiter. Schließlich<br />

gelang eine Innovation mit weit reichenden Folgen:<br />

die gezielte Zucht von Haustieren <strong>und</strong> Nutzpflanzen<br />

mit erwünschten genetischen Eigenschaften,<br />

etwa die Züchtung gegen bestimmte Krankheiten resistenter<br />

Pflanzen im Feldbau.<br />

Die Entwicklung des Ackerbaus war ein Schritt,<br />

der den Weg der Menschheit in eine neue Richtung<br />

lenkte <strong>und</strong> deutliche Auswirkungen auf die Umwelt<br />

hatte, <strong>und</strong> zwar negative wie positive. Indem man<br />

das natürliche Artenspektrum zunehmend durch<br />

eine kleinere Zahl von Kulturpflanzen ersetzte, verarmten<br />

die Ökosysteme. Unter einem Ökosystem<br />

versteht man eine natürliche Einheit abiotischer<br />

<strong>und</strong> biotischer Komponenten, die, in Wechselwirkungen<br />

miteinander stehend, ein gleich bleibendes<br />

System bilden, das in ein größeres Umfeld eingeb<strong>und</strong>en<br />

ist. Mit der Verringerung der natürlichen Artenvielfalt<br />

ging auch die Möglichkeit verloren, den eventuellen<br />

Nutzen vieler Pflanzen für den Menschen sowie<br />

deren Funktion innerhalb umfassenderer Öko-


206 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Systeme zu erforschen. Eine positive Folge des Übergangs<br />

zum Ackerbau war die Tatsache, dass durch die<br />

gezielte Sicherung der Ernährungsgr<strong>und</strong>lage die<br />

Überlebensfähigkeit der Menschen verbessert werden<br />

konnte. Damit waren erstmals die Voraussetzungen<br />

für stärkeres BevölkerungsWachstum gegeben.<br />

Es gibt zahlreiche Hinweise darauf, dass in dieser<br />

frühen Phase der Pflanzenkultivierung die Natur in<br />

zunehmendem Maße zu einem Gegenstand der Verehrung<br />

in Religion, Kunst <strong>und</strong> rituellen Handlungen<br />

wurde. Für eine reiche Ernte waren die Menschen auf<br />

Regen, die Fruchtbarkeit des Bodens <strong>und</strong> die Kraft<br />

der Sonne angewiesen. Aus dieser Abhängigkeit resultierte,<br />

soweit wir wissen, eine ehrfürchtige Haltung<br />

gegenüber der Natur. An vielen Orten der Alten<br />

wie der Neuen Welt verehrten die Menschen die<br />

Erde, die Sonne <strong>und</strong> den Regen. In Riten huldigten<br />

sie ihnen, <strong>und</strong> sie erbrachten Opfer, um sich ihr<br />

Wohlwollen <strong>und</strong> damit das eigene Überleben zu<br />

sichern.<br />

Der Einfluss früher menschlicher<br />

, Siedlungen auf die Umwelt_____<br />

Der wohl wichtigste Aspekt im Zusammenhang mit<br />

der Domestikation von Tieren <strong>und</strong> Pflanzen ist die<br />

Möglichkeit, einen Nahrungsüberschuss zu produzieren.<br />

Erst auf dieser Basis konnten Dauersiedlungen<br />

entstehen, in denen kleine Gruppen - vor allem dürften<br />

diese aus handwerklich Tätigen sowie politischen<br />

oder religiösen Eliten bestanden haben - von den<br />

Überschüssen leben konnten, ohne selbst an der Nahrungsgewinnung<br />

beteiligt zu sein. Dies war der Beginn<br />

der Arbeitsteilung, welche in weiterer Folge<br />

zum wichtigsten Motor der wirtschaftlichen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Entwicklung, zur Basis für den Handel<br />

sowie für die Entstehung von Städten <strong>und</strong> Märkten<br />

wurde, aber gleichzeitig auch als Hauptursache<br />

für die Entstehung großer sozialer <strong>und</strong> regionaler Ungleichheiten<br />

anzusehen ist. Mit dem Anstieg der tierischen<br />

<strong>und</strong> pflanzlichen Produktion wuchs auch die<br />

Zahl der Menschen, die sich dort, wo kultivierbares<br />

Land <strong>und</strong> Wasser vorhanden waren, in festen Siedlungen<br />

niederließen.<br />

Eine der wichtigsten Folgen der Arbeitsteilung ist<br />

die berufliche Spezialisierung beziehungsweise die<br />

Zunahme von Wissen <strong>und</strong> Qualifikationen. Jeder<br />

größere Sprung in der sozialen Evolution war mit<br />

einer Zunahme an Wissen verb<strong>und</strong>en. Die Erfindung<br />

landwirtschaftlicher Geräte brachte nicht nur weitere<br />

Fortschritte in Pflanzenbau <strong>und</strong> Viehzucht mit sich,<br />

sondern führte auch zu erheblichen Landschaftsveränderungen<br />

durch den wirtschaftenden Menschen.<br />

Erste Werkzeuge <strong>und</strong> Geräte, die eine bessere Beherrschung<br />

der Natur erlaubten, waren die Sichel zur Getreideernte,<br />

der Pflug für eine effizientere Bodenbearbeitung,<br />

das Joch, mit dem sich Zugtiere, beispielsweise<br />

Ochsen, vor den Pflug spannen ließen, sowie<br />

das Rad zum Mahlen von Getreide, als Töpferscheibe<br />

<strong>und</strong> später für Transportzwecke. Unter anderem<br />

diente das Rad auch als Umlenkrolle beim Wasserschöpfen<br />

- in Sumer <strong>und</strong> Assyrien ermöglichte das<br />

Rad zum Beispiel die Anlage ausgedehnter Bewässerungssysteme.<br />

Die Bewässerung ist eines der wichtigsten Verfahren,<br />

mit dessen Hilfe natürliche, insbesondere klimatische<br />

Einschränkungen überw<strong>und</strong>en werden konnten.<br />

Mit der Ausdehnung des Ackerbaus wurden vermehrt<br />

Bewässerungstechniken eingesetzt; ohne diese<br />

Technik wäre eine landwirtschaftliche Nutzung in<br />

weiten Teilen der Welt nicht möglich (Tabelle 4.1).<br />

Von den Ursprungsgebieten im sogenannten fruchtbaren<br />

Halbmond breitete sich diese überaus erfolgreiche<br />

Wirtschaftsform des Ackerbaus aus, <strong>und</strong> es entstanden<br />

neue Siedlungen. Die Nahrungsmittel produzierenden<br />

Minisysteme in China, dem Mittelmeergebiet,<br />

im präkolumbischen Amerika, dem Vorderen<br />

Orient <strong>und</strong> in Afrika verdankten ihren Bestand weitgehend<br />

der Bewässerung. Doch wie erklärt es sich,<br />

dass die Stadtkulturen Mesopotamiens vor r<strong>und</strong><br />

4 000 Jahren trotz ausgedehnter Bewässerungssysteme<br />

<strong>und</strong> einer ganz auf die Agrarproduktion <strong>und</strong><br />

Tabelle 4.1<br />

Nutzfläche seit 1700<br />

:Jahr (n. Chr.)<br />

Zunahme der bewässerten landwirtschaftlichen<br />

1700 50<br />

1800 80<br />

1900 480<br />

1949 920<br />

1959 1 490<br />

1980 2 000<br />

1981 2 130<br />

1984 2 200<br />

2000 2 740<br />

Fläche in 1 000 km^<br />

Quelle: Meyer, W. Human Impact on the Earth. Cambridge,<br />

Cambridge University Press, 1990. S. 59. Nach Rozanov, B. G;<br />

Targulian, V.; Orlov, D.S. Spoils. In; Turner II, B. L.; Clark, W.L;<br />

Kates, R.W.; Richard, J.F.; Mathews J.T.; Meyer, W. B. (Hrsg.)<br />

The Earth Transformed by Human Action. Cambridge, Cambridge<br />

University Press, 1990.


Umweltveränderungen durch den frühen Menschen 207<br />

begleitende Gewerbe abgestimmten Sozialstruktur<br />

zugr<strong>und</strong>e gingen? Eine von allen akzeptierte Erklärung<br />

dafür gibt es nicht. Nach Auffassung zahlreicher<br />

Wissenschaftler deuten jedoch die archäologischen<br />

Bef<strong>und</strong>e darauf hin, dass Missmanagement bei der<br />

Bodenbewirtschaftung daran schuld war. So reicherten<br />

sich infolge der Bewässerung beziehungsweise unzureichender<br />

Entwässerung zunehmend Salze in den<br />

Böden an. Die Bauern reagierten auf die Verschlechterung<br />

der Bodenqualität, indem sie anstelle von Weizen<br />

nun verstärkt Gerste anbauten, die eine höhere<br />

Salztoleranz besitzt. Langfristig war jedoch der Rückgang<br />

der Erträge auch damit nicht aufzuhalten.<br />

Darüber hinaus kam es zu erheblichem Bodenabtrag,<br />

der durch die zunehmende Entwaldung noch<br />

verstärkt wurde, <strong>und</strong> auch zu erhöhtem Eintrag<br />

von Sand <strong>und</strong> Feinmaterial in die Bewässerungskanäle<br />

<strong>und</strong> Vorfluter. Dies hatte wiederum dramatische<br />

Auswirkungen. So wuchsen die Deltas von Fließgevvässern<br />

infolge der hohen Sedimentfracht sehr stark<br />

an, sodass sich die Mündungsbereiche von Flüssen<br />

teilweise um 300 Kilometer <strong>und</strong> mehr verlagerten.<br />

Schließlich erreichte die Bodensalinität ein Maß,<br />

das jeglichen Ackerbau unmöglich machte. Während<br />

also mit großer Wahrscheinlichkeit falsche Bodenbewirtschaftung<br />

zum Niedergang der mesopotamischen<br />

Stadtkulturen geführt hat, ist in der Gegenwart der<br />

Bestand der Landwirtschaft etwa in Kalifornien<br />

oder im südwestlichen Arizona durch die Versalzung<br />

der Böden bedroht (Abbildung 4.13). Und nicht nur<br />

in Mesopotamien kam es mangels ausreichender<br />

Kenntnis der Zusammenhänge zu Umweltveränderung;<br />

auch andere frühe Zivilisationen, wie die der<br />

Mayas in Mittelamerika oder der Anasazi in Arizona,<br />

sind wahrscheinlich durch eine den natürlichen Verhältnissen<br />

nicht angepasste Wasserbewirtschaftung<br />

zugr<strong>und</strong>e gegangen.<br />

Das folgende Teilkapitel befasst sich mit der Periode<br />

der europäischen Kolonisation <strong>und</strong> den damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Globalisierungsprozessen. Zwar haben<br />

andere bedeutende Kulturen <strong>und</strong> Zivilisationen die<br />

Umwelt ebenfalls beeinflusst, doch die Auswirkungen<br />

der eingesetzten technologischen Mittel unterschied<br />

sich nicht wesentlich von denen, die bereits in den<br />

4.13 Bewässerungssystem bei El Centro in Südkalifornien Große Teile der landwirtschaftlich genutzten Fläche der Vereinigten<br />

Staaten liegen in niederschlagsarmen Regionen wie der Südwesten des Landes. In diesen Gebieten erfordert der Erhalt der landwirtschaftlichen<br />

Produktivität eine umfangreiche Bewässerung. Unter den dort herrschenden klimatischen Bedingungen ist die<br />

künstliche Bewässerung von Kulturen ein kostspieliges Unterfangen - Wasser muss über größere Entfernungen gepumpt werden, <strong>und</strong><br />

in den heißen, regenarmen Sommermonaten herrscht starke Evaporation. Die Bewässerungslandwirtschaft im Südwesten der<br />

Vereinigten Staaten trägt auch zur Erschöpfung der Gr<strong>und</strong>wasservorkommen bei. Die Einrichtung <strong>und</strong> der Erhalt der Bewässerungssysteme<br />

ist darüber hinaus mit hohen Kosten verb<strong>und</strong>en. Ein Großteil des für die Landwirtschaft bereitgestellten Wassers<br />

wird von der b<strong>und</strong>esstaatlichen Regierung massiv subventioniert, um den negativen Folgen hoher Wasserpreise für die Betriebe<br />

<strong>und</strong> die Gesamtproduktivität entgegenzuwirken. Die Landwirtschaft ist im Südwesten der USA vielerorts der größte Wasserverbraucher<br />

unter allen Sektoren, einschließlich der privaten Flaushalte, des Gewerbes <strong>und</strong> des öffentlichen Sektors. Durch internationale<br />

Verträge ist geregelt, wie viel Wasser die Flüsse aus den USA nach Mexiko bringen müssen. In vielen Fällen ermöglicht diese<br />

Restwassermenge beziehungsweise die fehlenden infrastrukturellen <strong>und</strong> organisatorischen Einrichtungen nicht eine ähnlich intensive<br />

Landwirtschaft wie in den angrenzenden USA.


208 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

?S i<br />

vorangegangenen Teilkapiteln beschrieben wurden.<br />

Die Umweltveränderungen der Kolonialepoche unterscheiden<br />

sich dagegen hinsichtlich ihrer räumlichen<br />

Ausdehnung ebenso wie in ihrer Art <strong>und</strong> Intensität<br />

erheblich von denen früherer Perioden. Außerdem<br />

liegen die Wurzeln vieler Umweltprobleme, die<br />

sich über die Zeit ausgeweitet, vervielfältigt <strong>und</strong> bis in<br />

die Gegenwart tradiert haben, zumindest teilweise in<br />

eben jener Zeit.<br />

Europäische Expansion<br />

Die Geschichte der europäischen Expansion ist ein<br />

eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eine Gesellschaft<br />

mit spezifischen Einstellungen gegenüber der Umwelt<br />

imstande war, die Natur in einer Weise umzugestalten,<br />

wie es sie in der Menschheitsgeschichte bis dahin<br />

nicht gegeben hatte. Diese neuen Haltungen lassen<br />

sich zurückführen auf die entstehenden Naturwissenschaften<br />

<strong>und</strong> deren Beitrag zum technologischen<br />

Fortschritt, auf die Verankerung großer Bevölkerungsteile<br />

im jüdisch-christlichen Glauben sowie -<br />

<strong>und</strong> dies dürfte der wichtigste Faktor sein - auf die<br />

Industrialisierung <strong>und</strong> Verstädterung.<br />

Zunächst bestand die europäische „Expansion“ in<br />

einem Prozess der Binnenkolonisation, der im Wesentlichen<br />

auf den Kontinent beschränkt blieb. Der<br />

augenfälligste Gr<strong>und</strong> für eine innere Landnahme ist<br />

das rasche Bevölkerungswachstum im damaligen Europa:<br />

Während um 1000 n. Chr. noch 36 Millionen<br />

Menschen den Kontinent bevölkerten, betrug ihre<br />

Zahl 1100 n. Chr. über 44 Millionen, im Jahr 1200<br />

fast 60 Millionen <strong>und</strong> 1300 bereits mehr als 80 Millionen<br />

(Abbildung 4.14). Immer größere Flächen wurden<br />

unter den Pflug genommen, immer mehr Waldgebiete<br />

gerodet <strong>und</strong> in Ackerland umgewandelt, immer mehr<br />

Tiere als Fleischlieferanten benötigt; <strong>und</strong> in immer<br />

größeren Umfang baute man Erze ab <strong>und</strong> beutete viele<br />

andere Ressourcen für die unterschiedlichsten Zwecke<br />

aus. Waren in West- <strong>und</strong> Mitteleuropa ursprünglich<br />

mehr als 90 Prozent der Fläche von Wald bedeckt,<br />

so betrug der Waldanteil am Ende der Periode<br />

der Binnenkolonisation nur noch 20 Prozent.<br />

Um 1300 endete die Phase der Binnenkolonisation.<br />

Die Beulenpest, auch „schwarzer Tod“ genannt,<br />

hatte das Bevölkerungswachstum vorübergehend verlangsamt<br />

<strong>und</strong> Mitte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts über ein<br />

Drittel der Bevölkerung Europas ausgelöscht. Mittlerweile<br />

hatte der Ackerbau alle Gunsträume in Beschlag<br />

genommen <strong>und</strong> sich bereits in dafür weniger gut geeignete<br />

Gebiete hinein ausgedehnt. So wurden beispielsweise<br />

in England, Italien, Frankreich, Deutschland,<br />

den Niederlanden <strong>und</strong> in anderen Teilen Europas<br />

Sümpfe <strong>und</strong> Moore entwässert, in den Niederungen<br />

<strong>und</strong> Flachlandschaften senkte man den Gr<strong>und</strong>wasserspiegel<br />

ab <strong>und</strong> an den Küsten drängte man<br />

das Meer zurück, um Ackerland <strong>und</strong> Siedlungsflächen<br />

zu gewinnen.<br />

Im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert setzte eine zweite Expansionsphase<br />

ein, in der Europa seinen Einfluss über die<br />

Grenzen des Kontinents hinweg auszuweiten begann.<br />

Damit war nicht nur das Startsignal zu einer Entwicklung<br />

gegeben, welche die politische Weltkarte verändern<br />

sollte. Es war auch der Beginn einer fünf Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

andauernden, bis in die Gegenwart reichenden<br />

Phase erheblicher Umwelteingriffe <strong>und</strong> Landschaftsveränderungen.<br />

Der Kolonialismus war das<br />

Resultat einer Kombination unterschiedlichster Impulse<br />

<strong>und</strong> eigennütziger wie - vordergründig -- uneigennütziger<br />

Motive. Ein Gr<strong>und</strong> für die Expansion<br />

nach außen war der stark gestiegene Flächenbedarf<br />

Europäische Herrscher entsandten die Entdecker<br />

letztlich mit dem Ziel, neue Territorien zu sichern,<br />

ihre Reiche auszudehnen <strong>und</strong> von den neuen Untertanen<br />

Steuern einzutreiben. Viele der Männer waren<br />

Abenteurer, die entweder auf Ruhm <strong>und</strong> Reichtum<br />

aus waren oder religiöser Verfolgung entgehen wollten.<br />

Gleichzeitig war die Kolonisation auch eine Konsequenz<br />

des christlichen Missionsgedankens. Ebenfalls<br />

eine treibende Kraft des Kolonialismus war<br />

das Streben nach Ausdehnung des sich entwickelnden<br />

Handelssystems, von der man sich allgemein wachsenden<br />

Wohlstand versprach, von der sich aber gerade<br />

auch die neue Gesellschaftsschicht der Kaufleute<br />

sowie die Aristokratie einen Zuwachs an Macht<br />

<strong>und</strong> Reichtum erhofften.<br />

Über die Jahrh<strong>und</strong>erte gerieten so immer größere<br />

Teile der Erde unter europäische Kontrolle. Zwei Beispiele<br />

sollen zeigen, wie die Ankunft der Europäer,<br />

<strong>und</strong> damit das Eindringen europäischer Ideologien,<br />

Technologien, Tier- <strong>und</strong> Pflanzenarten sowie neuer<br />

Krankheiten, nicht nur die jeweilige Umwelt, sondern<br />

auch die Gesellschaften veränderten, auf die sie trafen.<br />

Krankheiten <strong>und</strong> Entvölkerung<br />

I in den spanischen Kolonien__<br />

Historiker stimmen weitgehend darin überein, dass<br />

die europäische Kolonisation der Neuen Welt so viele<br />

Menschenleben gekostet hat wie kein anderes Ereignis<br />

in der Geschichte. Noch geringere Zweifel bestehen<br />

daran, dass Krankheiten dabei die größte Rolle


Europäische Expansion 209<br />

4.14 Bevölkerungswachstum in<br />

Europa Das Diagramm zeigt die Zunahme<br />

der Bevölkerung Europas von<br />

400 V . Chr. bis zum Jahr 2000. Man<br />

erkennt, dass die weltweite Kolonisation<br />

<strong>und</strong> beginnende Globalisierung in den<br />

vergangenen 500 Jahren mit einem<br />

enormen Bevölkerungsanstieg verb<strong>und</strong>en<br />

war. Ab dem 16. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde<br />

der zunehmende Bevölkerungsdruck zu<br />

einem wichtigen Impuls zur Erforschung<br />

der Erde über die Grenzen des europäischen<br />

Kontinents hinaus <strong>und</strong> damit<br />

letztlich zum Motor der Kolonisation.<br />

Der Einbruch der Bevölkerungskurve im<br />

14. <strong>und</strong> 15. Jahrh<strong>und</strong>ert lässt sich teilweise<br />

auf die seinerzeit grassierenden<br />

Pest-Epidemien zurückführen. Neben<br />

dem „schwarzen Tod“ trug Jedoch auch<br />

die Nahrungsmittelknappheit zu einer<br />

deutlichen Dezimierung der Bevölkerung<br />

bei. Ein weiterer Knick im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

markiert den Bevölkerungsverlust<br />

durch die beiden Weltkriege. (Quelle:<br />

McEvedy C., Jones R. Atlas o f World<br />

Population History. London, Allen Lane,<br />

1978.)<br />

gespielt haben. Die Bevölkerung der Neuen Welt,<br />

über Jahrtausende von der Alten Welt isoliert, war<br />

mit der Mehrzahl der in Europa auftretenden Krankheiten<br />

nie zuvor konfrontiert worden. Die Menschen<br />

besaßen infolgedessen auch keine Abwehrkräfte gegen<br />

viele der neu eingeschleppten Erreger. Krankheiten<br />

wie Pocken, Windpocken, Masern, Keuchhusten,<br />

Fleckfieber, Typhus, Beulenpest, Cholera, Scharlach,<br />

.Malaria, Gelbfieber, Diphtherie, Grippe <strong>und</strong> andere<br />

waren in der Neuen Welt in präkolumbischer Zeit<br />

gänzlich unbekannt.<br />

Der Geograph W. George Lovell hat untersucht,<br />

welche Rolle Krankheiten bei der Entvölkerung einiger<br />

spanischer Kolonien in der Neuen Welt gespielt<br />

haben. Dabei betrachtete er die Zeitspanne vom ersten<br />

Kontakt der indianischen Bevölkerung mit den<br />

Europäern bis zum Beginn des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts^.<br />

Das erste Beispiel, das Lovell behandelt, betrifft<br />

Lovell, W.G. Heavy Shadows and Black Nights: Disease and Depopulation<br />

in Colonial Spanish America. In: Annals, Association o f American<br />

Geographers 82, 1992


210 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

' Í<br />

I<br />

I<br />

León-Portilla M. The Broken Spears: The Aztec Account of the Conquest<br />

of Mexico. Boston (Beacon Press) 1962. S. 92-93. Zitiert<br />

nach Lovell, W. G. Heavy Shadows and Black Nights: Disease an Depopulation<br />

in Colonial Spanish America. In: Annals, Association of American<br />

Geographers 82 (1992) S. 429<br />

Hispaniola (heute Haiti <strong>und</strong> Dominikanische Republik),<br />

das Kolumbus auf seiner Fahrt im Jahre 1493<br />

erreicht hatte. Nach seiner Ankunft trat auf der Insel<br />

erstmals die Grippe auf. Auf späteren Fahrten wurden<br />

die Pocken <strong>und</strong> andere Krankheiten eingeschleppt,<br />

die letztlich die Ausrottung der Inselbevölkerung<br />

der Arawak zur Folge hatten.<br />

In einem zweiten, Mexiko betreffenden Beispiel<br />

beschreibt Lovell den Kontakt Hernán Cortés’ mit<br />

der Azteken-Hauptstadt Tenochtitlan in den ersten<br />

Jahrzehnten des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts, der eine verheerende<br />

Pockenepidemie zur Folge hatte. Die Bevölkerung<br />

war nie zuvor mit dieser Krankheit in Berührung gekommen.<br />

Ein aztekischer Originalbericht schildert<br />

eindrucksvoll dieses Ereignis: „Während sich die Spanier<br />

in Tlaxcala aufhielten, brach hier in Tenochtitlán<br />

eine furchtbare Seuche aus. Sie begann sich während<br />

des 13. Monats [30. September bis 19. Oktober 1520]<br />

auszubreiten <strong>und</strong> dauerte 70 Tage. Keiner blieb von<br />

der Krankheit verschont, die eine große Zahl unserer<br />

Leute dahinraffte. W<strong>und</strong>en brachen auf unseren Gesichtern,<br />

auf unserer Brust <strong>und</strong> auf unserem Leib hervor,<br />

von Kopf bis Fuß waren wir von quälenden<br />

W<strong>und</strong>en bedeckt.<br />

Die Krankheit war so schrecklich, dass keiner gehen<br />

oder sich auch nur bewegen konnte. Die Kranken<br />

waren so schwach, dass sie wie tot auf ihren Betten<br />

lagen <strong>und</strong> ihre Gliedmaßen nicht bewegen konnten,<br />

nicht einmal den Kopf. Weder vermochten sie auf<br />

dem Bauch zu liegen, noch sich von einer Seite auf<br />

die andere zu drehen. Wenn sie sich bewegten,<br />

schrien sie vor Schmerzen.<br />

Sehr viele starben an der Seuche, <strong>und</strong> viele andere<br />

verhungerten. Sie konnten nicht aufstehen <strong>und</strong> nach<br />

Speise suchen, <strong>und</strong> alle waren zu krank, um sie zu<br />

pflegen, so verhungerten sie in ihren Betten.“ ^<br />

In einem dritten Beispiel führt Lovell auch die Missionsbemühungen<br />

der Jesuiten im Norden Mexikos<br />

während eines früheren Zeitraumes an. Da zum<br />

Zweck der Bekehrung verstreut lebende Gruppen<br />

an bestimmten Orten zusammengezogen wurden, erhöhte<br />

sich die Gefahr von Seuchen erheblich. Kontakte<br />

mit spanischen Konquistadoren vor Ankunft<br />

der Missionare hatten die einheimische Bevölkerung<br />

wahrscheinlich bereits um ein Drittel, wenn nicht um<br />

die Hälfte dezimiert. Wurden die Gruppen in Ansiedlungen<br />

in der näheren Umgebung einer Missionsstation<br />

untergebracht, stieg die Sterblichkeit auf 90 Prozent.<br />

Es mutet wie bittere Ironie an: Die Missionare,<br />

die ausgezogen waren, die Seelen der Indianer zu „retten“,<br />

brachten ihnen letztlich den Tod. Anfänglich<br />

traten die Krankheiten nur dort auf, wo die Urbevölkerung<br />

mit Europäern in Berührung gekommen war.<br />

Sie breiteten sich jedoch weiter aus, indem sie von<br />

Händlern, <strong>und</strong> zwar noch vor dem Vorrücken der<br />

spanischen Armeen <strong>und</strong> Missionare, entlang der<br />

Fernhandelsrouten bis an die äußersten Grenzen<br />

des Maya-Reiches getragen wurden. Die Mayas mussten<br />

sich also nicht der Überlegenheit europäischer<br />

Technologie geschlagen geben, sondern der verheerenden<br />

Wirkung von Krankheiten, gegen die sie keine<br />

natürlichen Abwehrkräfte besaßen.<br />

Lovell führt ähnliche Beispiele aus dem von den<br />

Mayas beherrschten Guatemala sowie aus den zentralen<br />

Andenregionen Südamerikas an, wo eingeschleppte<br />

Krankheiten zur Entvölkerung ganzer<br />

Landstriche führten. Die Dezimierung der Urbevölkerung<br />

durch eingeschleppte Krankheiten blieb indes<br />

nicht auf den südamerikanischen Kontinent beschränkt.<br />

In der Wissenschaft bezeichnet man die<br />

Beinaheausrottung einer Urbevölkerung als Bevölkerungskollaps.<br />

In ökologischer Hinsicht resultierte<br />

aus dem Bevölkerungsrückgang infolge der enormen<br />

Sterblichkeit eine Umwandlung vieler Regionen mit<br />

einst produktiver Landwirtschaft in ungenutztes<br />

Brachland. So wurden etwa in den Anden ausgedehnte<br />

Ackerterrassen aufgegeben, mit der Folge,<br />

dass die Bodenerosion dramatisch zunahm. Andererseits<br />

kam es zur Wiederbewaldung großer, vorher gerodeter<br />

Flächen, beispielsweise auf der Halbinsel Yucatán<br />

im heutigen Mexiko.<br />

L<br />

Der Austausch von Pflanzen<br />

<strong>und</strong> Tieren zwischen Europa<br />

<strong>und</strong> der Neuen Welt<br />

Den Transfer exotischer Pflanzen <strong>und</strong> Tiere in ein<br />

fremdes Ökosystem nennt man ökologischen Imperialismus.<br />

Die Interaktion zwischen Europa <strong>und</strong> der<br />

Neuen Welt hatte sowohl einen bewussten als auch<br />

einen nicht beabsichtigten Austausch von Pflanzen<br />

<strong>und</strong> Tieren zur Folge, die man auf der einen oder<br />

auf der anderen Seite des Atlantiks vorher nicht<br />

kannte. Zu den „exotischen“ Pflanzen <strong>und</strong> Tieren,<br />

welche die Europäer - in diesem Fall die Spanier -<br />

aus ihren Heimatländern nach Amerika brachten, gehörten<br />

etwa der Weizen <strong>und</strong> das Zuckerrohr sowie<br />

Pferd, Rind <strong>und</strong> Schwein.


Europäische Expansion 211<br />

Dieser Transfer veränderte die Umwelt insofern,<br />

als die Bevorzugung einiger weniger Arten zu einer<br />

Abnahme der Artenvielfalt in den bestehenden Ökosystemen<br />

führte. Unbeabsichtigt wurden robuste Arten,<br />

darunter die Ratte, Wildkräuter wie Löwenzahn<br />

<strong>und</strong> Distel, oder auch der Star, eingebracht. Diese verdrängten<br />

häufig weniger widerstandsfähige einheimische<br />

Arten. Da diese auch kaum Abwehrkräfte gegen<br />

die aus Europa kommenden Krankheiten besaßen,<br />

wurden Populationen oder Bestände durch den Kontakt<br />

mit den fremden Erregern teils stark reduziert<br />

oder sogar vollständig ausgerottet.<br />

Da es sich um einen gegenseitigen Austausch handelte,<br />

gab es auch den umgekehrten Fall: In Amerika<br />

beheimatete Pflanzen, wie Mais, Kartoffel, Tabak, Kakao,<br />

Tomaten <strong>und</strong> Baumwolle, Tiere <strong>und</strong> Krankheitskeime<br />

(Syphilis) gelangten in die Alte Welt.<br />

Wenngleich die Kontakte zwischen Europa <strong>und</strong><br />

der übrigen Welt in hohem Maße von Gewalt <strong>und</strong><br />

Ausbeutung geprägt waren, so war dies doch nicht<br />

immer der Fall. Es gibt Beispiele für einen Austausch,<br />

von dem beide Seiten profitierten. Die Reisen des Kolumbus<br />

(Abbildung 4.15) haben die Kenntnisse über<br />

die Welt auf den Gebieten der Geographie, der Botanik,<br />

der Zoologie <strong>und</strong> anderer, sich rasch entwickelnder<br />

Naturwissenschaften enorm erweitert. Es gibt<br />

auch die Auffassung, dass die aus Übersee nach Europa<br />

transportierten Gold- <strong>und</strong> Silberschätze den europäischen<br />

Handel gefördert <strong>und</strong> damit indirekt die<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Industriellen Revolution geschaffen<br />

hätten.<br />

Der Austausch von Pflanzen war auch für den Ernährungssektor<br />

auf beiden Seiten des Atlantiks von<br />

großer Bedeutung. Obwohl die europäische Kolonisation<br />

für die Ausrottung H<strong>und</strong>erter Pflanzen- <strong>und</strong><br />

Tierarten verantwortlich ist, brachte diese doch<br />

auch weltweit eine qualitative <strong>und</strong> quantitative Bereicherung<br />

des verfügbaren Spektrums an Nahrungsmitteln<br />

mit sich. So schätzt man, dass sich die Zahl<br />

der Nahrungspflanzen in der Neuen Welt verdreifachte.<br />

Große Mengen von Nahrungsmitteln konnte<br />

man nun dort produzieren, wo es diese zuvor nicht<br />

gegeben hatte. Aus Europa eingeführte Nutztiere<br />

wurden zu bedeutenden zusätzlichen Eiweißlieferanten.<br />

Die Verfügbarkeit einer großen Zahl von Kulturpflanzen<br />

hat mehrere Vorteile. Beispielsweise können<br />

Missernten bei einer Anbaufrucht durch gute Ernteergebnisse<br />

bei anderen Nutzpflanzen aufgefangen<br />

werden, da nicht alle Arten in gleicher Weise anfällig<br />

sind gegenüber einer bestimmten Kombination widriger<br />

Umweltbedingungen.<br />

Die aus Europa eingebrachten Tiere versorgten die<br />

Neue Welt nicht nur zusätzlich mit Eiweiß, sondern<br />

konnten auch als Zugtiere eingesetzt werden. Im präkolumbischen<br />

Amerika waren Lamas <strong>und</strong> H<strong>und</strong>e die<br />

einzigen größeren Haustiere. Der Transfer von Pferden,<br />

Ochsen <strong>und</strong> Eseln in die Neue Welt steigerte das<br />

Potenzial an tierischer Arbeitskraft auf geradezu revolutionäre<br />

Weise. Darüber hinaus lieferten diese Tiere<br />

Fasern, Häute <strong>und</strong> Knochen für die Herstellung verschiedener<br />

Werkzeuge, Geräte, Decken <strong>und</strong> vieler anderer<br />

Gebrauchsgegenstände. Am stärksten war allerdings<br />

der Einfluss des Ochsen auf die Umwelt. Flächen,<br />

die man mit dem herkömmlichen Grabstock<br />

<strong>und</strong> anderen einfachen Geräten aufgr<strong>und</strong> der schweren<br />

Böden <strong>und</strong> verfilzten Wurzelsysteme nicht kultivieren<br />

konnte, ließen sich nun mit dem von Ochsen<br />

gezogenen Pflug bearbeiten. Dies führte dazu, dass<br />

der von der indianischen Bevölkerung bisher praktizierte<br />

intensive <strong>und</strong> arbeitsaufwendige Anbau auf<br />

kleinen Parzellen von einer extensiven, weniger Arbeitskräfte<br />

erfordernden Bewirtschaftung auf großen<br />

Flächen abgelöst wurde. Dieser Wandel blieb allerdings<br />

nicht ohne negative Auswirkungen, insbesondere<br />

der Bodenabtrag nahm stark zu.<br />

Auch die von den Ureinwohnern der Neuen Welt<br />

ausgehenden Umwelteinwirkungen gilt es zu berücksichtigen.<br />

Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass<br />

die verbreitete Vorstellung von Naturvölkern, die im<br />

Einklang mit der Natur leben, ohne diese nennenswert<br />

zu beeinflussen, nicht der Realität entspricht.<br />

Tatsächlich gibt es diese Einflüsse durchaus, wobei<br />

sie von Kultur zu Kultur stark variieren. Es erscheint<br />

daher geboten, sich von einem <strong>und</strong>ifferenzierten <strong>und</strong><br />

zudem romantisch verklärten Bild des „edlen Wilden“<br />

zu verabschieden.<br />

Auf dem Gebiet der späteren New-England-Staaten<br />

Nordamerikas lebten beispielsweise vor dem<br />

Kontakt mit den Europäern Stämme, die Wildtiere<br />

jagten <strong>und</strong> Wildpflanzen sammelten. Daneben gab<br />

es aber auch eher sesshafte Gruppen, die dauerhafte<br />

oder semipermanente Siedlungen bewohnten <strong>und</strong><br />

kleine Flächen rodeten <strong>und</strong> bepflanzten. Die Jäger<br />

<strong>und</strong> Sammler waren mobil <strong>und</strong> passten ihre Wanderungen<br />

den Jahreszeiten an. Sie ernährten sich von<br />

Fischen, Vögeln, Rotwild sowie von Beeren <strong>und</strong> anderen<br />

Pflanzenteilen. Die Ackerbauern pflanzten<br />

Mais, Bohnen <strong>und</strong> Tabak <strong>und</strong> nutzten ein breites<br />

Spektrum anderer natürlicher Ressourcen. Es handelte<br />

sich um eine einfache Wirtschaftsform, die<br />

auf Selbstversorgung oder Tauschhandel ausgerichtet<br />

war. Der Gedanke an eine Produktion von Überschüssen<br />

war den Menschen ursprünglich fremd;<br />

Land <strong>und</strong> Ressourcen wurden nur in dem Maße genutzt,<br />

wie es für das Überleben notwendig war. Boden<br />

<strong>und</strong> Güter befanden sich in Gemeinbesitz, Begriffe


212 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

S î i î<br />

Æ<br />

1. Reise<br />

2. Reise<br />

3. Reise<br />

4. Reise<br />

F/ores,<br />

Azoren<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

Madeira<br />

A<br />

Kartenausschnitt siehe unten<br />

C'"<br />

Lissabon''<br />

Kanarische<br />

Inseln<br />

C;EUROPA■<br />

A F R IK A<br />

Kapverdische<br />

Inseln<br />

S Ü D ­<br />

A M E R IK A<br />

800 Kilometör -<br />

o<br />

><br />

1492<br />

Isla de Pinos S í<br />

’ñ<br />

Sandy<br />

. Island i<br />

San Salvador<br />

Santa Maria de la Concepcion<br />

tandina<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

Bay<br />

Island<br />

Kap<br />

The Queen’s Gardeii<br />

Caba de (<br />

Jamaika<br />

Isabella<br />

LaNá'íB<br />

Española<br />

Karibisches Meer<br />

Jungfern-<br />

Inseln<br />

San Juan<br />

<<br />

Santa<br />

Cruz<br />

Montserrat<br />

Dominicas<br />

Martinique<br />

Guadalupe<br />

^ y Maria<br />

z Galante^<br />

*(1<br />

Margarita,^<br />

' \Trinidad<br />

^Porto Bello<br />

400 Kilom eter<br />

4.15 Die Fahrten von Kolumbus 1492- 1502 Die beiden Karten zeigen die Fahrten von Kolumbus an der Wende vom 15. zum<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert. Von Portugal <strong>und</strong> Spanien aus machte sich der gebürtige Genueser viermal nach Westen auf, um den Atlantik zu<br />

überqueren. Dabei stieß er auf verschiedene Inseln in der Karibik <strong>und</strong> erreichte das Küstengebiet des heutigen Honduras <strong>und</strong><br />

Venezuela. Die obere Karte zeigt die Routen über den Atlantik, die detaillierte Karte unten die Punkte, an denen Kolumbus mit seinen<br />

Begleitern an Land ging <strong>und</strong> mit den Eingeborenen in Berührung kam. (Quelle; Chaliand G., Rageau J.-P. (übersetzt von Barrett A.M.)<br />

The Penguin Atlas o f the Diaspora. 1995. Wiedergabe mit Genehmigung von Viking Penguin, Penguln Books USA Inc.)


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 213<br />

wie persönliches Eigentum oder privates Land waren<br />

unbekannt. Man brannte den natürlichen Bewuchs<br />

nieder, um Ackerland zu gewinnen <strong>und</strong> Flächen<br />

für die Jagd offen zu halten. Dadurch wurde die Vegetation<br />

zwar beeinflusst, die Veränderungen waren<br />

jedoch nur gering, lokal beschränkt <strong>und</strong> zudem nicht<br />

irreversibel.<br />

Verallgemeinernd ist festzustellen, dass das Ausmaß<br />

früherer Umweltschädigungen letztlich eine Frage<br />

der organisatorischen Entwicklungsstufe einer Zivilisation<br />

war. In Hochkulturen mit einer stark entwickelten<br />

Arbeitsteilung, einem ausgebauten Städtenetz<br />

<strong>und</strong> stark differenzierten politischen Strulcturen<br />

sind die Eingriffe in die Natur stärker als bei Jäger <strong>und</strong><br />

Sammlern. So war die Beziehung mancher süd- <strong>und</strong><br />

mittelamerikanischer Hochkulturen zu ihrer Umwelt<br />

weit weniger harmonisch. Die in Mexiko ansässigen<br />

Azteken <strong>und</strong> die in einem Gebiet von Kolumbien bis<br />

Chile lebenden Inkas hatten eine komplexe städtische<br />

Zivilisation mit hoher Bevölkerungsdichte <strong>und</strong> intensiver<br />

Landwirtschaft entwickelt (Abbildung 4.16), die<br />

in den trockeneren Regionen auf künstlicher Bewässerung,<br />

in den Bergländern unter anderem auf der<br />

Terrassierung steiler Hänge basierte. Beides zog erhebliche<br />

Landschaftsveränderungen nach sich. Die<br />

über Jahrh<strong>und</strong>erte durchgeführte Bewässerung bewirkte<br />

auch hier eine Versalzung der Böden. In<br />

den tropischen Tiefländern führte die intensive Landwirtschaft<br />

zu einer Auslichtung der einst geschlossenen<br />

Walddecke. So wurden nicht nur Bäume geschlagen,<br />

sondern man betrieb auch Brandrodung. Die auf<br />

diese Weise gewonnenen Ackerflächen wurden nur<br />

wenige Jahre unter Kultur genommen. Sobald die Bodenfruchtbarkeit<br />

abnahm, zogen die Bewohner weiter.<br />

Die Hochkulturen der Azteken <strong>und</strong> Inkas konnten<br />

ihren Bestand nur durch die Produktion von Überschüssen<br />

sichern, denn die politischen <strong>und</strong> religiösen<br />

Eliten forderten von der übrigen Bevölkerung Tribut<br />

in Form von Nahrungsmitteln, Tieren, Arbeitskraft<br />

oder Edelmetallen. Für den Aufbau <strong>und</strong> die Sicherung<br />

ihrer riesigen Reiche benötigten sie große Mengen<br />

Baumaterial, hauptsächlich Holz <strong>und</strong> Lehm. Aufgr<strong>und</strong><br />

der starken Bevölkerungskonzentrationen<br />

<strong>und</strong> der aus einer städtischen Kultur resultierenden<br />

Erfordernisse kam es schon vor der europäischen Eroberung<br />

zu ausgedehnten Umweltveränderungen.<br />

L<br />

Anthropogene Umweltveränderungen<br />

in jüngerer Zeit<br />

4.16 Machu Picchu Machu Picchu zählt zu den bedeutendsten<br />

Orten des alten Inkareichs. In den peruanischen<br />

Anden auf einem steilen Bergrücken namens ceja de selva<br />

(..Augenbraue des Dschungels“) gelegen, war Machu Picchu<br />

wahrscheinlich ein kultisches Zentrum, aber auch eine umfangreiche<br />

Siedlung, die eine große Zahl von Menschen beherbergte.<br />

Dies belegen unter anderem die ausgedehnten<br />

Kulturterrassen an den Berghängen. Archäologen, Geographen<br />

<strong>und</strong> andere Wissenschaftler vermuten, dass Machu Picchu<br />

eines der letzten Bollwerke des erbitterten Widerstands der<br />

Inkas gegen die spanischen Konquistadoren war. Dieses Foto<br />

vermittelt einen Eindruck von der Lage der Stadt, die idealen<br />

Schutz vor Angreifern bot.<br />

Keine andere Umwälzung in der Geschichte der<br />

Menschheit hatte einen auch nur annähernd so starken<br />

Einfluss auf die Umwelt wie die Industrialisierung.<br />

Nimmt man die mit der Industrialisierung gemeinhin<br />

eng verknüpfte Verstädterung hinzu, so sind<br />

damit die beiden Prozesse genannt, die das Leben der<br />

Menschen in beispielloser Weise verändert <strong>und</strong> weit<br />

reichende ökologische Veränderungen bewirkt haben.<br />

Da Industrialisierung <strong>und</strong> Verstädterung sowohl<br />

im Kapitalismus als auch im Kommunismus <strong>und</strong><br />

auch in jeder anderen denkbaren, hoch entwickelten,<br />

arbeitsteiligen Gesellschaft auftreten, erscheint der<br />

Versuch, Umweltzerstörung auf den Kapitalismus zu-


214 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

'■0 ,<br />

Exkurs 4.2<br />

■~->A / S<br />

Geographie in Beispieien - Die Foigen der Urangewinnung<br />

<strong>und</strong> -Verarbeitung fü r Ozeanien<br />

Die Region Ozeanien im südlichen Pazifik umfasst Australien,<br />

Neuseeland <strong>und</strong> über 20 000 andere Inseln, einschließlich elf<br />

unabhängiger Inselstaaten beziehungsweise -gruppen. Die Gewinnung<br />

<strong>und</strong> Verarbeitung von Uran bindet Ozeanien in die<br />

weltweite Nachfrage nach preiswerten Energieträgern ein<br />

<strong>und</strong> verwickelt es in überregionale geopolitische Konflikte.<br />

Uran ist ein radioaktives Element, das durch Kernspaltung<br />

zu einer nuklearen Kettenreaktion angeregt wird, bei der großen<br />

Mengen Wärmeenergie <strong>und</strong> Radioaktivität freigesetzt<br />

werden. Die Wärmeenergie kann in Kernkraftwerken durch<br />

kontrollierte Kettenreaktionen des Urans gewonnen werden,<br />

das Element wird aber auch als thermonuklearer Sprengstoff<br />

in Atombomben verwendet. Uran wurde zu einem begehrten<br />

Rohstoff, nachdem die im Zweiten Weltkrieg auf Japan <strong>und</strong><br />

Hiroshima abgeworfenen Bomben die verheerende Wirkung<br />

von Atomwaffen demonstriert hatten. Als später auch das<br />

Potenzial der Kernkraft zur Energieerzeugung deutlich wurde,<br />

stieg die Nachfrage nochmals an.<br />

Das Interesse der führenden Mächte an Uran blieb nicht<br />

ohne Folgen für den Südpazifik: Die USA, Großbritannien<br />

<strong>und</strong> Frankreich trieben im Kalten Krieg unter Verwendung<br />

von Uran <strong>und</strong> ähnlichen Elementen wie beispielsweise Plutonium<br />

ein Wettrüsten auf dem Gebiet der Atomwaffen voran.<br />

Um die Wirkung der entwickelten Nuklearwaffen zu prüfen,<br />

wurden zahlreiche Tests im Südpazifik durchgeführt, die verheerende<br />

Folgen für die Umwelt <strong>und</strong> die dort lebenden Menschen<br />

hatten. Die USA testeten zwischen 1946 <strong>und</strong> 1958 verschiedene<br />

Atombomben auf den Marshall-Inseln, nachdem die<br />

Einwohner der Atolle Bikini <strong>und</strong> Enewetak ihre Inseln zuvor verlassen<br />

mussten. 1954 trugen die vorherrschenden Windströmungen<br />

den radioaktiven Niederschlag (fallout) entgegen<br />

allgemeinen Annahmen nicht fort, sodass es auf das Rongelap-<br />

Atoll radioaktive Asche regnete. Unter den r<strong>und</strong> 100 Einwohnern<br />

befanden sich auch etliche ehemalige Bewohner<br />

des Bikini-Atolls.<br />

Radioaktive Strahlung kann zu schweren akuten <strong>und</strong> langfristigen<br />

ges<strong>und</strong>heitlichen Schäden wie Vergiftungen, Leukämie<br />

<strong>und</strong> Geburtsschäden führen. Die US-Regierung evakuierte<br />

deshalb kurzfristig die Einwohner des Rongelap-Atolls,<br />

ohne sie jedoch ausreichend über die Gefahr zu informieren,<br />

der sie ausgesetzt sein werden oder sie darauf vorzubereiten,<br />

dass sie nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können. 1968<br />

wurden die Atolle Bikini <strong>und</strong> Rongelap wieder zu Besiedlung<br />

freigegeben; allerdings zu früh, denn die Einwohner von Bikini<br />

wurden nochmalszwangsumgesiedelt, nachdem Forschereine<br />

erhöhte Strahlenbelastung in Lebensmitteln festgestellt hatten.<br />

Viele Insulaner sind bis heute erbost über die US-amerikanischen<br />

Atomtests, die ihr Leben <strong>und</strong> ihre Heimat zerstört<br />

haben. Daran ändern auch ein von der US-Regierung eingerichtetes<br />

Programm zur Ges<strong>und</strong>heitskontrolle <strong>und</strong> ein 90-Millio-<br />

nen-Dollar-Treuhänderfonds wenig.<br />

Frankreich führte seit 1966 über 150 Atombombentest auf<br />

den winzigen Atollen Moruroa <strong>und</strong> Fangataufa in Französisch-<br />

Polynesien durch. Die ersten Bomben verseuchten das Gebiet<br />

H<strong>und</strong>erte Kilometer nach Westen, bis nach Samoa <strong>und</strong> Tonga,<br />

radioaktiv. Die Proteste der Ozeanier, darunter auch Neuseeland<br />

<strong>und</strong> Australien, gipfelten in den 1970er-Jahren in einem<br />

Boykott französischer Produkte wie zum Beispiel Wein <strong>und</strong><br />

Käse. Frankreich führte in der Folge auf Französisch-Polyne-<br />

sien unterirdische Tests durch <strong>und</strong> verweigerte jegliche Informationen<br />

über aufgetretene Unfälle, die radioaktive Verseuchung<br />

der Umwelt oder den Ges<strong>und</strong>heitszustand der Einwohner.<br />

Die Insulaner instrumentalisieren die Atomtests, um ihren<br />

Wunsch nach Unabhängigkeit von Frankreich zu untermauern<br />

<strong>und</strong> eine weltweite Protestwelle forderte die Einstellung der<br />

Atomtests. Greenpeace-Aktivisten planten 1985 mit ihrem<br />

Schiff Rainbow Warrior nach Moruroa zu segeln, um dort gegen<br />

die Atomtest zu demonstrieren. Das Vorhaben wurde jedoch<br />

vom französischen Geheimdienst vereitelt, der das Schiff versenkte,<br />

als es im Hafen von Auckland lag.<br />

rückzuführen, als sehr naiv. Ganz im Gegenteil, die<br />

Umweltzerstörungen sind in einer kommunistischen<br />

Einparteien-Gesellschaft sogar noch wesentlich stärker<br />

als in einer demokratischen Gesellschaft, die Meinungsvielfalt<br />

<strong>und</strong> Opposition erlaubt. Die Umweltzerstörungcn<br />

in der früheren Sowjetunion, in China<br />

oder der DDR (zum Beispiel in Bitterfeld) sprechen<br />

da eine deutliche Sprache.<br />

Erstmals in der Geschichte der Menschheit griffen<br />

diese Veränderungen über den lokalen <strong>und</strong> regionalen<br />

Rahmen hinaus <strong>und</strong> erstreckten sich über die gesamte<br />

Erde. Die folgenden Abschnitte beschäftigen<br />

sich mit den dramatischen Umweltveränderungcn,<br />

die durch industrielle Technologien <strong>und</strong> weltweite<br />

Verstädterung hervorgerufen wurden. Dabei sind<br />

aus Sicht der Geographie im Sinne einer modernen<br />

Umweltwissenschaft zwei Aspekte von zentraler Bedeutung,<br />

nämlich Energiegewinnung <strong>und</strong> -verbrauch<br />

sowie Landnutzungswandel.


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 215<br />

4.2.1 Ranger-Uran-Mine Die Mine liegt im Kakadu-<br />

Nationalpark im Northern Territory von Australien. Das Gebiet<br />

ist den Aborigines heilig <strong>und</strong> besitzt eindrucksvolle Landschaften<br />

<strong>und</strong> Ökosysteme. Versuche die Mine auszuweiten,<br />

haben zu Protesten von Aborigine-Gruppen <strong>und</strong> Umweltaktivisten<br />

geführt.<br />

Der daraus entstandene internationale Skandal veranlasste<br />

die neuseeländische Regierung, sich aktiv für die Abrüstung<br />

einzusetzen, keine Schiffe in den Häfen Neuseelands zu dulden,<br />

die mit Kernkraft betrieben werden oder mit Atomwaffen<br />

ausgestattet sind, die diplomatischen Beziehungen zu Frankreich<br />

abzubrechen <strong>und</strong> die Führungsrolle in der Antikernkraft-<br />

Bewegung im Pazifik zu übernehmen. Die Beziehungen zwischen<br />

Neuseeland <strong>und</strong> den USA wurden langfristig belastet,<br />

da die USA die Existenz von Nuklearwaffen an Bord seiner Militärschiffe<br />

<strong>und</strong> -flugzeuge weder bestätigten noch bestritten,<br />

sodass amerikanischen Militärschiffen der Aufenthalt in neuseeländischen<br />

Häfen untersagt wurde.<br />

Die Maßnahmen der neuseeländischen Regierung trugen<br />

dazu bei, dass Frankreich 1996 erklärte, es wolle nach Protesten<br />

<strong>und</strong> Unruhen in Tahiti <strong>und</strong> dem Niedergang des dortigen<br />

Tourismus seine Atomwaffentests im Südpazifik einstellen.<br />

Großbritannien testet Atomwaffen in der Nähe der zum Inselstaat<br />

Kiribati gehörenden Weihnachtsinsel <strong>und</strong> an verschiedenen<br />

Orten in Australien, darunter die Montebello-Inseln an der<br />

Westküste Australiens <strong>und</strong> Maralinga in Südaustralien. Kritiker<br />

beanstanden zu Recht, dass weder die Regierung noch die Bevölkerung<br />

von Australien über die Risken aufgeklärt wurden<br />

<strong>und</strong> dass viele Aborigines der Strahlung »ungeschützt ausgesetzt<br />

waren. Da die Aborigines die engliSçhen Warnschilder<br />

nicht lesen konnten, betraten viele von ilfnen während <strong>und</strong><br />

nach den Tests das kontaminierte Gebiet <strong>und</strong> erlitten dadurch<br />

schwere Strahlenschäden.<br />

Die australischen Ureinwohner sind doppelt betroffen,<br />

denn aut ihrem Territorium wurden nicht nur Atomtests durchgeführt,<br />

sondern hier befinden sich auch Uranbergwerke wie<br />

die Ranger-Uran-Mine, in der seit 1980 Uran abgebaut wird<br />

(Abbildung 4.2.1 ). Die Ranger-Mine liegt im Northern Territory<br />

<strong>und</strong> ist vom Kakadu-Nationalpark umgeben, einer einzigartigen<br />

Naturlandschaft die zum UNESCO-Weltkultur- <strong>und</strong> Weltnaturerbe<br />

zählt. Durch den Uranabbau sind bereits über 16 Millionen<br />

Tonnen radioaktiven Abraums angefallen <strong>und</strong> die Gewässer<br />

der Region sind schwerwiegend kontaminiert. In Australien<br />

werden 27 Prozent des weltweit benötigten Urans gefördert<br />

<strong>und</strong> in die USA, nach Japan, Europa, Kanada <strong>und</strong> Südkorea<br />

zum Betrieb von Kernkraftwerken exportiert, während Australien<br />

selbst keine Energie aus Uran gewinnt. Der Vorschlag<br />

neue Minen in Jabiluka zu eröffnen, einem Landstrich, der traditionell<br />

den Aborigines vom Stamm der Mirrar gehört, löste<br />

heftige Debatten aus. Gegner des Vorhabens blockierten<br />

die Zufahrt zur Mine <strong>und</strong> es kam zu landesweiten Protesten.<br />

Die Tatsache, dass Ozeanien über Uran verfügt, verknüpft<br />

den Raum auf unterschiedlichste Weise mit den globalen<br />

Strukturen des Energieverbrauchs sowie geopolitischen<br />

Machtbestrebungen. Obwohl inzwischen keine Atomtests<br />

mehr im Pazifik durchgeführt werden, wird die radioaktive<br />

Verseuchung der Region noch über Jahrtausende bestehen<br />

bleiben <strong>und</strong> ein Risiko für Mensch <strong>und</strong> Umwelt darstellen.<br />

Uran wird derzeit von vielen Ländern stark nachgefragt. Ein<br />

Gr<strong>und</strong> dafür ist die Tatsache, dass andere Energierohstoffe<br />

knapp werden <strong>und</strong> ihre Nutzung die verschiedensten Umweltprobleme<br />

verursacht. Außerdem ist der Uranpreis derzeit<br />

niedrig, weil als Nachwirkung der Reaktorkatastrophe im russischen<br />

Tschernobyl 1986 weniger Kernkraftwerke gebaut<br />

werden.<br />

Die Auswirkungen des Energieverbrauchs<br />

auf die Umwelt<br />

Die Entdeckung <strong>und</strong> der Einsatz fossiler Brennstoffe<br />

- Kohle, Öl <strong>und</strong> Erdgas - war sicher die zentrale <strong>und</strong><br />

bedeutendste technologische Neuerung der Industriellen<br />

Revolution. Obwohl die ersten Eabriken in Europa<br />

<strong>und</strong> in den USA zum Antrieb der Maschinen die<br />

Wasserkraft nutzten, waren die Kohlenwasserstoff-<br />

Brennstoffe konstantere, verlässlichere <strong>und</strong> wirksamere<br />

Energieträger, Es überrascht nicht, dass der<br />

seit Beginn der Industriellen Revolution stetig steigende<br />

Energiebedarf zu einer Zunahme der Förderung<br />

<strong>und</strong> Umwandlung von Rohstoffen führte.<br />

Gegenwärtig wird der Energiebedarf der Weltbevölkerung<br />

zu einem ganz überwiegenden Teil aus<br />

nicht erneuerbaren Energiequellen gedeckt. Dazu<br />

zählen sowohl fossile als auch nukleare Brennstoffe.<br />

Hinzu kommen erneuerbare Energiequellen wie So-


216 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

r .<br />

A tlantischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

■n m<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

wichtigste Energieproduktion<br />

weltweit<br />

2002 (10'5 kJ)<br />

i t<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

über 25,00<br />

10.01 bis 25,00<br />

5.01 bis 10,00<br />

0,00 bis 5,00<br />

keine A ngaben<br />

0 1 500 3000 Mocneter<br />

Europa j<br />

A tlantisch er /.<br />

Ozean I<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

wichtigster Energieverbrauch<br />

weltweit<br />

2002 (10'5 kJ)<br />

J<br />

Indischer-<br />

Ozean<br />

über 25,00<br />

10.01 bis 25,00<br />

5.01 bis 10,00<br />

0,00 bis 5,00<br />

keine A ngaben<br />

0 1 500 3 000 Kilometer<br />

b l<br />

4.17 Weltweite Produktion <strong>und</strong> Energieverbrauch in den Jahren 1993 bis 2002 Die zwei Karten zeigen die ungleiche<br />

Verteilung der weltweiten Produktion <strong>und</strong> des weltweiten Verbrauchs von Energie. Die Vereinigten Staaten sind der größte Erzeuger<br />

<strong>und</strong> Verbraucher einer Reihe von Energiequellen. Man beachte; Obwohl der Nahe Osten <strong>und</strong> die Länder Nordafrikas ebenso wie<br />

Nigeria bedeutende Energieproduzenten sind, ist ihr Verbrauch (ebenso wie im Rest des afrikanischen Kontinents, ausgenommen<br />

Südafrika) sehr niedrig. Japan produziert einen unbedeutenden Anteil der weltweiten Energiequellen, verbraucht Jedoch einen relativ<br />

hohen Teil. (Obere Karte; nach International Energy Annual 1999, Website; http;//www.eia.doe.gov/iea. Datentabellen World Primary<br />

Energy Production <strong>und</strong> World Primary Energy Consumption. Untere Karte nachgedruckt mit Genehmigung der Prentice Hall, von<br />

E. F. Bergman, Human Geography: Cultures, Connections, and Landscapes, 1995, S. 395. Daten vom Weltressourcen-Institut,<br />

Weltressourcen 1994 —95. New York, 1994, S. 334-335)


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit<br />

larzellen, Wind- <strong>und</strong> Wasserkraft sowie Erdwärme.<br />

Fossile Brennstoffe sind die Umwandlungsprodukte<br />

organischen Materials <strong>und</strong> werden zur Wärmegewinnung<br />

direkt verbrannt. Nuklearenergie wird mit Hilfe<br />

von Isotopen gewonnen, die Strahlung abgeben.<br />

Kommerziell eingesetzte Kernreaktoren sind meist<br />

mit Uranbrennstäben bestückt (4.2 Geographie in<br />

Beispielen). Die erneuerbaren Energiequellen Sonne,<br />

Wind, Wasser <strong>und</strong> Erdwärme werden in verschiedener<br />

Weise umgesetzt <strong>und</strong> zum Antrieb von Pumpen,<br />

Maschinen <strong>und</strong> Generatoren genutzt.<br />

Derzeit ist Erdöl mit einem Anteil von 35 Prozent<br />

an der weltweiten Eiiergieerzeugung der mit Abstand<br />

wichtigste Energieträger, gefolgt von Kohle (24 Prozent)<br />

<strong>und</strong> Erdgas (18 Prozent). Biomasse, das heißt<br />

Holz, Holzkohle, Ernterückstände <strong>und</strong> Tierdung,<br />

deckt 12 Prozent, Wasserkraft (meist Stauanlagen)<br />

6 Prozent des weltweiten Energiebedarfs. Auf die<br />

Kernenergie entfallen 5 Prozent. Allerdings ist sowohl<br />

die Produktion als auch der Verbrauch aller verfügbaren<br />

Ressourcen räumlich sehr ungleich verteilt. Die<br />

Hälfte des Erdöls wird in Ländern des Mittleren<br />

Ostens gefördert, Kohle hauptsächlich auf der Nordhalbkugel,<br />

<strong>und</strong> hier vor allem in den Vereinigten<br />

Staaten sowie in China <strong>und</strong> Russland. Die Gewinnung<br />

von Kernenergie ist auf die Industriestaaten beschränkt.<br />

So bezieht etwa Frankreich 90 Prozent seines<br />

Stroms aus der Atomkraft.<br />

Auch hinsichtlich des Energieverbrauchs bestehen<br />

große räumliche Unterschiede (Abbildung 4.17). Es<br />

gibt Schätzungen, nach welchen die zur Deckung<br />

des derzeitigen Jahresenergiebedarfs von umgerechnet<br />

1,3 Milliarden Tonnen Kohle benötigten Rohstoffe<br />

zu ihrer natürlichen Entstehung 1Million Jahre benötigten.<br />

Bemerkenswert ist auch, dass der Energieverbrauch<br />

gegenüber 1950 auf das Vierfache <strong>und</strong> gegenüber<br />

1850 auf das Zwanzigfache gestiegen ist. Entsprechend<br />

der Formel I=PAT übertrifft der Energieverbrauch<br />

der reichen Kernländer den der peripheren<br />

Regionen bei Weitem: Bei vierfacher Bevölkerungszahl<br />

entfällt auf diese weniger als ein Drittel der global<br />

verfügbaren Energiemenge. Allerdings steigt der<br />

Energiebedarf gerade in den Entwicklungsländern<br />

stark an. Im Zuge der Globalisierung gelangen Industrien,<br />

energieintensive Produkte, wie Autos, <strong>und</strong><br />

energieintensive landwirtschaftliche Produktionsver-<br />

Hhren in Regionen der Erde, in denen sie bisher nicht<br />

zu finden waren (Abbildung 4.18).<br />

In Bezug auf die Frage nach den Umweltauswirkungen<br />

dieser Phänomene ist von zentraler Bedeutung,<br />

dass jeder Schritt der Umwandlung von Ressourcen<br />

in Strom oder Wärme - von der Entdeckung<br />

der Lagerstätte <strong>und</strong> ihrer Ausbeutung über die Ver­<br />

4.18 Keramikhochöfen in China Schwarzer Smog quillt<br />

aus den Schloten illegaler Keramiköfen in den Außenbereichen<br />

von Wuhan in der zentralen chinesischen Provinz Hubei. Die<br />

Arbeiter nutzen Materialien wie alte Reifen <strong>und</strong> Asphalt als<br />

Brennmaterial, was zu einer exzessiven Umweltverschmutzung<br />

führt. Die chinesischen Behörden führen einen mühsamen<br />

Kampf, um die kontinuierlich die Umwelt schädigenden,<br />

unerlaubten Fabriken in ganz China zu schließen.<br />

arbeitung bis hin zum Verbrauch - mit massiven Eingriffen<br />

in die Landschaft verb<strong>und</strong>en ist. In allen Tagebau-Kohlerevieren<br />

der Erde, sei es in den Appalachen,<br />

in Westsibirien oder in Deutschland, kommt<br />

es zu Verlusten an Vegetation <strong>und</strong> gewachsenem Boden,<br />

zu Erosion <strong>und</strong> Wasserverschmutzung, zur Auswaschung<br />

von Giften <strong>und</strong> Säuren (Abbildung 4.19).<br />

Überdies besteht für die Bergleute in der Regel ein<br />

erhöhtes Krebsrisiko, <strong>und</strong> sie leiden häufiger an Lungenkrankheiten.<br />

Die Verbrennung von Kohle ist ohne<br />

entsprechende Filter mit einer relativ starken Emission<br />

umweltschädlicher Gase wie Kohlendioxid oder<br />

Schwefeldioxid verb<strong>und</strong>en.<br />

Durch das Verbrennen von Heizöl <strong>und</strong> die Verwendung<br />

von Kraftstoffen auf Erdölbasis in Verbrennungsmotoren<br />

gelangen gefährliche Chemikalien in<br />

die Erdatmosphäre, es entstehen Luftverschmutzung<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Ges<strong>und</strong>heitsrisiken. Bei


218 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

1<br />

A<br />

i<br />

,'Nr-<br />

: r<br />

>C::. '■..<br />

/ .. /^-i- :H- "<br />

4,19 Braunkohleabbau westlich von Köln Oberflächennahe Kohlevorkommen, wie im Tagebau-Braunkohlerevier bei Köln,<br />

werden fast überall auf der Welt auf ähnliche Weise ausgebeutet. Nachdem Geologen die Flöze im Untergr<strong>und</strong> lokalisiert haben,<br />

beseitigen Bulldozer die darüber lagernden Gesteinsschichten. Das abgeschobene Material wird als Abraum auf Halden gelagert. Liegt<br />

die Kohle führende Schicht frei, kommen für gewöhnlich schwere Maschinen zum Einsatz. Einige Länder, darunter die USA, schreiben<br />

eine Wiederherstellung von Landschaften vor, in denen in jüngerer Zeit Kohle abgebaut wurde. Gebiete, in denen die Kohle vor<br />

Inkrafttreten dieser gesetzlichen Bestimmungen gewonnen wurde, sind davon Jedoch ausgenommen. Erfolgreich renaturierte<br />

Tagebaugebiete lassen ihre frühere Nutzung oft kaum mehr erkennen. Bedauerlicherweise befinden sich viele Abbaustätten in ariden<br />

oder semiariden Gebieten, wo eine Wiederherstellung aus klimatischen Gründen <strong>und</strong> wegen der Bodenbeschaffenheit kaum möglich<br />

ist. Neben gravierenden Eingriffen in den Landschaftshaushalt verursacht die Gewinnung <strong>und</strong> Aufbereitung der Kohle häufig Bodenerosion<br />

sowie Wasser- <strong>und</strong> Luftverschmutzung.<br />

der Produktion sowie beim Transport von Erdöl ereignen<br />

sich immer wieder Unfälle, die Ölkatastrophen<br />

zur Folge haben. Dabei kommt es zu schwerwiegender<br />

Wasserverschmutzung <strong>und</strong> zur Schädigung<br />

von Ökosystemen. So liefen bei dem bislang<br />

größten Tankerunglück im Juli 1979 vor Trinidad<br />

<strong>und</strong> Tobago 350 000 Tonnen Öl in den Atlantik. In<br />

Alaska verseuchten 42 000 Tonnen Rohöl 2 000 Kilometer<br />

Küste, nachdem im März 1989 die Exxon Valdez<br />

im Prince William So<strong>und</strong> vor Alaska auf Gr<strong>und</strong><br />

gelaufen war. Auch die Tankerunfälle wie zum<br />

Beispiel der der Prestige, die im November 2002<br />

270 Kilometer vor der Küste Galiciens 77 000 Tonnen<br />

Schweröl verlor oder der des Tankers M /T Solar /, der<br />

im August 2006 zwischen den philippinischen Inseln<br />

Guimaras <strong>und</strong> Negros 200 000 Liter Schweröl (Ladung<br />

2 Millionen Liter) verlor, zeigen, dass die Bemühungen<br />

der EU für ein verpflichtendes Gesetz bezüglich<br />

der Einführung doppelwandiger Tanker wichtig<br />

<strong>und</strong> dringend notwendig ist (Abbildung 4.20).<br />

Dies sind nur wenige Beispiele einer langen Liste<br />

von Tankerhavarien, die sich in der Vergangenheit<br />

auf allen Weltmeeren ereignet haben. Die Bildberichte<br />

der Medien über ölverschmierte Seevögel<br />

<strong>und</strong> Meeressäuger nach Tankerunfällen haben gezeigt,<br />

wie rasch solche massiven Umweltschädigun-


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 219<br />

4.20 Öltankerkatastrophe Obwohl<br />

die internationale Presse sich beeilt, von<br />

verheerenden Ölkatastrophen in den<br />

Weltmeeren zu berichten, stammt das<br />

meiste Erdöl, das Jedes Jahr in die<br />

Umwelt gelangt, nicht aus Katastrophen<br />

oder Unfällen. Der größte Teil der<br />

Ölverschmutzung in den Ozeanen wird<br />

beim Gewinnungsprozess freigesetzt.<br />

Nur ein sehr geringer Anteil des Öls,<br />

das in die Ozeane gelangt, stammt von<br />

größeren Tankerunfällen. Tankerkatastrophen,<br />

wie die oben abgebildete,<br />

sind dennoch dramatisch, weil enorme<br />

Ölmengen relativ kleine Gebiete<br />

schädigen.<br />

gen eintreten können. Die Meere sind durch den verbreiteten<br />

Gebrauch des Energieträgers Öl unmittelbar<br />

betroffen. Jedes Jahr gelangen tausende Tonnen Öl<br />

aus Leck geschlagenen Schiffen, durch Explosionen<br />

oder Brände bei Ölbohrungen <strong>und</strong> -transporten sowie<br />

aus natürlichen unterseeischen Quellen in die<br />

Ozeane. Die brennenden Ölfelder, die abziehende irakische<br />

Truppen nach dem Ende des ersten Golfkrieges<br />

in Kuwait hinterließen, sind gewiss kein alltägliches<br />

Ereignis - aber doch eines, das uns die Auswirkungen<br />

der Produktion <strong>und</strong> Verbrennung von Erdöl<br />

auf die Luftqualität eindrücklich vor Augen geführt<br />

hat (Abbildung 4.21).<br />

Erdgas ist eine der am wenigsten umweltschädlichen<br />

Energieressourcen unter den brennbaren Kohlenwasserstoffgemischen,<br />

da Gewinnung, Transport<br />

<strong>und</strong> Verbrauch mit geringeren Belastungen verb<strong>und</strong>en<br />

sind. Erdgas besitzt bereits heute einen Anteil<br />

von fast einem Viertel am weltweiten Energiemarkt,<br />

<strong>und</strong> man nimmt an, dass seine Nutzung in diesem<br />

lahrh<strong>und</strong>ert die höchsten Zuwachsraten aufweisen<br />

wird. Russland hat mit r<strong>und</strong> einem Drittel der bekannten<br />

Gasvorkommen die größten Reserven, <strong>und</strong><br />

es werden immer noch neue Lagerstätten entdeckt.<br />

Obwohl Erdgas der Verwendung von Erdöl <strong>und</strong> Kohle<br />

prinzipiell vorzuziehen ist, kommt es bei der Gewinnung<br />

<strong>und</strong> Verbrennung ebenfalls zu negativen<br />

Einflüssen auf die Umwelt. So besteht ein nicht unerhebliches<br />

Explosionsrisiko, <strong>und</strong> Gasverluste in den<br />

Verteilungssystemen tragen zur Belastung der Atmosphäre<br />

bei (Abbildung 4.22).<br />

Um die Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde die<br />

Kernenergie als klar vorzuziehende Alternative gegenüber<br />

der Energiegewinnung aus fossilen Rohstoffen<br />

gepriesen. Die neue Technologie schien die richtige<br />

Antwort auf den stetig wachsenden Energiebedarf<br />

in den Industriestaaten zu sein, da man davon ausging,<br />

dass Uran für Jahrh<strong>und</strong>erte in ausreichender<br />

Menge vorhanden sei. Kernenergie galt außerdem<br />

als sauberer <strong>und</strong> effektiver als fossile Brennstoffe (Ab-<br />

4.21 Brennende Ölfelder in Kuwait Nach dem Ende des<br />

ersten Golfkriegs im Frühjahr 1991 setzten abziehende Truppen<br />

der irakischen Armee 732 Ölquellen in Brand. 550 Ölfeuer<br />

waren bis zum Frühsommer noch nicht gelöscht, die Rauchschwaden<br />

überzogen die gesamte Golfregion. Außerdem ließen<br />

irakische Truppen riesige Mengen Öl bewusst in den Persischen<br />

Golf ausströmen. Viele Beobachter zählen den Golfkrieg zu den<br />

schlimmsten Umweltkatastrophen der Geschichte.


T<br />

220 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

1650<br />

4.22 Die Verschmutzung der Weltmeere<br />

Schwere Wartungs- Einträge<br />

Tanker- <strong>und</strong> über die<br />

Unfälle Reinigungs<br />

arbeiten<br />

Kanalisation<br />

Abgase<br />

aus<br />

Verbrennung<br />

(in Millionen Litern)<br />

Bohrinseln<br />

natürliche<br />

Einträge<br />

gesamt<br />

= 3207<br />

durch Öleinträge (1996) Obwohl die internationale<br />

Presse über jede Ölkatastrophe, die<br />

sich irgendwo auf den Ozeanen ereignet,<br />

sofort berichtet, stammt nur ein kleiner Teil<br />

der H<strong>und</strong>erte von Millionen Liter Öl, die Jahr<br />

für Jahr in die Meere gelangen, aus spektakulären<br />

Unfällen. Wie die Grafik zeigt, tragen<br />

das gedankenlose Einbringen von Öl in städtische<br />

Kanalisationen sowie aus Deponien<br />

ausgeschwemmte Ölrückstände am stärksten<br />

zu dieser Verschmutzung bei. Nur etwa<br />

5 Prozent der Öleinträge gehen auf das Konto<br />

schwerer Tankerunfälle, die vor allem deshalb<br />

so dramatisch sind, weil relativ kleine Meeresoder<br />

Küstengebiete in kürzester Zeit mit<br />

riesigen Ölmengen belastet werden.<br />

bildung 4.23). Zwar war die Angst vor einem mit Nuklearwaffen<br />

geführten Krieg zu jener Zeit ständig präsent,<br />

<strong>und</strong> bereits in einer frühen Entwicklungsphase<br />

zur zivilen Nutzung der Kernenergie hatte es erste kritische<br />

Stimmen gegeben. Dennoch verbanden viele<br />

mit dem Begriff „Atomzeitalter“ die Vorstellung eines<br />

Triumphs der Technik, durch den die drängende<br />

Energiefrage einer stetig wachsenden Weltwirtschaft<br />

ein für allemal gelöst schien. Erst als sich die ersten<br />

schweren Unfälle ereigneten, etwa in den Atommeilern<br />

von Windscale in Großbritannien <strong>und</strong> Three<br />

Mile Island in den Vereinigten Staaten, begann<br />

90"o i 2(ro iso'o i8cr<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Nördlicher W9ndekrdi&<br />

Äquator 0*<br />

AUSTRALIEN<br />

'S<br />

30*S<br />

0 1 500 SQOOKtarwtor ’ >-<br />

30^0 60’O * 90*0 120*0 150*0 180*<br />

4.23 Die Standorte von Kernkraftwerken auf der Erde (2000) Wie diese Weltkarte zeigt, sind hauptsächlich Länder der<br />

Kernregion von Atomstrom abhängig. Südamerika <strong>und</strong> Afrika haben zusammen nur vier Kernkraftwerke. Während einige Länder der<br />

Peripherie große Hoffnungen in den weiteren Ausbau ihrer Atomstromerzeugung setzen, gibt es Industriestaaten, darunter Schweden,<br />

die sich schrittweise aus der Abhängigkeit von dieser Energiequelle lösen. Österreich, ebenso wie Australien, wo es eine sehr<br />

starke Anti-AKW-Bewegung gibt, gehören zu den wenigen Industrieländern, die ganz auf die Kernenergie verzichtet haben.<br />

(Quelle: International Nuclear Safety Center, Website: http://www.insc.anlgov/pwrmaps/map/world_map.html Maps o f Nuclear<br />

Power Reactors: World Map, 2002, S. 1.)


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 221<br />

Energiesituation in Deutschland, Österreich <strong>und</strong> der Schweiz<br />

Bis zur Wiedervereinigung verlief die Energieversorgung in<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland sehr unterschiedlich. Während in<br />

der alten B<strong>und</strong>esrepublik die Energieversorgung hauptsächlich<br />

durch den Einsatz von importiertem Erdöl <strong>und</strong> Kohle sichergestellt<br />

wurde, führte in der DDR das Autarkiestreben<br />

dazu, dass vorwiegend die heimische Braunkohle verwendet<br />

wurde.<br />

Mit einem Primärenergieverbrauch von 500 Millionen Tonnen<br />

Steinkohleeinheiten pro Jahr ist das vereinte Deutschland<br />

der größte nationale Energiemarkt in der Europäischen Union.<br />

Statistisch gesehen verbraucht jeder B<strong>und</strong>esbürger jährlich 6<br />

Tonnen Steinkohleeinheiten an Energie - dreimal so viel wie<br />

der weltweite Durchschnitt. Setzt man allerdings den Energieverbrauch<br />

in Bezug zur volkswirtschaftlichen Leistungskraft,<br />

wie dem Bruttoinlandsprodukt, liegen die deutschen Verbrauchswerte<br />

im Mittelfeld vergleichbarer westlicher Industrienationen.<br />

Während sich der Verbrauch von Primärenergie seit Beginn<br />

der 90er-Jahre des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kaum verändert hat - was<br />

auf einen verbesserten Nutzungsgrad der eingesetzten Energieträger<br />

hinweist -, hat sich der Energiemix, das heißt die<br />

Struktur der Energieträger deutlich verändert. Insgesamt<br />

gab es einen drastischen Rückgang des Braunkohleanteils<br />

(im Braunkohlebergbau ist die Zahl der Arbeitsplätze um<br />

100 000 zurückgegangen) <strong>und</strong> auch die Steinkohle hat an Bedeutung<br />

verloren (Wegfall von 40 000 Arbeitsplätzen). Dafür<br />

nahm die Bedeutung von Erdöl <strong>und</strong> Erdgas <strong>und</strong> damit die Auslandsabhängigkeit<br />

der deutschen Energieversorgung zu (Haas<br />

& Scharrer 1999). Im Jahre 1999 lag der Anteil des Atomstroms<br />

in Deutschland bei etwa 2,7 Prozent. B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>und</strong> Energieversorgungsunternehmen haben sich am 14. Juni<br />

2000 darauf geeinigt, die künftige Nutzung der vorhandenen<br />

Kernkraftwerke zeitlich zu befristen. Neugenehmigungen wird<br />

es nicht mehr geben.<br />

In Österreich gibt es geringe Bestände an Erdöl <strong>und</strong> Erdgas,<br />

die Stromversorgung wird aber aus Wasserkraft (Speicher<strong>und</strong><br />

Flusskraftwerke) <strong>und</strong> Kohlekraftwerken gesichert. In<br />

den 1980er-Jahren wurde zwar ein Kernkraftwerk in Zwentendorf,<br />

Niederösterreich, gebaut, das jedoch aufgr<strong>und</strong> eines<br />

Volksentscheides nie in Betrieb genommen wurde. Trotzdem<br />

wird in Österreich heute importierter Atomstrom verwendet.<br />

Die Diskussion um Zwentendorf <strong>und</strong> im Jahr 1984 dann auch<br />

um den Bau eines Wasserkraftwerks an der Donau bei Hainburg,<br />

das die letzten großen mitteleuropäischen Flussauen<br />

zerstört hätte, hat zu einem Umdenken in der Politik <strong>und</strong> letztlich<br />

zu einem Wertewandel geführt. Heute wird die Produktion<br />

alternativer Energien (Sonnenenergie, Windenergie in geringem<br />

Maße im Wiener Becken, Erdwärme <strong>und</strong> Biomasse, besonders<br />

Holz) finanziell gefördert, diese sind aber für die Energiebilanz<br />

nur von geringer Bedeutung.<br />

Die Schweiz verfügt über keine einheimischen fossilen<br />

Energieträger, <strong>und</strong> viele Wälder sind in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

für die Gewinnung von Brennholz übernutzt worden. Nach dem<br />

Ersten Weltkrieg wurde die Entwicklung der Fluss- <strong>und</strong> vor allem<br />

alpinen Speicherkraftwerke forciert, sodass die einheimische,<br />

erneuerbare Energie eine relativ große Bedeutung erhielt.<br />

In der zweiten Hälfte der 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde die<br />

massiv zunehmende Nachfrage mit importiertem Erdöl <strong>und</strong><br />

Erdgas gedeckt, <strong>und</strong> zwischen 1969 <strong>und</strong> 1984 wurden fünf<br />

Kernkraftwerke in Betrieb genommen. Drei Viertel der genutzten<br />

Endenergie stammen von fossilen <strong>und</strong> importierten Energieträgern.<br />

Die Elektrizität wird zu etwa 60 Prozent mit Wasserkraft<br />

erzeugt, den Rest steuert die Kernkraft bei. Es sind<br />

keine neuen Wasser- <strong>und</strong> Kernkraftwerke mehr geplant,<br />

aber die Modernisierung der vorhanden Anlagen sowie die<br />

Produktion von alternativen Energien (Sonnenwärme <strong>und</strong><br />

-elektrizität, Windenergie vor allem im Jura, Fernwärme, Geothermie<br />

<strong>und</strong> Biomasse, insbesondere Holz) werden seit etwa<br />

1980 gezielt gefördert. Diese Technologien leisten vorläufig<br />

einen bescheidenen Beitrag zur Nutzenergie, stellen aber<br />

auch ein wichtiges Potenzial für eine industrielle Verwertung<br />

dar.<br />

D. Wastl-Walter<br />

man auf die warnenden Stimmen besorgter Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> engagierter Bürger zu hören: Sie brachten<br />

unwiderlegbare Beweise für die fragwürdigen Seiten<br />

der Atomstromproduktion vor <strong>und</strong> wiesen insbesondere<br />

auf die Probleme der Reaktorsicherheit <strong>und</strong><br />

der Endlagerung von radioaktivem Abfall hin, der<br />

Zehntausende Jahre radioaktiv bleibt. Die Katastrophe<br />

von Tschernobyl im Jahre 1986, verursacht durch<br />

das vollständige Durchschmelzen eines Reaktorkerns,<br />

hat auf dramatische Weise gezeigt, wie berechtigt<br />

diese Warnungen waren. Seit diesem Vorfall haben<br />

viele Länder ihre Abhängigkeit von Atomstrom stark<br />

reduziert oder beschlossen, auf die Nutzung der<br />

Kernenergie ganz zu verzichten. So entschloss sich<br />

zum Beispiel Schweden, das derzeit zu einem Großteil<br />

Atomstrom nutzt, bis zum Jahr 2010 von der Kernenergie<br />

unabhängig zu werden, ln Deutschland hat<br />

sich die B<strong>und</strong>esregierung im sogenannten Kernenergie-Konsens<br />

mit der Elektrizitätswirtschaft auf die geordnete<br />

Beendigung der Kernenergie verständigt (Exkurs<br />

„Energieversorgung in Deutschland, Österreich<br />

<strong>und</strong> der Schweiz“).<br />

Da es den absolut sicheren Reaktor nicht gibt, die<br />

Möglichkeit von Störfällen also nicht auszuschließen<br />

ist, haben einige westliche Staaten begonnen, sich von<br />

der Atomenergie zu lösen. Interessanterweise beschreiten<br />

jetzt einige Länder des Südens, <strong>und</strong> zwar<br />

insbesondere die bevölkerungsreichsten unter ihnen,<br />

den entgegengesetzten Weg. So haben Indien, Südkorea<br />

<strong>und</strong> China neue Atomenergieprogramme. Aller-


222 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

A tlantischer<br />

Ozean .<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

h<br />

Prozentualer Anteil von Brennholz,<br />

Dung <strong>und</strong> Holzkohle am<br />

Gesamtenergieverbrauch<br />

75 bis 100%<br />

50 bis 74%<br />

25 bis 4 9 %<br />

10 bis 25%<br />

weniger als 10%<br />

keine Angaben<br />

0 1 5 0 0 S O O O K ilo m M e r<br />

4?'<br />

Europa;<br />

4.24 Weltweite Nutzung von Holzbrennstoffen im Jahr 2001 Brennholz, Holzkohle <strong>und</strong> Dung gelten als traditionelle Brennstoffe<br />

<strong>und</strong> obwohl ihre Verfügbarkeit abnimmt, steigt die Abhängigkeit von ihnen. Die Abhängigkeit von traditionellen Brennstoffquellen<br />

ist besonders hoch in der Peripherie, wo sie, wie zum Beispiel in Afrika, die wichtigsten Energiequellen zum Kochen <strong>und</strong> Heizen<br />

sind. Die Bestände von Holz <strong>und</strong> Holzkohle - obwohl erneuerbare Energiequellen - füllen sich nur langsam wieder auf. Akute<br />

Knappheit wird mit Sicherheit die meisten afrikanischen Haushalte im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert treffen. (Nach United Nations Development<br />

Programme 2001. Weltressourcen 2000-2001, People and Ecosystems: The Fraying Web o f Life, Washington, S. 98)<br />

dings kam es bisher in keinem Entwicklungsland zu<br />

Katastrophen durch Reaktorunfälle. Aufgr<strong>und</strong> des<br />

steigenden Ölpreises erwägen zahlreiche Kernländer,<br />

wie zum Beispiel die USA, erneut die Möglichkeit der<br />

Energiegewinnung aus Kernkraft, die sie zuvor bereits<br />

ausgeschlossen hatten.<br />

Dennoch gibt es auch in der Dritten Welt Umweltprobleme,<br />

die mit dem Energiesektor Zusammenhängen.<br />

Da ein Großteil der Bevölkerung auf Holz als alleinigen<br />

Energieträger angewiesen ist, hat mit dem<br />

Anwachsen der Bevölkerungszahl auch die Nachfrage<br />

nach diesem Rohstoff zugenommen. Zum einen führt<br />

das Verbrennen von Holz zu Luftverschmutzung, das<br />

alarmierendste Umweltproblem ist in diesem Zusammenhang<br />

jedoch die rasch fortschreitende Vernichtung<br />

der Wälder. Andere konventionelle Energiequellen<br />

(Kohle, Öl <strong>und</strong> Erdgas) sind entweder zu teuer<br />

oder vielerorts nicht generell verfügbar, daher ist<br />

Holz für viele Haushalte die einzig mögliche Energieressource.<br />

In vielen peripheren Regionen werden die<br />

Waldreserven in naher Zukunft zur Neige gehen (Abbildung<br />

4.24).<br />

In Teilen Nepals sowie in den bolivianischen <strong>und</strong><br />

peruanischen Anden hat die Brennholznutzung bereits<br />

heute ein Besorgnis erregendes Ausmaß erreicht.<br />

Dort ist es durch Abholzung zu starken Erosionserscheinungen<br />

an den Steilhängen gekommen. In Afrika<br />

südlich der Sahara, wo 90 Prozent der Energie aus<br />

Holz gewonnen werden, hat die Übernutzung der<br />

Wälder, insbesondere im Umland der rasch wachsenden<br />

Städte, vielerorts zu deren völliger Zerstörung geführt.<br />

Zwar verbindet man das Sammeln von Holz<br />

meist mit ländlichen Lebensformen, doch decken<br />

vielfach auch Stadtbewohner ihren Energiebedarf<br />

auf diese Weise. In Niamey, der Hauptstadt Nigers,<br />

greift die Übernutzung mit dem Wachstum der Stadt<br />

immer weiter in das Umland aus. Um Holz zu sammeln,<br />

müssen die Bewohner mittlerweile 50 bis 100<br />

Kilometer zurücklegen. Ähnliches gilt für Ouagadougou,<br />

die Hauptstadt von Burkina Faso, wo im Umkreis<br />

von 50 Kilometern ebenfalls kaum noch Brennholz<br />

zu finden ist.


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 223<br />

Alternative Lösungen: Wasserkraft,<br />

Sonnen- <strong>und</strong> Windenergie,<br />

I Erdwärme <strong>und</strong> Gezeiten________<br />

Eine Zeit lang sah man auch in der Wasserkraft eine<br />

gute Alternative zu den ganz offensichtlich die Umwelt<br />

belastenden fossilen Brennstoffen. Im Laufe des<br />

vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts entstanden in vielen Teilen<br />

der Erde Staudämme, die auch tatsächlich zahlreiche<br />

Verbesserungen mit sich brachten. Nicht nur die<br />

Verfügbarkeit von Energie konnte gesteigert werden,<br />

sondern auch die Qualität <strong>und</strong> die Verlässlichkeit der<br />

Energieversorgung, <strong>und</strong> dies bei sinkenden Strompreisen<br />

(Abbildung 4.25). Neben der Erzeugung hydroelektrischer<br />

Energie erfüllten die Stauanlagen<br />

noch einen weiteren Zweck: Wasserspeicherung für<br />

die Bewässerungswirtschaft <strong>und</strong> die Trinkwasserversorgung<br />

der Bevölkerung. Hinzu kamen weitere<br />

Funktionen, etwa verkehrstechnischer Art.<br />

Die Maßnahmen schienen somit gleichermaßen<br />

geeignet, das Wachstum der aufstrebenden Städte<br />

in den Industrieländern zu sichern <strong>und</strong> die wirtschaftliche<br />

Entwicklung der peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Regionen voranzutreiben. Bald musste man<br />

aber erkennen, dass man die negativen Auswirkungen<br />

von Staudämmen <strong>und</strong> -seen auf den geoökologischen<br />

Haushalt einer Region unterschätzt hatte. Die Folgen<br />

waren Störungen des hydrologischen Gleichgewichts,<br />

erhöhte Verdunstung <strong>und</strong> verstärkte Uferabspülung,<br />

Veränderungen des Abflussverhaltens, der Sedimenttransport-<br />

<strong>und</strong> -ablagerungsmechanismen sowie des<br />

Wasserlebens <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsbeeinträchtigungen<br />

der Anwohner, um nur einige zu nennen. Darüber<br />

Prozentualer Anteil der für jeden<br />

Kontinent technisch möglichen<br />

Wasserkraft<br />

4.25 Prozentualer Anteil der Wasserkraft an der Stromversorgung je Land im Jahr 2002 Obwohl die große Ära des<br />

Dammbaus in den Kernländern inzwischen weitgehend beendet ist, bauen viele Länder der Peripherie Staudämme, um sich aktiver an<br />

der Weltwirtschaft zu beteiligen. Nur wenige Länder sind fast ausschließlich von der Wasserkraft abhängig, die die Staudämme<br />

produzieren. Dazu gehören Norwegen, Nepal, Sambia, Ghana, Paraguay <strong>und</strong> Costa Rica. Während der durch Staudämme erzeugte<br />

Strom umweltfre<strong>und</strong>lich ist, kann sich die Konstruktion der großen Dämme extrem zerstörerisch auf die Umwelt auswirken <strong>und</strong><br />

die Verlagerung einer großen Bevölkerungszahl bedingen. Aber angesichts des steigenden Elektrizitätsbedarfs durch die sich<br />

schnell entwickelnden peripheren Länder wird Wasserkraft für viele dieser Länder aufgr<strong>und</strong> der unsicheren Ölversorgung in der<br />

Zukunft eine attraktive Energiequelle. Die größere Karte zeigt den Anteil der aktuell verfügbaren Wasserkraft, während die kleinere<br />

das Potenzial der Entwicklung der Wasserkraft, besonders in peripheren Regionen, abbildet.


224 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

hinaus bedeutet bereits der Bau eines solchen Dammes<br />

einen erheblichen Eingriff in die sozialen Strukturen,<br />

da oft Tausende Menschen umgesiedelt werden<br />

müssen, <strong>und</strong> in das umliegende Gelände, verb<strong>und</strong>en<br />

mit teils katastrophalen Konsequenzen. So können<br />

etwa die im Zusammenhang mit derlei Projekten<br />

notwendigen Abholzungen ausgedehnte Überschwemmungen<br />

auslösen. Oft lässt man die geschlagenen<br />

Bäume einfach in den künstlichen Seen verrotten,<br />

wodurch der Säuregehalt des aufgestauten Wassers<br />

zunimmt. Gleichzeitig können die Gewässer auch<br />

zu Brutstätten für Moskitos <strong>und</strong> Parasiten der Süßwasserschnecken<br />

werden, die Krankheiten wie Malaria<br />

<strong>und</strong> Bilharziose übertragen. Derartige Probleme<br />

sind nur schwer zu kontrollieren. Deshalb wird vielfach<br />

gefordert, Staudammprojekte erst auszuführen,<br />

nachdem man den gesamten Komplex indirekter sozialer<br />

<strong>und</strong> umweltbezogener Folgekosten vorher<br />

sorgfältig geprüft <strong>und</strong> mit dem zu erwartenden Nutzen<br />

abgewogen hat (Abbildung 4.26).<br />

Für die Nutzung der Wasserkraft spricht, dass die<br />

Luftbelastung gegenüber dem Einsatz fossiler Brennstoffe<br />

äußerst gering ist. Unbestritten sind in erster<br />

Linie mit Kohle- <strong>und</strong> Erdgas betriebene Kraftwerke<br />

sowie Fabriken, Kraftfahrzeuge <strong>und</strong> andere Verkehrsmittel<br />

für die Anreicherung Säure bildender Verbindungen<br />

in der Atmosphäre verantwortlich zu machen.<br />

Während der Mensch ebenso wie andere Organismen<br />

natürlicherweise Gase - unter anderem<br />

Sauerstoff <strong>und</strong> Kohlendioxid - produziert, hat die<br />

fortschreitende Industrialisierung <strong>und</strong> die Zunahme<br />

der Motorisierung das natürliche Gleichgewicht dieser<br />

Gase gestört <strong>und</strong> zu bedenklichen Luftbelastungen<br />

geführt. Den Säuregehalt der Luft erhöhen unter anderem<br />

Schwefeldioxid, Stickoxide <strong>und</strong> Kohlenwasserstoffe.<br />

Diese Stoffe entstehen im Straßenverkehr,<br />

bei industriellen Fertigungsprozessen <strong>und</strong> beim Einsatz<br />

fossiler Brennstoffe zur Energieerzeugung. Reichern<br />

sich die Gase mangels ausreichender Luftdurchmischung<br />

in den tieferen Atmosphärenschichten<br />

in entsprechender Konzentration an, so kann es<br />

zu saurem Regen kommen. Man versteht darunter<br />

säurehaltigen Niederschlag durch natürliche Reinigungsmechanismen<br />

der Atmosphäre: Wassertropfen<br />

in Wolken nehmen bestimmte Gase auf <strong>und</strong> fallen<br />

später zu Boden.<br />

Auch in Dunst, Nebel oder bei Smog kann es zur<br />

Säurebildung kommen. Die Auswirkungen sind in jedem<br />

Fall großflächig. So werden durch saure Niederschläge<br />

<strong>und</strong> allgemein feuchte (<strong>und</strong> trockene) Depositionen<br />

von Luftschadstoffen auf der nördlichen Hemisphäre<br />

Wälder geschädigt <strong>und</strong> vernichtet. Waldschäden<br />

werden indes nicht nur durch das direkte<br />

Auftreffen saurer Niederschläge auf die oberirdischen<br />

Pflanzenteile verursacht. Hinzu kommt die Versauerung<br />

der Böden, durch die sich die Bedingungen für<br />

das Pflanzenwachstum zusätzlich verschlechtern. In<br />

Nordamerika <strong>und</strong> in Skandinavien weisen Seen einen<br />

hohen Säuregehalt auf. In Städten greift saurer Regen<br />

Kalk- <strong>und</strong> Sandsteingebäude an. Der Parthenon-<br />

Tempel in Athen <strong>und</strong> die St. PauFs Cathedral in London<br />

seien stellvertretend für die große Zahl historischer<br />

Gebäude genannt, deren Substanz unter den<br />

sauren Niederschlägen leidet. Die Abbildung 4.27 illustriert<br />

das globale Problem der Säureemissionen,<br />

die als saurer Regen auf die Erdoberfläche gelangen.<br />

-i 4.26 Itaipustausee<br />

Am Itaipustausee an der<br />

Grenze von Paraguai <strong>und</strong><br />

Brasilien arbeitete bis<br />

zur Eröffnung des Kraftwerks<br />

am Dreischluchtendamms<br />

in China das<br />

größte Kraftwerk der<br />

Erde. Es versorgt weite<br />

Teile Südbrasiliens sowie<br />

Paraquai mit elektrischem<br />

Strom.


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 225<br />

Saure Ablagerung: Luft, Wasser, Boden<br />

□<br />

■<br />

empfindliche Böden/potenzieile<br />

Probiemgebiete<br />

Luftverschmutzungsgebiete: saurer<br />

Regen durch Emissionen<br />

derzeitige Problemgebiete<br />

(einschließlich Seen <strong>und</strong> Flüsse)<br />

geschätzter pH-Wert<br />

Anmerkung: der pH-Wert ist ein Maß für den<br />

Säuregrad. Je niedriger die Zahl, umso höher<br />

der Säuregehalt<br />

120<br />

100<br />

S 60<br />

1990 2000 2010 2020<br />

I Europa ■Vereinigte Staaten <strong>und</strong> Kanada ■ Asien<br />

4.27 Weltweite Säureemissionen (1990) Schwefeldioxid- <strong>und</strong> Stickoxidemissionen bilden in Verbindung mit Wassertröpfchen in<br />

der Luft Säuren, die durch den Niederschlag aus der Atmosphäre ausgewaschen werden. Diese Emissionen schädigen nicht nur<br />

verschiedene Umweltelemente, sondern auch Bauwerke. In manchen Regionen der Erde werden gegenüber Säureeinträgen empfindliche<br />

Böden besonders stark belastet, in anderen verursachen die Emissionen gefährliche Luftverschmutzung. Ebenfalls betroffen<br />

sind Seen <strong>und</strong> Flüsse, in denen es zu Fischsterben <strong>und</strong> dem Verlust vieler anderer Lebewesen kommen kann. Fläufig werden große<br />

Mengen Säure bildender Chemikalien an einem Ort erzeugt, mit dem Wind verfrachtet <strong>und</strong> anderswo wieder abgesetzt. So stammen<br />

mehr als drei Viertel der säurehaltigen Depositionen in Norwegen, der Schweiz, Österreich, Schweden, Finnland <strong>und</strong> den Niederlanden<br />

aus Schadstoffquellen in Ost- <strong>und</strong> Westeuropa. Die meisten Industrieländer haben ihre Schwefeldioxidemissionen reduziert, was<br />

die Schäden durch sauren Regen im Ökosystem etwas abgemildert hat. Aber das Problem des sauren Regens ist noch nicht gelöst:<br />

Stickoxidemissionen sind konstant geblieben oder haben wie in Nordamerika <strong>und</strong> Europa zugenommen. Gleichzeitig zeichnet<br />

sich der saure Regen als eines der Flauptprobleme der Entwicklungsländer ab, besonders in Teilen von Asien <strong>und</strong> der Pazifikregion<br />

wo der Energieverbrauch ansteigt. Es ist wahrscheinlich, dass die Säureemission, welche die Kernländer des 20. Jahr<strong>und</strong>erts<br />

erlebt haben, sich im 21. Jahr<strong>und</strong>er in den Peripherien wiederholt. (Quellen: Allen, J.L. Student Atlas o f Environmental Issues.<br />

Duskin/McGraw Füll, 1997, S. 45. World Resources Institute. World Resources 1998-1999, Acid Rain: Downpour in Asia, 1998.)


; i'-'<br />

1 4 226 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

r<br />

l<br />

P<br />

f<br />

l'<br />

I<br />

I<br />

Auch wenn es scheint, als sei Energieerzeugung<br />

unausweichlich mit einer Schädigung der Umwelt<br />

verb<strong>und</strong>en, so gibt es zu fossilen Brennstoffen, Wasserkraft<br />

<strong>und</strong> Kernenergie doch Alternativen. Sonne,<br />

Wind, Erdwärme <strong>und</strong> die Gezeiten können saubere,<br />

zuverlässige <strong>und</strong> wirtschaftliche Energiequellen sein.<br />

So gibt es in Japan, den USA, in Deutschland <strong>und</strong><br />

Österreich Solarenergieanlagen, die kostengünstig<br />

<strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>lich arbeiten. Obwohl sie nur<br />

einen kleinen Teil des Energiebedarfs decken, werden<br />

Erdwärme <strong>und</strong> Windkraft beispielsweise in Italien,<br />

Schweiz, Deutschland, Österreich, den USA, in Mexiko<br />

<strong>und</strong> auf den Philippinen erfolgreich genutzt. Zunehmend<br />

werden auch alternative Verfahren zur<br />

Energiegewinnung aus nicht erneuerbaren Rohstoffen<br />

eingesetzt, wie zum Beispiel die Energieerzeugung<br />

in Brennstoffzellen <strong>und</strong> die Kraft-Wärme-Kopplung.<br />

Brennstoffzellen gewinnen elektrischen Strom <strong>und</strong><br />

Wärme direkt aus chemischer Energie, indem eine<br />

Oxidation von Wasserstoff mit Sauerstoff erfolgt.<br />

Als Endprodukte fallen weder Abgase noch Schadstoffe,<br />

sondern nur Wasserdampf <strong>und</strong> Wärme an. Besonders<br />

vielversprechend ist im Moment der Einsatz<br />

von Fahrzeugen mit Brennstoffzellen im Gütertransport<br />

auf der Straße. Bei der Kraft-Wärme-Kopplung<br />

{cogeneration) in Heizkraftwerken entstehen gleichzeitig<br />

Strom <strong>und</strong> Wärme. Im Gegensatz zur herkömmlichen<br />

Stromerzeugung, bei der momentan<br />

nur 35 Prozent des Brennstoffes in Strom umgewandelt<br />

werden <strong>und</strong> der Rest als Abwärme verloren geht,<br />

liegt die Wärmeausbeute der Kraft-Wärme-Kopplung<br />

bei 90 Prozent. Sie ist damit das derzeit effizienteste<br />

Verfahren der Energiegewinnung aus Brennstoffen.<br />

Allerdings stehen nur geringe Mittel für die Weiterentwicklung<br />

der Energiegewinnung aus Erdwärme,<br />

Wind- <strong>und</strong> Gezeitenkraft zur Verfügung,<br />

wenngleich es sich um zukunftsweisende Technologien<br />

handelt. Zuzuschreiben ist dies dem starken<br />

Druck, den die Lobby der Erdöl- <strong>und</strong> Erdgasgesellschaften<br />

<strong>und</strong> andere politische Kräfte ausüben. An<br />

brauchbaren Alternativen zu den traditionellen Energieressourcen<br />

besteht also kein Mangel. Inwieweit deren<br />

Ausbau vorangetrieben werden kann, darüber<br />

dürften zukünftige politische <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Faktoren bestimmen.<br />

Die Auswirkung von Landnutzungs-<br />

, änderungen auf die Umwelt _____<br />

Neben der Luftverschmutzung durch Industrieabgase<br />

<strong>und</strong> dem stetig steigenden Energiebedarf resultieren<br />

Umweltveränderungen auch aus dem enormen Nutzungsdruck,<br />

der auf Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden lastet. Die<br />

Auslichtung <strong>und</strong> Rodung von Waldflächen zur<br />

Brennholzgewinnung, zur Ausweitung der Anbau<strong>und</strong><br />

Weidefläche, zur Rohstoffgewinnung, für den<br />

Straßenbau, zur Energienutzung oder auch der Waldverlust<br />

durch Kriegseinwirkungen bleiben nicht ohne<br />

Folgen. Die Landnutzung lässt sich in fünf Kategorien<br />

unterteilen: Wald, Ackerland, Weiden, Feuchtgebiete<br />

<strong>und</strong> Siedlungsflächen. Geographen unterscheiden im<br />

Zusammenhang mit Landnutzungsänderungen zwischen<br />

vollständiger <strong>und</strong> teilweiser Umnutzung von<br />

Flächen. Im ersten Fall erfolgt eine komplette Umwandlung,<br />

beispielsweise eines Waldgebiets in eine<br />

Siedlungsfläche, im zweiten die partielle Nutzungsänderung<br />

auf einer Fläche, etwa durch den Bau einer<br />

Eisenbahnlinie durch ein Weidegebiet oder die Auslichtung<br />

eines Waldbestandes. Mit der Zunahme der<br />

Bevölkerungszahl wuchs auch der Flächenbedarf für<br />

Siedlungen <strong>und</strong> Kulturland. Die Folge waren erhebliche<br />

Veränderungen des Landnutzungsmusters.<br />

Eine der folgenreichsten Landschaftsveränderungen<br />

durch den Menschen ist die Rodung von Wäldern<br />

zur Gewinnung von Siedlungsfläche <strong>und</strong> Kulturland.<br />

Dabei handelt es sich um einen Jahrtausende andauernden<br />

Prozess, der bis heute nicht zum Stillstand gekommen<br />

ist. Wälder wurden jedoch nicht nur wegen<br />

des steigenden Flächenbedarfs einer stetig wachsenden<br />

Bevölkerung gerodet, sondern auch als reiche natürliche<br />

Ressource ausgebeutet. In Tabelle 4.2 ist eine<br />

ungefähre Chronologie <strong>und</strong> das geschätzte weltweite<br />

Ausmaß der Rodungen, nach Großregionen gegliedert,<br />

für einen Zeitraum von über 300 Jahren wiedergegeben.<br />

Man sieht, dass die Waldfläche der Erde<br />

vom frühen 17. Jahrh<strong>und</strong>ert bis in das letzte Drittel<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts um etwa 8 Millionen Quadratkilometer<br />

zurückgegangen ist. In unterschiedlichem<br />

Ausmaß hatten Holzentnahme <strong>und</strong> Siedlungsausweitung<br />

daran ebenso Anteil wie die Umnutzung von<br />

Wald zu Acker- <strong>und</strong> Weideland sowie die Gewinnung<br />

von Brennholz im Umland von Städten.<br />

Den unwiederbringlichen Verlust von Wald durch<br />

Rodung oder sonstige menschliche Einwirkungen bezeichnet<br />

man als Entwaldung. In alarmierendem<br />

Umfang spielt sich dieser Prozess gegenwärtig in<br />

den tropischen Regenwaldgebieten ab. Das Ausmaß<br />

der Entwaldung in den verschiedenen Teilen der<br />

Erde ist in Abbildung 4.28 dargestellt. Schätzungen<br />

der Food and Agriculture Organization der Vereinten<br />

Nationen zufolge werden weltweit in jeder Sek<strong>und</strong>e<br />

etwa 0,4 Hektar Regenwald vernichtet.<br />

Heute sind 7 Prozent der Festlandfläche von Regenwald<br />

bedeckt, gerade halb so viel wie noch vor<br />

wenigen Tausend Jahren. Alarmierend ist dabei nicht


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 227<br />

Tabelle 4.2 Schätzwerte für das Ausmaß der Waldrodung (in 1 000 km^) was bedeutet H <strong>und</strong> T?<br />

Region oder Land<br />

vor<br />

1650<br />

1650<br />

bis<br />

1749<br />

1750<br />

bis<br />

1849<br />

1850<br />

bis<br />

1978<br />

höchster<br />

Schätzwert<br />

insg.<br />

niedrigster<br />

Schätzwert i<br />

insg. 1<br />

Nordamerika 6 80 380 641 1 107 1 107<br />

Mittelamerika H 18 288<br />

30 40 200 282<br />

T 12 -<br />

Lateinamerika H 18<br />

100 170 637 925 919<br />

T 12<br />

Australien, Neuseeland,<br />

Südpazifik<br />

H 6 6 6 362 380<br />

T 2 4 6 362 - 374<br />

ehemalige Sowjetunion H 70 180 270 575 1 095<br />

T 42 130 250 575 - 997<br />

Europa H 204 66 146 81 497<br />

T 176 54 186 81 - 497<br />

Asien H 974 216 596 1 220 3 006<br />

T 640 176 606 1 220 - 2 642<br />

Afrika H 226 80 -16 469 759<br />

T 96 24 42 469 - 631<br />

höchster Schätzwert<br />

gesamt<br />

niedrigster Schätzwert<br />

gesamt<br />

1 522 758 1 592 4 185 8 057<br />

986 598 1 680 4 185 7 449<br />

Quelle: Turner, B. I.; Clark, W.C.; Kates, R. W.; Richards, J. F.; Mathews, J.T. Meyer, W. B. The Earth as Transformed by Human Action:<br />

Global and Regional Changes in the Biosphere over the Past 300 Years. Cambridge (Cambridge University Press) 1990. S. 180.<br />

nur die abnehmende Zahl von Bäumen, einer an sich<br />

erneuerbaren Ressource, die jedoch schneller verbraucht<br />

wird, als sie sich regenerieren kann. Das<br />

eigentlich dramatische an dieser Entwicklung ist<br />

die Dezimierung der Artenvielfalt, oder anders ausgedrückt,<br />

die Verringerung der Biodiversität des Ökosystems<br />

Regenwald. Dadurch kommt es zu einem irreversiblen<br />

Verlust an organischen Verbindungen,<br />

die für die Medizin möglicherweise von hohem<br />

Wert wären. Darüber hinaus führt die Zerstörung<br />

der Regenwälder zur Destabilisierung des Sauerstoff-Kohlendioxid-Kreislaufs,<br />

was langfristig gesehen<br />

Auswirkungen auf das Weltklima haben könnte.<br />

Die Abholzung der südamerikanischen Regenwälder<br />

ist weitgehend auf das Streben der peripheren Länder<br />

nach wirtschaftlicher Entwicklung zurückzuführen.<br />

So entwickelte sich beispielsweise im bolivianischen<br />

Teil des Amazonasgebiets die Koka-Produktion zu<br />

einer wichtigen Einkommensquelle für die Bauern<br />

der Region. Damit einher ging die Rodung kleinerer<br />

Waldflächen. Verglichen mit anderen südamerikanischen<br />

Ländern wie Brasilien oder Kolumbien erscheint<br />

der Waldverlust im Zuge des bolivianischen<br />

Koka-Anbaus jedoch eher vernachlässigbar. Auch<br />

in anderen Ländern wie dem Jemen werden Anbauflächen<br />

für den Anbau von Genuss- <strong>und</strong> Rauschmitteln<br />

genutzt (Abbildung 4.29).<br />

Die Wälder der Erde werden in sehr unterschiedlicher<br />

Weise vom Menschen beeinflusst. In den Industrieländern<br />

forstet man Kahlschlagflächen meist<br />

wieder auf oder es kommt zu spontaner Wiederbewaldung.<br />

ln der Mehrzahl der Entwicklungsländer


228 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Allein in den USA hat die Verbreitung von Druckern,<br />

Fotokopierern <strong>und</strong> Faxgeräten den Papierverbrauch<br />

während der 80er-Jahre fast verdoppelt.<br />

Nordpolarmeer<br />

Die sibirischen Wälder sind die<br />

größten Waldgebiete der Welt.<br />

für US-amerikanische <strong>und</strong> südkoreanische<br />

multinationale Holzkonzerne stellen sie eine<br />

neue .logging frontier' dar.<br />

i '<br />

- /<br />

'%<br />

P a zifisch e<br />

Ozean<br />

^ Vereinigte<br />

Staaten<br />

A tla n tische r ,<br />

Ozean<br />

PyUrokfco<br />

» w . '^<br />

J<br />

'p<br />

^* "* T -'■> .OowWnluMit«c*>» «*R«puMk I<br />

/d*M*0(*<br />

K^jywdtact» t—J<br />

« L-lkwin MMratwM*<br />

r ' i S . . -V •«. C<br />

4-----------------------<br />

Tropische Regenwälder bedecken<br />

7% der Festlandfläche weltweit,<br />

beherbergen aber etwa die Hälfte<br />

aller Arten.<br />

nui^i" " ^ Hondur** *^&wtedoi<br />

-;:i3 / w : . - I<br />

----<br />

Brasilien /<br />

eo4*| ■.•■. Komoran<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

^^!ildaoe*0<br />

/vt<br />

Ozean<br />

Q mmtUw«<br />

• aniwi ^ ,,*v<br />

;v


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 229<br />

4.29 Qatanbau im Jemen<br />

Der Anbau <strong>und</strong> die Vermarktung<br />

von Genuss- <strong>und</strong> Rauschgiften<br />

spielt in vielen Staaten vor allem<br />

der Tropen eine wichtige Rolle.<br />

Neben global vermarkteten<br />

Drogen wie der Produktion von<br />

Koka <strong>und</strong> Opium <strong>und</strong> seiner<br />

Weiterverarbeitung zu Kokain<br />

beziehungsweise Heroin in<br />

einigen Staaten Lateinamerikas<br />

(Kolumbien, Bolivien), Südostasiens<br />

(Laos, früher Thailand)<br />

<strong>und</strong> Zentralasiens (Afghanistan)<br />

haben auch regional verbreitete<br />

Genuss- <strong>und</strong> Aufputschmittel<br />

wie das Qat im Jemen eine<br />

große wirtschaftliche Bedeutung<br />

gewonnen. Das Kauen der<br />

zarten Qatblätter mit ihrer leicht<br />

anregenden Wirkung hat dazu<br />

geführt, dass heute im Land die<br />

meisten Anbauflächen mit diesem<br />

Strauch bestellt werden<br />

<strong>und</strong> die Mehrzahl der Jemeniten<br />

mehr oder weniger regelmäßig<br />

Qat kaut.<br />

wo tropischer Regenwald gerodet wurde. Gegenwärtig<br />

wird eine Fläche von insgesamt etwa 68 Millionen<br />

Quadratkilometern als Weideland genutzt.<br />

Der Einfluss des Menschen auf die Ausdehnung<br />

(Bewirtschaftung) des Graslands zeigt sich hauptsächlich<br />

in zwei Formen. Entweder erfolgt eine vollständige<br />

Umnutzung, meist durch die Ausweitung<br />

von Siedlungsflächen, oder aber es findet eine Intensivierung<br />

der Nutzung statt. Letzteres hängt eng mit<br />

dem weltweit gestiegenen Bedarf an Rindfleisch zusammen.<br />

Vielfach hat Überweidung zu einer raschen<br />

Degradierung dieser Ressource geführt, im schlimmsten<br />

Fall zu Desertifikation. Unter Desertifikation<br />

versteht man die durch Übernutzung verursachte<br />

Veränderung des Vegetationstyps bis hin zur Vernichtung<br />

der Pflanzendecke sowie eine damit einhergehende<br />

Schädigung des Bodens <strong>und</strong> Störung des<br />

Wasserhaushalts in ariden <strong>und</strong> semiariden Regionen.<br />

Die südlich an die Sahara angrenzende Sahelzone ist<br />

eines der Gebiete der Erde, die in besonderem Maße<br />

von Desertifikation betroffen sind.<br />

Dieser seit den 1970er-Jahren zu beobachtende<br />

Prozess ist indes nicht allein allzu sorglosen Viehbesitzern<br />

zuzuschreiben. Neben der Überweidung gibt<br />

es noch weitere Gründe für die Misere: Anhaltende<br />

Dürreperioden, wiederkehrende Hungersnöte, wachsender<br />

Nutzungsdruck <strong>und</strong> Bodenzerstörung sowie<br />

der Verlust traditioneller Strategien zur Bewältigung


230 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

0 BOO K ik x n e te r<br />

akute Gefahr<br />

von Desertifikation<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

mäßige bis große<br />

Gefahr von<br />

Desertifikation<br />

4.30 Desertifikation in Afrika südlich der Sahara<br />

Desertifikation ist ein wachsendes Problem in vielen Gebieten<br />

der Erde, besonders aber in Afrika südlich der Sahara (dem Teil<br />

des Kontinents, der sich zwischen der Sahara-Wüste im Norden<br />

<strong>und</strong> den fünf Staaten im Süden Afrikas erstreckt). Die nebenstehende<br />

Karte zeigt die fortschreitende Desertifikation in<br />

Afrika. Als Ursache der Desertifikation in diesem Teil Afrikas<br />

gelten vor allem Überweidung in ökologisch sensiblen ariden<br />

<strong>und</strong> semiariden Landstrichen <strong>und</strong> Entwaldung ohne nachfolgende<br />

Wiederaufforstung.<br />

von Krisensituationen trafen zusammen. Die Folge<br />

war eine Überbeanspruchung der empfindlichen<br />

Ökosysteme, die letztlich zur Zerstörung der Grasnarbe<br />

<strong>und</strong> zu schwerer Bodendegradation geführt hat.<br />

Die anthropogenen Einflussfaktoren auf die Savannengebiete<br />

des Sahel sind also äußerst komplex.<br />

Ob die daraus resultierenden enormen Landschaftsschäden<br />

je wieder behoben werden können, ist ungewiss<br />

(Abbildung 4.30).<br />

Die Landnutzungskategorie der Feuchtgebiete<br />

umfasst eine Fülle unterschiedlicher Typen: Sümpfe,<br />

Marschland, Schilfflächen <strong>und</strong> Moore, aber auch die<br />

Uferzonen von Seen, Flüssen, Meeren <strong>und</strong> anderer<br />

Wasserflächen. Feuchtgebiete können sowohl an<br />

Salzwasser als auch an Süßwasser geb<strong>und</strong>en sein, wobei<br />

Letzteres bezogen auf die Fläche überwiegt. Der<br />

Mensch hat auf vielfältige Weise in den Landschaftshaushalt<br />

von Feuchtgebieten eingegriffen, insbesondere<br />

aber durch Trockenlegung, Aufschüttung oder<br />

die Umwandlung in Siedlungsflächen oder Ackerland.<br />

Nach einer verlässlichen Schätzung umfassen<br />

die Feuchtgebiete der Erde heute eine Fläche von insgesamt<br />

etwa 8,5 Millionen Quadratkilometern, der<br />

bisherige Verlust wird mit etwa 1,5 Millionen Quadratkilometern<br />

beziffert. So sind in Australien sämtliche<br />

Feuchtgebiete mit einer Gesamtausdehnung von<br />

ursprünglich 20 000 Quadratkilometern Umwandlungsmaßnahmen<br />

zum Opfer gefallen.<br />

Der Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass Feuchtgebiete dort seit<br />

etwa 400 Jahren als Brutstätten von Krankheitserregern<br />

oder in irgendeiner anderen Form als störend<br />

empf<strong>und</strong>en wurden. Tn den Industrieländern waren<br />

es technologische Innovationen, die eine Trockenlegung<br />

möglich <strong>und</strong> wirtschaftlich machten. In San<br />

Francisco schuf um die Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

die Umwandlung von Feuchtgebieten die Voraussetzung<br />

dafür, dass Bodenspekulanten <strong>und</strong> Bauunternehmer<br />

die Ausdehnung des Stadtzentrums bis<br />

weit in die einstigen Marschen am Rande der San-<br />

Fancisco-Bucht hinein betreiben konnten. Ausgelöst<br />

durch den Goldrausch in den Bergen der östlich gelegenen<br />

Sierra Nevada, gelangten über die Flüsse<br />

gewaltige Sedimentmengen in die Bucht, die das Gelände<br />

erhöhten <strong>und</strong> die Meerestiefe in Ufernähe verringerten.<br />

Im Jahre 1850 umfasste die San-Francisco-<br />

Bucht - einschließlich der San Pablo Bay <strong>und</strong> der<br />

Suisun Bay - schätzungsweise r<strong>und</strong> 315 Quadratkilometer,<br />

100 Jahre später war sie auf ein Drittel ihrer<br />

ursprünglichen Größe geschrumpft. In den 1960er-<br />

Jahren verschlechterten sich infolge dieser Veränderungen<br />

<strong>und</strong> auch aufgr<strong>und</strong> der Einleitung von ungeklärten<br />

Abwässern in die Bucht die Wasserqualität<br />

<strong>und</strong> die Lebensbedingungen für Fische, Wasservögel<br />

<strong>und</strong> Meeresorganismen so sehr, dass der Fortbestand<br />

des Ökosystems ernstlich bedroht war.<br />

Die Umweltprobleme, die auf die Verfeuerung<br />

fossiler Brennstoffe, die Zerstörung der Wälder <strong>und</strong><br />

den Aufstau von Flüssen zurückgehen, haben ein<br />

Besorgnis erregendes Ausmaß angenommen. Globalisierungsprozesse<br />

- <strong>und</strong> in besonderem Maße die<br />

Phase der Industrialisierung - brachten außerordentlich<br />

starke Veränderungen des Landnutzungsmusters<br />

<strong>und</strong> damit erhebliche Umweltbelastungen<br />

mit sich. Es ist fast selbstverständlich geworden,<br />

von einer Häufung von Umweltproblemen globaler<br />

Dimension zu sprechen. Als global change bezeichnen<br />

Geographen <strong>und</strong> andere Umweltwissenschaftler<br />

die Kombination politischer, wirtschaftlicher, sozialer,<br />

historisch gewachsener <strong>und</strong> umweltbezogener<br />

Probleme, mit denen die Menschheit heute konfrontiert<br />

ist. Kaum etwas ist von den Prozessen der Globalisierung<br />

unbeeinflusst geblieben, am wenigsten die<br />

Umwelt.


Anthropogene Umweltveränderungen in jüngerer Zeit 231<br />

tatsächlich erfolgten in keiner anderen Epoche der<br />

Menschheitsgeschichte derart tief greifende Veränderungen<br />

der natürlichen Umwelt wie in den letzten 500<br />

Jahren, So genießen wir heute zwar die Annehmlichkeiten<br />

des modernen Lebens, doch sollten wir nicht<br />

vergessen, dass dies auch seinen Preis hat. Seit ungefähr<br />

30 Jahren wird zunehmend nach Lösungen für<br />

globale Umweltprobleme gesucht <strong>und</strong> zahlreiche lokale<br />

Umweltorganisationen <strong>und</strong> -gruppen agieren inzwischen<br />

weltweit.<br />

I Das Klima wandelt sich<br />

Die Hinweise, dass die globale Klimaerwärmung vom<br />

Menschen verursacht ist, erhärteten sich seit Ende der<br />

1990er-Jahre immer mehr. Die Interaktionen von<br />

Gesellschaft, Wirtschaft, Technik <strong>und</strong> Natur erreichen<br />

im Rahmen der globalen Erwärmung eine tragische<br />

Dimension. Zynisch formuliert, könnte man<br />

die globale Erwärmung als das größte von Menschen<br />

durchgeführte Experiment bezeichnen. In Analogie<br />

zu Goethes Zauberlehrling setzen wir irreversible<br />

Prozesse globalen Maßstabs in Gang.<br />

Die globale Oberflächentemperatur hat im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert um etwa 0,6 °C zugenommen. Diesen<br />

Temperaturanstieg führen Forscher auf die Emission<br />

von Treibhausgasen zurück (als wichtigstes gilt CO2,<br />

daneben spielen CH4, N2O, CO <strong>und</strong> HFCs, PFCs sowie<br />

SFe eine Rolle) (Abbildung 4.31). R<strong>und</strong> drei Viertel<br />

dieser globalen C02-Emissionen werden auf die<br />

Verbrennung fossiler Energieträger zurückgeführt,<br />

ein Viertel auf die Änderungen der Landnutzung.<br />

Von 1750 bis 2000 hat sich denn auch die CO2-<br />

Konzentration der Troposphäre um r<strong>und</strong> 31 Prozent<br />

erhöht. Bedenklich ist auch, dass das CO2 über Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

hinweg als Treibhausgas in der Troposphäre<br />

aktiv bleibt. Aktuelle Modellrechnungen besagen,<br />

dass die Temperatur in den nächsten 100 Jahren<br />

um bis zu 5,8 Prozent steigen wird, sofern keine<br />

Maßnahmen zur Verminderung der Emissionen ergriffen<br />

werden. Die weltweiten Klimate werden dadurch<br />

immer ausgeprägter: Niederschläge <strong>und</strong><br />

Trockenzeiten intensiver, die Dynamik tropischer<br />

Stürme nimmt zu, die Schneefallgrenze rückt nach<br />

oben, der Meeresspiegel steigt nach Berechnungen<br />

des JPCC (Intergovernmental Panel on Climate<br />

Change) um 15 bis 95 Zentimeter bis ins Jahr<br />

2100. Dieser Anstieg ist einerseits bedingt durch<br />

das Abschmelzen der Gletscher <strong>und</strong> eines Teils des<br />

Polareises sowie andererseits durch die höhere Temperatur<br />

des Meerwassers, das dadurch ein größeres<br />

Volumen einnimmt.<br />

Seit dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahre<br />

1992 sucht die internationale Gemeinschaft nach<br />

einem Weg, wirtschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> wirksamen<br />

globalen Umweltschutz miteinander in Einklang<br />

zu bringen. Die derzeit größte Bedrohung der Umwelt<br />

resultiert aus dem Anstieg des Energieverbrauchs<br />

<strong>und</strong> den möglichen Auswirkungen auf das Weltklima.<br />

Nach dem Gipfel von Rio ratifizierten 167 Staaten<br />

die Klima-Rahmenkonvention (Framework Convention<br />

on Climate Change) mit dem Ziel, die Konzentration<br />

von Treibhausgasen in der Atmosphäre auf<br />

einer Höhe zu stabilisieren, die gefährliche störende<br />

Einwirkungen auf das Klimasystem verhindert. Ein<br />

weiteres, nicht weniger wichtiges Ziel ist es, die mit<br />

Umweltschutzmaßnahmen verb<strong>und</strong>enen Lasten gerecht<br />

auf alle Staaten zu verteilen.<br />

Im Dezember 1997 begannen diese Nationen, sich<br />

konkreter mit dem Problem der Vereinbarkeit von<br />

globalem Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Umweltschutz<br />

auseinanderzusetzen <strong>und</strong> formulierten zu diesem<br />

Zweck das Kyoto-Protokoll. Damit wurde zum ersten<br />

Mal der Versuch gemacht, die Emissionen von<br />

Treibhausgasen in den Industriestaaten zu limitieren<br />

(Abbildung 4.31). Ziel des Abkommens ist es, die Gesamtmenge<br />

der Treibhausgase bis zum Jahre 2012 um<br />

5 Prozent zu senken, gemessen am Stand von 1990.<br />

Darüber hinaus wurde festgelegt, welchen Beitrag jeder<br />

der Staaten zu leisten hat, um dieses Ziel zu erreichen.<br />

Von den Ländern, die zu den Hauptemittenten<br />

von CO2 zählen - die USA, Japan <strong>und</strong> die meisten<br />

europäischen Staaten -, wird erwartet, dass sie ihre<br />

Kohlendioxid-Emissionen um 6 bis 8 Prozent reduzieren<br />

(Abbildung 4.32).<br />

andere<br />

Kohlenwasserstoffe<br />

5%<br />

Fluorchlorlenwasserstoff<br />

6%<br />

Distickstoffoxid<br />

6%<br />

4.31 Treibhausgase CO2 spielt im Zusammenhang mit<br />

Veränderungen des Weltklimas eine wesentliche Rolle. Neben<br />

Kohlendioxid bezieht sich das Protokoll von Kyoto auf fünf<br />

weitere Treibhausgase, Methan (CH4), Stickoxid (N2O), Hydro-<br />

fluorkohlenwasserstoffe (H-FKW), perfluorierte Kohlenwasserstoffe<br />

(FKW) <strong>und</strong> Schwefelhexafluorid (SFa).


232 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

55?<br />

Vereinigte Staaten<br />

Kanada<br />

Russische Föderation (GUS)<br />

Deutschland<br />

Großbritannien<br />

Japan<br />

Polen<br />

Ukraine<br />

Südkorea<br />

Südafrika<br />

Italien<br />

Frankreich<br />

Mexiko<br />

China<br />

Indien<br />

Kernländer/Kernstaaten<br />

'iiiriiriiiii ir<br />

PTTTTT<br />

Ml IUI lllllllllll<br />

lllllll l l l l ' l l '<br />

5 10 15 20<br />

Kohlendioxid-Emissionen pro Kopf<br />

(in Tonnen)<br />

25<br />

4.32 C02-Emissionen pro Kopf Die Höhe<br />

der C02-Emissionen eignet sich als Näherungswert<br />

zur Abschätzung der Gesamtmenge<br />

aller Treibhausgase. Die Grafik verdeutlicht,<br />

dass in den Kernländern, den Industriestaaten,<br />

der C02-Ausstoß höher ist als in Ländern<br />

der Peripherie. Dies überrascht nicht, da<br />

Energieverbrauch <strong>und</strong> Wohlstandsniveau<br />

eng miteinander korrelieren.<br />

Obwohl das Kyoto-Abkommen gegenüber den Beschlüssen<br />

von Rio einen echten Fortschritt darstellt,<br />

müssen die 167 beteiligten Staaten noch wichtige<br />

Fragen klären. Besonders weit gehen die Meinungen<br />

darüber auseinander, ob die höher entwickelten Länder<br />

die Möglichkeit erhalten sollen, an einem „Emissionshandel“<br />

zu partizipieren. Bei diesem Szenario<br />

hätten die Staaten, deren Emissionsniveau unter<br />

dem vereinbarten Grenzwert liegt, das Recht, „Emissionsscheine“<br />

an ein anderes Land zu verkaufen, das<br />

diese wiederum zur Erfüllung seiner vertraglichen<br />

Verpflichtungen einsetzen könnte. Die Befürworter<br />

des Handels mit Emissionsrechten argumentieren,<br />

dass auf diese Weise die Kosten der Reduktion von<br />

Treibhausgasen vermindert werden könnten, da entsprechende<br />

Maßnahmen dort ergriffen würden, wo<br />

sie sich am kostengünstigsten umsetzen lassen.<br />

Zu diesen Fragen konnte bei dem nachfolgenden<br />

Gipfel in Den Haag im Jahr 2000 <strong>und</strong> bei vielen bilateralen<br />

Verhandlungen keine Einigung erzielt werden.<br />

Damit wird aber auch das Kyotoer Abkommen<br />

wirkungslos. Darüber hinaus hat der Präsident der<br />

USA, George W. Bush, 2001 erklärt, dass er nicht gewillt<br />

sei, eventuelle wirtschaftliche Nachteile für sein<br />

Land in Kauf zu nehmen <strong>und</strong> daher das Abkommen<br />

von Kyoto nicht erfüllen wird. Auch ein massiver<br />

Protest <strong>und</strong> Verhandlungen der EU-Vertreter konnten<br />

ihn bisher nicht umstimmen. Bush fürchtet, dass<br />

sich die Vereinbarungen des Protokolls für US-amerikanische<br />

Energiekonzerne negativ auswirken <strong>und</strong><br />

sich das Wirtschaftwachstums in den Vereinigten<br />

Staaten <strong>und</strong> dem Rest der globalisierten Welt verringern<br />

könnte. Die USA sind weiterhin der größte Produzent<br />

(25 Prozent) von Treibhausgasen, die zu<br />

einem weltweiten Temperaturanstieg führen. Abgesehen<br />

von einem Atomkrieg oder Asteroideneinschlag<br />

ist die globale Erwärmung die größte Gefahr für das<br />

Leben auf der Erde. Als Folgen der weltweit erhöhten<br />

Temperaturen steigen der Meeresspiegel, was zu<br />

einem hohen Verlust von Eigentumswerten <strong>und</strong><br />

der Zerstörung von Lebensgr<strong>und</strong>lagen führen kann,<br />

<strong>und</strong> die Zahl der durch Hitze bedingten Todesfälle.<br />

Die Ausbreitung von Nagetieren <strong>und</strong> Ungeziefer<br />

nimmt zu, wodurch vermehrt Krankheiten (zum Beispiel<br />

Malaria, Dengue-Fieber, Lyme-Borreliose)<br />

übertragen werden können.<br />

Eine zweite wichtige, ebenfalls noch ungelöste Frage<br />

betrifft den Umfang, in dem sich die Länder der<br />

Peripherie an der Verringerung der Emissionen beteiligen<br />

müssen. Der ursprüngliche Klimavertrag von<br />

1992 hatte festgelegt, dass die Kernländer, die unbestreitbar<br />

für das gegenwärtige Ausmaß der Treibhausgasbelastung<br />

verantwortlich sind, auch die Verminderung<br />

zu bewerkstelligen hätten. Nun wird auch<br />

von den Ländern der Peripherie ein Beitrag erwartet.<br />

Allerdings schreibt ihnen das Kyoto-Abkommen weder<br />

verbindliche Grenzwerte vor noch sollen bestimmte<br />

Mechanismen oder ein konkreter Zeitplan<br />

für die freiwillige Beschränkung eingeführt werden.<br />

Einen interessanten Ansatz zur Eörderung der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung unter Berücksichtigung<br />

des Umweltschutzes in den Ländern der Peripherie<br />

stellt das Konzept des Clean Development Mechanism<br />

(CDM) dar. Danach sollten höher entwickelte<br />

Länder in Projekte zur Reduzierung der Treibhausgase<br />

in der Peripherie investieren <strong>und</strong> auf diese Weise<br />

ein „Guthaben“ aufbauen dürfen. Damit soll ein Beitrag<br />

zur wirtschaftlichen Entwicklung der Peripherie<br />

geleistet werden, ohne den Ausstoß von Treibhausgasen<br />

insgesamt zu erhöhen.<br />

Wenngleich das Abkommen von Kyoto in der Frage<br />

der Emissionen keine entscheidenden Erfolge erwarten<br />

lässt, so haben die Verhandlungspartner<br />

doch ursprünglich ihre Bereitschaft erklärt, an einem<br />

Vertrag zu arbeiten, der weitere Fortschritte für die<br />

kommenden Jahrzehnte sicherstellen soll. Man helft


Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichtes zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur 233<br />

außerdem, dass durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse<br />

<strong>und</strong> Investitionen in die Entwicklung<br />

emissionsarmer Technologien eine Reform der Energiepolitik<br />

in Gang kommen wird.<br />

Die Klimaforscher modellieren weiterhin neue<br />

Klimaszenarien. Diese werden vom IPCC publiziert.<br />

Die aktuellen Ergebnisse der Klimaforschung sind<br />

auf der Homepage der IPCC (www.ipcc.ch) nachzulesen.<br />

Die Ursachen <strong>und</strong> Folgen des weltweiten Klimawandels<br />

unterscheiden sich beträchtlich von Region<br />

zu Region. Die industrialisierten Länder haben zum<br />

Beispiel höhere Kohlendioxidemissionen als die peripheren<br />

Länder. Steigende Kohlendioxidemissionen<br />

tragen zu einer Temperaturerhöhung bei, indem<br />

die erwärmte Luft durch das Kohlendioxid in der<br />

Erdatmosphäre gehalten wird <strong>und</strong> nicht in den Weltraum<br />

abgestrahlt werden kann. Um zu überleben ist<br />

die ländliche Bevölkerung in vielen armen <strong>und</strong> peripheren<br />

Regionen der Welt jedoch oft gezwungen, ihre<br />

unmittelbare Umwelt durch die großflächige Abholzung<br />

der Wälder zu zerstören, sodass die Erdatmosphäre<br />

aus dem Gleichgewicht gerät. Beide, Kernländer<br />

<strong>und</strong> Peripherie, haben somit auf verschiedene,<br />

aber gleich bedeutende Weise Anteil am globalen Kliniawandel.<br />

ln aktuellen Beobachtungen haben sich jedoch<br />

auch Indizien verstärkt, dass die Klimaänderung<br />

einen großen Einfluss auf die Häufigkeit <strong>und</strong> Intensität<br />

von Naturkatastrophen hat. Überschwemmungen,<br />

Dürre-, Unwetter- <strong>und</strong> Sturmkatastrophen<br />

scheinen immer häufiger aufzutreten. Und tatsächlich<br />

zeigen Beobachtungsreihen, dass sich die Eintrittswahrscheinlichkeiten<br />

für Extremereignisse erhöht<br />

haben. Immer häufiger zeichnen sich besonders<br />

warme, in anderen Regionen besonders kalte Jahre<br />

ah.<br />

Angesichts des regional unterschiedlichen Bevölkerungswachstums<br />

<strong>und</strong> der räumlich differenzierten<br />

wirtschaftlichen Entwicklung ist damit zu rechnen,<br />

dass die durch geringer entwickelte Länder verursachte<br />

Belastung von Luft <strong>und</strong> Wasser in den nächsten<br />

15 lahren um mehr als das Doppelte zunehmen<br />

wird - umso stärker, je mehr sie an der Industrialisierung<br />

teilhaben. Umweltprobleme sind folglich untrennbar<br />

\'erb<strong>und</strong>en mit Veränderungen von Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> Lebensstandard sowie wirtschaftlicher Entwicklung.<br />

Außerdem sind regionale Umweltprobleme<br />

in zunehmendem Maß im Zusammenhang mit Fragen<br />

der nationalen Sicherheit <strong>und</strong> regionalen Konflikten<br />

zu sehen. Da der Ansatz der Kulturökologie die<br />

politi.schen Dimensionen ökologischer Fragen nicht<br />

erklärt, begannen Kulturökologen in den 1980er-Jahren<br />

damit, den Untersuchungsfokus auszuweiten <strong>und</strong><br />

nicht mehr nur die Beziehungen einzelner kultureller<br />

Gruppen zu ihrer Umwelt zu untersuchen. Das Ergebnis<br />

ist die Politische Ökologie, eine Mischung<br />

aus Politischer Ökonomie <strong>und</strong> Kulturökologie. Die<br />

Politische Ökologie betont, dass Mensch-Umwelt-Beziehungen<br />

nur beschrieben werden können, wenn der<br />

Einsatz von Ressourcen als Instrument politischer <strong>und</strong><br />

wirtschaftlicher Kräfte verstanden wird.<br />

Wiederherstellung eines<br />

natürlichen Gleichgewichtes<br />

zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur<br />

Im Zuge der Globalisierung werden die wirtschaftlichen,<br />

politischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Beziehungen<br />

<strong>und</strong> Verflechtungen immer enger. Globalisierung<br />

bedeutet jedoch nicht nur, dass Reise- <strong>und</strong> Transportzeiten<br />

immer kürzer werden, sondern auch,<br />

dass die Wirkungsbereiche politischer Handlungen<br />

nicht mehr auf einzelne Staatsgebiete beschränkt<br />

sind, sondern globale Reichweite erlangen. Die<br />

schnelle Übertragung von Daten <strong>und</strong> Informationen<br />

erleichtert den Aufbau komplexer Netzwerke <strong>und</strong><br />

Wechselbeziehungen sowie Prozesse der Entscheidungsfindung.<br />

Ein Beispiel dafür sind Proteste von<br />

Globalisierungsgegnern, die anlässlich der Versammlung<br />

der Welthandelsorganisation (WTO) 1999 in Seattle,<br />

des G8-Gipfels 2001 in Genua <strong>und</strong> des APEC-<br />

Gipfels der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(Asia-Pacific Economic Cooperation) 2003 in<br />

Bangkok stattfanden. Moderne Kommunikationsmittel,<br />

allen voran das Internet, ermöglichen es den<br />

Führern von Protestbewegungen, Globalisierungsgegner<br />

aus allen Teilen der Welt zu mobilisieren<br />

sowie Demonstrationen zu organisieren. Damit<br />

sind die Globalisierungsgegner ähnlich weltweit vernetzt<br />

wie die Organisationen wie Welthandelsorganisation,<br />

Internationaler Währungsfond, die Weltbank<br />

<strong>und</strong> die Gruppe der Acht, gegen die sich ihre Proteste<br />

richten.<br />

I Globale Umweltpolitik<br />

Die zunehmend globale Politik nichtstaatlicher Organisationen<br />

zeigt sich unter anderem in der Zunahme<br />

weltweit agierender Umweltorganisationen, deren<br />

Mitglieder aus allen Teilen der Welt stammen. Anlass


234 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

für die Gründung dieser Gruppen sind aktuelle Umweltprobleme,<br />

wie die Überfischung der Weltmeere,<br />

die globale Erwärmung, der vermehrte Anbau von genetisch<br />

verändertem Getreide <strong>und</strong> die Abnahme der<br />

biologischen Artenvielfalt, die inzwischen globale<br />

Ausmaße erreicht haben. Das Organisationsspektrum<br />

ist weit <strong>und</strong> reicht von verschiedenen Interessengruppen<br />

über Non Governmental Organisations (NGO,<br />

im Deutschen oft auch als Nichtregierungsorganisationen,<br />

NRO, bezeichnet) <strong>und</strong> direkt tätigen Gruppen<br />

bis zu politischen Parteien wie den Grünen, wobei alle<br />

Organisationen spezifische Themenorientierungen,<br />

Praktiken <strong>und</strong> Finanzierungen haben. Die Bedeutung<br />

dieser Gruppen hat seit den 1990er-}ahren stetig zugenommen,<br />

sodass sie heute einflussreiche internationale<br />

Kräfte darstellen. Obwohl die Staatsregierungen<br />

globale Umweltorganisationen in der Regel nicht<br />

in politische Entscheidungsfindungen einbeziehen,<br />

haben diese Gruppen einen bedeutenden Einfluss<br />

auf die Einrichtung internationaler Institutionen<br />

<strong>und</strong> Gesetze zum Schutz der Umwelt. Dies sind<br />

zum Beispiel die Gesetze zur Regulierung der internationalen<br />

Gewässer <strong>und</strong> die Abkommen zum Schutz<br />

der Weltmeere (London Dumping Convention 1972,<br />

United Nations Law of the Sea 1982) oder spezifische<br />

Artenschutzvereinbarungen, die beispielsweise Eisbären,<br />

Robben oder das antarktische Ökosystem schützen<br />

oder den Handel mit vom Aussterben bedrohten<br />

Pflanzen <strong>und</strong> Tieren unterbinden.<br />

Besonders wirksam sind die Vereinbarungen über<br />

die grenzüberschreitende Verbringung <strong>und</strong> Entsorgung<br />

gefährlicher Abfälle (Baseler Konvention,<br />

1989), die Kontrolle der Luftverschmutzung durch<br />

Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW; Wiener Übereinkommen<br />

zum Schutz der Ozonschicht 1985,<br />

Montrealer Protokoll über Stoffe, die zu einem Abbau<br />

der Ozonschicht führen 1987) sowie weitere Verträge,<br />

welche die grenzüberschreitende Luftverschmutzung<br />

durch sauren Regen in Nordamerika <strong>und</strong> Europa regeln.<br />

Immer häufiger werden auch internationale<br />

Vereinbarungen <strong>und</strong> Abkommen zum Schutz der<br />

Biodiversität geschlossen - <strong>und</strong> dies keinen Augenblick<br />

zu früh, denn im Lauf des 20. lahrh<strong>und</strong>erts<br />

nahm die biologische Artenvielfalt bei Kulturpflanzen<br />

wie Salat, Kartoffeln, Tomaten <strong>und</strong> Kürbissen dramatisch<br />

ab: Während es 1903 noch 13 Spargelsorten gab,<br />

war es 1983 nur noch eine, das heißt, die Artenvielfalt<br />

nahm um 97,8 Prozent ab. Ein ähnliches Bild zeigt<br />

sich auch bei Karotten, denn die 1903 noch 287 bekannten<br />

Arten haben sich inzwischen auf 21 reduziert;<br />

dies entspricht einem Rückgang der Biodiversität<br />

um 92,7 Prozent. Die Reduzierung der Artenvielfalt<br />

bei Kulturpflanzen bedeutet gleichzeitig, dass die<br />

Resistenz gegen Schädlinge abnimmt <strong>und</strong> das Spektrum<br />

verschiedener Nährstoffe wie auch die geschmackliche<br />

Vielfalt sich verringern.<br />

Durch die Abholzung des tropischen Regenwaldes,<br />

die Vernichtung zahlreicher Tier- <strong>und</strong> Pflanzenarten<br />

<strong>und</strong> den zunehmenden Verfall indigener Sprachen,<br />

Kulturen <strong>und</strong> Traditionen gehen der medizinischen<br />

Forschung wichtige Forschungsquellen <strong>und</strong> organische<br />

Verbindungen unwiederbringlich verloren.<br />

Auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt<br />

<strong>und</strong> Entwicklung, dem Umweltgipfel, 1992 in<br />

Rio de laneiro wurde die Konvention zur Biologischen<br />

Vielfalt (Biodiversitälskonveiiüon) ausgehandelt.<br />

Sie dient nicht nur dem weltweiten Schutz<br />

<strong>und</strong> der Erhaltung der Arten Vielfalt, sondern auch<br />

der Bewahrung der Traditionen <strong>und</strong> Kulturen jener<br />

Völker, die in den biodiversitätsreichen Regionen<br />

der Erde leben. Ihr umfangreiches Wissen über einheimische<br />

Tier- <strong>und</strong> Pflanzenarten sowie deren medizinischen<br />

Einsatz gilt es zu bewahren. Indem die<br />

Globalisierung Sprachen vereinheitlicht <strong>und</strong> eine zunehmende<br />

Zahl von Menschen Teil des kapitalistischen<br />

Marktsystems werden, gehen traditionelles<br />

Wissen <strong>und</strong> überlieferte Fertigkeiten verloren. Ein besonderer<br />

Schwerpunkt des UN-Umweltschutzprogramms<br />

ist die Erhaltung der biologischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Vielfalt. Sogar die WTO hat inzwischen erkannt,<br />

wie wichtig das Wissen der lokalen Akteure<br />

ist <strong>und</strong> tritt für einen gerechten Vorteilsausgleich<br />

ein, bei dem das Recht auf geistiges Eigentum, sowohl<br />

der Unternehmen als auch der einheimischen Bevölkerung,<br />

gesichert ist. Die Einheimischen, also die traditionellen<br />

Nutzer der genetischen Ressourcen, sollen<br />

mit dem TRIPS-Abkommen (trade-related aspects of<br />

intellectual property rights) vor „Bioprospecting“ geschützt<br />

werden. Bioprospecting bedeutet, dass Unternehmen<br />

das Wissen der Ureinwohner über den medizinischen<br />

Wert von Pflanzen <strong>und</strong> Tiere für kommerzielle<br />

Zwecke nutzen, ohne die Eigentümer des<br />

Wissens zu entschädigen.<br />

Globales Umweltbewusstsein ist im Kommen - sowohl<br />

im konservativen Lager (zum Beispiel bei der<br />

WTO) als auch im fortschrittlichen Lager (beispielsweise<br />

mit Programmen zur Erhaltung der genetischen<br />

Vielfalt von Saatgutarten). Ausdruck des weltweit<br />

wachsenden Umweltbewusstseins sind Konferenzen<br />

wie die Umweltgipfel 1992 in Rio, 1997 in Kyoto<br />

<strong>und</strong> 2002 in johannisburg. Sie haben nicht nur Auswirkungen<br />

auf internationale Rechtsbestimmungen,<br />

sondern prägen nach wie vor Diskussionen über<br />

<strong>und</strong> Reaktionen auf Umweltprobleme.


Wiederherstellung eines natürlichen Gleichgewichtes zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur 235<br />

UNO-Weltklimabericht 2007<br />

Das Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) wurde<br />

1988 vom Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP)<br />

<strong>und</strong> der World Meteorological Organization (WMO) gegründet.<br />

Rajendra Kumar Pachauri ist seit 2002 Vorsitzender des IPCC<br />

<strong>und</strong> stellte im Februar 2007 den neusten von bisher vier erschienen<br />

Weltklimaberichten des IPCC vor (1990, 1995,<br />

2001).<br />

Insgesamt haben 2500 Wissenschaftlerinnen aus 130 Ländern<br />

6 Jahre lang an dem dreibändigen Report des IPCC<br />

gearbeitet. 450 Hauptautoren liefern auf der Basis von Modellrechnungen,<br />

zahllosen Studien <strong>und</strong> Messreihen die genauste<br />

<strong>und</strong> aktuellste Beschreibung <strong>und</strong> Erklärung der weltweiten<br />

Temperaturerhöhung der Atmosphäre seit dem Jahr<br />

1800.<br />

Der Bericht hält fest, dass die Oberflächentemperatur um<br />

+0,74 C gestiegen ist <strong>und</strong> 11 der letzten 12 Jahre die wärmsten<br />

seit Beginn der Temperaturaufzeichnung waren. Die Temperaturzunahme<br />

ist in den letzten 50 Jahren doppelt so hoch<br />

wie die der letzten 100 Jahre. Weiterhin hat die Häufigkeit starker<br />

Niederschläge zugenommen. Die schneebedeckte Fläche<br />

hat seit 1980 um 5 Prozent abgenommen. Der Meeresspiegel<br />

ist im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert um insgesamt 17 Zentimeter gestiegen<br />

(über 50 Prozent aufgr<strong>und</strong> thermischer Ausdehnung des<br />

Wassers durch Erhöhung der Wassertemperatur, 25 Prozent<br />

durch Abschmelzen der Gebirgsgletscher, 15 Prozent durch<br />

Abschmelzen der Eisschilde).<br />

Zentrale Aussage des Weltklimaberichtes ist, dass er als<br />

Ursache des Klimawandels die anthropogenen Einflüsse auf<br />

das Klimasystem betont. So hat der Kohlendioxid-Gehalt<br />

der Luft seit 1750 um 35 Prozent von 280 ppm auf 379<br />

ppm zugenommen, wobei 78 Prozent dieser Erhöhung auf<br />

die Nutzung fossiler Brennstoffe <strong>und</strong> 22 Prozent auf Landnutzungsänderungen<br />

wie Rodungen zurückzuführen ist. Auch andere<br />

wichtige Treibhausgase wie Methan <strong>und</strong> Lachgas, deren<br />

Konzentration sich seit 1750 um 148 Prozent erhöht hat, tragen<br />

ihren Teil zum weltweiten Klimawandel bei. Mit diesen<br />

Aussagen widerlegen die Wissenschaftlerinnen <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />

wie auch schon in ihren früheren Berichten den<br />

Standpunkt, dass die Ursache der Klimaänderung weniger<br />

in den anthropogenen Einflüssen als vielmehr in Veränderungen<br />

der solaren Einstrahlung zu suchen ist - wie auch heute<br />

noch einige wenige Experten behaupten.<br />

Der Bericht enthält auch Prognosen für zukünftige Klimaänderungen<br />

entsprechend der zukünftigen Energienutzung.<br />

Insgesamt stellt der Bericht an Hand von sechs Szenarien minimale<br />

<strong>und</strong> maximale Veränderungen des Klimas fest. Für das<br />

niedrigste Szenario wird für die letzte Dekade des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

eine Temperaturerhöhung von 1,8 °C; für das höchste<br />

Szenario eine Temperaturerhöhung von 4,0 °C (im Extremfall<br />

6,4°C) prognostiziert. Selbst bei einem sofortigen Ende aller<br />

Emissionen würde aufgr<strong>und</strong> der Trägheit des Klimasystems<br />

immer noch ein Temperaturanstieg von 0,6 °C erfolgen.<br />

Auch hinsichtlich des Meeresspiegelanstiegs prognostizieren<br />

die Wissenschaftler je nach Temperaturanstieg <strong>und</strong> Emissionsausstoß<br />

niedrige (18 bis 38 Zentimeter) <strong>und</strong> hohe (26<br />

bis 59 Zentimeter) Szenarien. Vor allem die hohen Szenarien<br />

basieren auf der Annahme, dass bei einer dauerhaften Erwärmung<br />

Grönland <strong>und</strong> die Antarktis bis zum Ende des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

eisfrei sind. Dieser Bericht bietet Politikern <strong>und</strong> Umweltschützern<br />

eine wissenschaftliche Basis für eine globale<br />

Umweltpolitik <strong>und</strong> enthält damit nicht nur klimageographische<br />

Fakten, sondern ebenso hohe politische Bedeutung.<br />

Quelle: IPCC, Alfred Wegener Institut<br />

A. Rajendra Kumar<br />

Pachauri Der Vorsitzende<br />

des IPCC Rajendra Kumar<br />

Pachauri stellt am<br />

02.02.2007 den ersten von<br />

drei Teilen des UNO-Welt-<br />

klimaberichtes vor.<br />

(Foto: Keystone)


236 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

M 4<br />

Umweltverträglichkeit<br />

Die Tatsache, dass sich wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />

Probleme sowie Umweltprobleme gegenseitig bedingen<br />

<strong>und</strong> außerdem in höchst unterschiedliche politische<br />

Zusammenhänge eingebettet sind, hat zur Folge,<br />

dass in einigen Regionen der Erde „ökologische Zeitbomben“<br />

ticken. Die Erde ist zurzeit von einer Reihe<br />

schwerwiegender Umweltprobleme betroffen, wie<br />

zum Beispiel die Zerstörung der tropischen Regenwälder<br />

<strong>und</strong> die Abnahme der biologischen Vielfalt,<br />

eine ges<strong>und</strong>heitsgefährdende Umweltverschmutzung<br />

in weiten Teilen der Erde, die Degradation von Boden<br />

<strong>und</strong> Wasser, die Ausbeutung der Meere, die Abnahme<br />

der Ozonschicht sowie saurer Regen. Besonders<br />

gravierend wirken sich die Umweltschäden in peripheren<br />

Regionen aus, wo die Umwelt täglich weiter<br />

verschmutzt <strong>und</strong> die natürlichen Lebensgr<strong>und</strong>lagen<br />

zerstört werden, sodass die ökologische Katastrophe<br />

unaufhaltsam voranschreitet.<br />

Ungenügende finanzielle Mittel <strong>und</strong> die endemische<br />

Armut der peripheren Regionen erschweren es<br />

zusätzlich, auftretende Umweltprobleme in den Griff"<br />

zu bekommen. Um ihr Überleben zu sichern, bleibt<br />

den Menschen in den peripheren ländlichen Gebieten<br />

nichts anderes übrig, als ihre unmittelbare Umwelt zu<br />

zerstören <strong>und</strong> zu schädigen, indem sie die Wälder für<br />

die Brennholzgewinnung abholzen <strong>und</strong> die Böden<br />

durch Übernutzung degradieren. Die Regierungen<br />

der betroffenen Länder sind gezwungen, die Ausbeutung<br />

der natürlichen Ressourcen zu fördern, denn sie<br />

benötigen Exportgewinne, um die Staatsverschuldung<br />

zu reduzieren. In den Städten der Peripherie<br />

setzt weit verbreitete Armut einen Teufelskreis aus<br />

Umweltdegradation <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsproblemen in<br />

Gang. Sogar der Klimawandel, ein an sich globales<br />

Problem, stellt für periphere Regionen eine größere<br />

Bedrohung dar als für die Kernräume der Erde.<br />

Eine vorteilhaftere Mensch-Umwelt-Beziehung<br />

verspricht das Prinzip der Umweltverträglichkeit,<br />

das auf generationsübergreifende Gerechtigkeit <strong>und</strong><br />

eine Bewahrung von Ressourcen <strong>und</strong> Landschaft<br />

für künftige Generation abzielt. William Adams, Timothy<br />

O’Riordan <strong>und</strong> andere Geographen verstehen<br />

nachhaltige Entwicklung als ein Prinzip, welches ökologische,<br />

ökonomische <strong>und</strong> gesellschaftliche Maßnahmen<br />

zur Vermeidung von Umweltschäden ebenso<br />

beinhaltet wie wirtschaftliches Wachstums <strong>und</strong> soziale<br />

Gerechtigkeit.<br />

Nachhaltige Entwicklung bedeutet, dass wirtschaftlicher<br />

Wandel <strong>und</strong> Wachstum nur erfolgen sollten,<br />

wenn keine negativen <strong>und</strong> unkontrollierbaren<br />

Beeinträchtigungen für die Umwelt entstehen <strong>und</strong> sowohl<br />

Vor- als auch Nachteile für die Gesellschaft gerecht<br />

auf alle Bevölkerungsschichten <strong>und</strong> Lebensräume<br />

verteilt sind. Damit sich Ressourcen, zum Beispiel<br />

Wälder, Wasser oder Fischbestände, erneuern<br />

können <strong>und</strong> dauerhaft verfügbar bleiben, müssen<br />

neue, umweltschonendere <strong>und</strong> effizientere Technologien<br />

gef<strong>und</strong>en werden. Tatsächlich hat nachhaltige<br />

Entwicklungspolitik, wie sie große internationale Institutionen<br />

wie die Weltbank verfolgen, einen Beitrag<br />

zu Wiederaufforstung <strong>und</strong> einem effizienteren Umgang<br />

mit Energie geleistet. Durch Programme zur Geburtenkontrolle<br />

<strong>und</strong> Armutsbekämpfung verringerten<br />

sich die anthropogenen Umweltschäden in ländlichen<br />

Räumen. Gleichzeitig führte die Ausweitung<br />

<strong>und</strong> Globalisierung der Weltwirtschaft zu einem erhöhten<br />

Ressourcenverbrauch <strong>und</strong> wachsender sozialer<br />

Ungleichheit <strong>und</strong> steht damit im Widerspruch zu<br />

vielen Zielen nachhaltiger Entwicklung.<br />

Fazit<br />

Das Beziehungsgefüge zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Natur<br />

ist in hohem Maße von Traditionen, Institutionen,<br />

Werten, Normen <strong>und</strong> kulturell beeinflussten<br />

Handlungsweisen bestimmt. Das Spektrum der Einflussgrößen<br />

umfasst den Stand der Technik in einer<br />

Gesellschaft ebenso wie gesellschaftliche Normen <strong>und</strong><br />

religiös verankerte Überzeugungen ihrer Mitglieder.<br />

Das vom Abendland ausgehende rationale <strong>und</strong> mechanistische<br />

Denken, das Mensch <strong>und</strong> Natur getrennt<br />

sieht, das in Kategorien des „Entweder-oder“ denkt,<br />

das Organismen in Einzelteile seziert, um ihnen auf<br />

den Gr<strong>und</strong> zu gehen, <strong>und</strong> deshalb oft das Ganze<br />

aus den Augen verliert <strong>und</strong> damit Wechselbeziehungen<br />

<strong>und</strong> unerwünschte Folgeerscheinungen übersieht,<br />

hat andere Auswirkungen auf die Umwelt, als<br />

Kulturen, die in Kategorien des „Sowohl-als-auch“<br />

denken, die Natur als Organismus sehen <strong>und</strong> ganzheitlich<br />

an die Probleme herangehen. Die vorangegangenen<br />

Teilkapitel sollten zeigen, wie sich diese Beziehungen<br />

zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur im Laufe der<br />

Zeit verändert haben. Ferner galt es deutlich zu machen,<br />

dass die Glohalisierung der Weltwirtschaft die<br />

Einstellungen <strong>und</strong> Handlungsweisen stärker beeinflusst<br />

hat, als jedes andere kulturelle oder wirtschaftliche<br />

System früherer Zeiten.<br />

Der Mensch der Frühzeit empfand offenbar Ehrfurcht<br />

vor der natürlichen Umwelt, eine Haltung, die<br />

man bei den Ureinwohnern in vielen Teilen der


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 237<br />

Neuen Welt, in Afrika <strong>und</strong> Asien auch heute noch<br />

findet. Mit der Herausbildung des Judentums <strong>und</strong><br />

später des Christentums veränderte sich die Perspektive.<br />

Das Verhältnis zwischen Mensch <strong>und</strong> Natur sah<br />

man nun eher als das eines Herrschers gegenüber seinem<br />

Untertan. Mit der Ausweitung des europäischen<br />

Handels, der nachfolgenden Kolonisation <strong>und</strong><br />

schließlich der Industrialisierung breitete sich der<br />

Glaube, dass der Mensch über der Natur stehe,<br />

über große Teile der Erde aus. Auch wenn diese Einstellung<br />

vom christlichen Abendland ausging, darf<br />

doch nicht der Fehlschluss gemacht werden, dass<br />

sie direkt mit der christlich-jüdischen Tradition in<br />

Verbindung stehe. Der Wille zu Effizienz, das Streben<br />

nach Gewinn, der Versuch, die Natur durch Technik<br />

zu beherrschen <strong>und</strong> durch ein hohes Entwicklungsniveau<br />

international wettbewerbsfähig zu werden, sind<br />

auch in völlig anders gearteten Kulturen, wie etwa der<br />

lapans, stark vertreten.<br />

Neben dem historischen Wandel des Naturbegriffs<br />

widmet sich dieses Kapitel auch der gegenseitigen Abhängigkeit<br />

von Gesellschaft <strong>und</strong> Natur. Es wurde beschrieben,<br />

dass <strong>und</strong> inwiefern Ereignisse in einem<br />

Teil des globalen Umweltsystems die Bedingungen<br />

in einem anderen Teil des Systems beeinflussen.<br />

Das Beispiel des katastrophalen Reaktorunfalls von<br />

Tschernobyl in der Ukraine, in dessen Folge sich radioaktiver<br />

Niederschlag über große Teile der Erde<br />

ausbreitete, macht diesen Zusammenhang mehr als<br />

deutlich.<br />

Ferner sollte in diesem Kapitel gezeigt werden, dass<br />

Ereignisse in der Vergangenheit den heutigen Zustand<br />

sowohl der Gesellschaft wie der Umwelt prägen.<br />

So ist die gefährliche Verschmutzung des Trinkwassers<br />

im Südwesten der Vereinigten Staaten auf Aktivitäten<br />

der US-amerikanischen Raumfahrt- <strong>und</strong><br />

Rüstungsindustrie in der Nachkriegszeit zurückzuführen.<br />

Ebenso waren anlässlich der Reaktorkatastrophe<br />

von Tschernobyl der stark erhöhten Radioaktivität<br />

nicht nur diejenigen ausgesetzt, die in der<br />

näheren Umgebung des Kernkraftwerks lebten, sondern<br />

auch deren Kinder, die erst später geboren<br />

wurden.<br />

Auf eine knappe Formel gebracht könnte man sagen,<br />

dass die Globalisierung der Wirtschaft Hand in<br />

Hand mit der Globalisierung der Umwelt ging. Man<br />

kann heute gewiss von einer globalen Umwelt sprechen,<br />

in der nicht nur Individuen, Gruppen <strong>und</strong> GeselLschaften<br />

in komplexer Weise miteinander vernetzt<br />

sind, sondern genauso die physische Umwelt, in der<br />

sie leben <strong>und</strong> arbeiten. In Bezug auf die weltweite<br />

Wirtschaftsentwicklung <strong>und</strong> die Veränderungen der<br />

Umwelt ist Nachhaltigkeit derzeit die vorherrschende<br />

Strategie. Zu diesem Zweck wurden zahlreiche institutionelle<br />

Rahmenbedingungen durch Vereinbarungen,<br />

Protokolle <strong>und</strong> Organisationen geschaffen.<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Attfield, R. The Ethics o f Environmental Concern. Athens, GA<br />

(University of Georgia Press) 1991.<br />

Bartsch, U.; Muller, B.; Aaheim, A. Fossil Fuels in a Changing Climate:<br />

Impacts o f the Kyoto Protocol and Developing Country<br />

Participation. New York (Oxford) 2000.<br />

Bebbington, A. Movements, Modernizations and Markets. Indigenous<br />

Organizations and Agrarian Struggle in Ecuador. In:<br />

Peet, R.; Watts, M. (Hrsg.): Libertation Ecologies: Environment,<br />

Development, Social Moevements. London (Routledge)<br />

1996.<br />

Benz, G. Das wachsende Naturkatastrophen-Risiko an der<br />

Schwelle zum 21. Jahrh<strong>und</strong>ert. In: Heidelberger Geographische<br />

Gesellschaft, 13, S. 57-71, 1998.<br />

Cantrill, J. G.; Oravec, C. L. The symbolic earth: Discourse and Our<br />

Creation o f the Environment. Lexington: (University Press of<br />

Kentucky) 1996.<br />

Carson, L. R. Silent spring. Boston (Mifflin) 1962. Dt. Der stumme<br />

Frühling. München (Biederstein) 1962., 1962.<br />

Center of Desease Control and Prevention. West Nile Virus, Divisen<br />

o f Vector Borne Infectious Deseases. www.cdc.gov/<br />

ncidod/dvbid/westnile/backgro<strong>und</strong>.htm. 2005.<br />

Chasek, P. S. The Global Environment in the<br />

Century: Prospects<br />

for international cooperation. New York (United Nation)<br />

1999.<br />

Chasek, P.S. (Hrsg.) Handbuch Globale Umweltpolitik. Berlin<br />

2006.<br />

Collingwood, R. The idea o f Nature. London: (Oxford University<br />

Press) 1960.<br />

Committee to Review the U.S. Climate Change Science Program<br />

Strategie Plan. Implementing Climate and global change<br />

Research: A Review o f the Draft U. S. Climate Change Science.<br />

Wachington DC (National research Council) 2004.<br />

Crosby, A. W. The Columbian Exchange: Biological and Cultural<br />

Consequences o f 1492. Westport (Greenwood Press) 1972.<br />

Crosby, A. W. Germs, Seeds, and Animals: Studies in Ecological<br />

History. Armonk, New York (M.E. Sharp) 1994.<br />

Cubasch, U. & D. Kasang Anthropogener Klimawandel. Gotha<br />

2000.<br />

Diamont, I.; Orenstein, G. F. Reweaving the World: the Emergence<br />

of Ecofeminism. San Francisco (Sierra Club Books) 1990.<br />

Diekmann, J. Klimaschutz in Deutschland bis 2030. Endbericht<br />

zum Forschungsvorhaben Politikszenarien 3. Umweltb<strong>und</strong>esamt.<br />

Berlin 2005.<br />

Dürrschmidt, W.: Erneuerbare Energien: Innovationen für die Zukunft.<br />

Bonn. B<strong>und</strong>esministerium für Umwelt, Naturschutz<br />

<strong>und</strong> Reaktorsicherheit, Referat Öffentlichkeitsarbeit 2006.<br />

Esser, U. & A. Müller Umweltkonflikte verstehen <strong>und</strong> bewerten:<br />

ethische Urteilsbildung im Natur- <strong>und</strong> Umweltschutz. München<br />

2006.


238 4 Natur - Gesellschaft - Technologie<br />

Fagen, B. The long summer: How Climate changed Civilisation.<br />

Litfin, K. The Greening o f Sovereignty in World Politics. Cambrid­<br />

New York (Basic Books) 2004.<br />

ge, MA (MIT Press) 1998.<br />

Pritsche, W. Umwelt <strong>und</strong> Mensch - Langzeitwirkungen <strong>und</strong><br />

Lovell, W. G. Heavy shadow and black night: Disease and De­<br />

Schlussfolgerungen für die Zukunft: Vorträge, gehalten auf<br />

population in Colonial Spanish America. In; Annals o f the<br />

dem Symposium der Kommission für Umweltprobleme unter<br />

Association o f American Geographers 82(3), 426-443,<br />

Mitwirkung der Kommission für Technikfolgenabschätzung<br />

1992.<br />

der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig<br />

Lozän, J. L Warnsignale aus den Polarregionen. Natur, Klimawan­<br />

vom 20. bis 22. März 2000 in Leipzig. 2002.<br />

del, Ressourcen, Umweltschutz. Zum Internationalen Polar­<br />

Kit.<br />

!<br />

' i!<br />

Gerlitz, P. Mensch <strong>und</strong> Natur in den Weltregionen. Gr<strong>und</strong>lagen<br />

einer Religionsökologie. Darmstadt 2000.<br />

Glacken, C. Traces on the Rhodian Shore. Berkeley (University of<br />

California Press). 1967.<br />

Goudie, A. Mensch <strong>und</strong> Umwelt. Heidelberg 1994.<br />

Goudi, A. & D.J. Cuff Encyclopaedia o f Global Change, Environment<br />

Change and Human Society. New York: (Oxford University<br />

Press) 2002.<br />

Haraway, D. Anspruchsloser Zeuge @ Zweites Jahrtausend. Frau-<br />

Mann trifft OncoMouse. Leviathan <strong>und</strong> die vier Jots: Die Tatsachen<br />

verdrehen. In; E. Scheich (Hrsg.): Vermittelte Weiblichkeit:<br />

feministische Wissenschafts- <strong>und</strong> Gesellschaftstheorie.<br />

Hamburg 1996.<br />

Herholz, U. Wachstumspotentiale erneuerbarer Energien <strong>und</strong> ihre<br />

Implikationen für Klimaschutz, Versorgungssicherheit <strong>und</strong><br />

Wettbewerbsfähigkeit. Frankfurt a.M. 2006.<br />

Köck, W. (2005): Governance in der Umweltpolitik. In: Governan-<br />

ce-Forschung 322-345, 2006.<br />

jahr 2007 - 2009. Hamburg 2006.<br />

Maathai, W. The green belt Movement: Sharing the Approach and<br />

the Experiences. New York (Lantern Books) (2004).<br />

MacNaughten, P.; Urry, J. Contested Natures. Thousand Oaks,<br />

CA (Sage) 1998.<br />

Marsch, G.P. Man and Nature. New York (Scribner) 1864.<br />

Meade, M. S <strong>und</strong> R. J. Erickson Medical Geography, 2. Aufl. New<br />

York (Guildford) 2005.<br />

Merchant, C The Death o f Nature: Women. San Francisco (Harper<br />

& R o w )1979.<br />

Müller-Graff, P.-Ch. Die Europäische Gemeinschaft in der internationalen<br />

Umweltpolitik Baden-Baden 2006.<br />

Oelschlager, M. The Idea o f Wilderness: From Prehistory to the<br />

Age o f Ecology. New Haven (Yale University Press) 1991.<br />

Peet, R <strong>und</strong> M. Watts Liberation Ecologies: Environment, Development,<br />

Social Movements. New York (Routledge) 2004.<br />

Peters, R. L.; Lovejoy, T. E. Global Warming and Biological Diversity.<br />

New Haven (Yale University Press) 1992.


Literatur zu den Exkursen 239<br />

Rahmstorf, St. Der Klimawandel: Diagnose, Prognose, Therapie.<br />

München, 2006.<br />

Raven, P. H. Nature and Human Society: The Quest for a Sustainable<br />

World: Proceedings o f the '97 Forum on Biodiversity.<br />

Washington, DC (National Academy Press) 2000.<br />

Remus, D. Umweltphilosophie/Ethik. Universität Rostock 2002.<br />

Robbins, P. Political Ecology: A Critical Introduction. Oxford<br />

(Blackwell) 2004.<br />

Röcker, E. (2000): Klimaprojektionen für das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Max-Planck-Institut für Meteorologie. Hamburg.<br />

Sayer, J. <strong>und</strong> B. Campbell The Science o f Sustainable Development:<br />

Local Livelihoods and Global Environment. Cambridge,<br />

England (Cambridge University Press) 2003.<br />

Schwanhold, E. Nachhaltige Energiepolitik. Herausforderungen<br />

der Zukunft. Versorgungssicherheit, Umweltverträglichkeit,<br />

Wirtschaftlichkeit. Bad Honnef 2006.<br />

Simmons, I.G. Environmental History: A Concise Introduction.<br />

Oxford (Blackwell) 1993.<br />

Smith, M. <strong>und</strong> L. Marx Does Technology Drive History? The Dilemma<br />

o f Technological Determinism. Cambridge, MA (MIT<br />

Press) 1995.<br />

Stehlik, Th. Denken <strong>und</strong> Handeln im Zeichen der Globalisierung:<br />

Implikationen für Konzept <strong>und</strong> Umsetzung systemischen Denkens:<br />

der Kyoto-Prozess in der EU. Frankfurt am Main 2006.<br />

Schneider, G. Kyoto - Utopie oder Programm? Was kommt nach<br />

Rio? Zürich 2005.<br />

Thomas, W. L. (Hrsg.) Man’s Role in Changing the Face o f the<br />

Earth. Chicago (University of Chicago Press) 1956.<br />

Thoreau D. H.: Walden. München (Palm) 1897.<br />

Turner, B. L. II et al. The Earth Transformed by Human Action:<br />

Global and Regional Changes in the Biosphere over the Past<br />

300 Years. New York (Cambridge University Press) 1990.<br />

Wood, D. Five Billion Years o f Global Change: A History o f the<br />

Land. New York (Guildford) 2004.<br />

WorldWatch Institute State o f the World 2002: A Worldwatch Institute<br />

Reporten Progress Toward a Sustainable Society. New<br />

York (W.W. Norton & Co.) 2002.<br />

Worster, D. Nature’s Economy: A History o f Ecological Ideas.<br />

Cambridge England (Cambridge University Press) 1977.<br />

Zimmerer, K. Human Geography and New Ecology: The Prospect<br />

and Promise o f Integration. Annals of American Geography,<br />

84(1), S. 108-125, 1994.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Feuchtwang, St. An Anthropological Analysis o f Chinese Geo-<br />

mancy. Vientiane 1974.<br />

Haas, H.-D.; Scharrer, J. Die deutsche Energiewirtschaft. In: Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Staat. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 1999.<br />

Skinner, St. The Living Earth Manual o f Feng-Shui. London 1982.


5 Gr<strong>und</strong>fragen der<br />

Sozialgeographie<br />

Die zentralen Forschungsfragen der Sozialgeographie befassen sich mit der<br />

Räumlichkeit sozialer Strukturen, sozialer Phänomene, sozialer Prozesse<br />

<strong>und</strong> sozialen Handelns. Wichtige Forschungsfelder sind die räumliche<br />

Dimension sozialer Ungleichheit sowie gesellschaftlicher Probleme <strong>und</strong><br />

Konflikte, räumliche Unterschiede der Lebensqualität sowie die Beziehungen<br />

zwischen Raum <strong>und</strong> Gesellschaft. Wie repräsentieren sich soziale<br />

Statusunterschiede, sozialer Wandel, gesellschaftliche Privilegierung <strong>und</strong><br />

Diskriminierung in der räumlichen Dimension? Wie werden soziale Systeme<br />

in der räumlichen Dimension organisiert, koordiniert <strong>und</strong> kontrolliert?<br />

Welche Rolle spielen die materiellen Gegebenheiten eines Raums für<br />

die Existenz <strong>und</strong> Entwicklung einer Gesellschaft? Welche Bedeutung haben<br />

räumliche Strukturen für das gesellschaftliche Zusammenleben? Wie<br />

nehmen Menschen die Umwelt wahr? Wie <strong>und</strong> aus welchen Gründen verändern<br />

sich die Bewertungen der Umwelt durch Akteure <strong>und</strong> soziale Systeme?<br />

Welche Lernprozesse <strong>und</strong> Anpassungsformen kann man bei der<br />

Auseinandersetzung von Akteuren mit ihrer Umwelt feststellen? Wie kommen<br />

räumliche Disparitäten des Sach- <strong>und</strong> Orientierungswissens zustande<br />

<strong>und</strong> welche Folgewirkungen können sie haben? Wie kommt es zu räumlichen<br />

Disparitäten von sozialen Normen? Wie kann man die Räumlichkeit<br />

<strong>und</strong> die räumlichen Muster von Lebensstilen, Subkulturen <strong>und</strong> Kriminalität<br />

erklären? In welcher Weise werden die Positionierung von Personen,<br />

Objekten <strong>und</strong> bildlichen Darstellungen (zum Beispiel Denkmäler oder<br />

Graffiti) im Raum sowie die architektonische Gestaltung von Räumen<br />

verwendet, um Macht, Ideologien <strong>und</strong> Statusunterschiede darzustellen,<br />

Herrschaftsansprüche anzumelden oder die Verbreitung von Informationen<br />

zu manipulieren? Welche Rolle spielen kulturelle Artefakte (zum Beispiel<br />

Musik, Architektur oder Mode) bei der Konstruktion von Identität<br />

<strong>und</strong> Authentizität? Mit welchen Begriffen, Interpretationen <strong>und</strong> Machtmechanismen<br />

werden von wem Weltbilder oder geographical imaginations<br />

(zum Beispiel imaginäre Vorstellungen über Länder) konstruiert? Wie<br />

kommen räumliche Unterschiede in der Verwendung oder Tabuisierung<br />

von Begriffen <strong>und</strong> Interpretationen zustande, welche Interessen <strong>und</strong> welche<br />

Politik wird damit verfolgt? Warum konzentrieren sich bestimmte<br />

kulturelle Praktiken auf bestimmte Standorte oder Areale <strong>und</strong> warum<br />

fehlen sie in anderen? Welche zusätzlichen Erkenntnisse lassen sich bei<br />

der Analyse der Gesellschaft, bei der Erforschung von sozialer Ungleichheit<br />

<strong>und</strong> sozialer Diskriminierung oder bei der Erforschung von Machtbeziehungen<br />

gewinnen, wenn man die räumliche Dimension einbezieht <strong>und</strong><br />

welche Konsequenzen hat es, wenn man die Räumlichkeit von sozialen<br />

Phänomenen negiert? Mit welchen Raumkonzepten kann man die Beziehungen<br />

zwischen Gesellschaft <strong>und</strong> Raum untersuchen? Was muss beachtet<br />

werden, damit ein Abgleiten in einen Geodeterminismus oder in eine Vergegenständlichung<br />

des Raums verhindert werden kann? Dies sind nur einige<br />

wenige Fragen, mit denen sich eine moderne Sozialgeographie befasst.<br />

Sie deuten an, dass sich die Sozialgeographie in den vergangenen 15 bis


242 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

20 Jahren dadurch auszeichnete, dass in ihr disziplinenübergreifende<br />

Theoriediskussionen einen besonders<br />

hohen Stellenwert hatten. Viele dieser<br />

Diskussionen wirken auch in andere Bereiche der<br />

<strong>Humangeographie</strong> <strong>und</strong> andere sozialwissenschaftliche<br />

Disziplinen hinein. Einige der hier behandelten<br />

theoretischen Konzepte sind für alle Bereiche der<br />

<strong>Humangeographie</strong> relevant <strong>und</strong> wurden nur deshalb<br />

in dieses Kapitel aufgenommen, weil sie hauptsächlich<br />

von Sozialgeographen konzipiert wurden<br />

Das Ziel dieses Kapitels besteht nicht darin, einen<br />

Gesamtüberblick über die Sozialgeographie zu geben.<br />

Solche Übersichten <strong>und</strong> Zusammenfassungen liegen<br />

bereits vor (Werlen 2004, 2007; Weichhart 2007b).<br />

Dieser Abschnitt wird sich vielmehr auf einige gr<strong>und</strong>legende<br />

(Streit-)Fragen <strong>und</strong> Diskussionen der Sozialgeographie<br />

konzentrieren <strong>und</strong> exemplarisch die vier<br />

Themenbereiche Bildung, Armut, Kriminalität <strong>und</strong><br />

Verwendung von Zeit aus sozialgeographischer Sicht<br />

behandeln.<br />

Schlüsselsätze<br />

Die Sozialgeographie befasst sich mit den räumlichen<br />

Ausprägungen sozialer Ungleichheit. Soziale<br />

Ungleichheit kann sich in Form von Status- <strong>und</strong><br />

Prestigeunterschieden, sozialer Schichtung, Klassengegensätzen,<br />

Kasten, Lebensstilen, Zugang zu<br />

Ressourcen, Ethnizität, Geschlecht <strong>und</strong> anderen<br />

Kriterien äußern. Jede Form von sozialer Ungleichheit<br />

stellt sich in räumlichen Disparitäten<br />

dar.<br />

Räumliche Ordnungsmuster wurden schon seit<br />

frühester Menschheitsgeschichte dazu benutzt,<br />

um gesellschaftliche Abläufe zu regeln, um Statusunterschiede<br />

auszudrücken, bestimmte Gruppen<br />

auszugrenzen <strong>und</strong> soziale Kontrolle auszuüben.<br />

Die Konstruktion von kollektiver Identität basiert<br />

sehr häufig auf einer Abgrenzung des „Wir“ von<br />

den „Anderen“. Die Mechanismen der moralischen<br />

Ausschließung - beziehungsweise der Unterscheidung<br />

in Gut <strong>und</strong> Böse - sind nicht nur<br />

Bestandteil der ältesten Mythen <strong>und</strong> Religionen,<br />

sondern auch der modernen politischen Propaganda.<br />

Da Wissen Teil <strong>und</strong> Instrument von Herrschaft<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftsordnung ist, haben die Inhaber<br />

der Macht schon immer versucht, die wichtigsten<br />

Experten des Sach- <strong>und</strong> Verfügungswissens <strong>und</strong><br />

die wichtigsten Repräsentanten des Orientierungsoder<br />

Heilswissens für ihre Ziele zu gewinnen <strong>und</strong><br />

sie in Netzwerke der Zustimmung einzubinden.<br />

Deshalb gibt es seit Jahrtausenden eine enge Koalition<br />

zwischen Wissen <strong>und</strong> Macht. Die räumliche<br />

Konzentration von Wissen <strong>und</strong> Macht ist die wichtigste<br />

Ursache für die lange Persistenz von zentralperipheren<br />

Disparitäten der Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Entwicklungssprünge der Wirtschaft, Kultur <strong>und</strong><br />

Gesellschaft waren im Laufe der Geschichte immer<br />

mit der Generierung <strong>und</strong> Anwendung von neuem<br />

Wissen verb<strong>und</strong>en. Neues Wissen hat immer wieder<br />

zu neuen räumlichen Disparitäten der Innovations-<br />

<strong>und</strong> Wettbewerbsfähigkeit <strong>und</strong> zu neuen<br />

räumlichen Asymmetrien der Macht geführt.<br />

Die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen<br />

der Umwelt hat in der vorindustriellen (vormodernen)<br />

Zeit gewisse Organisations-, Anpassungs-<br />

<strong>und</strong> Lebensformen entstehen lassen, deren<br />

Entwicklung, Abfolge <strong>und</strong> räumliche Verbreitung<br />

Forschungsthemen der Sozialgeographie sind.<br />

Die Megatrends der Professionalisierung, Meritokratisierung<br />

<strong>und</strong> Demokratisierung <strong>und</strong> der Wandel<br />

von einer Privilegienhierarchie zu einer Kompetenzhierarchie<br />

beziehungsweise von der askriptiven<br />

zu einer meritokratischen Gesellschaft haben<br />

dem Schulsystem, dem Ausbildungsniveau <strong>und</strong><br />

den beruflichen Qualifikationen seit der Mitte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts einen hohen Stellenwert verschafft.<br />

Unterschiedliche Gesellschaftssysteme, Kulturen<br />

<strong>und</strong> wissenschaftliche Konzepte gehen mit sozialer<br />

Ungleichheit, Armut, Reichtum oder „abweichendem<br />

Verhalten“ (zum Beispiel Minoritäten, Subkulturen<br />

oder Kriminalität) sehr verschieden<br />

um. Ein funktionalistischer Ansatz stellt bei der<br />

Untersuchung von sozialer Ungleichheit andere<br />

Fragen als die marxistisch beeinflusste Raciical<br />

Geography <strong>und</strong> diese hat wiederum andere Forschungsinteressen<br />

als eine Sozialgeographie, die<br />

sich auf das Konsum- <strong>und</strong> Freizeitverhalten verschiedener<br />

Lebensstilgruppen konzentriert.


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 243<br />

Raum <strong>und</strong> Gesellschaft -<br />

eine schwierige Forschungs-<br />

, frage<br />

Welche Raumkonzepte werden in<br />

, der Sozialgeographie verwendet?<br />

„Der Fisch wird als Letzter auf die Idee kommen, über<br />

das Wesen des Wassers nachzudenken“. Dieses<br />

Sprichwort könnte mit Einschränkungen auch auf<br />

die Geographie übertragen werden, die - von wenigen<br />

Ausnahmen abgesehen - lange Zeit keine intensive<br />

Theoriediskussion über die Brauchbarkeit verschiedener<br />

Raumkonzepte geführt hat. Von vielen Geographen<br />

wurde die Existenz des Raums als gegeben betrachtet.<br />

In manchen (älteren) Arbeiten wurde der<br />

Raum vorwiegend als eine Art Container aufgefasst,<br />

der klare Grenzen hat, in dem materielle Objekte, Akteure,<br />

Normen, Ideen, Verkehrslinien <strong>und</strong> Außenbeziehungen<br />

Zusammenwirken <strong>und</strong> bestimmte Auswirkungen<br />

auf das Handeln der Menschen haben. Innerhalb<br />

der englischsprachigen Geographie hat eine intensive<br />

Theoriediskussion um Raumkonzepte in den<br />

1970er- <strong>und</strong> 1980er-Iahren eingesetzt, in der deutschsprachigen<br />

Geographie in den 1990er-Jahren. Diese<br />

Theoriediskussion ist keineswegs abgeschlossen <strong>und</strong><br />

sie hat auch nicht zu einem allgemeinen Konsens geführt.<br />

Von vielen Sozial- <strong>und</strong> Kulturgeographen wird der<br />

Raum als ein Strukturprinzip des Sozialen, als ein<br />

Ordnungsraster für soziale Beziehungen, Statusunterschiede<br />

<strong>und</strong> unterschiedliche Machtpositionen, als<br />

ein Orientierungs- <strong>und</strong> Interpretationsschema oder<br />

als ein Medium der Wahrnehmung <strong>und</strong> sozialen<br />

Kommunikation betrachtet. Die materielle Umwelt<br />

<strong>und</strong> die Strukturierung des Raums werden also dafür<br />

verwendet, um soziale Beziehungen <strong>und</strong> Tätigkeitsabläufe<br />

zu ordnen, Differenzen aufzuzeigen <strong>und</strong> unterschiedliche<br />

Rollen <strong>und</strong> Funktionen darzustellen.<br />

Nach ßourdieu (1991) gibt es in einer hierarchisierten<br />

Gesellschaft keinen Raum, der nicht selbst hierarchisiert<br />

ist beziehungsweise nicht die Hierarchien <strong>und</strong><br />

sozialen Distanzen der betreffenden Gesellschaft<br />

zum Ausdruck bringt. Der Raum kann aber auch<br />

als eine Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Bewertungskategorie<br />

aufgefasst werden. Deshalb spricht man in der Alltagssprache<br />

auch von heiligen, privilegierten oder<br />

verbotenen Orten, von Ehrenplätzen, vom privaten<br />

<strong>und</strong> öffentlichen Raum, von der „sündigen Meile“,<br />

sowie von Gewalt- oder Angsträumen.<br />

Nicht nur Naturvölker sondern auch moderne<br />

Menschen orientieren sich im Alltag in erster Linie<br />

nach subjektzentrierten, topologischen Lagebeziehungen.<br />

Wenn man einem Fremden den Weg zu<br />

einem bestimmten Ziel erklären muss, sagt man<br />

nicht, gehen Sie in Marschrichtung 175 Grad bis<br />

zur Koordinate „XY“, sondern man verwendet<br />

topologische Begriffe, die auf den Standort <strong>und</strong> die<br />

Blickrichtung des Subjekts bezogen sind, wie zum<br />

Beispiel geradeaus, rechts, links, vorne, hinten, vorwärts,<br />

rückwärts, oben oder unten. Der absolute<br />

Raum beziehungsweise der abstrakte, physikalische<br />

Raumbegriff erfuhr erst ab dem Zeitpunkt eine Aufwertung,<br />

als die Seefahrer nicht mehr in Sichtweite<br />

der Küsten segelten, Kanonen weiter schossen als<br />

man sehen konnte <strong>und</strong> deshalb Koordinatensysteme<br />

(Projektionen) benötigt wurden. Einen weiteren<br />

Bedeutungsanstieg erfuhr er, als die werdenden<br />

Nationalstaaten mit der Triangulation <strong>und</strong> genauen<br />

Vermessung ihrer Territorien begannen <strong>und</strong> die<br />

ersten amtlichen Kartenwerke produziert wurden,<br />

die jeweils auf einer einheitlichen Projektion basierten.<br />

Allerdings benötigen auch heute nur bestimmte<br />

Berufe wie Flugzeugpiloten, Vermessungsingenieure<br />

oder Offiziere im Alltagsleben Koordinatensysteme.<br />

Bei sozialgeographischen Studien spielt der Container-Raum<br />

nur relativ selten eine Rolle. Ein Beispiel<br />

wäre etwa die raumwirksame Staatstätigkeit, deren<br />

Einfluss - in Form von Gesetzen, Vorschriften, Subventionen<br />

oder Sozialleistungen - exakt auf ein konkretes<br />

Gebiet beschränkt ist <strong>und</strong> an der Staatsgrenze<br />

endet.<br />

Das Interesse der Sozialgeographie richtet sich weniger<br />

auf den Raum an sich, als vielmehr auf die<br />

Strukturen <strong>und</strong> Elemente eines Raums. Diese können<br />

deshalb eine Bedeutung für das Handeln bekommen,<br />

weil sie eine bestimmte Funktion erfüllen oder weil<br />

sie von den Akteuren mit einer - im Laufe der Geschichte<br />

wechselnden - Bedeutung versehen werden<br />

<strong>und</strong> deshalb in Situationsanalysen <strong>und</strong> Entscheidungsprozessen<br />

berücksichtigt werden. Diese räumlichen<br />

Strukturen, Elemente <strong>und</strong> Beziehungen können<br />

für einen Teil der Akteure, welche bestimmte<br />

Ziele, Erfahrungen <strong>und</strong> Kompetenzen haben, Aufforderungs-<br />

oder Verhinderungscharakter haben, für<br />

andere Akteure können sie völlig irrelevant sein.<br />

Räumliche Strukturen sind, wenn man von unüberwindlichen<br />

physischen Barrieren absieht, keine Ursache<br />

im naturwissenschaftlichen Sinne.<br />

Nach Weichhart (1999, 2007b) kann man den<br />

Raum als Erdausschnitt, als erlebten Raum, als Containerraum,<br />

als Medium der Wahrnehmung, als Ordnungsstruktur,<br />

als sozialen Raum, als Lagerungsqua-


246 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

T f<br />

Warum ist das Erkennen von<br />

Mustern oder das „Spurenlesen“<br />

I so wichtig?_______________ '<br />

ii I<br />

(a) ^<br />

(b)<br />

5.2 Die Friedhöfe der Cajuns im Mississippi-Delta Die<br />

Cajuns sind katholische Franzosen, die ursprünglich in Neuf<strong>und</strong>land<br />

(Kanada) lebten, dort von den Engländern vertrieben<br />

wurden <strong>und</strong> sich schließlich im Delta des Mississippi angesiedelt<br />

haben, wo sie nicht nur ihre Sprache, sondern auch noch<br />

viele andere Elemente ihrer Kultur bewahrt haben. Auf diesen<br />

Friedhöfen der Cajuns (a) werden die Särge nicht in der Erde<br />

vergraben, sondern in oberirdischen Grabkammern aufbewahrt.<br />

Die geodeterministische These würde lauten, dass die Gräber<br />

deshalb oberirdisch in Grabkammern angelegt sind, weil das<br />

Gr<strong>und</strong>wasser im Mississippi-Delta relativ nahe an die Oberfläche<br />

reicht. In Frankreich - hier der Friedhof Père la Chaise<br />

in Paris (b) - ist diese Bestattungsform jedoch unabhängig vom<br />

Niveau des Gr<strong>und</strong>wassers sehr weit verbreitet. Dies legt den<br />

Schluss nahe, dass diese Bestattungsform von den Cajuns aus<br />

Frankreich mit gebracht wurde <strong>und</strong> die Ursache nicht im hohen<br />

Gr<strong>und</strong>wasserspiegel liegt.<br />

Die Visualisierung <strong>und</strong> Lokalisierung von Phänomenen<br />

<strong>und</strong> Zusammenhängen sind eine vsrichtige heuristische<br />

Vorgangsweise zu Beginn eines Forschungsprozesses,<br />

um die wesentlichen Elemente <strong>und</strong> Beziehungen<br />

eines Modells zu beschreiben, zu ordnen oder<br />

Zusammenhänge zu veranschaulichen.<br />

K<br />

Geographen interessieren sich einerseits dafür, wie<br />

räumliche Strukturen entstehen <strong>und</strong> wie von handelnden<br />

Akteuren alltägliche Regionalisierungen vorgenommen<br />

werden (Werlen 1995, 1997), sie sind<br />

aber auch darauf angewiesen, räumliche Muster zu<br />

erkennen <strong>und</strong> daraus Schlussfolgerungen zu ziehen,<br />

wenn sie sich nicht von vorneherein von wichtigen<br />

Erkenntnissen ausschließen wollen. Räume sind<br />

also nicht nur Produkte des Handelns, sondern können<br />

auch Handeln strukturieren <strong>und</strong> Hinweise auf<br />

frühere Handlungen geben. Räume sind auch ein Medium<br />

der Wahrnehmung. Da die der menschlichen<br />

Wahrnehmung zugänglichen Informationen immer<br />

bruchstückhaft sind, fassen die Akteure in ihren kognitiven<br />

Prozessen die im Raum positionierten Objekte<br />

<strong>und</strong> sensorischen Signale zu Mustern oder Situationen<br />

zusammen. Unser Gehirn ergänzt unvollständige<br />

Informationen mithilfe von früheren Erfahrungen,<br />

Wissensbeständen, Vorurteilen oder Erwartungshaltungen<br />

(Schwan 2003). Die entsprechenden<br />

Assoziationen oder Schlussfolgerungen werden nicht<br />

nur aus der Materialität <strong>und</strong> der symbolischen Bedeutung<br />

der einzelnen Objekte, sondern ganz maßgeblich<br />

aus ihrer räumlichen Positionierung <strong>und</strong><br />

den Relationen zwischen Objekten <strong>und</strong> Personen gezogen.<br />

Die überwiegende Mehrheit von Entscheidungssituationen<br />

verlangt von einem Akteur die Fähigkeit,<br />

aus Spuren, Bruchstücken <strong>und</strong> unvollständigen<br />

Informationen ein Bild, eine Lagesituation oder<br />

eine frühere Handlung zu rekonstruieren. Der Sozial<strong>und</strong><br />

Kulturgeograph befindet sich meist nicht in der<br />

Rolle des Zuschauers oder Kameramanns, der eine<br />

Handlung beobachten oder filmisch festhalten <strong>und</strong><br />

dann auswerten kann, sondern in der des Spurenlesers,<br />

der ähnlich wie ein Kriminalbeamter aus der<br />

räumlichen Verteilung von Objekten <strong>und</strong> Spuren<br />

Rückschlüsse auf vorausgegangene Handlungen<br />

zieht.<br />

Aus diesem Spurenlesen <strong>und</strong> aus der räumlichen<br />

Darstellung von sozialen Phänomenen ergeben sich<br />

jedoch auch mehrere Fallstricke <strong>und</strong> Gefahren, die<br />

es zu vermeiden gilt. Erstens muss man sich dessen<br />

bewusst sein, dass das Ergebnis des „Sich-ein-Bild-<br />

Machens“ oder der Interpretation eines Musters je<br />

nach dem Vorwissen, den Erfahrungen <strong>und</strong> den Interessen<br />

der jeweiligen Akteure sehr unterschiedlich<br />

ausfallen kann. Das Bild, das man sich von etwas<br />

macht, darf nicht mit einer a priori gegebenen „Wirk-


Raum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 247<br />

lichkeit“ verwechselt werden. Die Wirklichkeit können<br />

wir mit unseren Sinnesorganen gar nicht voll<br />

erfassen, wir nehmen nur Signale eines bestimmten<br />

Wellenbereichs auf, die von unserem Gehirn verarbeitet<br />

<strong>und</strong> zu einem „Bild“ zusammengefügt werden.<br />

Wir wissen, dass sich der Inhalt einer topographischen<br />

Karte beziehungsweise die Frage, was dargestellt<br />

<strong>und</strong> was weggelassen werden soll, je nach<br />

dem Zweck <strong>und</strong> dem Maßstab einer Karte ändert,<br />

es ist uns bewusst, dass sich das Erscheinungsbild<br />

<strong>und</strong> die Aussage einer thematischen Karte gravierend<br />

ändern, wenn man räumliche Einheiten teilt oder zusammenfasst,<br />

oder die Schwellenwerte <strong>und</strong> die Farbstufen<br />

nur geringfügig modifiziert. Das heißt also, mit<br />

denselben, räumlich verorteten Daten kann man sehr<br />

unterschiedliche „Bilder“ <strong>und</strong> Raumstrukturen konstruieren,<br />

die dann je nach Akteur nochmals unterschiedlich<br />

interpretiert werden können.<br />

Welche Muster <strong>und</strong> Strukturen wir im Gelände<br />

oder bei der Betrachtung einer thematischen Karte erkennen,<br />

welche „Bilder wir uns machen“, welche<br />

Räume wir konstruieren <strong>und</strong> welche Rückschlüsse<br />

wir aus diesen Mustern ziehen, hängt ganz entscheidend<br />

von unserem Vorwissen <strong>und</strong> unseren Erfahrungen<br />

ab. Nur ein entsprechend qualifizierter Geomorphologe<br />

wird aus der Abfolge, Lagerung, Dicke <strong>und</strong><br />

räumlichen Anordnung von verschiedenen Sedimentarten<br />

<strong>und</strong> Resten von organischem Material<br />

in einem Aufschluss Rückschlüsse auf klimatische Bedingungen<br />

<strong>und</strong> geomorphologische Prozesse ziehen<br />

können, die vor Zehntausenden von Jahren erfolgten.<br />

Nur ein entsprechend ausgebildeter Arzt wird in der<br />

Lage sein, aus einem Röntgenbild oder dem Ergebnis<br />

einer Computertomographie entsprechende Rückschlüsse<br />

auf den Ges<strong>und</strong>heitszustand des Patienten<br />

zu ziehen oder aus einer Reihe von Symptomen<br />

ein Krankheitsbild <strong>und</strong> eine Diagnose zu erstellen.<br />

Nur ein erfahrener Kriminalbeamter wird aus den<br />

am Tatort zurückgelassenen Spuren eine Tat rekonstruieren<br />

können.<br />

Die Tatsache, dass beim Spurenlesen oder der Mustererkennung<br />

das Vorwissen der Akteure eine entscheidende<br />

Rolle spielt, ist die wichtigste Begründung<br />

dafür, warum die Beziehungen zwischen der Umwelt<br />

- also der räumlichen Strukturen - <strong>und</strong> dem Handeln<br />

der Akteure nie deterministisch sein können <strong>und</strong><br />

warum das Handeln der Menschen nicht ursächlich<br />

auf solche Muster zurückgeführt werden darf Denn<br />

ein räumliches Muster oder eine „Registrierplatte“<br />

(im Sinne von Hartke) sind nie eindeutig, sondern<br />

mehrdeutig, sie können immer auch anders interpretiert<br />

werden. Nur Lernprozesse beziehungsweise der<br />

Erwerb von neuem Wissen <strong>und</strong> neuen Erfahrungen<br />

können dazu beitragen, die Vieldeutigkeit von Mustern<br />

oder Physiognomien einzuschränken.<br />

L<br />

Wie wird Wissen zwischen A<br />

<strong>und</strong> B kommuniziert?<br />

Wer sich mit räumlichen Disparitäten des sozioökonomischen<br />

Entwicklungsniveaus oder des Wissens<br />

befasst, muss sich auch mit der Art <strong>und</strong> Weise auseinander<br />

setzen, wie verschiedene Kategorien von<br />

Wissen von A nach B gelangen, warum sich bestimmte<br />

Wissensinhalte sehr schnell verbreiten <strong>und</strong><br />

andere sehr langsam oder sogar geheim gehalten werden.<br />

Sobald ein räumlicher Diffusionsprozess von<br />

Wissen im Vordergr<strong>und</strong> steht <strong>und</strong> die Frage gestellt<br />

wird, was der Empfänger aus verfügbaren Informationen<br />

macht, ist auch eine Unterscheidung zwischen<br />

Wissen <strong>und</strong> Information unverzichtbar.<br />

Die kaum zu überschätzende Bedeutung des „Vorwissens“<br />

<strong>und</strong> der individuellen Wissens- <strong>und</strong> Erfahrungsunterschiede<br />

(Meusburger 1998, 2004, 2005,<br />

2007) wurde bisher in der Sozialgeographie weitgehend<br />

ausgeblendet. Vertreter der Wahrnehmungsgeographie<br />

oder der Handlungstheorie sprechen<br />

meist nur von „Bewusstseinsprozessen“, von „wahrnehmungs-Zverhaltensleitenden<br />

Faktoren“ <strong>und</strong> „Filtern<br />

der Verhaltenssteuerung“, von „Perzeptionsfiltern“,<br />

von Lernprozessen oder kognitiven Prozessen<br />

(Weichhart 2007). Die entscheidenden Fragen, warum<br />

unterschiedliche Kategorien von Wissen ein unterschiedliches<br />

räumliches Verbreitungsmuster <strong>und</strong><br />

eine unterschiedliche Verbreitungsgeschwindigkeit<br />

aufweisen oder warum immer wieder sehr persistente<br />

räumliche Disparitäten des Wissens entstehen, kann<br />

mit solchen allgemeinen Begriffen nicht zufriedenstellend<br />

beantwortet werden.<br />

Die Übertragung einer Information vom Sender<br />

zum Empfänger (Abbildung 5.3) ist von mehreren<br />

kognitiven Verarbeitungsvorgängen abhängig, die<br />

nichts mit der Information an sich zu tun haben.<br />

Am Beginn <strong>und</strong> Ende der Übertragung einer Nachricht,<br />

also beim Sender <strong>und</strong> Empfänger einer Information,<br />

ist jeweils der menschliche Geist beteiligt.<br />

Nicht alles Wissen ist in Schrift, Zeichen, Formeln,<br />

Worten oder Gesten auszudrücken <strong>und</strong> somit mitteilbar.<br />

Der Produzent von Wissen (Sender) weiß mehr<br />

als er mitteilen kann (Polanyi 1967) <strong>und</strong> der Empfänger<br />

ist mehr Informationen ausgesetzt, als er verstehen<br />

<strong>und</strong> verarbeiten kann. Da es sowohl beim Vorgang<br />

des Sendens als auch beim Vorgang des Empfangens<br />

Informationsverluste gibt, entsteht bei jedem


248 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

I ! 1<br />

1 if-l 1<br />

II ’ 1<br />

l<br />

M l<br />

1 . f l 1<br />

if -' ' ^<br />

1 i<br />

1<br />

!<br />

II t<br />

^ f e "<br />

É? ' ^<br />

m ■ .<br />

Lil » ■ i !<br />

i ' 1<br />

MB<br />

i<br />

Versuch, Wissen von A nach B zu übertragen, eine<br />

räumliche Differenz.<br />

Wissen basiert auf Informationen, die verarbeitet,<br />

reflektiert <strong>und</strong> verinnerlicht worden sind. Informationen<br />

sind also gleichsam eine Vorstufe oder ein<br />

Rohstoff des Wissens. Zeichen <strong>und</strong> Daten müssen jedoch<br />

erst empfangen <strong>und</strong> in Informationen überführt<br />

werden, <strong>und</strong> Informationen müssen verarbeitet, in<br />

ihrer Bedeutung erkannt <strong>und</strong> bewertet sowie mit anderen<br />

Wissensinhalten assoziativ verknüpft werden,<br />

bevor sie ein Empfänger in Wissen umwandeln<br />

kann. Wenn jemand Zugang zu einer Information<br />

hat, heißt dies noch lange nicht, dass er sie versteht<br />

<strong>und</strong> reflektiert, dass er alle damit verb<strong>und</strong>enen Implikationen<br />

erkennt, dass er die Information mit anderen<br />

Wissensinhalten assoziativ verknüpfen kann oder<br />

dass er die Information als gültig oder glaubwürdig<br />

akzeptiert <strong>und</strong> sie zu seinem Nutzen in Handlungen<br />

Umsetzen kann.<br />

Aus diesem prinzipiellen Unterschied zwischen Information<br />

<strong>und</strong> Wissen resultiert auch die Tatsache,<br />

dass man mit den heutigen Möglichkeiten der Telekommunikation<br />

zwar Daten <strong>und</strong> Informationen in<br />

Sek<strong>und</strong>en weltweit verbreiten kann, aber nicht Wissen.<br />

Komplexe Wissensbestände, Erfahrungen, Kreativität<br />

<strong>und</strong> Kompetenzen sind an Personen <strong>und</strong> Organisationen<br />

geb<strong>und</strong>en, sie repräsentieren sich auch<br />

in Regeln, kulturellen Praktiken <strong>und</strong> Organisationsstrukturen,<br />

die räumlich stärker „verwurzelt“ sind<br />

als Informationen.<br />

Die Geschwindigkeit, mit der sich neues Wissen in<br />

der räumlichen Dimension verbreitet, hängt von verschiedenen<br />

Faktoren ab. Dazu gehören unter anderem<br />

die Art des Wissens, das Interesse der Wissensproduzenten,<br />

ihre Informationen (kostenlos) preiszugeben,<br />

die Fähigkeiten <strong>und</strong> Ressourcen, eine Plattform<br />

zu finden <strong>und</strong> zu finanzieren, die geeignet ist,<br />

die Botschaft an den Mann beziehungsweise die<br />

Frau zu bringen sowie die Fähigkeit <strong>und</strong> Bereitschaft<br />

der potenziellen Empfänger, dieses Wissen anzunehmen.<br />

Am schnellsten verbreitet sich (theoretisch) das<br />

sogenannte Alltagswissen oder konflikt- <strong>und</strong> ideolo-<br />

Sender einer Information<br />

Faktoren welche die Übermittlung<br />

von Informationen<br />

<strong>und</strong> Wissen beeinflussen<br />

Faktoren welche die Übernahme<br />

von Informationen <strong>und</strong> Wissen<br />

beeinflussen<br />

Empfänger einer Information<br />

Nicht mitteilbares<br />

Wissen<br />

tacit knowledge<br />

zur Verfügung<br />

gestelltes Wissen<br />

I Bewusst geheim i<br />

I gehaltenes Wissen i<br />

i<br />

Sonstige<br />

Faktoren<br />

W Sonstige<br />

i i ^ Faktoren<br />

Informationen, welche<br />

der Empfänger erhält,<br />

akzeptiert, versteht,<br />

verarbeitet <strong>und</strong> in seine<br />

Wissensbestände<br />

integriert<br />

Filter des Senders<br />

Fähigkeit, Wissen<br />

zu artikulieren bzw.<br />

in Informationen<br />

umzusetzen<br />

Impulsstärke der<br />

Information<br />

Bedeutung der Plattform,<br />

auf der die Information<br />

bekannt gegeben wird<br />

Zensur, Werbung<br />

Filter des analytischen<br />

Wissens<br />

intellektuelle Kapazitäten<br />

Fachwissen, berufliche<br />

Kompetenzen, wissenschaftliches<br />

Wissen,<br />

Erfahrungswissen etc.<br />

Filter des Orientierungswissens<br />

Ideologie, Weltanschauung,<br />

Stereotype, Vorurteile, Emotionen,<br />

kulturelle Identität<br />

Wird Information akzeptiert?<br />

Wird Information verstanden<br />

<strong>und</strong> richtig bewertet?<br />

1 kognitive Verarbeitungsvorgänge | 1 kognitive Verarbeitungsvorgänge j<br />

i mentale Mechanismen i mentale Mechanismen<br />

5.3 W ie kommt Wissen von A nach B? Der Kommunikationsprozess zwischen dem Sender <strong>und</strong> Empfänger einer Information<br />

hängt von zahlreichen Einflussfaktoren auf der Seite des Senders <strong>und</strong> des Empfängers ab. (Quelle: Meusburger 2007)


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 249<br />

giefreie „Jedermannswissen“, das leicht artikulierbar<br />

ist, für dessen Aufnahme man keine Vorkenntnisse<br />

benötigt, dessen Verbreitung über Massenmedien<br />

im Interesse des Produzenten oder Senders liegt<br />

<strong>und</strong> das kulturelle Identitäten nicht infrage stellt.<br />

Allerdings wird vielfach unterschätzt, dass man in<br />

unserer Zeit der Informationsüberflutung manchmal<br />

sehr hohe Werbe- oder PR-Budgets <strong>und</strong> gute Kontakte<br />

zu den gatekeeper der Medien benötigt, um<br />

auch sehr einfache Nachrichten über Massenmedien<br />

bekannt machen zu können. In einigen Regionen<br />

kommen selbst diese frei verfügbaren Informationen<br />

nicht an, sei cs, weil ihnen die notwendigen technischen<br />

Voraussetzungen zum Empfang der Informationen<br />

fehlen, sei es, weil die Bevölkerung noch<br />

nicht lesen <strong>und</strong> schreiben kann - was zu Beginn<br />

des 21. lahrh<strong>und</strong>erts noch für etwa 800 Millionen<br />

Menschen zutrifft. Eine zweite Kategorie von Wissen<br />

kann hingegen nicht oder nur schwer in der räumlichen<br />

Dimension verbreitet werden, weil es dem Produzenten<br />

oder Inhaber des Wissens nicht gelingt, sein<br />

Wissen zur Gänze durch Worte, Zeichen, Formeln<br />

oder Handlungen verständlich zu machen, sodass<br />

bei der Kodierung (Formulierung) <strong>und</strong> Übertragung<br />

des Wissens zum Empfänger jeweils deutliche Informationsverluste<br />

auftreten.<br />

Eine dritte Kategorie von Wissen stößt hinsichtlich<br />

ihrer räumlichen Diffusion sehr schnell an ihre Grenzen,<br />

weil sie nur von einer bestimmten Kategorie von<br />

Akteuren verstanden oder akzeptiert wird. In diesem<br />

Falle werden die Informationen vom Sender zwar zur<br />

Verfügung gestellt, aber von einem Teil der potenziellen<br />

Empfänger strikt abgelehnt. Die vom Sender zur<br />

Verfügung gestellten Informationen treffen beim<br />

Empfänger auf zwei Filter, die man als Vorwissen<br />

oder Vorverständnis bezeichnen kann. Der erste Filter<br />

betrifft das sogenannte fachliche Vorwissen. Er<br />

besteht aus der Kenntnis von Codes (zum Beispiel<br />

Fremdsprachen, mathematische oder physikalische<br />

Formeln), aus Fachwissen, beruflichen Qualifikationen<br />

<strong>und</strong> Fähigkeiten, die in mehrjährigen Lernprozessen<br />

erworben wurden. Dieser Filter hat einen Einfluss<br />

darauf, ob der Empfänger eine Information aufnehmen<br />

<strong>und</strong> verstehen kann, ob er die Bedeutung<br />

<strong>und</strong> Tragweite der Information richtig einschätzen<br />

kann <strong>und</strong> ob er sie in seinen Wissensbestand integrieren<br />

<strong>und</strong> in Handlungen umsetzen kann. Wer nicht<br />

über dieses problem- <strong>und</strong> situationsbezogene Vorwissen<br />

verfügt, wird viele Informationen nicht wahrnehmen<br />

können, sie falsch interpretieren, ihre Tragweite<br />

<strong>und</strong> Bedeutung nicht erkennen <strong>und</strong> sie nicht in<br />

W'issen umsetzen können. Die neuesten Erkenntnisse<br />

der Molekularbiologie oder Hochfrequenzphysik<br />

sind zum Beispiel nach ihrer Publikation weltweit zugänglich<br />

(zum Teil sogar über das Internet). Personen,<br />

die jedoch nicht das entsprechende Fachgebiet<br />

mehrere Jahre lang studiert haben, können mit den<br />

öffentlich zugänglichen, kostenlosen Informationen<br />

nichts oder nur wenig anfangen, weil ihnen das „Vorverständnis“<br />

oder Vorwissen zur Aufnahme, Bewertung<br />

<strong>und</strong> Integration der neuen Informationen fehlt.<br />

Diese Filterfunktion des Vorwissens ist der Hauptgr<strong>und</strong><br />

dafür, warum bestimmte Bestände an Fachwissen<br />

oder wissenschaftlichem Wissen nur zwischen<br />

wenigen Standorten mit ähnlichen Voraussetzungen<br />

(zum Beispiel zwischen Finanzzentren, Forschungslabors<br />

oder Universitätsinstituten) zirkulieren, warum<br />

gewisse Regionen von Innovationen gleichsam übersprungen<br />

werden <strong>und</strong> warum viele Wissensunterschiede<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie relativ lange<br />

bestehen bleiben oder sich immer wieder von<br />

Neuem reproduzieren.<br />

Eine ähnliche Wirkung kann auch der zweite Filter<br />

haben, also jenes Vorwissen, welches als Heilswissen<br />

oder Orientierungswissen bezeichnet wird <strong>und</strong> aus<br />

religiösen <strong>und</strong> ideologischen Überzeugungen, nationalen<br />

Mythen, politischen Legenden, kulturellen Traditionen,<br />

persönlichen Erfahrungen <strong>und</strong> Vorurteilen<br />

besteht. Der Filter des Orientierungswissens entscheidet<br />

darüber, ob eine neue Information, die verstanden<br />

wurde, mit der Identität, der Weltanschauung<br />

<strong>und</strong> dem Selbstverständnis des Empfängers vereinbar<br />

ist oder emotional abgelehnt wird. Bei der Mobilisierung<br />

des Orientierungswissens oder Heilswissens<br />

geht es nicht um die Suche nach wissenschaftlicher<br />

„Wahrheit“. Orientierungs- oder Heilswissen wird<br />

ohne eine wissenschaftlich zu nennende Prüfung<br />

übernommen <strong>und</strong> gebraucht. Gerade weil es keinem<br />

Beweis unterworfen ist, spielt es für die Machtausübung,<br />

die Identitätsstiftung <strong>und</strong> soziale Kohäsion<br />

von sozialen Systemen, aber auch für die Unterdrückung<br />

von Minderheiten eine große Rolle. Es gibt also<br />

Wissen, das vom Empfänger zwar verstanden, aber<br />

aus ideologischen oder emotionalen Gründen nicht<br />

akzeptiert wird.<br />

Die stärkste räumliche Konzentration (auf wenige<br />

Zentren) weist die vierte Kategorie von Wissen auf,<br />

die dadurch gekennzeichnet ist, dass ihre (zeitlich<br />

<strong>und</strong> räumlich begrenzte) Geheimhaltung dem Produzenten<br />

oder Anwender des Wissens einen Wettbewerbsvorteil<br />

oder Machtzuwachs verschafft. Die<br />

Geheimhaltung von Wissen <strong>und</strong> die Zugangsbeschränkungen<br />

zu Wissen haben in vielen Religionen<br />

eine lange Tradition. Aber auch heute wird technisches<br />

Wissen, das einen Wettbewerbsvorteil bringt.


250 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

I<br />

so lange wie möglich geheim gehalten oder durch<br />

Patente geschützt.<br />

Um Missverständnisse bei der Abbildung 5.3 zu<br />

vermeiden, muss darauf hingewiesen werden, dass<br />

es zwischen den einzelnen Elementen des Modells<br />

vielfältige Rückkoppelungsprozesse gibt. Auch die<br />

verschiedenen Filter darf man sich natürlich nicht<br />

als abgeschottet vorstellen, sondern sie wirken aufeinander,<br />

fließen ineinander über (die Wahrnehmung<br />

wird auch durch Emotionen beeinflusst) <strong>und</strong> entscheiden<br />

gemeinsam, wie Informationen (Bilder)<br />

von Menschen bevmsst oder unbevmsst verarbeitet<br />

werden <strong>und</strong> welche Assoziationen sie auslösen.<br />

L<br />

Vielfalt an theoretischen Konzepten^<br />

Methoden <strong>und</strong> Maßstäben<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Vielfalt an Forschungsfragen weist die<br />

Sozialgeographie auch eine große Bandbreite von<br />

theoretischen Konzepten <strong>und</strong> Methoden auf. Obwohl<br />

diese Multidimensionalität eine der größten Stärken<br />

der Sozialgeographie darstellt, gab es im Laufe der<br />

Disziplingeschichte immer wieder Versuche, bestimmten<br />

theoretischen Konzepten, Methoden oder<br />

Maßstabsebenen eine Priorität einzuräumen, andere<br />

für überholt zu erklären beziehungsweise die Ablösung<br />

eines alten Paradigmas durch ein neues zu verkünden.<br />

Wie kurzatmig solche Revolutionen sind, hat<br />

sich unter anderem bei der quantitativen Geographie<br />

gezeigt, die innerhalb weniger lahre vom Star zum<br />

Buhmann der Sozialgeographie wurde. Die Mehrheit<br />

der Sozialwissenschaftler vertritt die Ansicht, dass die<br />

Frage, welche Methoden <strong>und</strong> welche theoretischen<br />

Konzepte verwendet werden sollten, nicht zur „Weltanschauung“<br />

werden darf, sondern dass die Forschungsfragen,<br />

die Forschungsinteressen, die Dynamik<br />

eines ablaufenden Prozesses, die zu erwartenden<br />

Erkenntnisse <strong>und</strong> Forschungshindernisse sowie die<br />

zur Verfügung stehenden Ressourcen, Quellen <strong>und</strong><br />

Daten die Entscheidung beeinflussen sollten, welche<br />

Methoden <strong>und</strong> welche theoretischen Konzepte im<br />

Laufe des Forschungsprozesses eingesetzt werden.<br />

Dies sei kurz an einem Beispiel erläutert. Nicht wenige<br />

Stadt-, Kultur- <strong>und</strong> Sozialgeographen werden<br />

zustimmen, dass die Methode der Kartierung von<br />

physiognomischen Merkmalen in einer modernen<br />

Sozialgeographie keinen hohen Stellenwert mehr<br />

hat. Es gibt jedoch nicht nur in Entwicklungsländern,<br />

sondern auch in Europa oder den USA Situationen, in<br />

welchen diese Methode die einzige Möglichkeit darstellt,<br />

überhaupt etwas über einen rasch ablaufenden<br />

Wandel zu erfahren. Wer beispielsweise Ende der<br />

1980er-lahre in der City von Budapest die Verdrängung<br />

der Wohnfunktion durch Bürofunktionen untersuchen<br />

wollte, musste auf die Kartierung von physiognomischen<br />

Merkmalen zurückgreifen, jede andere<br />

Methode hätte angesichts des raschen Wandels<br />

nach dem Zusammenbruch des Ostblockes, der fehlenden<br />

Statistiken <strong>und</strong> der zum Teil nicht legalen<br />

Vorgänge bei der Umwandlung von Wohnraum in<br />

Bürofunktionen versagt. Für quantitative Strukturanalysen<br />

gab es keine Daten <strong>und</strong> eine qualitative Forschung<br />

wäre daran gescheitert, dass wegen der zahlreichen<br />

illegalen Vorgänge die meisten Versuche, Interviews<br />

durchzuführen, gescheitert wären. Es fanden<br />

auch keine öffentlichen Diskurse statt, die man analysieren<br />

hätte können. Die einzige Alternative bestand<br />

darin, entweder auf Methoden zurückzugreifen, die<br />

schon vor mehr als 100 jahren angewandt wurden,<br />

oder auf interessante Ergebnisse zu verzichten. Zwischen<br />

qualitativen <strong>und</strong> quantitativen Methoden, zwischen<br />

Mikro- <strong>und</strong> Makroebene, zwischen Struktur<br />

<strong>und</strong> Flandlung <strong>und</strong> so weiter sollten also keine prinzipiellen<br />

Gegensätze konstruiert werden, sondern jeder<br />

dieser Ansätze kann in bestimmten Situationen<br />

Ergebnisse liefern, die auf andere Art nicht erzielt<br />

werden können.<br />

Ist die Mikroebene aussagekräftiger<br />

als die Meso- oder Makroebene?<br />

Der Begriff Mikroebene wird hier für die Analyse von<br />

Individualdaten verwendet, wobei zwischen amtlich<br />

erhobenen Datensätzen (Massendaten) <strong>und</strong> Daten,<br />

welche vom Forscher selbst erfasst wurden, unterschieden<br />

werden kann. Der Meso- oder Makroebene<br />

liegen in der Regel auf administrative Einheiten<br />

(Zählbezirke, Gemeinden oder Kreise) aggregierte<br />

Daten zugr<strong>und</strong>e. Für die Vertreter des methodologischen<br />

Individualismus steht der handelnde Akteur<br />

im Mittelpunkt des Interesses. Sie vertreten die Ansicht,<br />

dass nur Individuen Ziele haben können <strong>und</strong><br />

dass die Handlungstheorie nur innerhalb der Prämisse<br />

des methodologischen Individualismus vorstellbar<br />

sei. Sie argumentieren, dass in modernen Gesellschaften<br />

dem Subjekt die zentrale Rolle zugewiesen<br />

werde <strong>und</strong> das Subjekt zum Zentrum der sinnhaften<br />

Konstituierung der Wirklichkeit werde. Die Subjektzentrierung<br />

des Weltverständnisses sei ein wichtiger<br />

Aspekt der Moderne (Werlen 1995, 1997).<br />

Wenn es um Prozesse der Wahrnehmung, die Erklärung<br />

von Handlungen <strong>und</strong> die Erfassung von Moti-


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 251<br />

ven, Einstellungen oder Ideologien geht, wird der Mikroebene<br />

<strong>und</strong> der Handlungstheorie generell ein Vorrang<br />

eingeräumt. Der Grad der Zustimmung zu den<br />

oben genannten Thesen hängt jedoch weitgehend davon<br />

ab, wie das Subjekt gesehen wird. Handelt ein<br />

Subjekt weitgehend autonom, ausreichend informiert<br />

<strong>und</strong> mit freiem Willen? Ist es ohne familiäre Wurzeln<br />

<strong>und</strong> ohne Einfluss einer Kultur oder peer group aufgewachsen?<br />

Oder ist davon auszugehen, dass Akteure<br />

durch Familie, Kultur, Arbeitsplatz <strong>und</strong> Geschlechterrollen<br />

geprägt sind, durch das Anregungsmilieu<br />

des lokalen Kontexts beeinflusst, mehr oder weniger<br />

von Ressourcen abhängig <strong>und</strong> zumindest im Erwerbsleben<br />

in soziale Systeme eingeb<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

durch Machtstrukturen in ihren Handlungen eingeschränkt<br />

sind? Die Vertreter der System- <strong>und</strong> Organisationstheorie<br />

vertreten die Ansicht, dass auch Organisationen<br />

Ziele haben, ja dass Organisationen sogar<br />

als zielorientierte soziale Systeme zu definieren<br />

sind <strong>und</strong> dass räumliche Strukturen wie zum Beispiel<br />

zentral-periphere Disparitäten weniger von Individuen,<br />

sondern in erster Linie von arbeitsteiligen, sozialen<br />

Systemen <strong>und</strong> deren asymmetrischen Machtbeziehungen<br />

verursacht werden, die ihre interne Differenzierung<br />

<strong>und</strong> Hierarchie in die räumliche Dimension<br />

übertragen (Meusburger 1999). Ein Teil dieser<br />

umstrittenen Fragen kann allerdings vermieden<br />

werden, wenn man dem Vorschlag von Weichhart<br />

(2007b) folgt <strong>und</strong> zwischen Person, Subjekt <strong>und</strong> Individuum<br />

unterscheidet.<br />

Während soziale Phänomene auf der Mikroebene<br />

von mehreren Disziplinen (zum Beispiel Sozialgeographie,<br />

Soziologie, Psychologie, Ethnologie oder<br />

Linguistik) in Konkurrenz zueinander untersucht<br />

werden, bleiben die Analysen auf der Meso- <strong>und</strong> Makroebene<br />

weitgehend der Geographie oder der social<br />

area analysis überlassen. Deshalb wäre es nicht nur<br />

aus erkenntnistheoretischen, sondern auch aus fachpolitischen<br />

Gründen unklug, die Meso- <strong>und</strong> Makroebene<br />

der Sozialgeographie zu vernachlässigen. Die<br />

meso- <strong>und</strong> makroanalytische Sozialraumanalyse ist<br />

ein bestens bewährter Forschungsansatz mit einer langen<br />

<strong>und</strong> erfolgreichen Tradition (Weichhart 2007b).<br />

Nicht selten trifft man bei Studierenden der Geographie<br />

<strong>und</strong> Soziologie auf die Einstellung, dass eine<br />

Analyse auf der Mikroebene, also beispielsweise auf<br />

der Ebene von Individuen, wissenschaftlich f<strong>und</strong>iertere<br />

Erkenntnisse liefere, als die Untersuchung von<br />

Makrophänomenen. Es wird darauf hingewiesen,<br />

dass die Makroebene nur Strukturen aufzeigen <strong>und</strong><br />

beschreiben, aber keine Motive berücksichtigen<br />

<strong>und</strong> keine Handlungen erklären könne. In jüngster<br />

Zeit haben jedoch mehrere Soziologen darauf hingewiesen,<br />

dass das Erklärungsobjekt der Soziologie<br />

nicht ausschließlich das individuelle Handeln, sondern<br />

vielmehr in der Regel ein Makrophänomen,<br />

nämlich das Systemverhalten sei (Schluchter 2005).<br />

Die Forderung nach einem methodologischen Individualismus<br />

heißt deshalb zunächst nur, dass die Analyse<br />

von makrosozialen Strukturen <strong>und</strong> Prozessen<br />

mikrof<strong>und</strong>iert erfolgen müsse. In der Umweltpsychologie<br />

(ecological psychology) wird betont, dass<br />

bei der Person-Umwelt-Interaktion nicht die Einzelperson<br />

die Sinn gebende Instanz ist, sondern nach<br />

Graumann <strong>und</strong> Kruse (2003) konstituiert sich der<br />

Sinn in der Situation als der Gr<strong>und</strong>einheit intentionaler<br />

Person-Umwelt-Interaktion. Nicht nur Sozialgeographen,<br />

sondern auch immer mehr Soziologen<br />

gehen davon aus, dass das Gr<strong>und</strong>modell einer sozialwissenschaftlichen<br />

Erklärung im Idealfall immer ein<br />

Mehrebenenmodell sein sollte. Die Erklärung eines<br />

Makrophänomens kann zwar häufig nur über die darunter<br />

liegende Ebene erfolgen, denn Strukturen gehen<br />

auf handelnde Akteure zurück. Ein pragmatischer<br />

methodologischer Individualismus geht jedoch<br />

davon aus, dass die Art <strong>und</strong> Tiefe der Mikrof<strong>und</strong>ierung<br />

vom Erklärungsproblem abhängig sei (Schluchter<br />

2005).<br />

Aus dem Spannungsbogen zwischen Struktur <strong>und</strong><br />

Handlung oder zwischen Mikro- <strong>und</strong> Makroebene<br />

sollten keine Gegensätze konstruiert werden, sondern<br />

es hängt von den Forschungsfragen <strong>und</strong> Forschungsinteressen<br />

ab, ob sich ein konkretes Forschungsprojekt<br />

mehr dem subjektzentrierten oder mehr dem systemorientierten<br />

Ansatz zuwendet <strong>und</strong> wie es sich im<br />

Laufe des Forschungsprozesses zwischen diesen beiden<br />

Polen bewegt. Als Metapher zur Veranschaulichung<br />

dieses Problems sei das Beispiel der Bewertung<br />

eines Orientteppichs herangezogen. Wenn es um die<br />

Frage geht, beim Teppich die Dicke der Seidenfäden<br />

oder die Zahl der Knoten pro Quadratzentimeter zu<br />

analysieren, wird man den Teppich aus naher Distanz<br />

mit der Lupe (also auf der Mikroebene) untersuchen.<br />

Wenn es jedoch darum geht, die Ornamente <strong>und</strong><br />

Farbkombination sowie die optische Wirkung des<br />

Teppichs zu beurteilen, wird man die Lupe weglegen<br />

<strong>und</strong> den Teppich aus einigen Metern Entfernung (aus<br />

der Makroperspektive) betrachten.<br />

Es wäre auch falsch, anzunehmen, dass die Mikroebene<br />

generell mit weniger black boxes konfrontiert ist<br />

oder weniger methodische Probleme hat als die<br />

Meso- oder Makroebene. Umstritten sind beispielsweise<br />

der Grad der Willensfreiheit, die nicht bewusst<br />

ablaufenden kognitiven Vorgänge oder die neuronale<br />

Determiniertheit von Entscheidungen, je tiefer man<br />

bei der Forschung über die Ursachen des Handelns


252 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

in die Neurophysiologie <strong>und</strong> Motivationsstruktur des<br />

Menschen eindringt, umso mehr black boxes tun sich<br />

auf. Die Beziehungen zwischen Wissen <strong>und</strong> Handeln<br />

gelten als eine der schwierigsten Forschungsfragen<br />

der Sozialwissenschaften. Viele Gründe des Handelns<br />

bleiben dem Beobachter oder dem Teilnehmer oder<br />

beiden pragmatisch verschlossen, sie ergeben sich<br />

nicht einfach aus der Logik einer Situation (Schluchter<br />

2005). Weder die für ein Problem relevanten<br />

Handlungsabläufe noch die Handlungswirkungen<br />

sind für den Beobachter immer beobachtbar oder<br />

verständlich.<br />

Einem Teil der methodischen Schwierigkeiten<br />

kann man dadurch ausweichen, dass man davon ausgeht,<br />

dass es in der <strong>Humangeographie</strong> so wie auch in<br />

anderen empirischen Sozialwissenschaften nur selten<br />

um die Erklärung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen<br />

geht, sondern um die Bestimmungsgründe des<br />

Handelns. Allerdings sind die Gründe des Handelns<br />

nicht immer auch die Ursachen des Handelns<br />

(Schluchter 2005, Albert 2002). Die Erklärung <strong>und</strong><br />

die Rechtfertigung des Handelns sind zwei verschiedene<br />

Dinge <strong>und</strong> können weit auseinanderklaffen. Die<br />

vielen black boxes auf der Mikroebene sind einer der<br />

Gründe, warum sich die Sozialwissenschaften bei bestimmten<br />

wissenschaftlichen Fragestellungen allein<br />

schon aus pragmatischen Gründen Makrophänomenen<br />

(Systemen, Strukturen) oder höheren Aggregationsebenen<br />

zuwenden müssen. Viele Regularitäten,<br />

Zusammenhänge, Kongruenzen, Trends oder (in seltenen<br />

Fällen) Gesetzmäßigkeiten können nur auf der<br />

Meso- oder Makroebene oder nur bei sehr großen<br />

Fallzahlen nachgewiesen werden. Viele Mikroprozesse,<br />

die Makrophänomenen (Strukturen) zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, sind schon deshalb nicht erfassbar, weil die dafür<br />

notwendigen Quellen verschlossen bleiben, weil<br />

die Motive der Akteure nicht rückwirkend erfassbar<br />

sind, weil die Protokolle von Sitzungen nur Teile der<br />

Diskussion <strong>und</strong> des Entscheidungsfmdungsprozesses<br />

wiedergeben, weil Akteure Teile ihres Wissens nicht<br />

preisgeben wollen, weil Akteure bei einer Befragung<br />

ihr Handeln häufig nur rechtfertigen, aber nicht erklären<br />

können oder weil das Ursachengeflecht so<br />

komplex ist, dass die entscheidenden Mikroprozesse<br />

im Dunkeln bleiben.<br />

Ein weiteres Problem der empirischen Mikroebene<br />

liegt darin, dass sie mit relativ kleinen Stichproben<br />

arbeiten muss. Dies ist so lange kein Problem, wie<br />

auf der qualitativen Ebene gearbeitet wird. Eine quantitative<br />

Untersuchung auf der Mikroebene ist jedoch<br />

nur dann sinnvoll zu verallgemeinern, wenn die<br />

Stichprobe repräsentativ ist <strong>und</strong> die gemessenen Zusammenhänge<br />

<strong>und</strong> Unterschiede zwischen Kategorien<br />

signifikant sind. Von berechtigten Ausnahmen<br />

abgesehen, wollen Wissenschaftler ja keine Einzelfälle<br />

untersuchen, sondern Aussagen treffen, die über den<br />

Einzelfall hinaus eine gewisse Gültigkeit haben. Weitere<br />

Probleme bestehen darin, dass Zufallsstichproben<br />

in der Regel nicht annähernd die gesamte Bandbreite<br />

der sozialen Differenzierung <strong>und</strong> damit auch<br />

der sozialen Ungleichheit wiedergeben können, <strong>und</strong><br />

dass geschichtete Stichproben auf einer Gr<strong>und</strong>gesamtheit<br />

beruhen sollten, die jedoch in vielen Fällen<br />

gar nicht bekannt ist.<br />

Ein anderes Problem der Mikroebene liegt im Antwortverhalten<br />

der Befragten. Nicht nur in totalitären<br />

Systemen, sondern auch in Demokratien bestimmter<br />

Kulturen kann man auf gewisse Fragen keine ehrliche<br />

oder eindeutige Antwort erwarten. So ist etwa in Japan<br />

die nach 1945 auf Anregung der Amerikaner eingeführte<br />

Frage nach der Selbsteinstufung der Schichtzugehörigkeit<br />

Jahrzehnte lang gescheitert (es haben<br />

sich immer über 90 Prozent der Japaner zur Mittelschicht<br />

gezählt), weil in Japan nicht soziale Schichten,<br />

sondern vertikale soziale Gruppen die entscheidende<br />

Kategorie darstellen. Ein anderes Beispiel sind die<br />

Untersuchungen westlicher Sozialwissenschaftler<br />

über die Situation von Frauen in kommunistischen<br />

Staaten. Die Ergebnisse dieser Befragungen brachten<br />

bis zur Wende immer das Ergebnis, dass im realen<br />

Sozialismus die geschlechtsspezifische Chancengleichheit<br />

im Erwerbsleben erreicht sei <strong>und</strong> Frauen<br />

nach der Geburt eines Kindes keine Familienphase<br />

einlegen würden. Es war natürlich naiv anzunehmen,<br />

dass in einem totalitären System die befragten Personen<br />

einem fremden Interviewer etwas anderes antworten<br />

würden als offiziell erwünscht war. Als es<br />

dann nach der Wende in einigen Ländern, zum Beispiel<br />

in Ungarn, möglich wurde, die Volkszählung des<br />

Jahres 1980 auszuwerten, ergab sich ein völlig anderes<br />

Bild (Meusburger 1995, 1997). In Ungarn bestanden<br />

1980 je nach Hierarchiestufe des Siedlungssystems<br />

<strong>und</strong> je nach Wirtschaftsklasse <strong>und</strong> Beruf große geschlechtsspezifische<br />

Disparitäten der Erwerbstätigkeit.<br />

Während der Frauenanteil an der gesamten Arbeitsbevölkerung<br />

43,4 Prozent <strong>und</strong> in der Leichtindustrie<br />

66,7 Prozent betrug, befanden sich unter den<br />

Angehörigen der Nomenklatura (Machtelite der<br />

kommunistischen Partei) nur 21,3 Prozent Frauen.<br />

In der ersten Kaderführungsebene der Staatsverwaltung<br />

betrug der Frauenanteil 0,6 Prozent, unter<br />

den Kadern des Hochschulwesens 8,1 Prozent <strong>und</strong><br />

unter den Kadern der ersten Führungsebene der<br />

staatlichen Großunternehmen 29,0 Prozent (Harcsa,<br />

1995). Außerdem gab es große soziale <strong>und</strong> regionale<br />

Disparitäten der Frauenerwerbstätigkeit <strong>und</strong> - zu-


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 253<br />

mindest bei den hoch qualifizierten Frauen - eine<br />

stark ausgeprägte Familienphase nach der Geburt<br />

eines Kindes. Es war also erst anhand von Strukturdaten<br />

beziehungsweise Vollerhebungen möglich, das<br />

tatsächliche Ausmaß an sozialer <strong>und</strong> geschlechtsspezifischer<br />

Ungleichheit aufzuzeigen. Bei anderen Forschungsfragen<br />

<strong>und</strong> Forschungssituationen können<br />

nur Interviews oder qualitative Verfahren brauchbare<br />

Ergebnisse liefern. Mit diesem Beispiel soll ausgedrückt<br />

werden, dass es bei den meisten sozialwissenschaftlichen<br />

Fragestellungen nicht sinnvoll oder nicht<br />

ausreichend ist, nur eine einzige Maßstabsebene, eine<br />

einzige Untersuchungsmethode oder ein einziges<br />

theoretisches Konzept anzuwenden. Eine Anwendung<br />

mehrerer Konzepte <strong>und</strong> Methoden ist auch immer<br />

eine Möglichkeit, die Plausibilität von Ergebnissen<br />

zu überprüfen <strong>und</strong> etwaige Fehlerquellen zu entdecken.<br />

Entankerung<br />

I <strong>und</strong> Ortsgeb<strong>und</strong>enheit<br />

Man kann sich zu Recht die Frage stellen, ob mentale<br />

Gegebenheiten oder soziale Attribute wie Weltanschauungen,<br />

berufliche Qualifikationen, Normen,<br />

Werte, Einstellungen oder Ausbildungsniveaus in<br />

einer globalisierten Welt noch räumlich verortet werden<br />

können. Ist es wissenschaftlich legitim, soziale<br />

Phänomene auf bestimmte Standorte oder Areale<br />

zu beziehen, wo sie doch an Personen geb<strong>und</strong>en<br />

sind, die räumlich mobil sind? Kann man die Beziehungen<br />

zwischen einem räumlichen Kontext <strong>und</strong> der<br />

Generierung von Wissen analysieren, ohne in einen<br />

Determinismus oder in eine Ontologisierung des<br />

Raums zu verfallen? Die Antwort lautet „ja“. Obwohl<br />

nur Menschen <strong>und</strong> nicht Orte Kreativität oder Wissen<br />

aufweisen können, benötigen Akteure zur Entwicklung<br />

ihrer Fähigkeiten <strong>und</strong> zur Generierung<br />

von neuem Wissen bestimmte Voraussetzungen, Anregungen,<br />

Ressourcen, Milieus <strong>und</strong> Herausforderungen,<br />

also bestimmte räumliche Kontexte, die nicht<br />

überall in gleicher Weise gegeben sind.<br />

Um etwaigen Missverständnissen entgegenzuwirken,<br />

muss kurz auf den Begriff der „räumlichen<br />

<strong>und</strong> zeitlichen Entankerung“ in der spätmodernen<br />

Welt eingegangen werden, welcher in der Handlungstheorie<br />

von Werlen (1993, 1995, 1997) eine so große<br />

Rolle spielt. Es ist völlig richtig, dass heute die meisten<br />

Alltagspraktiken in globale Zusammenhänge eingebettet<br />

sind, dass Lokales <strong>und</strong> Globales ineinander verwoben<br />

sind, dass sich globale Prozesse im Lokalen äußern<br />

<strong>und</strong> lokale Ereignisse globale Bedeutung erlangen<br />

können (Werlen & Lippuner 2007). Die Globalisierung<br />

hatte aber nicht zur Folge, dass der räumliche<br />

Kontext für die Entscheidungsprozesse <strong>und</strong> das<br />

Handeln der Menschen keine Bedeutung mehr hat.<br />

Die Globalisierung hat nur die Zahl, die Art <strong>und</strong><br />

das Zusammenwirken der Einflussfaktoren geändert,<br />

welche den räumlichen Kontext ausmachen. Die Globalisierung<br />

hat auch nicht generell zum Verschwinden<br />

regionaler Kulturen geführt, ganz im Gegenteil,<br />

die Widerstände gegen die Globalisierung haben in<br />

einigen Regionen zu einer Renaissance der regionalen<br />

Küche, Musik, Museumskultur oder Dialekte geführt.<br />

Ein Kontext kann auf der Mikro-, Meso- oder Makroebene<br />

wirksam werden. Um das Wesen eines<br />

räumlichen Kontexts zu beschreiben, können je<br />

nach Kultur verschiedene Metaphern verwendet werden.<br />

Eine der möglichen Metaphern ist die der Arena,<br />

in welcher verschiedene lokale, regionale <strong>und</strong> globale<br />

Einflüsse aufeinandertreffen <strong>und</strong> sich in ihrer Wirkung<br />

gegenseitig modifizieren. Ein Kontext besteht<br />

also nicht aus einzelnen Variablen, sondern aus<br />

dem Zusammenwirken von Einflüssen an einem bestimmten<br />

Standort. Ein so definierter Kontext ist<br />

nicht etwas Fixes oder Statisches, sondern es kommen<br />

immer wieder neue Einflüsse dazu <strong>und</strong> andere scheiden<br />

wieder aus. Entscheidend ist, dass das Lokale <strong>und</strong><br />

das Globale nicht überall in der gleichen Weise ineinander<br />

verwoben sind, dass globale Einflüsse nicht<br />

überall dieselben Folgen haben, dass Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> Mobilität je nach Areal sehr unterschiedliche<br />

Auswirkungen haben können, <strong>und</strong> dass ein<br />

Kontext immer nur ein Potenzial ist, das von einigen<br />

Akteuren erkannt, genutzt oder vermieden wird <strong>und</strong><br />

von anderen nicht.<br />

Nicht zuletzt müssen bei der Bedeutung eines<br />

räumlichen Kontexts auch kulturelle Unterschiede<br />

berücksichtigt werden. So unterscheidet sich beispielsweise<br />

das japanische Konzept von ba, das von<br />

Nakane (1970) beschrieben <strong>und</strong> später von Nonaka<br />

(1994) <strong>und</strong> Nonaka <strong>und</strong> Takeuchi (1995) im Zusammenhang<br />

mit der Generierung von Wissen in japanischen<br />

Unternehmen aufgegriffen wurde, in mehreren<br />

Punkten von der europäischen Auffassung eines Kontexts.<br />

Ba heißt wörtlich übersetzt Feld oder Standort;<br />

es ist das Feld oder die Institution, in dem beziehungsweise<br />

der sich im Rahmen der Arbeitsprozesse<br />

soziale Beziehungen <strong>und</strong> vertikal strukturierte, soziale<br />

Gruppen bilden <strong>und</strong> sich eine Atmosphäre der Zusammengehörigkeit,<br />

der gemeinsamen Identität,<br />

der gegenseitigen Hilfestellung <strong>und</strong> der gegenseitigen<br />

Verpflichtungen {giri) entwickelt. Anders als in der<br />

indischen Gesellschaft, in welcher soziale Attribute<br />

beziehungsweise die Zugehörigkeit zu einer Familie,


254 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Sippe oder Kaste (also horizontale soziale Beziehungen)<br />

entscheidend sind, stehen in Japan die vertikalen<br />

sozialen Beziehungen, die sich vor allem am Arbeitsplatz<br />

beziehungsweise bei der Bewältigung einer bestimmten<br />

Aufgabe entwickeln, im Vordergr<strong>und</strong>. Ein<br />

japanisches Sprichwort lautet: „Man kann ohne Verwandte,<br />

aber nicht ohne Nachbarn leben.“ In der indischen<br />

oder chinesischen Gesellschaft spielen dagegen<br />

verwandtschaftliche Beziehungen die wichtigste<br />

Rolle. Das Konzept ba beinhaltet auch eine starke<br />

mentale <strong>und</strong> emotionale Komponente sowie gegenseitige<br />

Erwartungshaltungen, die in der stärker individualistisch<br />

ausgeprägten europäischen Gesellschaft<br />

einem Kontext im Allgemeinen nicht zugeschrieben<br />

wird. Deshalb prägt ein ba das Handeln der Japaner<br />

in höherem Maße als ein Kontext die Europäer.<br />

Die von Werlen beschriebene „Entankerung“ <strong>und</strong><br />

die damit verb<strong>und</strong>enen Prozesse der räumlichen Ausdehnung<br />

von Interaktionen, des Anstiegs der Mobilität<br />

<strong>und</strong> der Beschleunigung des Lebens haben zwar<br />

die Zahl der Orte deutlich erhöht, an denen Kommunikation,<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> Lernprozesse stattfmden,<br />

sie haben jedoch nicht die symbolische, ökonomische<br />

<strong>und</strong> machtpolitische Bedeutung <strong>und</strong> Wirksamkeit<br />

von Orten <strong>und</strong> Kontexten im Sinne eines Potenzials<br />

vermindert. Auch in hoch mobilen <strong>und</strong> global vernetzten<br />

Gesellschaften haben die Menschen Aufenthalts-,<br />

Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsorte, sowie Orte, an denen<br />

sie Entscheidendes gelernt haben oder wo sie sich an<br />

kulturellen Aktivitäten beteiligen. Auch wenn sich<br />

diese Aktivitäten immer wieder verlagern <strong>und</strong> verändern,<br />

sind sie doch stets lokalisierbar. Adressen sind<br />

nicht nur aus juristischer Sicht (zum Beispiel Unternehmensrecht,<br />

Steuerrecht, Zivilrecht oder Ausländerrecht)<br />

ein außerordentlich relevanter Teil der<br />

Identität, sondern Lokalitäten, mit denen Personen<br />

identifiziert werden, können in vielen Fällen auch<br />

ein sehr wichtiges Statussymbol darstellen, über berufliche<br />

Karrieren entscheiden <strong>und</strong> Aktivitäten ermöglichen,<br />

die anderswo nicht durchführbar sind.<br />

Entscheidend sind die mit einem Ort verb<strong>und</strong>enen<br />

Lern- <strong>und</strong> Handlungsmöglichkeiten <strong>und</strong> die von<br />

ihm ausgehende beziehungsweise mit ihm verknüpfte<br />

Reputation, nicht die Dauer der Verankerung.<br />

Es gibt noch einen weiteren Gr<strong>und</strong>, warum soziale<br />

Phänomene im Alltagsleben immer wieder auf Orte<br />

bezogen werden. Im Zuge von kognitiven Reduktionsprozessen,<br />

die zur Verringerung der Komplexität<br />

<strong>und</strong> Informationsflut unverzichtbar sind, werden<br />

Merkmale, die eigentlich nur Personen haben können,<br />

Institutionen, räumlichen Einheiten oder Kontexten<br />

zugeschrieben. So werden zum Beispiel die intellektuellen<br />

Leistungen <strong>und</strong> das Image von Wissenschaftlern<br />

auf ihre Universität übertragen. Da es nicht<br />

möglich ist, H<strong>und</strong>erte von Wissenschaftlern zu kennen,<br />

welche das Prestige einer Universität prägen,<br />

wird in der öffentlichen Diskussion die Reputation<br />

der Wissenschaftler auf die betreffende Universität<br />

projiziert. Auch wer keinen einzigen Wissenschaftler<br />

der Harvard Universität kennt, kann mit großer Bestimmtheit<br />

behaupten, dass Harvard eine berühmte<br />

Universität ist. Solche Zuschreibungen <strong>und</strong> Reduktionen<br />

(Stereotype) mögen in vielen Fällen problematisch<br />

sein, nicht der Wahrheit entsprechen (auch in<br />

Harvard gibt es in bestimmten Fächern wissenschaftliches<br />

Mittelmaß) oder mit Vorurteilen verb<strong>und</strong>en<br />

sein, aber sie finden alltäglich statt, werden für zahlreiche<br />

Menschen zum Maßstab ihres Handelns <strong>und</strong><br />

müssen deshalb von der Sozialgeographie ernst genommen<br />

werden.<br />

Ähnlich verhält es sich mit der Beziehung zwischen<br />

Materialität <strong>und</strong> symbolischer Bedeutung. Um das<br />

Unvorstellbare darzustellen, werden übernatürliche<br />

Kräfte (Götter), nationale Mythen oder theoretische<br />

Konstrukte in vielen Kulturen auf Orte, Bilder, Gegenstände,<br />

Institutionen oder Personen reduziert,<br />

die dann wieder zum Auslöser von Erinnerungen,<br />

Emotionen oder spirituellen Erfahrungen werden.<br />

Die Madonnenstatue, die russische Ikone, der heilige<br />

Berg oder die Nationalflagge werden von den meisten<br />

Menschen nicht in ihrer Materialität wahrgenommen,<br />

sondern als das, was sie eigentlich repräsentieren<br />

sollen <strong>und</strong> als das, was sie bei „Gläubigen“ oder<br />

Anhängern an Emotionen, Spiritualität oder anderen<br />

Bewusstseinszuständen auslösen können. Die betreffenden<br />

Personen würden vehement widersprechen,<br />

wenn man ihnen unterstellen würde, dass sie ein<br />

Stück Holz (Madonnenfigur, Ikone) anbeten oder<br />

wegen eines Tuchs (Nationalflagge) in Begeisterung<br />

ausgebrochen sind.<br />

Entankerung, Globalisierung, Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> grenzenlose Mobilität haben nicht zu einem<br />

generellen Bedeutungsverlust von Orten, Arealen<br />

oder Adressen für menschliche Aktivitäten <strong>und</strong> Lernprozesse<br />

geführt, sondern sie haben lediglich die Art<br />

<strong>und</strong> Dauer der Ortsgeb<strong>und</strong>enheit sowie die Häufigkeit<br />

der „Ortsbindungen“ <strong>und</strong> damit auch die Art<br />

der Bedeutung von Orten für menschliches Handeln<br />

verändert. Die Geb<strong>und</strong>enheit menschlicher Aktivitäten<br />

oder kultureller Praktiken an Adressen, Lokalitäten<br />

oder Areale hat aus historischer Perspektive nicht<br />

generell abgenommen, sondern in bestimmten Lebensbereichen<br />

<strong>und</strong> beruflichen Arbeitsgebieten gegenüber<br />

früher sogar noch zugenommen. Der steinzeitliche<br />

Jäger <strong>und</strong> Sammler hatte zwar einen relativ<br />

kleinen durchschnittlichen Aktionsraum von einigen


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 255<br />

Dutzend Kilometern, hat sich aber innerhalb seines<br />

Aktionsraums zum Zwecke seiner Existenzsicherung<br />

frei bewegt <strong>und</strong> zum Jagen immer wieder neue Orte<br />

aufgesucht. Anders als heute, konnte die tägliche Arbeit<br />

an H<strong>und</strong>erten verschiedenen <strong>und</strong> nicht vorhersagbaren<br />

Orten erledigt werden, je nachdem, wo man<br />

das zu jagende Wild gerade angetroffen hat. Der moderne<br />

Mensch hat zwar fast unbegrenzte, globale Aktionsräume<br />

(vor allem in seiner Freizeit), ist aber in<br />

seiner Existenzsicherung je nach Beruf monate-, jahre-<br />

oder jahrzehntelang an einen bestimmten Arbeitsplatz<br />

geb<strong>und</strong>en. Je höher jemand qualifiziert <strong>und</strong> spezialisiert<br />

ist, umso weniger potenzielle Arbeitsorte stehen<br />

ihm oder ihr zur Auswahl. Wenn jemand ein international<br />

bekannter Opernsänger oder ehrgeiziger<br />

Wissenschaftler ist, kommen für ihn in ganz Deutschland<br />

vielleicht nur ein halbes Dutzend Arbeitgeber infrage;<br />

seine Freiheitsgrade oder Möglichkeiten, zwischen<br />

Arbeitsorten auszuwählen, sind also sehr eingeschränkt.<br />

Die immer größeren Kosten, die mit bestimmten<br />

naturwissenschaftlichen Forschungsthemen oder industriellen<br />

Produktionsanlagen verb<strong>und</strong>en sind,<br />

haben im Vergleich zu früheren Jahrh<strong>und</strong>erten zu<br />

einer ständig zunehmenden räumlichen Konzentration<br />

der teuren Infrastruktur auf immer weniger Orte<br />

geführt, was die Abhängigkeit der Wissenschaftler<br />

von einem bestimmten Kontext (Forschungslabor,<br />

Großgeräte) erhöht <strong>und</strong> die Spannweite ihrer Wahlmöglichkeiten<br />

des Arbeitsortes deutlich eingeschränkt<br />

hat. Ein Chemiker oder Physiker des späten<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte, was seinen Arbeitsort betrifft.<br />

5.4 Je teurer die Forschungsinfrastruktur,<br />

umso größer die räumliche<br />

Konzentration <strong>und</strong> Ortsgeb<strong>und</strong>enheit<br />

Im 18. <strong>und</strong> frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert haben<br />

Wissenschaftler mit eigenen Apparaten in<br />

ihren Privatwohnungen Experimente durchgeführt<br />

(a). Ab Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

benötigten Naturwissenschaftler teure<br />

Laboratorien, die von Unternehmen oder<br />

Universitäten finanziert wurden (b). Im 20.<br />

<strong>und</strong> 21. Jahrh<strong>und</strong>ert sind bestimmte naturwissenschaftliche<br />

Forschungen so teuer geworden,<br />

dass nur noch sehr wenige Universitäten<br />

<strong>und</strong> Unternehmen diesen Aufwand<br />

leisten konnten (c). (Fotos b <strong>und</strong> c; BASF)


256 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

I 1<br />

wesentlich mehr Freiheitsgrade als einer im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Denn im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden die meisten<br />

Versuche noch zuhause mit eigenen, selbst gekauften<br />

Geräten durchgeführt. Ab etwa Mitte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren Chemiker <strong>und</strong> experimentell<br />

arbeitende Physiker auf teure, von Staat, Land oder<br />

Unternehmen finanzierte Laboratorien angewiesen,<br />

wenn sie an der Forschungsfront mithalten wollten,<br />

<strong>und</strong> diese Laboratorien gab es nur an wenigen Orten.<br />

Die Verteuerung der Infrastruktur <strong>und</strong> des wissenschaftlichen<br />

Betriebs hat also erneut zu einer Einschränkung<br />

der Zahl der möglichen Arbeitsorte auf<br />

wenige Universitätsstädte <strong>und</strong> Standorte der Großindustrie<br />

<strong>und</strong> damit zu einer stärkeren Ortsbindung geführt.<br />

Der Chemiker des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war allerdings<br />

örtlich noch flexibler als sein Kollege im 20.<br />

oder 21. Jahrh<strong>und</strong>ert. Denn im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert waren,<br />

relativ gesehen, noch mehr Universitäten <strong>und</strong><br />

Unternehmen in der Lage, jene Laboratorien zu finanzieren,<br />

die notwendig waren, um an der Forschungsfront<br />

mithalten zu können, als heute (Abbildung<br />

5.4). Im 20. <strong>und</strong> 21. Jahrh<strong>und</strong>ert sind einige<br />

Forschungsbereiche so kostspielig geworden, dass<br />

sich kleine <strong>und</strong> mittlere Staaten vielleicht nur noch<br />

ein einziges Forschungszentrum leisten oder es nur<br />

mit mehreren anderen Staaten zusammen finanzieren<br />

können (zum Beispiel der Teilchenbeschleuniger in<br />

Genf).<br />

Ähnliche räumliche Konzentrationstendenzen gab<br />

es auch bei hoch qualifizierten Berufen vieler anderer<br />

Wirtschaftszweige (zum Beispiel Bankwesen oder unternehmensorientierte<br />

Dienstleistungen). Völlig anders<br />

verhält es sich mit den sogenannten „Jedermannsqualifikationen“,<br />

hier hat in der Tat die Ortsgeb<strong>und</strong>enheit<br />

stark abgenommen, weil solche Arbeitsplätze<br />

auf allen Ebenen der Siedlungshierarchie<br />

angeboten werden. Die Ortsbindung von Wissenschaftlern<br />

hat aber auch noch andere Ursachen als<br />

nur die Abhängigkeit von Forschungsinfrastruktur<br />

oder sozialen Netzwerken. Wie die Science studies bewiesen<br />

haben, hängt die Legitimation <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit<br />

von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

in hohem Maße von der Reputation der Forschungsstätten<br />

ab, an denen die Erkenntnisse generiert, vorgestellt<br />

<strong>und</strong> legitimiert wurden (Livingstone 1995,<br />

2000, 2002, 2003).<br />

Wie ist die Wirkung eines räum-<br />

I liehen Kontexts zu verstehen?<br />

Das Handeln von Menschen ist in der Regel kontextbezogen.<br />

Es hat allerdings längere Zeit gedauert, bis<br />

die Sozialwissenschaften dies erkannt haben. Während<br />

Psychologen früher versucht haben, Kreativität<br />

zu erfassen, indem sie einzelne Personen getestet haben,<br />

ist es heute für die psychologische Kreativitätsforschung<br />

eine Selbstverständlichkeit, das Umfeld<br />

mit einzubeziehen beziehungsweise systemisch an<br />

diese Frage heranzugehen. Während früher auffällig<br />

gewordene Kinder in Einzelgesprächen vom Psychiater<br />

behandelt wurden, wird heute im Rahmen der<br />

systemischen Familientherapie die ganze Familie<br />

zum Gespräch eingeladen. Die Fragen, woraus ein<br />

solcher Kontext besteht, wie Kontexte in der zeitlichen<br />

Dimension entstanden oder auch wieder zerfallen<br />

sind, warum sie sich an bestimmten Orten gebildet<br />

haben <strong>und</strong> an anderen nicht, welche Anziehungskraft<br />

sie auf andere ausüben, welche Mobilität sie auslösen<br />

<strong>und</strong> welche Auswirkungen sie haben, stellen<br />

wichtige Themenbereiche der Sozialgeographie dar,<br />

sind allerdings erst selten behandelt worden.<br />

Der räumliche Kontext besteht nicht aus Dingen,<br />

Menschen <strong>und</strong> Ideen, die sich in einer räumlichen<br />

Einheit angesammelt haben, sondern er ist gleichsam<br />

die Arena oder das Feld, in der beziehungsweise dem<br />

verschiedenste (Infra-)Strukturen, Einflussfaktoren,<br />

Prozesse, Gewohnheiten, Tabus, Regeln <strong>und</strong> räumliche<br />

Beziehungen Zusammenwirken, sich in ihrer<br />

Wirkung verstärken oder zum Teil auch neutralisieren<br />

können. Was den räumlichen Kontext von anderen<br />

sozialen Makrophänomenen unterscheidet, ist<br />

vor allem die „Bindungsintensität“, die zwischen<br />

räumlich verorteten materiellen Objekten sowie Personen,<br />

Ideen <strong>und</strong> daraus resultierenden hybriden<br />

Formen besteht. Die Bindungen an einen Ort <strong>und</strong><br />

die Verb<strong>und</strong>enheit mit einem Ort können resultieren<br />

aus der Abhängigkeit der Akteure von Arbeitsplätzen,<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> Ressourcen, über die nur bestimmte<br />

Standorte verfügen, aus dem unverzichtbaren<br />

Kontaktpotenzial, das für Lern- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesse<br />

bestimmter Berufe erforderlich ist,<br />

aus der Abhängigkeit von K<strong>und</strong>en, die nur an bestimmten<br />

Standorten in ausreichender Zahl zu erwarten<br />

sind, aus der symbolischen Bedeutung <strong>und</strong> Reputation,<br />

über die nur bestimmte räumliche Einheiten<br />

oder Institutionen verfügen, <strong>und</strong> aus einer emotionalen<br />

Verb<strong>und</strong>enheit mit einem Ort, mit dem man bestimmte,<br />

positive Erfahrungen <strong>und</strong> Erwartungen verknüpft.


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 257<br />

Von einem Kontext oder einer Lokalität gehen in<br />

der Regel keine Ursache-Wirkung Beziehungen aus,<br />

sondern ein Kontext stellt ein Potenzial dar, welches<br />

bestimmte Handlungen ermöglicht <strong>und</strong> begünstigt<br />

beziehungsweise andere erschwert oder verhindert.<br />

Dieses Potenzial kann aufgr<strong>und</strong> seiner Attraktivität<br />

Menschen, Ressourcen <strong>und</strong> Ideen anziehen <strong>und</strong> dadurch<br />

lange andauernde Pfadabhängigkeiten in Gang<br />

setzen. Dieses lokale oder regionale Potenzial, an das<br />

bestimmte Erwartungen gestellt werden, beruht<br />

einerseits auf den Fähigkeiten, Qualifikationen, Erfahrungen,<br />

Normen <strong>und</strong> sozialen Strukturen der<br />

dort arbeitenden oder wohnenden Bevölkerung, andererseits<br />

auf den zur Verfügung stehenden Ressourcen<br />

<strong>und</strong> den unterschiedlichen räumlichen Verflechtungen<br />

<strong>und</strong> Interaktionen des betreffenden Standorts<br />

oder Areals. Verschiedene räumliche Kontexte bieten<br />

unterschiedliche Möglichkeiten der Informationsbeschaffung,<br />

des Nachahmens <strong>und</strong> Lernens an, sie sind<br />

einem unterschiedlichen Wettbewerb ausgesetzt, sind<br />

in unterschiedlichem Ausmaß international vernetzt,<br />

genießen unterschiedliche Freiheiten, sie offerieren<br />

aber auch unterschiedliche Chancen <strong>und</strong> Risiken.<br />

Die Bedeutung der materiellen Umwelt oder räumlicher<br />

Strukturen für das Handeln darf in den meisten<br />

Fällen nicht als ein direkter Einflussfaktor, ein Reiz<br />

oder eine Kraft aufgefasst werden, die in Richtung<br />

des Akteurs wirken <strong>und</strong> bei diesem absehbare Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> Handlungen auslösen. Die Beziehung<br />

zwischen der Umwelt <strong>und</strong> den Handlungen<br />

eines Akteurs ergeben sich in der Regel erst über<br />

den Schritt der Wahrnehmung <strong>und</strong> Bewertung der<br />

Umwelt durch den Akteur. Die mit kulturellen Bedeutungen<br />

versehene materielle Umwelt kann soziale<br />

Beziehungen <strong>und</strong> Tätigkeitsabläufe ordnen <strong>und</strong> somit<br />

eine Rückwirkung auf die soziale Praxis haben. Ob die<br />

Wahrnehmung der Umwelt bewusst oder unbewusst<br />

erfolgt, ist nebensächlich. Entscheidend ist die Erkenntnis,<br />

dass ein Potenzial oder Risiko immer nur<br />

von einem Teil der Menschen (rechtzeitig) erkannt<br />

wird <strong>und</strong> Chancen nur von einem Teil der Akteure<br />

zu ihrem eigenen Vorteil genutzt werden können.<br />

Manchmal gibt es auch nur gewisse Zeitfenster, in denen<br />

ein Potenzial in Anspruch genommen oder wirksam<br />

werden kann.<br />

Die Frage, welche Bedeutung oder Auswirkungen<br />

ein räumlicher Kontext für das Handeln der Akteure<br />

haben kann, hängt von mehreren Faktoren ab, nämlich<br />

dem Grad der Ungewissheit <strong>und</strong> der Intensität<br />

des Wettbewerbs, dem ein Akteur oder System ausgesetzt<br />

ist, der Verfügbarkeit über Ressourcen <strong>und</strong><br />

ganz entscheidend vom (Vor-)Wissen der Akteure.<br />

Dies bedeutet, dass die Bedeutung der materiellen<br />

Umwelt oder eines Kontexts für das Handeln nie<br />

bei allen Akteuren gleich <strong>und</strong> deshalb auch nie deterministisch<br />

sein kann. Deshalb ist auch die neoklassische<br />

Vorstellung des rational handelnden<br />

Akteurs, abgesehen von sehr einfachen Problemlösungen,<br />

in der Sozialgeographie unbrauchbar. Die<br />

Problematik des Begriffs Rationalität wurde schon<br />

Mitte der 1950er-Jahre von einzelnen Ökonomen<br />

(Simon 1956) thematisiert, sodass später von einer<br />

bo<strong>und</strong>ed rationality - einer eingeschränkten Rationalität<br />

- oder einer environmental rationality —einer auf<br />

die Umwelt bezogene Rationalität - gesprochen vnirde<br />

(Gigerenzer 2001).<br />

Wenn keine Wettbewerbssituation vorliegt <strong>und</strong><br />

genügend Ressourcen zur Verfügung stehen, hat<br />

der handelnde Akteur viele Freiheitsgrade, dann<br />

kann er sich auch viele Entscheidungen erlauben,<br />

die sich später als Fehler erweisen, <strong>und</strong> dann hat er<br />

auch eine große Wahlfreiheit. Bei ausreichenden Ressourcen<br />

kann man auch in der Arktis Bananen anbauen<br />

<strong>und</strong> in der Wüste künstliche Badeseen anlegen.<br />

Kein Akteur wird gezwungen, den effizientesten<br />

oder einen Ressourcen schonenden Weg zu beschreiten.<br />

Ein Akteur hat durchaus die Freiheit, wider besseres<br />

Wissen zu handeln (er weiß, dass Rauchen unges<strong>und</strong><br />

ist, hört aber dennoch nicht damit auf) oder<br />

die Ergebnisse der Lernprozesse vieler früherer Generationen,<br />

naturwissenschaftliche Erkenntnisse oder<br />

Katastrophenwarnungen nicht zur Kenntnis zu nehmen.<br />

Er kann trotz Lawinenwarnung an einem gefährdeten<br />

Hang Ski fahren, er kann in einem Überschwemmungsgebiet<br />

ein Haus bauen oder h<strong>und</strong>ertmal<br />

an falschen Orten nach Erdöl bohren. Da den<br />

meisten Akteuren jedoch nur beschränkte Ressourcen<br />

zur Verfügung stehen, können sie sich auf Dauer<br />

nicht zu viele Irrtümer <strong>und</strong> Fehlentscheidungen leisten.<br />

Deshalb wird es bei ihnen entweder zu Lernprozessen<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> des neuen Wissens zu Verhaltensänderungen<br />

kommen, oder die wiederholten<br />

Misserfolge werden dazu führen, dass sie ihre Ziele<br />

(zum Beispiel das wirtschaftliche Überleben) nicht<br />

erreichen können. Im Regelfall sind jedoch die Ressourcen<br />

der handelnden Akteure beschränkt, sodass<br />

sie gezwungen (angehalten) sind, die Chancen <strong>und</strong><br />

Risiken der Umwelt zu berücksichtigen.<br />

Eine zunehmende Zahl von Sozialgeographen hat<br />

sich vom neoklassischen Konzept des rational handelnden<br />

Akteurs abgewandt. An dessen Stelle treten<br />

Wissens- <strong>und</strong> Informationsunterschiede sowie die<br />

Lern- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse von Akteuren <strong>und</strong> sozialen<br />

Systemen. Ein erfahrener, gut ausgebildeter<br />

<strong>und</strong> intelligenter Akteur wird bei der Abwägung seiner<br />

Interessen, Ziele, Chancen, Risiken <strong>und</strong> Ressour-


258 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

I<br />

T<br />

i 1<br />

!t '■<br />

cen aus Tausenden Möglichkeiten, welche die physische<br />

Umwelt theoretisch bietet, immer nur einige wenige<br />

als günstig, optimal, effizient oder Ressourcen<br />

schonend ansehen, weil er eher in der Lage ist, die<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachteile von Alternativen abzuschätzen.<br />

Akteure mit einem hohen Niveau an Wissen <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

werden bei der Beurteilung der Chancen<br />

<strong>und</strong> Risiken der physischen Umwelt (zum Beispiel<br />

Hochwassergefahr, Gefährlichkeit einer Bergroute<br />

oder Eignung eines Standorts) mit großer Wahrscheinlichkeit<br />

zu ähnlichen Ergebnissen kommen.<br />

Weil sie absehbare Konsequenzen eher erkennen<br />

<strong>und</strong> ihre Ressourcen nicht vergeuden wollen, werden<br />

Akteure mit einem hohen Wissensniveau den physisch-materiellen<br />

Faktoren eine höhere Bedeutung<br />

zubilligen als Unerfahrene. Nur Unwissende <strong>und</strong><br />

schlecht Informierte, welche die Risiken <strong>und</strong> Chancen<br />

nicht abschätzen können, glauben, dass sie eine<br />

große Bandbreite von Alternativen haben <strong>und</strong> in ihren<br />

Entscheidungen frei sind.<br />

Diese Bewertungen der Umwelt können sich jedoch<br />

schlagartig ändern, wenn den Menschen neue<br />

Techniken oder neue Energieträger zur Verfügung<br />

stehen. So haben die Menschen in den Ostalpen<br />

bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert vielfach nicht die niedrigsten<br />

Pässe für den Verkehr nach Süden benutzt, sondern<br />

die kürzesten Wege. Solange man Tragtiere für den<br />

Transport von Gütern verwendete, ging die Steilheit<br />

des Wegs kaum in den Bewertungsprozess der Menschen<br />

ein, sehr wohl aber die Länge. Als dann in der<br />

zweiten Hälfte des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts Kunststraßen für<br />

schwere Fuhrwerke <strong>und</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Eisenbahntrassen<br />

gebaut wurden, stand aus technischen<br />

Gründen plötzlich das Gefälle des Verkehrswegs im<br />

Vordergr<strong>und</strong> der Bewertung, aber nicht mehr so<br />

sehr seine Länge. Deshalb werden von uns heute Teile<br />

der Alpen als verkehrsgeographische Barriere angesehen,<br />

die früher als verkehrsgeographische Gunsträume<br />

galten.<br />

Die Begriffe „räumlicher Kontext“, „Milieu“ oder<br />

ba haben zwar viele Gemeinsamkeiten mit dem Begriff<br />

action setting (Barker 1968, Weichhart 2007b),<br />

sie sind jedoch breiter angelegt. Ein Kontext ist weniger<br />

reglementiert, weniger regelgeleitet oder kontrolliert<br />

als ein action setting. Unter einem action setting<br />

wird in Anlehnung an Weichhart „ein hybrides<br />

Realitätskonzept verstanden, in dem Werte <strong>und</strong> soziale<br />

Symbolik, mentale Bewusstseinszustände <strong>und</strong><br />

physisch-matcricllc Körper <strong>und</strong> Dinge in einem systemaren<br />

Gr<strong>und</strong>modell zusammengefasst werden.<br />

Durch das Setting-Programm kommt es zu einer Koordination<br />

der Handlungsabläufe verschiedener Akteure“<br />

(Weichhart 2003a). Einer der Unterschiede<br />

zwischen Kontext <strong>und</strong> action setting besteht darin,<br />

dass Handlungsabläufe in einem setting durch sogenannte<br />

Programme gesteuert werden, welche die Regeln,<br />

Abläufe, Rollenverteilungen, Verantwortlichkeiten,<br />

Interaktionsmechanismen <strong>und</strong> Kontrollmechanismen<br />

beschreiben (Weichhart 2003a, 2007b). Ein<br />

action setting entsteht durch die spezifische Interaktion<br />

zwischen Akteuren, physisch-materiellen Strukturen<br />

<strong>und</strong> Programmen. Durch das Setting-Programm<br />

kommt es zu einer Koordination der Handlungsabläufe<br />

<strong>und</strong> zu einer Verknüpfung der Intentionalitäten<br />

von Einzelakteuren. Im Handeln bedienen sich die<br />

Akteure materieller Gegebenheiten, die als Werkzeuge<br />

<strong>und</strong> Bühne der Programmverwirklichung dienen.<br />

Die meisten Akteure haben im Rahmen ihrer Sozialisation<br />

die für einen bestimmten kulturellen Kontext<br />

wichtigen Regeln, Normen, Konventionen <strong>und</strong> Rollenbilder<br />

internalisiert beziehungsweise gelernt, welches<br />

Verhalten bei einem bestimmten action setting<br />

(Kirche, Diskothek, Autobahn) angemessen, erlaubt,<br />

toleriert, erwünscht oder verpönt ist. In der Diskothek<br />

wird im Allgemeinen kein Rosenkranz gebetet,<br />

auf der Autobahn keine Vorlesung gehalten <strong>und</strong> in<br />

der Kirche nicht Tischtennis gespielt.<br />

Solche action settings determinieren zwar nicht die<br />

Art des Handelns, aber sie veranlassen gut informierte,<br />

Anerkennung suchende oder eine bestimmte<br />

Absicht verfolgende Akteure, sich an bestimmten<br />

Schauplätzen in einer Weise zu verhalten, die der kulturellen<br />

Bedeutung <strong>und</strong> den Regeln des Ortes angemessen<br />

ist. Diese Beziehungen zwischen dem setting<br />

<strong>und</strong> dem Handeln sind nicht deterministisch, sondern<br />

werden vom kulturellen Zweck des settings in<br />

Standardsituationen abgeleitet. Die Akteure finden<br />

in den action settings genau jene physisch-materiellen<br />

Bedingungen <strong>und</strong> genau jene sozialen Interaktionspartner<br />

vor, die für den jeweils infrage kommenden<br />

Handlungsvollzug erforderlich sind, diesen unterstützen,<br />

erleichtern oder optimieren. Diese Kontextbedingungen<br />

wurden eigens zu dem Zweck geschaffen,<br />

eine solche Unterstützung oder Optimierung zu<br />

ermöglichen (Weichhart 2003a, 2007b).<br />

Schon eine kleine Veränderung des action settings<br />

(zum Beispiel eine Änderung der Tischordnung)<br />

kann das Verhalten von Individuen <strong>und</strong> die Gruppendynamik<br />

deutlich verändern. Ein Akteur, der<br />

die symbolische oder kulturelle Bedeutung eines action<br />

settings nicht kennt, wird sich möglicherweise<br />

nicht den Erwartungen entsprechend verhalten.<br />

Wenn er jedoch merkt, dass er durch sein Verhalten<br />

Anstoß erregt, sein Ziel nicht erreicht. Normen verletzt<br />

oder gar mit Sanktionen zu rechnen hat, wird er<br />

Konsequenzen ziehen <strong>und</strong> entweder den Ort in Zu-


Raum <strong>und</strong> Gesellschaft - eine schwierige Forschungsfrage 259<br />

kunft meiden oder sein Verhalten den Erwartungen<br />

anpassen.<br />

Die Gestaltung der materiellen Umwelt (räumliche<br />

Anordnung von Altar <strong>und</strong> Kirchenbänken, von Tätigkeiten<br />

am Fließband, von K<strong>und</strong>enwegen in Kaufhäusern<br />

oder der Sitzordnung bei einer feierlichen,<br />

offiziellen Veranstaltung) wird dazu benutzt, um soziale<br />

Beziehungen <strong>und</strong> Tätigkeitsabläufe zu ordnen<br />

sowie unterschiedliche Rollen, Funktionen oder<br />

Statusunterschiede aufzuzeigen. Es gibt zahlreiche<br />

Beispiele dafür, dass bei bestimmten Institutionen<br />

oder Ereignissen die Gliederung des Raums durch<br />

Stufen, Schranken, Teppiche oder die Sitzordnung<br />

die Differenzierung nach Funktionen, feinen Abstufungen<br />

der sozialen Rangordnungen oder nach<br />

Geschlecht <strong>und</strong> so weiter wieder gibt. In diesem<br />

Sinne funktioniert der Raum auch als ein Medium<br />

der Wahrnehmung <strong>und</strong> der sozialen Kommunikation,<br />

als Signal für die Vermittlung von Macht<strong>und</strong><br />

Statusunterschieden. Besonders deutlich werden<br />

diese Funktionen des Raums im Hofzeremoniell von<br />

Fürsten <strong>und</strong> Königen, bei der Liturgie von Religionen<br />

oder bei Zeremonien im Vatikan (Abbildung<br />

5.5).<br />

L<br />

Gibt es Sozialräume <strong>und</strong> Kulturräume?<br />

über die Fragen, ob es Sozialräume <strong>und</strong> Kulturräume<br />

gibt, wird intensiv diskutiert. Es besteht zwar weitgehend<br />

Konsens darüber, dass eine Kultur keine regional<br />

begrenzte Lebensweise ist. Kultur kann nicht über<br />

einen längeren Zeitraum räumlich fixiert oder abgegrenzt<br />

werden. Eine Kultur ist auch nichts Stabiles,<br />

sondern sie ist ständig im Fluss, sie nimmt immer<br />

wieder neue Elemente auf, während ältere Traditionen<br />

in Vergessenheit geraten. Kultur wird von Migranten<br />

mitgenommen <strong>und</strong> aus der Vermischung<br />

5.5 Sixtinische Kapelle. In der Liturgie<br />

spielen die räumliche Positionierung von<br />

Personen <strong>und</strong> die Choreographie des Raums<br />

eine besondere Rolle. Sie signalisieren die<br />

Funktion <strong>und</strong> Bedeutung von Personen <strong>und</strong><br />

Praktiken, weisen Status zu <strong>und</strong> ordnen den<br />

Ablauf von Zeremonien. Man beachte, dass<br />

ein Teil der Personen durch Barrieren ausgegrenzt<br />

wird. (Quelle: Étienne Dupérac<br />

(1578) The Exact Depiction of the Papal<br />

Majesty During the Celebration of the Divine<br />

Mass in the Sistine Chapel. Bibliotheca<br />

Apostólica Vaticana)


260 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

;<br />

■<br />

Ä<br />

verschiedener Kulturen ergeben sich immer wieder<br />

neue, hybride Formen. Viele kulturellen Artefakte<br />

oder Praktiken, die für einen bestimmten Ort als typisch<br />

angesehen werden, zum Beispiel das Kaffeehaus<br />

in Wien oder das Teetrinken in England, weisen an<br />

dem betreffenden Ort eine relativ kurze Geschichte<br />

auf. Eine Kultur besteht nicht nur aus Sprache, Literatur,<br />

Religion, Normen, Wertvorstellungen, kollektiver<br />

Erinnerung <strong>und</strong> Mythen, sondern sie äußert sich<br />

auch in sichtbaren Phänomenen, Praktiken, Artefakten<br />

<strong>und</strong> Symbolen. Ein Teil dieser kulturellen Elemente<br />

ist zumindest für gewisse Zeiträume lokalisierbar,<br />

sodass deren räumliche Verbreitungsmuster,<br />

Mobilität <strong>und</strong> Beziehungen erfasst <strong>und</strong> visualisiert<br />

werden können. Bei der Frage, was als typisch für<br />

eine bestimmte Kultur angesehen werden kann, werden<br />

die Selbstbeschreibung (Autostereotype) <strong>und</strong> die<br />

Fremdbeschreibung (Fleterostereotype) meistens<br />

auseinanderklaffen. Die Frage, anhand welcher Elemente<br />

verschiedene Kulturen definiert werden sollen,<br />

ist also nicht trivial. Eine zusätzliche Schwierigkeit ergibt<br />

sich daraus, dass es besonders bei ethnischen Minoritäten<br />

nicht einfach ist, schichtspezifische von kulturellen<br />

Einflüssen zu trennen. Anhand welcher Kriterien<br />

kann man entscheiden, ob die Marginalität<br />

einer ethnischen Gruppe (zum Beispiel Roma oder<br />

Native Americans) auf ihr kulturelles Wertsystem,<br />

auf ihren Unterschichtstatus oder auf eine Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

lange Diskriminierung durch die Mehrheit zurückzuführen<br />

ist?<br />

Begriffe wie Traditionen, Brauchtum oder kulturelle<br />

Praktiken klingen recht harmlos <strong>und</strong> machtfern.<br />

In Wirklichkeit ist Kultur ein zentraler Bestandteil der<br />

Machtausübung. Traditionen hatten auch in der vormodernen<br />

Zeit einen konkreten Zweck <strong>und</strong> dienten<br />

unter anderem dem Zusammenhalt <strong>und</strong> der Identität<br />

von sozialen Systemen, der Schaffung, Einübung <strong>und</strong><br />

Verfestigung von kollektiven kulturellen Gedächtnissen,<br />

der Visualisierung von Herrschaftsansprüchen<br />

sowie der Abgrenzung <strong>und</strong> Ausschließung von anderen.<br />

Auch Subkulturen <strong>und</strong> Populärkulturen, die sich<br />

bewusst als Gegensatz zur Elite- oder Hochkultur verstehen,<br />

haben diese Funktion. Kollektive Gedächtnisse,<br />

kulturelle Identität, nationale Mythen <strong>und</strong> andere<br />

Formen des Orientierungswissens können bei<br />

der Austragung von sozialen <strong>und</strong> politischen Konflikten<br />

ein wichtiges Identifikationsmerkmal darstellen.<br />

Um wirksam zu sein, müssen sie jedoch immer wieder<br />

durch Rituale, Choreographien, Kunst, Architektur<br />

<strong>und</strong> kulturelle Praktiken, wie Folklore, Musik,<br />

Umzüge oder Gedenkfeiern, eingeübt <strong>und</strong> durch materielle<br />

Artefakte, zum Beispiel Denkmäler oder Graffiti,<br />

in Erinnerung gerufen werden.<br />

Sobald man bei der Kultur die Zusammenhänge<br />

zwischen Wissen <strong>und</strong> Macht entsprechend berücksichtigt,<br />

wird klar, dass Kultur auch in der Spätmoderne<br />

einen starken räumlichen Bezug haben kann.<br />

Bei sozialen oder politischen Konflikten werden Elemente<br />

der Kultur (Sprache, Religion, ethnische Zugehörigkeit)<br />

als Mittel zur Identifikation <strong>und</strong> Abgrenzung<br />

sowie zur Stärkung des Zusammenhalts verwendet<br />

<strong>und</strong> als Argument für die Durchsetzung von Gebietsansprüchen<br />

herangezogen. Es ist kein Zufall, dass<br />

Sprach- <strong>und</strong> Religionsgrenzen im Laufe der Geschichte<br />

immer wieder ein besonderes Konfliktpotenzial<br />

dargestellt haben. Wer der Ansicht ist, dass<br />

kulturelle Grenzen ihre Orientierungsfunktion in<br />

der globalisierten Welt verloren haben, wird in Belfast,<br />

Bagdad, Palästina oder in der Bronx sehr bald<br />

eines Besseren belehrt. Er oder sie braucht sich nur<br />

mit einem sichtbaren Zeichen seiner Zugehörigkeit<br />

oder Einstellung im Gebiet der „Anderen“ zu zeigen,<br />

dann wird er oder sie bald merken, dass vor allem in<br />

Konfliktgebieten bestimmte ethnische, religiöse oder<br />

politische Gruppen ihre Territorien kontrollieren,<br />

dass die „Anderen“ nicht willkommen sind <strong>und</strong><br />

dass die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen<br />

Kategorie in bestimmten Gebieten positive <strong>und</strong> in anderen<br />

negative Auswirkungen haben kann. Man muss<br />

dabei nicht gleich an die Extremformen der Apartheid<br />

oder an Kämpfe zwischen verfeindeten Jugendbanden<br />

denken, es gibt auch subtilere Formen der<br />

Ablehnung <strong>und</strong> Diskriminierung. Wenn die Räumlichkeit<br />

des Kulturellen in der globalisierten Welt belanglos<br />

geworden wäre, fragt man sich, warum es<br />

selbst in friedfertigen Demokratien um die Verortung<br />

von kulturellen Artefakten (Denkmäler, Straßennahmen,<br />

Erinnerungstafeln, Gedenkstätten, den Bau von<br />

Moscheen) so harte Auseinandersetzungen gibt, warum<br />

in bestimmten Gebieten zweisprachige Ortstafeln<br />

ausgerissen oder zweisprachige Schulen verhindert<br />

werden.<br />

Bei der Beschäftigung mit Kultur sollte man allerdings<br />

eine Verdinglichung von Kultur <strong>und</strong> die territoriale<br />

Falle vermeiden. In die territoriale Falle tritt<br />

man dann, wenn man davon ausgeht, dass ein kulturell<br />

definierter Raum in sich homogen ist beziehungsweise<br />

dass sich Akteure innerhalb dieses Raums ähnlich<br />

verhalten oder ähnliche Ziele verfolgen. Die früheren<br />

Konzepte von Kulturerdteilen <strong>und</strong> Kulturräumen<br />

werden heute zu Recht kritisiert. Es gibt keine in<br />

sich homogenen Kulturräume. Jede ethnische Gruppe<br />

<strong>und</strong> jeder Raum, der nach kulturellen Merkmalen<br />

abgegrenzt wird, ist mit internen Konflikten belastet,<br />

ist in sich sozial differenziert, verzeichnet soziale Ungleichheit<br />

<strong>und</strong> abweichendes Verhalten <strong>und</strong> muss<br />

f :


Ursachen <strong>und</strong> Formen der sozialen Ungleichheit 261<br />

sich mit Subkulturen <strong>und</strong> Oppositionen auseinandersetzen,<br />

die andere Interessen verfolgen als die dominierende<br />

Machtelite. Nur die Dominanz oder Hegemonie<br />

von kulturellen Leitbildern, Normen, Phänomenen<br />

<strong>und</strong> öffentlichen Diskursen kann räumlich lokalisiert<br />

werden. Ob diese Normen befolgt werden,<br />

wie viele Menschen sich in ihrem Handeln danach<br />

richten oder wie viele Personen bei Meinungsumfragen<br />

ihre tatsächliche Einstellung preis geben, ist eine<br />

völlig andere Frage.<br />

Die Fragen, welche Weltbilder, Ideologien, Diskurse,<br />

kulturellen Artefakte <strong>und</strong> Praktiken in einem<br />

Areal von Eliten, den Medien oder durch das Schulsystem<br />

gefördert oder unterdrückt werden, wer den<br />

Zugang zu Plattformen der Aufmerksamkeit kontrolliert,<br />

wer bestimmt, welche Musik wie häufig in welchem<br />

Radiosender gespielt wird, welche Kulturschaffenden<br />

in welchem Fernsehprogramm auftreten oder<br />

an wen kulturelle Auszeichnungen verliehen werden,<br />

sind für die Sozial- <strong>und</strong> Kulturgeographie von größtem<br />

Interesse. Deutlich sichtbar wird die Räumlichkeit<br />

der Informationsauswahl <strong>und</strong> damit auch der<br />

Wissensmanipulation in den benachbarten Grenzgebieten<br />

von Staaten. Zwischen Norwegen <strong>und</strong> Schweden<br />

oder zwischen der Schweiz <strong>und</strong> Österreich gibt es<br />

seit langem keine politischen Konflikte mehr. Trotzdem<br />

kann die Berichterstattung über bestimmte Ereignisse<br />

in den regionalen Zeitungen der betreffenden<br />

Grenzgebiete völlig unterschiedlich sein.<br />

Ein weiterer Bezug zur Räumlichkeit von Kultur ist<br />

dadurch gegeben, dass auch jene, die möglicherweise<br />

für ein bestimmtes Orientierungswissen oder bestimmte<br />

Weltanschauungen empfänglich sind, nicht<br />

ubiquitär verteilt sind. Oft wird argumentiert, dass<br />

das Internet die Informationsmonopole oder -oligopole<br />

der Mächtigen untergraben hätte. Eine solche<br />

Ansicht spiegelt jedoch ein naives Kommunikationsmodell<br />

der Wissensübertragung wider. Die räumliche<br />

Diffusion von Orientierungswissen hängt weniger<br />

vom Sender einer Information ab, sondern vor allem<br />

von der kulturellen Identität, den mentalen Strukturen<br />

<strong>und</strong> Interpretationsschemata der Empfänger oder<br />

Leser einer Information (Meusburger 2007). Die Sendungen<br />

von CNN sind im Irak überall zu empfangen,<br />

trotzdem werden die von CNN verbreiteten Ideologien<br />

<strong>und</strong> Interpretationen vom größten Teil der irakischen<br />

Bevölkerung nicht angenommen. In den USA<br />

hat fast jeder Haushalt Zugang zum Internet. Trotzdem<br />

hat die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung<br />

(darunter hoch qualifizierte akademische Eliten) die<br />

im Internet verfügbaren Informationen über die Hintergründe<br />

des Irakkriegs mehrere fahre lang nicht zur<br />

Kenntnis genommen. Noch vier fahre nach Beginn<br />

des Irakkriegs glaubte die Mehrheit der US-amerikanischen<br />

Bevölkerung, dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen<br />

hatte <strong>und</strong> in Verbindung mit der<br />

Al-Quaida stand, obwohl diese Annahmen fahre zuvor<br />

eindeutig widerlegt worden waren. Durch Meinungsumfragen<br />

<strong>und</strong> Medienanalysen können solche<br />

regionalen Unterschiede des Orientierungswissens -<br />

auch Gebiete mit überdurchschnittlicher Ignoranz<br />

oder bestimmten Vorurteilen - relativ einfach erfasst<br />

werden.<br />

Ursachen <strong>und</strong> Formen der<br />

sozialen Ungleichheit<br />

Soziale Ungleichheit, sozialer Wandel, soziale Diskriminierung<br />

<strong>und</strong> Privilegierung sowie gesellschaftliche<br />

Konflikte gehören zu den zentralen Themen der Sozialgeographie.<br />

Gelegentlich kann man in der sozialwissenschaftlichen<br />

Literatur noch die Aussage finden,<br />

dass soziale Ungleichheit auf den Kapitalismus zurückzuführen<br />

sei. Dies ist natürlich eine geschichtsblinde<br />

<strong>und</strong> naive Sichtweise. In Wirklichkeit kann<br />

man soziale Ungleichheiten im Sinne einer sozialen<br />

Differenzierung seit mehreren Tausend fahren, nämlich<br />

spätestens seit dem Beginn der funktionalen Ausdifferenzierung<br />

der Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, der<br />

Entstehung von Religionen, Herrschaftssystemen<br />

<strong>und</strong> Städten nachweisen. Soziale Ungleichheit war<br />

schon ein Thema der assyrischen Keilschriften. Sobald<br />

eine Gesellschaft arbeitsteilig <strong>und</strong> hierarchisch<br />

organisiert ist, wird sie durch soziale <strong>und</strong> räumliche<br />

Ungleichheit geprägt sein. Diese Art von Ungleichheit<br />

ist jedoch von jenen nicht gemeint, welche die Ursache<br />

der sozialen Ungleichheit im Kapitalismus sehen.<br />

Dies belegt, dass der Begriff der sozialen Ungleichheit<br />

verschiedene, zum Teil widersprüchliche Inhalte hat<br />

(Oppenheim 1968) <strong>und</strong> auch unterschiedlich definiert<br />

wird.<br />

Im Englischen wird zwischen inequality <strong>und</strong> inequity<br />

unterschieden, was differenziertere Aussagen<br />

ermöglicht als der deutsche Begriff der Ungleichheit.<br />

Sehr allgemein formuliert kann Ungleichheit im Sinne<br />

von inequality als ungleicher Zugang zu sozialen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Ressourcen definiert werden.<br />

Ungleichheit im Sinne von inequity bezieht sich<br />

auf moralisch oder ethisch nicht zu rechtfertigende<br />

Unterschiede im Zugang zu sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Ressourcen, also zum Beispiel auf eine Ungleichbehandlung,<br />

Benachteiligung oder Diskrimi­


262 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

nierung, die auf einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten<br />

Ethnie, Rasse, Kaste, Religion oder zu einer<br />

anderen sozialen Kategorie (zum Beispiel Geschlecht,<br />

Nationalität oder Partei) beruht. Wenn man von sozialer<br />

Ungleichheit spricht, sollte also verdeutlicht<br />

werden, welche Art von Ungleichheit gemeint ist.<br />

Spricht man von einer Gleichheit hinsichtlich bestimmter<br />

Merkmale (zum Beispiel Ausbildungsniveau),<br />

meint man die Forderung, dass allen Menschen<br />

der gleiche Respekt entgegen gebracht werden<br />

soll? Meint man die Gleichheit der Startchancen oder<br />

die Gleichheit der Ergebnisse? Meint man die Gleichheit<br />

aller Menschen vor dem Gesetz oder eine Gleichheit<br />

der ökonomischen Lebensbedingungen? Ist<br />

Gleichheit verwirklicht, wenn Besitz <strong>und</strong> Produktionsmittel<br />

verstaatlicht sind? Gehört es zur Gleichheit<br />

der Lebensbedingungen, dass alle den gleichen Zugang<br />

zu seltenen Infrastruktureinrichtungen (zum<br />

Beispiel Opernhäusern) haben oder bezieht sich die<br />

Forderung nach Gleichheit nur auf die flächendeckende<br />

Versorgung der Bevölkerung mit der lebensnotwendigen<br />

Infrastruktur?<br />

Gelegentlich möchten Sozialgeographen auch wissen,<br />

in welchen Regionen oder Ländern das Ausmaß<br />

der sozialen Ungleichheit (zum Beispiel hinsichtlich<br />

des Einkommens oder Vermögens) besonders groß<br />

oder gering ist oder ob sich die Spannweite der Ungleichheit<br />

in einem bestimmten Zeitraum verändert<br />

hat. Um diese Fragen zu beantworten, werden häufig<br />

statistische Maßzahlen oder Graphiken (Lorenzkurven)<br />

verwendet, welche den Grad der Konzentration<br />

angeben. Die methodischen Probleme, welche dabei<br />

auftreten können, werden unter anderem von Osberg<br />

(2001) diskutiert. Die Ergebnisse solcher quantitativer<br />

Messungen der Ungleichheit (zum Beispiel Konzentrationsmaße,<br />

Segregations- oder Dissimilaritätsindex)<br />

variieren mit der Zahl der untersuchten Kategorien<br />

(räumlichen Bezugseinheiten). Wer also kleine<br />

räumliche Einheiten (Zählbezirke oder Gemeinden)<br />

verwendet, erhält ein größeres Maß an Ungleichheit,<br />

als wenn er dieselben Daten auf wenige, große Einheiten<br />

(Kreise, B<strong>und</strong>esländer) aggregiert. Die Aggregierung<br />

von Daten auf größere Einheiten war eine<br />

beliebte Methode der kommunistischen Systeme,<br />

soziale Ungleichheiten zu verschleiern. Auch die<br />

Nichterfassung von Daten durch die amtliche Statistik<br />

ist eine beliebte Methode, Ungleichheiten zu<br />

ignorieren.<br />

Die Frage der Gleichheit ist nicht nur eine Frage<br />

der Politik, sondern stellt auch ein philosophisches,<br />

organisationstheoretisches <strong>und</strong> juristisches Problem<br />

dar. Wichtiger als die Utopie der Gleichheit scheint<br />

die Frage zu sein, wann <strong>und</strong> bis zu welchem Ausmaß<br />

soziale <strong>und</strong> wirtschaftliche Ungleichheit von der Bevölkerung<br />

als legitim erachtet wird. In vielen traditionellen<br />

Gesellschaften wurde die soziale Ungleichheit<br />

in Form von Kasten oder Ständen (Feudalgesellschaft)<br />

als „natürlich“ oder „von Gott gewollt“ hingestellt,<br />

sodass es nur eine äußerst geringe Mobilität<br />

zwischen den Ständen gab. Moderne Gesellschaften<br />

streben ein möglichst hohes Ausmaß an vertikaler sozialer<br />

„Inter-Generationen-Mobilität“ an.<br />

Weisskopf (1975) hat daraufhingewiesen, dass politische<br />

Strömungen, die für größere Gleichheit eintreten,<br />

immer nur unter bestimmten historischen<br />

Voraussetzungen entstanden sind. Soziale Ungleichheiten<br />

werden nach Weisskopf in der Regel nur dann<br />

akzeptiert, wenn sie legitim erscheinen <strong>und</strong> nach dem<br />

vorherrschenden Wertesystem zu rechtfertigen sind.<br />

Bewegungen für mehr Gleichheit entstanden meist<br />

dann, wenn Zweifel über die Legitimität der bestehenden<br />

Ungleichheiten <strong>und</strong> Machtstrukturen auftauchten.<br />

Die zentrale Frage ist heute weniger die<br />

Existenz von Ungleichheiten, sondern das Ausmaß<br />

<strong>und</strong> die Legitimität von Ungleichheiten sowie die Frage<br />

der vertikalen sozialen Inter-Generationen-Mobilität.<br />

Rawls (1971) <strong>und</strong> Runciman (1966) halten die<br />

Existenz von Ungleichheiten dann für legitim <strong>und</strong> gerechtfertigt,<br />

wenn diese Ungleichheiten zu jedermanns<br />

Vorteil sind, <strong>und</strong> die unterschiedlichen Positionen<br />

in der Autoritäts- <strong>und</strong> Machthierarchie prinzipiell<br />

für jedermann zugänglich sind, der dieselbe<br />

Begabung <strong>und</strong> die benötigten Fähigkeiten aufweist.<br />

Die höheren Entlohnungen der Inhaber von oberen<br />

Statuspositionen einer Organisation sind nach Rawls<br />

nur dann gerechtfertigt, wenn diese durch ihre Funktion<br />

<strong>und</strong> Leistungen auch den unteren Positionen beziehungsweise<br />

der Basis der Hierarchie Vorteile bringen<br />

beziehungsweise es diesen unteren Schichten<br />

noch schlechter gehen würde, wenn die unterschiedliche<br />

Belohnung der verschiedenen Hierarchieebenen<br />

nicht bestehen würde. Dies ist sicherlich auch ein<br />

Gr<strong>und</strong> dafür, warum Ungleichheiten, die auf dem<br />

meritokratischen Prinzip beruhen, als gerechter angesehen<br />

werden als Ungleichheiten, die im askriptiven<br />

Prinzip wurzeln.<br />

Innerhalb der Geographie wurde eine intensive<br />

Debatte über soziale Ungleichheiten erstmals im<br />

Rahmen der Welfare Geography <strong>und</strong> der Radical Geography<br />

in den 1960er- <strong>und</strong> 1970er-Jahre geführt. Sie<br />

erreichte in D. Harvey’s Publikationen Social Justicc<br />

and the City (1972) <strong>und</strong> Limits to Capital (1982)<br />

einen ihrer Höhepunkte. Die Welfare Geography<br />

hat zwar die richtigen Fragen gestellt, nämlich<br />

„Wer hat wo Zugang zu welchen Ressourcen?“, jedoch<br />

den Fehler gemacht, den Begriff well-heing


Ursachen <strong>und</strong> Formen der sozialen Ungleichheit 263<br />

oder welfare zu generell zu fassen <strong>und</strong> nach einem<br />

allumfassenden Messwert zu suchen, der mithilfe<br />

von multivariaten Verfahren aus zahlreichen Indikatoren<br />

zu Sicherheit, Ges<strong>und</strong>heit, Einkommen, Freizeit,<br />

sozialer Integration, Umweltverschmutzung,<br />

Wohnqualität <strong>und</strong> Bildung konstruiert wurde. Es<br />

hat sich gezeigt, dass es sowohl für die sozialgeographische<br />

Theoriebildung als auch für die praktische<br />

Lösung sozialer Probleme fruchtbarer ist, die einzelnen<br />

Bereiche (zum Beispiel Ges<strong>und</strong>heit, Ausbildung,<br />

Armut, Kriminalität oder ethnische Diskriminierung)<br />

getrennt zu untersuchen, was nicht heißen<br />

soll, die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge<br />

zu vernachlässigen.<br />

Das Ideal der Gleichheit wird von vielen Sozialutopien<br />

immer noch aufrecht erhalten. Die meisten dieser<br />

Bewegungen haben allerdings erkannt, dass ihr<br />

Ideal nur unter bestimmten Bedingungen zu verwirklichen<br />

ist;<br />

• Man darf keine oder nur ein Minimum an Arbeitsteilung<br />

zulassen. Diese Zusammenhänge zwischen<br />

Arbeitsteilung, Differenzierung der Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> sozialer Ungleichheit wurden von chinesischen<br />

Philosophen schon vor mehr als 2000 Jahren<br />

diskutiert. Meng Zi (372 bis 289 v. Chr.) befürwortete<br />

die Arbeitsteilung <strong>und</strong> rechtfertigte mit ihr<br />

auch die Existenz einer herrschenden Klasse,<br />

sein Gegenspieler Xu Xing war gegen die Arbeitsteilung.<br />

• Die Gruppe darf nur so groß sein, dass jedes Mitglied<br />

mit jedem anderen noch Face-to-face-Kontakte<br />

aufrechterhalten kann, sodass man Hierarchien<br />

<strong>und</strong> bürokratische Strukturen vermeiden,<br />

<strong>und</strong> die Kommunikation nach außen nach Möglichkeit<br />

unterbinden oder streng kontrollieren<br />

kann.<br />

Wo keine intensive Arbeitsteilung zugelassen ist, können<br />

sich aber auch keine Industrie <strong>und</strong> kein Städtewesen<br />

entwickeln <strong>und</strong> sogar der Mechanisierung der<br />

Landwirtschaft sind Grenzen gesetzt. Die Old Order<br />

Amish in Pennsylvania <strong>und</strong> einige traditionelle Strömungen<br />

der Hutterer in Kanada haben vermutlich<br />

das höchste Maß an sozialer Gleichheit bewahrt (Abbildung<br />

5.6). Einige ihrer Gemeinden erlauben zwar<br />

den Einsatz von Maschinen, Traktoren <strong>und</strong> Autos<br />

(bei anderen sind nur Pferde erlaubt), die anderen<br />

Voraussetzungen werden aber weitgehend erfüllt.<br />

Die Kommunikation nach außen wird so weit als<br />

möglich unterb<strong>und</strong>en, bei einigen Gruppen sind<br />

also keine Zeitungen, Radio- <strong>und</strong> Fernsehapparate erlaubt,<br />

den Kindern wird nicht erlaubt, das öffentliche<br />

Schulwesen zu besuchen, sondern diese werden in<br />

5.6 Old O rder Am ish Die Old Order Amish in Pennsylvania<br />

sind ein Beispiel einer Gesellschaft, in welcher soziale Gleichheit<br />

in hohem Maße verwirklicht ist. Um die Ungleichheit gering zu<br />

halten, verzichten einige traditionelle Gruppen auf Maschinen,<br />

Traktoren, Autos <strong>und</strong> so weiter. (Quelle: picture-alliance, Foto<br />

M. Cavanaugh <strong>und</strong> P. Deloche)


264 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

1. 1<br />

N J<br />

eigenen Schulen unterrichtet, <strong>und</strong> viele Gemeinschaften<br />

spalten sich auf, wenn sie die Gruppengröße von<br />

300 bis 400 Personen überschreiten.<br />

Soziale Schichten <strong>und</strong> soziale Klassen<br />

Während im Deutschen zwischen sozialer Schicht,<br />

sozialer Klasse (im marxistischen Sinne) <strong>und</strong> Lebensstil<br />

differenziert wird, kann der englische Begriff der<br />

social dass gleich drei Bedeutungen haben: erstens<br />

wird er für Prestige, Status, Kultur oder „lifestyle“ benutzt;<br />

zweitens für strukturierte Ungleichheit hinsichtlich<br />

der Verfügbarkeit von ökonomischen Ressourcen<br />

oder Machtressourcen; drittens kann Klasse<br />

im marxistischen Sinne als soziale Kraft verstanden<br />

werden, welche die Fähigkeit hat, die Gesellschaft<br />

zu verändern. Diese Mehrdeutigkeit führt immer wieder<br />

zu Missverständnissen. Der Begriff der Klasse geht<br />

auf Karl Marx zurück. Bei Marx ist der Klassenkampf<br />

die zentrale Quelle der sozialen Dynamik <strong>und</strong> das<br />

Hauptprinzip seiner Gesellschaftsinterpretation. Die<br />

bisherige Geschichte der Gesellschaft wurde von<br />

Marx als Abfolge von Klassenkämpfen verstanden,<br />

wobei die Klasse der Unterdrücker die Aufrechterhaltung<br />

der jeweils bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

anstrebt <strong>und</strong> die der Unterdrückten die Veränderung<br />

dieser Verhältnisse will. Um die eigenen Interessen<br />

gegenüber den Ausbeutern verfolgen zu können,<br />

müssen die Arbeiter ein eigenes Klassenbewusstsein<br />

entwickeln. Es wurde bald klar, dass die Einteilung<br />

von Berufen in Klassen <strong>und</strong> das geforderte Klassenbewusstsein<br />

der w<strong>und</strong>e Punkt von marxistischen<br />

Sozialwissenschaften ist, sobald sie das Konzept der<br />

Klassengesellschaft empirisch umsetzen wollen.<br />

In der modernen marxistischen Geographie wird<br />

das Klassenbewusstsein weniger thematisiert <strong>und</strong> die<br />

Klasseneinteilung wird in erster Linie nach dem Zugang<br />

zu den Produktionsmitteln <strong>und</strong> den daraus resultierenden<br />

Machtverhältnissen vorgenommen. Dabei<br />

spielen Begriffe wie Verfügbarkeit von Macht,<br />

Ausbeutung, Entfremdung, Akkumulation von Kapital,<br />

Kontrolle über Produktionsmittel <strong>und</strong> Arbeitsprozesse<br />

sowie Hegemonie (im Sinne von Gramsci)<br />

eine Rolle. Ein Hauptkritikpunkt an der marxistischen<br />

Geographie lautet, dass ihr stringenter Strukturalismus<br />

keinen Raum lässt für den Menschen als<br />

handelnden Akteur beziehungsweise dass der Akteur<br />

aus der Theorie ausgcblendet wird. Kritisiert wird<br />

auch, dass in der marxistischen Geographie abstrakten<br />

mentalen Konstruktionen wie Klasse oder Kapital<br />

kausale Kräfte zugeschrieben werden <strong>und</strong> die Theorieansätze<br />

nur wenig konkreten Bezug zu den empirisch<br />

wahrnehmbaren Sachverhalten hätten. Ein weiterer<br />

Schwachpunkt ist die Fehleinschätzung über die<br />

Rolle des Wissens <strong>und</strong> die Annahme, dass die Arbeitsteilung<br />

in einer kommunistischen Gesellschaft abnehmen<br />

werde (Dequalifizierungsthese).<br />

Der Begriff soziale Schicht geht auf den Soziologen<br />

Max Weber (1922) zurück. Unter sozialer Schichtung<br />

versteht man eine strukturelle Ungleichheit zwischen<br />

sozialen Positionen. Eine soziale Schicht besteht also<br />

aus Individuen, die bestimmte statusrelevante soziale<br />

Merkmale gemeinsam haben. Statusveränderungen<br />

werden als soziale Mobilität bezeichnet. Die Abgrenzung<br />

<strong>und</strong> Definition von sozialen Schichten erfolgt<br />

immer normativ <strong>und</strong> kann je nach Ziel <strong>und</strong> Fragestellung<br />

einer Untersuchung, je nach Gesellschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> je nach Datensituation variieren. Normalerweise<br />

werden Unter-, Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht<br />

unterschieden, die in sich nochmals unterteilt werden<br />

können. Für die Festlegung der sozialen Schichtzugehörigkeit<br />

werden „objektive“ <strong>und</strong> „subjektive“<br />

Merkmale verwendet. Die „objektiven“ Merkmale<br />

bestehen meistens aus einer Kombination von Ausbildungsniveau,<br />

Beruf <strong>und</strong> Einkommen. Bei der<br />

Definition der Oberschichten werden diese drei<br />

Merkmale gelegentlich noch durch Variablen über<br />

den Besitz von Immobilien, Vermögen oder diversen<br />

Luxusgütern ergänzt. Die Vorteile der objektiven<br />

Schichtungskriterien liegen darin, dass sie auf allen<br />

Maßstabsebenen einsetzbar sind, dass die benötigten<br />

Daten (zumindest Beruf <strong>und</strong> Ausbildungsniveau) in<br />

den meisten Ländern von der amtlichen Statistik<br />

(Volkszählungen) zur Verfügung gestellt werden,<br />

<strong>und</strong> dass in der Regel ein zeitlicher <strong>und</strong> mit Einschränkungen<br />

auch ein internationaler Vergleich<br />

möglich ist. Als Nachteile sind die Subjektivität der<br />

Kategorisierung <strong>und</strong> das Problem der Statusinkonsistenzen<br />

anzuführen, jemand mit einem hohen Ausbildungsniveau<br />

kann ein niedriges Einkommen haben<br />

<strong>und</strong> umgekehrt. Allerdings kann das Ausmaß<br />

der Statusinkonsistenzen selbst ein wichtiges Kriterium<br />

sein, mit dem gesellschaftliche Zustände beschrieben<br />

werden können.<br />

Als „subjektive“ Merkmale der sozialen Schichtung<br />

gelten Status, Prestige, Selbsteinschätzung <strong>und</strong><br />

Fremdeinschätzung. Subjektive Indikatoren der sozialen<br />

Schichtung stellen eine wichtige Ergänzung<br />

dar, sind aber aus Zeit- <strong>und</strong> Kostengründen meistens<br />

nur für kleine Stichproben anwendbar, es sei denn,<br />

man verwendet das unterschiedliche Ansehen von<br />

Berufen, das gelegentlich in Meinungsumfragen erfasst<br />

wird, als überall gültiges Statusmerkmal. Das<br />

Prestige vieler Berufe variiert jedoch in der räumlichen<br />

Dimension. Ein Gr<strong>und</strong>schullehrer hat in der


Ursachen <strong>und</strong> Formen der sozialen Ungleichheit 265<br />

ländlichen Peripherie ein wesentlich höheres Prestige<br />

als in Großstädten.<br />

Diese Schichtungskriterien sind zwar eine unverzichtbare<br />

Gr<strong>und</strong>lage der Sozialgeographie <strong>und</strong> decken<br />

wichtige Teilbereiche der sozialen Ungleichheit<br />

ab, je nach Fragestellung sollten sie jedoch durch andere<br />

Konzepte wie Lebensstil, Identität, sozialer Habitus,<br />

Ethnizität oder Gender ergänzt werden, welche<br />

zusätzliche Dimensionen der sozialen Ungleichheit<br />

beschreiben können. Im Rahmen der Wohlfahrtssurveys<br />

(der erste wurde 1978 durchgeführt, der erste gesamtdeutsche<br />

fand 1993 statt) werden auch die Bewertung<br />

der Lebensumstände <strong>und</strong> das subjektive<br />

Wohlbefinden (die Bewertungen, Sorgen <strong>und</strong> Hoffnungen)<br />

der Bevölkerung erfasst. Eine räumliche Differenzierung<br />

dieser Daten ist jedoch nur sehr eingeschränkt<br />

möglich (in der Regel nur nach Ost- <strong>und</strong><br />

Westdeutschland).<br />

Lebensstile<br />

Die Unzufriedenheit mit einigen methodischen<br />

Schwachstellen des Konzepts der sozialen Schichtung<br />

hat dazu geführt, dass in den 1980er-Iahren das Lebensstilkonzept<br />

an Bedeutung gewonnen hat. Es basiert<br />

auf der Vorstellung, dass Kultur in zunehmendem<br />

Maße zum differenzierenden Moment der alltäglichen<br />

Lebensweise <strong>und</strong> der darauf aufbauenden<br />

Gesellschaftsstruktur wird (Klee 2003). Müller<br />

(1992) definierte Lebensstile als raum-zeitlich strukturierte<br />

Muster der Lebensführung, die von materiellen<br />

Ressourcen, der Haushalts- <strong>und</strong> Familienform<br />

<strong>und</strong> Werthaltungen abhängen. Seiner Ansicht nach<br />

hat das Lebensstilkonzept ein materielles <strong>und</strong> ein<br />

ideelles Substrat. Das materielle Substrat bezieht<br />

sich auf die soziale Herkunft, den Beruf <strong>und</strong> das Einkommen<br />

<strong>und</strong> ist also weitgehend identisch mit den<br />

„objektiven“ Indikatoren der sozialen Schichtung.<br />

Das ideelle Substrat bezeichnet Ziele, Bedürfnisse<br />

<strong>und</strong> Wertvorstellungen, die aus der sozialen Herkunft<br />

<strong>und</strong> den familiären Bedingungen herrühren (Klee<br />

2003). Werlen (2004) versteht unter Lebensstilen<br />

routinisierte Praktiken beziehungsweise typische Formen<br />

alltäglicher Lebenspraxis, wie die Art, sich zu<br />

kleiden, zu essen, sich zu benehmen, die Wahl bevorzugter<br />

Aufenthaltsorte oder die Präferenz für bestimmte<br />

Musik <strong>und</strong> bestimmte Freizeit- <strong>und</strong> Bildungsaktivitäten.<br />

Während die soziale Schichtzugehörigkeit<br />

in hohem Maße die soziale Ungleichheit<br />

hinsichtlich ökonomischer Ressourcen <strong>und</strong> beruflicher<br />

Karrieren reflektiert <strong>und</strong> in hohem Maße Ursache<br />

von sozialer Ungleichheit ist, stellen Lebensstile<br />

die expressive, interaktive <strong>und</strong> konsumtive Seite<br />

der sozialen Ungleichheit dar. Sie beziehen sich auf<br />

Wertorientierungen, Lebensziele, Einstellungen zu<br />

wichtigen Lebensbereichen, zum Beispiel Arbeit,<br />

Freizeit, Konsum, Familie, Fernsehen oder Technologienutzung,<br />

auf Geschmacksfragen, individuelle Stilisierung<br />

<strong>und</strong> Erlebnisorientierung.<br />

Lebensstile sind eine wichtige Methode der qualitativen<br />

Sozialforschung, besonders in den Bereichen<br />

der Markt-, Konsum- <strong>und</strong> Freizeitforschung. Die Typisierung<br />

von Lebensstilen wird meist an die zu untersuchende<br />

Fragestellung angepasst, sodass die entsprechenden<br />

Unlersuchungen seilen miLeinander<br />

vergleichbar sind. Es gibt jedoch auch einige allgemeine<br />

Typisierungen, wie jene von Spellerberg (1995),<br />

von Klee (2001) oder die Sinus-Milieus. Ähnlich<br />

wie die normative Festlegung von sozialen Schichten<br />

ist auch die Kategorisierung von Lebensstilen mit<br />

einem beträchtlichen Maß an Subjektivität von Seiten<br />

des Untersuchenden verb<strong>und</strong>en.<br />

Anders als früher zum Teil argumentiert wurde,<br />

sind Lebensstile jedoch kein Ersatz für soziale Schichten,<br />

sondern sie können diese nur ergänzen. Soziale<br />

Schichten <strong>und</strong> Lebensstile gehören zu unterschiedlichen<br />

methodischen Konzepten, sie haben unterschiedliche<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachteile <strong>und</strong> sind gegenseitig<br />

nicht austauschbar. Lebensstile haben eher den Charakter<br />

eines Idealtyps, der für die qualitative Analyse<br />

von Fallbeispielen herangezogen werden kann. Flächendeckende<br />

Untersuchungen, die bei bestimmten<br />

sozialgeographischen Fragestellungen unverzichtbar<br />

sind, sind mit Lebensstilen nicht möglich. Obwohl<br />

der von Spellerberg verwendete Wohlfahrtssurvey<br />

von 1993 insgesamt eine Stichprobe von 3 000 Befragten<br />

umfasste <strong>und</strong> für die Konstruktion der wenigen<br />

Lebensstile 119 Variablen verwendet wurden, war<br />

keine Differenzierung ihrer Lebensstile nach B<strong>und</strong>esländern,<br />

sondern nur eine zwischen Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland<br />

möglich. Eine Differenzierung nach<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland reicht jedoch für die meisten<br />

sozialgeographischen Fragestellungen nicht aus.<br />

Die Lebensstilforschung hat ihr Potenzial vor allem<br />

in der qualitativen Sozialforschung <strong>und</strong> bei der Konstruktion<br />

von Idealtypen. Sobald es um räumliche<br />

Disparitäten oder quantitative Aussagen geht, beginnen<br />

mehrere methodische Probleme. Auch das Lebensstilkonzept<br />

hat seine Defizite. Es bleibt meistens<br />

verborgen, ob die Lebensstile der untersuchten Personen<br />

deren eigenen Präferenzen entsprechen oder<br />

durch die berufliche Rolle <strong>und</strong> die Erwartungen<br />

des Gruppendrucks bestimmt sind. Denn bestimmte<br />

Lifestyles werden auch gewählt, um in einer Gruppe<br />

Anerkennung zu finden oder um Karriere zu machen.


266 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

In bestimmten Kulturen (zum Beipsiel in Japan) <strong>und</strong><br />

Subkulturen ist es nicht leicht festzustellen, ob die innere<br />

Einstellung mit den zur Schau gestellten Präferenzen<br />

<strong>und</strong> Ausdrucksformen übereinstimmt <strong>und</strong><br />

welchen Prognosewert kurzfristig angenommene Lebensstile<br />

haben. Die Grenzen des Lebensstilkonzepts<br />

wurden vor allem in der Habilitationsschrift des Soziologen<br />

Hartmann (1999) aufgezeigt.<br />

Eine Weiterentwicklung des Lebensstilkonzepts<br />

stellen die Sinus-Milieus dar, die auf einer Kombination<br />

von sozialer Lage <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>orientierungen beruhen.<br />

Die zehn Sinus-Milieus wurden von der Firma<br />

Sinus Sociovision entwickelt, die im September<br />

2001 ein neues gesamtdeutsches Milieu-Modell vorgestellt<br />

hat, das dem jüngeren Wertewandel in der<br />

Gesellschaft Rechnung trägt. Auch diese Milieus können<br />

noch durch kurzfristige Life-Styles ergänzt werden<br />

(Tabelle 5.1).<br />

Wenn diese zehn Milieus in einem Koordinatensystem<br />

nach sozialer Lage <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>orientierung<br />

positioniert werden, ergibt sich die sogenannte „Sinus-Kartoffel“,<br />

die den Anspruch erhebt, einen beträchtlichen<br />

Teil der Bevölkerung zu umfassen (Abbildung<br />

5.7). In diesem Schema sind jedoch Randgruppen,<br />

Obdachlose <strong>und</strong> Unterschichtsubkulturen<br />

nicht vertreten. Es stellt sich die Frage, ob Lebensstile<br />

<strong>und</strong> Milieus nur ein Konzept für die Luxusgesellschaft<br />

sind.<br />

L<br />

Soziale Missstände, soziale<br />

Reformen <strong>und</strong> die Anfänge<br />

der Sozialgeographie<br />

Erste Versuche, die räumliche Dimension sozialer<br />

Probleme <strong>und</strong> Ungleichheiten zu untersuchen <strong>und</strong><br />

zu erklären, reichen bis in die erste Hälfte des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts zurück, haben also lange vor der Institutionalisierung<br />

der Sozialgeographie als wissen-<br />

Tabeile 5.1<br />

Kurzcharakteristik der Sinus-Milieus<br />

Gesellschaftliche Leitmilieus<br />

Sinus Bl<br />

(Etablierte)<br />

11,6% 5» Das selbstbewusste Establishment: Erfolgsethik, Machbarkeitsdenken <strong>und</strong><br />

ausgeprägte Exklusivitätsansprüche<br />

. . . . . .<br />

Sinus B12<br />

(Postmaterielle)<br />

Sinus C12<br />

(Moderne Performer)<br />

9,5% Das aufgeklärte Nach-68er-Milieu: postmaterielle Werte, Globalisierungskritik <strong>und</strong><br />

intellektuelle Interessen<br />

9,9% Die junge, unkonventionelle Leistungselite: intensives Leben - beruflich <strong>und</strong> privat,<br />

Multi-Optionalität, Flexibilität <strong>und</strong> Multimedia-Begeisterung<br />

Traditionelle Milieus<br />

Sinus A12<br />

(Konservative)<br />

Sinus A23<br />

(T raditionsverwurzelte)<br />

Sinus AB2<br />

(DDR-Nostalgische)<br />

4,8% Das alte deutsche Bildungsbürgertum: konservative Kulturkritik, humanistisch<br />

geprägte Pflichtauffassung <strong>und</strong> gepflegte Umgangsformen<br />

12,9% Die Sicherheit <strong>und</strong> Ordnung liebende Kriegsgeneration: verwurzelt in der kleinbürgerlichen<br />

Welt beziehungsweise in der traditionellen Arbeiterkultur<br />

4,7% Die resignierten Wendeverlierer: Festhalten an preußischen Tugenden <strong>und</strong> altsozialistischen<br />

Vorstellungen von Gerechtigkeit <strong>und</strong> Solidarität<br />

Mainstream-Milieus<br />

Sinus B2<br />

(Bürgerliche Mitte)<br />

Sinus B3<br />

(Konsum-Materialisten)<br />

17,1% Der statusorientierte moderne Mainstream: Streben nach beruflicher <strong>und</strong> sozialer<br />

Etablierung, nach gesicherten <strong>und</strong> harmonischen Verhältnissen<br />

10,9% Die stark materialistisch geprägte Unterschicht: Anschluss halten an die Konsum-<br />

Standards der breiten Mitte als Kompensationsversuch sozialer Benachteiligungen<br />

Hedonistische Milieus<br />

Sinus C2<br />

(Experimentalisten)<br />

Sinus BC3<br />

(Hedonisten)<br />

8,7% >- Die extrem individuali.sti.sche neue Bohême: ungehinderte Spontaneität, Leben in<br />

Widersprüchen, Selbstverständnis als Lifestyle-Avantgarde<br />

9,9% Die spaßorientierte moderne Unterschicht/untere Mittelschicht: Verweigerung von<br />

Konventionen <strong>und</strong> Verhaltenserwartungen der Leistungsgesellschaft<br />

Quelle: AGF/GfK Fernsehforschung, pc#tv, Stichtag 01.01.2007, Basis Fernsehpanel D+EU, Erwachsene 14+


Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der Sozialgeographie 267<br />

Oberschicht/<br />

Obere<br />

Mittelschicht<br />

o<br />

Mittlere<br />

Mittelschicht<br />

3<br />

Untere<br />

Mittelschicht/<br />

Unterschicht<br />

Sinus A12<br />

Konsevative<br />

5%<br />

Sinus A23<br />

Traditionsverwurzelte<br />

1 4 %<br />

Sinus<br />

AB2<br />

Sinus B1<br />

Etablierte<br />

10%<br />

DüR-<br />

Nostäl g isch © ^<br />

5 %<br />

Sinus B2<br />

Bürgerliche Mitte<br />

1 5 %<br />

Sinus B3<br />

Konsum-Materialisten<br />

12%<br />

Sinus B12<br />

Postmatehelle<br />

10%<br />

Sin<br />

C12<br />

Moderne<br />

Performer<br />

10%<br />

Sinus C2<br />

Experimentaiisten<br />

8%<br />

Sinus BC3<br />

Hedonisten<br />

11 %<br />

Soziale<br />

Lage<br />

Gr<strong>und</strong>-<br />

''orientierung<br />

Traditionelle Werte<br />

P flich terfü llu n g , O rdnung<br />

B<br />

Modernisierung<br />

In d ivid u a lisieru n g , Selb stverw irk lich u n g , G e n u ss<br />

Neuorientierung<br />

M u lti-O p tio nalität, Ex perim en tierfreu<br />

d e, Leb en in Para d o x ien<br />

5.7 Die Sinus-„Kartoffeln“ Aus der Kombination zwischen der sozialen Lage <strong>und</strong> der Gr<strong>und</strong>orientierung in Bezug auf verschiedene<br />

Werte lassen sich sogenannte Sinus-Milieus konstruieren. (Quelle: Sinus Soziovison GmbH)<br />

schaftliche Disziplin begonnen. Ausgelöst wurde dieses<br />

Interesse an sozialen Problemen durch ein zeitliches<br />

Zusammentreffen von gravierenden sozialen<br />

Missständen in der Frühphase der industriellen Revolution<br />

mit dem Aufkommen der sogenannten „Sozialarithmetik“.<br />

Die Anhänger der Sozialarithmetik,<br />

zum Beispiel Adolphe Quetelet, gingen davon aus,<br />

dass soziale Phänomene wie Geburten, Heiraten<br />

oder Todesfälle ähnliche Gesetzmäßigkeiten aufweisen<br />

wie naturwissenschaftliche Phänomene <strong>und</strong> deshalb<br />

auch auf ähnliche Weise empirisch untersucht<br />

werden könnten. Die Sozialarithmetiker zeigten ein<br />

großes Interesse an statistischen Methoden <strong>und</strong> legten<br />

auch die Gr<strong>und</strong>lagen für die Wahrscheinlichkeitstheorie.<br />

Soziale Missstände wie Armut, Kriminalität, Analphabetismus,<br />

Kinderarbeit, Alkoholismus oder<br />

schlechte hygienische Wohnverhältnisse, die im Rahmen<br />

des frühen Industrialisierungs- <strong>und</strong> Verstädterungsprozesscs<br />

in vielen Großstädten <strong>und</strong> Industriegebieten<br />

ein großes Problem darstellten, wurden etwa<br />

ab den 1820er-Jahren zuerst in Frankreich <strong>und</strong> England,<br />

später auch in anderen Ländern empirisch untersucht,<br />

um Ursachen <strong>und</strong> Zusammenhänge zu erkennen<br />

<strong>und</strong> Argumente für soziale Reformen zu finden.<br />

In Frankreich konnten solche Studien deshalb<br />

sehr früh durchgeführt werden, weil hier ab 1818<br />

die Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse der Rekruten regelmäßig<br />

erfasst worden waren <strong>und</strong> zu Beginn des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts im Auftrag des Schulministeriums<br />

15 928 Lehrer in ganz Frankreich die Kirchenbücher<br />

aus dem 17., 18. <strong>und</strong> frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinsichtlich<br />

der Schreibk<strong>und</strong>igkeit der Brautleute ausgewertet<br />

hatten, sodass umfangreiche Daten über räumliche<br />

<strong>und</strong> soziale Disparitäten des Alphabetisierungsprozesses<br />

zur Verfügung standen.<br />

Da in Großbritannien die vorhandenen amtlichen<br />

Erhebungen nicht ausreichten, um solche Studien<br />

durchzuführen, haben hier privat organisierte, statistische<br />

Gesellschaften, karitative Gesellschaften<br />

(friendly societies) <strong>und</strong> Privatpersonen ab etwa 1830<br />

erstaunlich detaillierte Originalerhebungen über die<br />

soziale Situation <strong>und</strong> Lebensverhältnisse der Bevölkerung<br />

in verschiedenen Städten publiziert, wobei zum<br />

Teil eine sehr kleinräumige Differenzierung bis auf<br />

Straßen oder Häuserblöcke vorgenommen wurde.<br />

In England standen ab 1835 Daten über die Lese<strong>und</strong><br />

Schreibkenntnisse der Kriminellen zur Verfü-


268 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

i.;<br />

gung. Ab 1838 gab es in England die Berichte der Fabriksinspektoren<br />

über Kinderarbeit, Schulversäumnisse<br />

<strong>und</strong> Analphabetentum.<br />

In diesen „Moral- <strong>und</strong> Kriminalstatistiken“ richtete<br />

sich das Hauptinteresse auf Kriminalität, Analphabetismus<br />

<strong>und</strong> Armut. Das Bildungsniveau<br />

(Lese-, Schreib- <strong>und</strong> Rechenkenntnisse, Lektüre<br />

von Büchern, Bibelkenntnisse) <strong>und</strong> die schulische<br />

Infrastruktur hatten in diesen Studien vor allem deshalb<br />

einen sehr hohen Stellenwert, weil damals von<br />

vielen Sozialreformern die Ansicht vertreten wurde,<br />

dass Kriminalität, Trunksucht <strong>und</strong> Armut vor allem<br />

auf Unwissen, fehlender Bildung <strong>und</strong> einer mangelhaften<br />

moralischen Erziehung beruhten. Das sogenannte<br />

Social Survey Movement ging davon aus,<br />

dass Lesekenntnisse die Menschen in die Lage versetzen,<br />

sich mit dem Inhalt der Bibel <strong>und</strong> anderer religiöser<br />

Schriften vertraut zu machen, <strong>und</strong> dass Bildung<br />

<strong>und</strong> Erziehung den Menschen „moralisch besser“<br />

machen würden. Außerdem wurde das Schulwesen<br />

als Mittel zur sozialen Kontrolle angesehen. Deshalb<br />

wurden unter anderem die Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse<br />

der erwachsenen Bevölkerung, der Schulbesuch<br />

der Kinder, der Zusammenhang zwischen<br />

Wohnqualität <strong>und</strong> Bildungsniveau, das kulturelle Milieu<br />

in den Familien (zum Beispiel das Vorhandensein<br />

von Büchern <strong>und</strong> Zeitschriften), die Ausstattung<br />

<strong>und</strong> Qualität der Schulen <strong>und</strong> die Qualifikation der<br />

Lehrpersonen untersucht <strong>und</strong> mit anderen Indikatoren<br />

in Beziehung gesetzt.<br />

Die Mehrzahl dieser Untersuchungen kam zwar<br />

noch nicht über das Niveau der Beschreibung hinaus<br />

<strong>und</strong> leider sind die vielen Einzelstudien auch nicht<br />

miteinander vergleichbar, aber die aufgeworfenen<br />

Fragestellungen sind auch aus heutiger Sicht erstaunlich<br />

modern. Erfasst wurden unter anderem:<br />

• Familien- <strong>und</strong> Wohnverhältnisse (Größe der<br />

Wohnungen, Zahl der Personen pro Raum,<br />

Grad der Sauberkeit, Zustand der Toiletten, Dauer<br />

des Aufenthalts in der derzeitigen Wohnung, Miethöhe,<br />

Umweltbedingungen, Qualität der Wasserversorgung)<br />

• Berufsstruktur, Religion <strong>und</strong> regionale Herkunft<br />

der Haushaltsvorstände<br />

• „kulturelles Milieu“ der Familie gemessen an den<br />

vorhandenen Büchern <strong>und</strong> Tageszeitungen<br />

• Lese-, Schreib- <strong>und</strong> Rechenkenntnisse der erwachsenen<br />

Bevölkerung nach Geschlecht <strong>und</strong> Herkunft<br />

sowie bei Verurteilten (Kriminellen) nach der Art<br />

der begangenen Vergehen, Schulbesuchsquoten<br />

der Knaben <strong>und</strong> Mädchen, „religiöse Kenntnisse“<br />

der Bevölkerung<br />

• räumliche Ausstattung, Lehrangebot, Schulgebühren,<br />

soziale Rekrutierung <strong>und</strong> schulisches Niveau<br />

der verschiedenen Schulen <strong>und</strong> Schultypen<br />

• demographische Struktur (zum Beispiel Alter, Geschlechtsproportion),<br />

Qualifikation (Ausbildung<br />

<strong>und</strong> Dauer der beruflichen Tätigkeit) <strong>und</strong> Entlohnung<br />

des Lehrpersonals<br />

• Art <strong>und</strong> Häufigkeit von begangenen Verbrechen<br />

• Anteil von improviäent marriages („unüberlegte“,<br />

das heißt wirtschaftlich nicht ausreichend f<strong>und</strong>ierte<br />

Heiraten)<br />

Schon diese frühen empirischen Untersuchungen basierten<br />

auf den Methoden der Kartierung, Befragung,<br />

teilnehmenden Beobachtung <strong>und</strong> Auswertung von<br />

Statistiken <strong>und</strong> enthielten thematische Karten über<br />

soziale Phänomene in unterschiedlichen Maßstäben.<br />

In Frankreich wurde von C. Dupin schon im Jahre<br />

1827 die Carte figurative de Vinstruction populaire<br />

de la France veröffentlicht, die auf der Ebene der<br />

Départements die regionalen Disparitäten des Schulbesuchs<br />

darstellte, die sich in einer markanten Zweiteilung<br />

Frankreichs entlang der Linie St. Malo bis<br />

Genf äußerte. Die nördlich dieser Linie liegenden<br />

Departments hatten eine wesentlich höhere Bildungsbeteiligung<br />

als die südlichen Departments <strong>und</strong> hatten<br />

auch bei den untersuchten ökonomischen Indikatoren<br />

einen Vorsprung. Dupin thematisierte auch einen<br />

Zusammenhang zwischen der höheren Bildungsbeteiligung<br />

<strong>und</strong> der Überlegenheit Nordfrankreichs<br />

hinsichtlich der Patente für Erfindungen (1789 bis<br />

1825) <strong>und</strong> der Zahl der Mitglieder der Académie<br />

des Sciences sowie der Gold-, Silber- <strong>und</strong> Bronzemedaillen<br />

bei der Industrieausstellung im Jahre 1819.<br />

Außerdem erörterte er die positiven Auswirkungen<br />

eines Schulbesuchs für die Bevölkerung anhand der<br />

Nettoeinnahmen pro Einwohner <strong>und</strong> Hektar Landbesitz,<br />

anhand des durchschnittlichen Einkommens<br />

einer fünfköpfigen Familie, des Jahreslohns eines Arbeiters<br />

<strong>und</strong> seiner Frau. Nicht zuletzt wies er auf die<br />

Vorteile einer hohen Bildungsbeteiligung für die Wissenschaften<br />

<strong>und</strong> die Regierung hin. 1829 haben A.<br />

Balbi <strong>und</strong> A.M. Guerry Karten über die Lese- <strong>und</strong><br />

Schreibk<strong>und</strong>igkeit <strong>und</strong> die Verbrechenshäufigkeit<br />

publiziert. Besonders zu erwähnen ist die von J. Fletcher<br />

(1849) publizierte Karte über die Ignorance in<br />

England and Wales (Nachdruck bei Hoyler 1996,<br />

188), welche auf einer Auswertung von Heiratsregistern<br />

beruhte <strong>und</strong> regionale Unterschiede der Analphabetenquote<br />

darstellt.<br />

Die übertriebenen Erwartungen, die ursprünglich<br />

an das Schulwesen als Allheilmittel für die Zurückdrängung<br />

von Armut <strong>und</strong> Kriminalität gestellt wur-


Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der Sozialgeographie 269<br />

den, sind allerdings schon relativ bald durch weitere<br />

empirische Untersuchungen widerlegt worden. Das<br />

Interesse an den Lebensverhältnissen <strong>und</strong> an der Alphabetisierung<br />

der armen Bevölkerungsschichten<br />

nahm jedoch auch noch in den folgenden Jahrzehnten<br />

zu <strong>und</strong> erreichte in den Armutsstudien von<br />

Charles Booth seinen Höhepunkt. Charles Booth<br />

(Abbildung 5.8) untersuchte zwischen 1886 <strong>und</strong><br />

1903 anhand sehr detaillierter empirischer Erhebungen<br />

die Armut in London. Er wollte wissen, welche<br />

Faktoren Armut verursachen <strong>und</strong> wie man Armut beseitigen<br />

kann. Sein Hauptwerk Life and Labour of the<br />

People in London wurde in mehreren, inhaltlich veränderten<br />

Auflagen herausgegeben, wobei die Ausgabe<br />

von 1902/03 als die beste angesehen wird. Booth <strong>und</strong><br />

das von ihm privat finanzierte Team von Mitarbeitern<br />

haben mehr als 4 000 Fälle von Armut untersucht. Für<br />

die Datenerfassung befragte <strong>und</strong> begleitete Booth Polizisten,<br />

außerdem befragte er H<strong>und</strong>erte von Schuldirektoren<br />

<strong>und</strong> Priestern. Er <strong>und</strong> seine Mitarbeiter kartierten<br />

für jeden Haushalt (jedes Haus) diverse Merkmale<br />

(vom Zustand der Toiletten bis zum Vorhandensein<br />

von Büchern), sie ergänzten vorhandene<br />

amtliche Daten mit eigenen Befragungen über Kleidung,<br />

Essen, Wohnverhältnisse, Ges<strong>und</strong>heitszustand,<br />

Kriminalität, Religionszugehörigkeit, Lebensstil, Einkommen,<br />

Berufstätigkeit <strong>und</strong> Gottesdienstbesuch der<br />

Bewohner <strong>und</strong> interessierten sich auch für das soziale<br />

Fngagem'ent der Kirchengenieinden. Allein die survey<br />

books von Charles Booth über den Einfluss der Reli-<br />

gion enthalten schriftliche Aufzeichnungen von 1 800<br />

Interviews, die er unter anderem mit Vertretern der<br />

Kirchen <strong>und</strong> der Heilsarmee geführt hatte. Außerdem<br />

führte er umfangreiche Erhebungen über die Londoner<br />

Slums, über Bordelle, Prostituierte <strong>und</strong> diverse<br />

Formen der Kriminalität durch.<br />

Schließlich berechnete er das Existenzminimum<br />

der Bevölkerung (Armutsgrenze) <strong>und</strong> kam zum<br />

Schluss, dass 30 bis 35 Prozent der Londoner Bevölkerung<br />

unter der Armutsgrenze lebten. Seine Karten<br />

über die Armut in London (Abbildung 5.9) unterscheiden<br />

je nach Publikation insgesamt sieben oder<br />

acht soziale Schichten, die er ausführlich beschrieben<br />

hat. Die bleibenden Verdienste von Charles Booth liegen<br />

darin, dass er viele Themen der späteren Chicagoer<br />

Schule der Sozialökologie vorweg genommen<br />

hat, so zum Beispiel das Ringmodell, die Mechanismen<br />

der räumlichen Verlagerung von Armen vierteln,<br />

die Auswirkungen einer Eisenbahnlinie auf die soziale<br />

Schichtung des betreffenden Areals, die Isolation von<br />

neighborhoods als Faktor der Verarmung, die soziale<br />

Segregation <strong>und</strong> eine Beschreibung der „ökologischen<br />

Kräfte“, welche die Wohnbevölkerung aus<br />

dem Zentrum einer Stadt hinausdrängen.<br />

Die Chicagoer Schule der<br />

I Sozialökologie__________<br />

5.8 Charles Booth Charles Booth (1840 bis 1916) war<br />

Industriekapitän, Reeder, Politiker, Sozialwissenschaftler,<br />

Sozialreformer, Parlamentarier <strong>und</strong> Präsident der Royal Statistical<br />

Society <strong>und</strong> stellt den Höhepunkt des Social Survey<br />

Movements dar. (Quelle; Charles Booth Online Archive)<br />

Eine zweite frühe Wurzel der Sozialgeographie stellt<br />

die Chicagoer Schule der Sozialökologie dar. Da diese<br />

auch als Wiege einer modernen Stadtgeographie gesehen<br />

wird, soll sie in diesem Kapitel nur sehr kurz<br />

behandelt werden. Es war sicher kein Zufall, dass<br />

sich die Stadt Chicago anfangs des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu einem Zentrum <strong>und</strong> Experimentierfeld der empirischen<br />

Sozialforschung <strong>und</strong> vor allem der Sozialökologie<br />

entwickelt hat. Das extreme <strong>und</strong> geradezu chaotische<br />

Wachstum der Stadt, der gewaltige Zustrom<br />

unterschiedlichster Einwanderergruppen, das Fehlen<br />

einer ordnenden Stadtplanung, der grenzenlose<br />

Wettbewerb einer schrankenlosen Laissez-faire Politik,<br />

die organisierte Kriminalität <strong>und</strong> die weit verbreitete<br />

Korruption haben eine Ausgangslage geschaffen,<br />

dass in dieser Stadt viele sozialen Probleme <strong>und</strong> Missstände<br />

in einer übersteigerten Form auftraten <strong>und</strong><br />

sich das Recht des Stärkeren durchzusetzen schien.<br />

Dazu kam, dass die Soziologie in Chicago damals<br />

sehr offen für aktuelle Fragestellungen <strong>und</strong> interdisziplinäre<br />

Zusammenarbeit war <strong>und</strong> in Robert Ezra<br />

Park (1864-1944) eine Führungspersönlichkeit be-


270 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Die sieben sozialen Schichten wurden von<br />

Booth folgendermaßen beschrieben:<br />

l k :<br />

I<br />

(a)<br />

i ü<br />

m i r “<br />

i f<br />

■<br />

DARK<br />

■<br />

■<br />

PURPLE;<br />

RED:<br />

■<br />

SSSSST<br />

BLACK: Lowest class. Vicious,<br />

semi-criminal.<br />

BLUE: Very poor, casual.<br />

Chronic want.<br />

LIGHT BLUE: Poor. 18s. to 21s.<br />

a week for a moderate family.<br />

Mixed. Some comfortable<br />

others poor.<br />

PINK: Fairly comfortable. Good<br />

ordinary earnings.<br />

Middle class. Well-to-do.<br />

YELLOW: Upper-middle and<br />

Upper classes. Wealthy.<br />

A combination of colours - as dark blue<br />

or black, or pink and red - indicates that<br />

the street contains a fair proportion of<br />

each of the classes represented by the<br />

respective colours.<br />

In anderen Publikationen hat Booth acht<br />

soziaie Schichten unterschieden.<br />

( b )<br />

5.9 Beispiele von Karten von Charles Booth über Armut <strong>und</strong> Reichtum in London St. James the Less ist ein Beispiel für<br />

ein Armenviertel (a). Christchurch ist ein Beispiel für ein Nobelwohngebiets (b). (Quelle: London School o f Economics and Political<br />

Science, Charles Booth Online archive)<br />

kam, die eine wichtige Schule gründen sollte (Abbildung<br />

5.10).<br />

Park war ursprünglich Journalist <strong>und</strong> hat erst sehr<br />

spät eine akademische Laufbahn ergriffen. Er hatte in<br />

Berlin beim Soziologen Simmel <strong>und</strong> in Heidelberg<br />

beim Philosophen Windelband <strong>und</strong> beim Geographen<br />

Hettner studiert <strong>und</strong> promovierte in Heidelberg.<br />

Park vertrat die Ansicht, dass die Geographie<br />

eine idiographische Wissenschaft sei, die nur beschreibe<br />

<strong>und</strong> nicht nach Gesetzmäßigkeiten suche.<br />

Demgegenüber sei die Sozialökologie eine nomothetische<br />

Wissenschaft, die nach den tieferliegenden Ursachen<br />

<strong>und</strong> Gesetzmäßigkeiten forsche. Aus wissenschaftlicher<br />

Sicht war diese Grenzziehung nie sinnvoll,<br />

sodass sie schon damals zu Recht von vielen kritisiert<br />

wurde. Die Grenzziehung hatte eher disziplinpolitische<br />

Gründe, um das neue Fach der Sozialökologie<br />

zu rechtfertigen.<br />

Das theoretische Konzept der Chicagoer Schule<br />

war aus den schon erwähnten Gründen stark von<br />

der darwinistischen Vorstellung des Wettbewerbs,<br />

des Rechts des Stärkeren <strong>und</strong> des Kampfs ums Dasein<br />

geprägt. Dabei wurde die Gesellschaft als Organismus<br />

betrachtet <strong>und</strong> das Vokabular der Ökologie (wie zum<br />

Beispiel Segregation, Sukzession, Invasion, Dominanz,<br />

Konzentration <strong>und</strong> Expansion) in die Gesellschaftstheorie<br />

übertragen. In einer konkurrenzorientierten<br />

Gesellschaft setzen sich nach den Vorstellungen<br />

der Chicagoer Sozialökologie jene Menschen <strong>und</strong><br />

sozialen Gruppen durch, die sich durch ökologische<br />

Anpassung <strong>und</strong> eine wettbewerbsorientierte Durchsetzungskraft<br />

in der sozialen Umwelt auszeichnen.<br />

Privilegierten Oberschichten gelingt es, die attraktivsten<br />

Standorte einzunehmen, wettbewerbsschwache<br />

Unterschichten werden in marginale <strong>und</strong> meistens<br />

ökologisch benachteiligte Positionen abgedrängt.


Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der Sozialgeographie 271<br />

Alfred Rühl -- ein Pionier der Sozial-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsgeographie^<br />

I der erst spät Anerkennung fand<br />

’1 ^ <<br />

5.10 Robert<br />

Ezra Park<br />

(18 64 -194 4)<br />

Dem damaligen Zeitgeist entsprechend wurden nicht<br />

Individuen oder Gebäude, sondern Gemeinschaften,<br />

Nachbarschaften <strong>und</strong> social areas als Untersuchungseinheiten<br />

betrachtet. Neben der Stadtgeographie, finden<br />

vor allem die Kriminalgeographie <strong>und</strong> die Bildungsgeographie<br />

wichtige Wurzeln in der Chicagoer<br />

Schule, die schon damals Themen wie innerstädtische<br />

Disparitäten der Jugendkriminalität oder innerstädtische<br />

Unterschiede des Schulschwänzens untersuchte.<br />

Die Chicagoer Schule ist auch eine Wiege der social<br />

area analysis, die 1955 von Shevky and Bell begründet<br />

wurde <strong>und</strong> den Versuch darstellt, eine Typologie von<br />

urban neighborhoods zu erstellen beziehungsweise unter<br />

Verwendung zahlreicher sozioökonomischer Variablen<br />

<strong>und</strong> multivariaten statistischen Verfahren die<br />

sozialräumliche Differenzierung von Städten darzustellen.<br />

Der Chicagoer Schule wird heute gelegentlich der<br />

Vorwurf des Sozialdarwinismus gemacht, was vor allem<br />

auf die vielen aus der Biologie übernommenen<br />

Begriffe zurückgeht. Wenn man jedoch die Formulierung<br />

„der Stärkere setzt sich durch“ durch die Formulierung<br />

„der Lernfähigere, Kompetentere oder<br />

Anpassungsfähigere setzt sich durch“ ersetzt, sind<br />

viele Aussagen der Chicagoer Schule auch heute<br />

noch gültig. Auch einige ihrer gr<strong>und</strong>legenden Konzepte<br />

wie zum Beispiel die soziale Segregation oder<br />

das soziale Lernen von Kriminalität sind nach wie<br />

vor aktuell.<br />

Im Rahmen seiner „Geographie der Arbeit“ legte<br />

Rühl (Abbildung 5.11) einen Schwerpunkt auf die<br />

„Wirtschaftsgesinnung“ oder die „Wirtschaftspsychologie“<br />

verschiedener Völker. Seine wichtigsten Arbeiten<br />

befassten sich mit dem Wirtschaftsgeist der<br />

Spanier, mit dem orientalischen Wirtschaftsgeist<br />

<strong>und</strong> dem Wirtschaftsgeist in den USA. Der Wirtschaftsgeist<br />

oder die Wirtschaftsgesinnung waren<br />

aus seiner Sicht die wichtigste Ursache für die unterschiedliche<br />

Entwicklung von Regionen <strong>und</strong> Ländern.<br />

Er ging der Frage nach, welche Einstellungen, Normen<br />

<strong>und</strong> sozialen Milieus bei den funktionalen Eliten<br />

eines Landes dominierten <strong>und</strong> wie sich diese auf die<br />

wirtschaftliche Entwicklung eines Landes auswirken.<br />

Das große Entwicklungsgefälle zwischen Süd- <strong>und</strong><br />

Nordspanien sah Rühl in langfristigen sozialgeschichtlichen<br />

Prozessen, die in Nordspanien zur Geisteshaltung<br />

des Flidalgismus führten. Der Hidalgo<br />

verachtete Landwirtschaft, Handwerk <strong>und</strong> Handel<br />

<strong>und</strong> suchte sein Glück in Abenteuern. Rühl vertritt<br />

die Ansicht, dass sich der Hidalgismus für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung Nordspaniens sehr nachteilig<br />

auswirkte.<br />

Der orientalische Wirtschaftsgeist stand nach Rühl<br />

unter dem beherrschenden Einfluss der islamischen<br />

Religion, welche das Verhältnis des Menschen zur Arbeit,<br />

zum Geld <strong>und</strong> zu wirtschaftlichen Aktivitäten<br />

bestimmt. Rühl beschreibt die wirtschaftlichen Eolgen<br />

der restriktiven Konsumvorschriften <strong>und</strong> Lebensdirektiven,<br />

des Fatalismus, des Fehlens jeden Fortschrittglaubens,<br />

des Fehlens des belebenden Elements<br />

der Konkurrenz <strong>und</strong> weist darauf hin, dass das Individuum<br />

nur als Mitglied einer Großfamilie, eines<br />

Stamms oder einer Bruderschaft existiere <strong>und</strong> das<br />

5.11 Alfred<br />

Rühl (1 8 8 2 -<br />

1935)


272 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

W M<br />

Ideal nicht in der Durchsetzung der Persönlichkeit,<br />

sondern vielmehr in der Hingabe an etv^as Allgemeines<br />

gesehen werde. Der Wirtschaftsgeist der USA<br />

wurzelt nach Rühl im englischen Puritanismus. Er<br />

habe das individuelle wirtschaftliche Erfolgsstreben<br />

so kultiviert, dass die USA vom wilden Pionierland<br />

zur führenden Industrienation der Welt aufsteigen<br />

konnten. Rühl beschreibt dabei, wie Spekulationstrieb,<br />

Rationalisierungsdenken, rigoroses Arbeitstempo,<br />

hektische Konsumgewohnheiten <strong>und</strong> der Aufbau<br />

weltweit operierender Kapitalgesellschaften auf das<br />

privatkapitalistische Wirtschaftsdenken zurückzubeziehen<br />

seien (Rühl 1925, 1927, 1928).<br />

Rühl hatte großartige Einsichten, die noch heute<br />

ihresgleichen suchen, <strong>und</strong> seine Leistung ist kaum<br />

zu überschätzen. Die meisten seiner Zeitgenossen<br />

ignorierten jedoch seine bahnbrechenden Ideen.<br />

Erst sein Schüler Wolfgang Hartke hat dann später<br />

einige von Rühls Vorstellungen umgesetzt, verfeinert<br />

<strong>und</strong> präzisiert. Die Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeographie<br />

hätte sehr von Rühl profitieren können, wenn sie sich<br />

von Rühls Makroebene gelöst <strong>und</strong> die Idee der Geisteshaltung,<br />

Mentalität <strong>und</strong> Normen auf die Mikro<strong>und</strong><br />

Mesoebene übertragen hätte. Rühl wandte sich<br />

früher als die meisten anderen gegen eine unwissenschaftliche<br />

Vermischung natürlicher <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Ursachen geographischer Erscheinungen.<br />

Er wandte sich gegen den damals vorherrschenden<br />

Gr<strong>und</strong>satz, dass die Wirtschaftsgeographie ihre<br />

Hauptaufgabe in der Untersuchung der Abhängigkeit<br />

der Wirtschaft von den physisch-geographischen Bedingungen<br />

habe. Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass<br />

die Wirtschaft in jeder Hinsicht eine gesellschaftliche<br />

Kategorie sei <strong>und</strong> es darum gehe, die räumliche Verteilung<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeit mental gesteuerter <strong>und</strong> sozial<br />

übersetzter wirtschaftlicher Aktivitäten zu untersuchen.<br />

Der Begriff des Wirtschaftsgeists wurde dann<br />

später von Hartke <strong>und</strong> seinen Schülern durch Begriffe<br />

wie Motivation oder Bewertungsprozess ersetzt. Zu<br />

kritisieren ist, dass Rühl bei seinen Interpretationen<br />

nicht immer vorurteilsfrei argumentierte, sondern<br />

manchmal aus einem europäischem Überlegenheitsgefühl<br />

heraus urteilte. Dadurch, dass er sich auf Länder<br />

<strong>und</strong> Großregionen bezog, passierten ihm auch<br />

manche grobe Verallgemeinerungen, welche die innere<br />

Differenzierung der untersuchten Länder nicht<br />

gebührend berücksichtigten.<br />

Bobek <strong>und</strong> Hartke - der Wendepunkt<br />

für die deutschsprachige<br />

, Sozialgeographie______________<br />

Wie von Thomale (1972), Werlen (2004) <strong>und</strong> Weichhart<br />

(2007b), auf die sich die folgenden Ausführungen<br />

über Bobek <strong>und</strong> Hartke weitgehend stützen, dargelegt<br />

wird, kann der Beginn der modernen deutschsprachigen<br />

Sozialgeographie mit dem fahr 1947 angesetzt<br />

werden, als Hans Bobek (Abbildung 6.5) auf<br />

dem Bonner Geographentag einen Vortrag über<br />

„Die Stellung <strong>und</strong> Bedeutung der Sozialgeographie“<br />

(Bobek 1948) hielt. Bobek hatte schon in seiner Dissertation<br />

über Innsbruck die Wechselbeziehungen<br />

zwischen Wirtschaftsgefüge <strong>und</strong> Sozialstruktur, den<br />

unterschiedlichen Wohnwert verschiedener Stadtteile,<br />

den Zusammenhang zwischen Wohnqualität<br />

<strong>und</strong> sozialer Schichtzugehörigkeit <strong>und</strong> räumliche<br />

Disparitäten des Wahlverhaltens untersucht. Als Leiter<br />

des Orientreferats in der militärgeographischen<br />

Abteilung des Oberkommandos des Heeres von<br />

1940 bis 1943 <strong>und</strong> als Mitglied der Deutschen Forschungsstaffel<br />

im Jahr 1944 verfasste er ein ausführliches<br />

Manuskript mit dem Titel „Soziale Landschaften<br />

des Orients“, das zwar nie veröffentlicht wurde,<br />

aber die Basis für seine späteren Arbeiten über den<br />

Orient wurde (Bobek 1962). Da die Leistungen von<br />

Bobek <strong>und</strong> Hartke auch im Kapitel 6 gewürdigt werden,<br />

soll hier eine kurze Zusammenfassung genügen.<br />

Nach Bobek bedarf jede Funktion eines Trägers, dies<br />

sind nicht Individuen sondern „menschliche Gruppen“,<br />

die sich im Raum betätigen. Er plädiert für<br />

eine Berücksichtigung des Gesellschaftlichen in der<br />

geographischen Forschung <strong>und</strong> begründet die Forschungstradition<br />

der sozialwissenschaftlichen Landschaftsforschung.<br />

Sozialgeographie sieht er als Betrachtungsweise,<br />

die zu einem vertieften Raumverständnis<br />

beitragen <strong>und</strong> soziale Erklärungen für die<br />

beobachtbaren Landschaftserscheinungen anbieten<br />

soll. Ziel solcher Betrachtungen sei ein tieferes Verständnis<br />

der großen Kulturgebiete <strong>und</strong> Kulturen<br />

der Erde durch Aufhellung ihres inneren Mechanismus.<br />

Die menschlichen Gruppen gleichartig handelnder<br />

Menschen stehen nicht isoliert da, sondern fügen<br />

sich zu bestimmten, konkreten, historisch <strong>und</strong> regional<br />

begrenzten größeren Komplexen, zu Gesellschaften,<br />

zusammen. Die konkreten Sozialkörper (Bevölkerungen<br />

bestimmter Sozialstruktur) sind nach Bobek<br />

Ausgangspunkt <strong>und</strong> Regler jedweder menschlichen<br />

Betätigung im Raum.<br />

Bobek hat das auf Vidal de la Blache zurückgehende<br />

Konzept der Lebensformengruppen in die


Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der Sozialgeographie 273<br />

deutschsprachige Sozialgeographie eingeführt, allerdings<br />

zu einem Zeitpunkt, als sich die französische<br />

Geographie schon wieder von diesem Konzept verabschiedet<br />

hatte. Unter Lebensformen verstand er<br />

Gruppierungen, die sowohl von landschaftlichen<br />

als auch von sozialen Kräften gleichzeitig geprägt<br />

erscheinen <strong>und</strong> die ihrerseits durch ihr Funktionieren<br />

sowohl in den natürlichen wie in den sozialen Raum<br />

hinein wirken. Das Konzept der Lebensformengruppen<br />

war für die moderne Industriegesellschaft<br />

aus mehreren Gründen ungeeignet. Eine weitere<br />

Schwachstelle bestand darin, dass Bobek nicht mit<br />

dem soziologischen Gruppenbegriff oder mit sozialen<br />

Systemen, sondern mit Merkmalsgruppen gearbeitet<br />

hat.<br />

Bobek definiert die Sozialgeographie als die Lehre<br />

von den sozialen Kräften, die in allen Teilgebieten der<br />

Anthropogeographie wirken. Zentrales Forschungsprojekt<br />

der analytischen Sozialgeographie sei die<br />

Landschaft. Es geht ihm also um das Aufdecken<br />

der sozialen Kräfte, welche hinter den verschiedenen<br />

Ausprägungen <strong>und</strong> Erscheinungsformen von Landschaften<br />

stehen. Die Landschaftsforschung ist für<br />

ihn nicht ein Mittel, etwas über die Gesellschaft zu<br />

erfahren, sondern er erforscht die Gesellschaft, um<br />

mehr über die Ffintergründe der Landschaftsentwicklung<br />

zu lernen.<br />

Hartke (Abbildung 6.7) versuchte, über Indikatoren<br />

an gesellschaftliche Strukturen, Prozesse <strong>und</strong><br />

N'eränderungen von Wertsystemen heranzukommen.<br />

Um den gesellschaftlichen Wandel aufzuzeigen, untersuchte<br />

Hartke zuerst eine Reihe von in der Landschaft<br />

sichtbaren Phänomenen wie zum Beispiel die<br />

Sozialbrache, die Vergrünlandung (Umwandlung<br />

von Ackerland in Grünflächen), die Aufforstung,<br />

die Verbreitung von Sonderkulturen oder den Ausmärkerbesitz<br />

(Gr<strong>und</strong>stücke, die sich im Besitz von<br />

Personen befinden, die nicht in der Gemeinde wohnen,<br />

in denen sich ihr Besitz befindet). Später verwendete<br />

er auch noch andere Indikatoren. Exemplarisch<br />

für Hartkes Sichtweise ist sein Aufsatz über die Sozialbrache<br />

als Phänomen der geographischen Differenzierung<br />

der Landschaft (Hartke 1956; Fre<strong>und</strong><br />

1993). Hs war ihm aufgefallen, dass nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg zahlreiche Parzellen ackerfähigen Landes<br />

brachfielen. Dies war jedoch nicht - wie bei echten<br />

Flurwüstungen - mit einer Verminderung der Bevölkerungszahl<br />

oder Kriegszerstörungen verb<strong>und</strong>en.<br />

Diese „Kümmererscheinungen“ in der Landschaft<br />

waren auch nicht eine Folge von Armut, ganz im Gegenteil,<br />

die Sozialbrache ging mit wachsendem Wohlstand<br />

einher. Es wurden nicht die schlechten Böden<br />

oder die am weitesten vom Dorf entfernten Parzellen<br />

zuerst aufgelassen, sondern fruchtbare Äcker in der<br />

Nähe der Dörfer. Dies war nur zu verstehen, wenn<br />

man, wie Hartke, eine Veränderung des Wertesystems<br />

der Bevölkerung annahm. Mit dem dauerhaften<br />

Übertritt eines Bauern in eine nichtagrarische Sozialgruppe<br />

<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Veränderung<br />

der sozialen Lage des Gr<strong>und</strong>besitzers änderten sich<br />

auch die Bewertung des Bodens <strong>und</strong> die Art der Bodennutzung,<br />

<strong>und</strong> zwar unabhängig von den natürlichen<br />

Gegebenheiten. In der neuen sozialen Wertordnung<br />

hatten naturräumliche Faktoren (zum Beispiel<br />

Fruchtbarkeit der Böden) ihren Sinn verloren. Deshalb<br />

war die Sozialbrache für I lartke ein aussagekräftiger<br />

Indikator für den sozialen Wandel von der<br />

Agrargesellschaft zur Industriegesellschaff.<br />

Entscheidend waren für ihn die sich ständig wiederholenden<br />

Bewertungsprozesse, die von den sozialen<br />

Gruppen gegenüber den einzelnen Geofaktoren<br />

vorgenommen werden. Das Ergebnis dieser Bewertungsprozesse<br />

motiviert <strong>und</strong> begrenzt regional die<br />

Aktivitäten der Menschen. Das Ergebnis der Wertung<br />

sind Räume bestimmten Verhaltens von sozialen<br />

Gruppen <strong>und</strong> eine Differenzierung der Kulturlandschaft.<br />

Ein Ziel der Sozialgeographie bestand nach<br />

Hartke in der geographischen Analyse sozialer Verhaltensmuster<br />

im Raum. Dabei vertrat er eher einen<br />

prozesshaften Forschungsansatz. Er wollte die statische<br />

Betrachtung sozialer Strukturen durch eine dynamische<br />

Auffassung sozialer Prozessabläufe ablösen<br />

<strong>und</strong> forderte, dass sich die Sozialgeographie auch mit<br />

sozialen Normen, Interaktionsvorgängen, Bewertungen,<br />

sozialen Prozessen <strong>und</strong> Verhaltensmustern beschäftigt.<br />

Bei einer zusammenfassenden Bewertung bleibt<br />

festzuhalten, dass Bobek noch der Landschaftsgeographie<br />

verpflichtet blieb, während Hartke die<br />

Abkehr vom Forschungsgegenstand Landschaft <strong>und</strong><br />

eine Zuwendung zu menschlichen Aktivitäten <strong>und</strong><br />

ihren soziokulturellen Hintergründen verlangte<br />

(Werlen 2004). Bei Hartke ist die Kulturlandschaft<br />

nicht mehr der eigentliche Forschungsgegenstand,<br />

sondern eine Registrierplatte zur Erklärung menschlicher<br />

Aktivitäten beziehungsweise das Ergebnis<br />

menschlicher Wertung. Diese Wertung ist abhängig<br />

von der Zugehörigkeit des Wertenden zu bestimmten<br />

sozialen Gruppen. Die auf der Registrierplatte (Kulturlandschaft)<br />

abgebildeten Spuren sind als Anzeiger<br />

(Indikatoren) sozialer Prozesse zu interpretieren.<br />

Ausschlaggebend sind nicht die Geofaktoren (natürlichen<br />

Bedingungen) an sich, sondern die Bewertung<br />

der natürlichen Bedingungen durch die Akteure.<br />

Diese Bewertungen <strong>und</strong> Interpretationen hängen ab<br />

von den kulturellen Wertordnungen, auf die sich


272 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

.1<br />

Ideal nicht in der Durchsetzung der Persönlichkeit,<br />

sondern vielmehr in der Hingabe an etwas Allgemeines<br />

gesehen werde. Der Wirtschaftsgeist der USA<br />

wurzelt nach Rühl im englischen Puritanismus. Er<br />

habe das individuelle wirtschaftliche Erfolgsstreben<br />

so kultiviert, dass die USA vom wilden Pionierland<br />

zur führenden Industrienation der Welt aufsteigen<br />

konnten. Rühl beschreibt dabei, wie Spekulationstrieb,<br />

Rationalisierungsdenken, rigoroses Arbeitstempo,<br />

hektische Konsumgewohnheiten <strong>und</strong> der Aufbau<br />

weltweit operierender Kapitalgesellschaften auf das<br />

privatkapitalistische Wirtschaftsdenken zurückzubeziehen<br />

seien (Rühl 1925, 1927, 1928).<br />

Rühl hatte großartige Einsichten, die noch heute<br />

ihresgleichen suchen, <strong>und</strong> seine Leistung ist kaum<br />

zu überschätzen. Die meisten seiner Zeitgenossen<br />

ignorierten jedoch seine bahnbrechenden Ideen.<br />

Erst sein Schüler Wolfgang Hartke hat dann später<br />

einige von Rühls Vorstellungen umgesetzt, verfeinert<br />

<strong>und</strong> präzisiert. Die Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeographie<br />

hätte sehr von Rühl profitieren können, wenn sie sich<br />

von Rühls Makroebene gelöst <strong>und</strong> die Idee der Geisteshaltung,<br />

Mentalität <strong>und</strong> Normen auf die Mikro<strong>und</strong><br />

Mesoebene übertragen hätte. Rühl wandte sich<br />

früher als die meisten anderen gegen eine unwissenschaftliche<br />

Vermischung natürlicher <strong>und</strong> gesellschaftlicher<br />

Ursachen geographischer Erscheinungen.<br />

Er wandte sich gegen den damals vorherrschenden<br />

Gr<strong>und</strong>satz, dass die Wirtschaftsgeographie ihre<br />

Hauptaufgabe in der Untersuchung der Abhängigkeit<br />

der Wirtschaft von den physisch-geographischen Bedingungen<br />

habe. Er vertrat vielmehr die Ansicht, dass<br />

die Wirtschaft in jeder Hinsicht eine gesellschaftliche<br />

Kategorie sei <strong>und</strong> es darum gehe, die räumliche Verteilung<br />

<strong>und</strong> Wirksamkeit mental gesteuerter <strong>und</strong> sozial<br />

übersetzter wirtschaftlicher Aktivitäten zu untersuchen.<br />

Der Begriff des Wirtschaftsgeists wurde dann<br />

später von Hartke <strong>und</strong> seinen Schülern durch Begriffe<br />

wie Motivation oder Bewertungsprozess ersetzt. Zu<br />

kritisieren ist, dass Rühl bei seinen Interpretationen<br />

nicht immer vorurteilsfrei argumentierte, sondern<br />

manchmal aus einem europäischem Überlegenheitsgefühl<br />

heraus urteilte. Dadurch, dass er sich auf Länder<br />

<strong>und</strong> Großregionen bezog, passierten ihm auch<br />

manche grobe Verallgemeinerungen, welche die innere<br />

Differenzierung der untersuchten Länder nicht<br />

gebührend berücksichtigten.<br />

Bobek <strong>und</strong> Hartke - der Wendepunkt<br />

für die deutschsprachige<br />

, Sozialgeographie______________<br />

Wie von Thomale (1972), Werlen (2004) <strong>und</strong> Weichhart<br />

(2007b), auf die sich die folgenden Ausführungen<br />

über Bobek <strong>und</strong> Hartke weitgehend stützen, dargelegt<br />

wird, kann der Beginn der modernen deutschsprachigen<br />

Sozialgeographie mit dem Jahr 1947 angesetzt<br />

werden, als Hans Bobek (Abbildung 6.5) auf<br />

dem Bonner Geographentag einen Vortrag über<br />

„Die Stellung <strong>und</strong> Bedeutung der Sozialgeographie“<br />

(Bobek 1948) hielt. Bobek hatte schon in seiner Dissertation<br />

über Innsbruck die Wechselbeziehungen<br />

zwischen Wirtschaftsgefüge <strong>und</strong> Sozialstruktur, den<br />

unterschiedlichen Wohnwert verschiedener Stadtteile,<br />

den Zusammenhang zwischen Wohnqualität<br />

<strong>und</strong> sozialer Schichtzugehörigkeit <strong>und</strong> räumliche<br />

Disparitäten des Wahlverhaltens untersucht. Als Leiter<br />

des Orientreferats in der militärgeographischen<br />

Abteilung des Oberkommandos des Heeres von<br />

1940 bis 1943 <strong>und</strong> als Mitglied der Deutschen Forschungsstaffel<br />

im Jahr 1944 verfasste er ein ausführliches<br />

Manuskript mit dem Titel „Soziale Landschaften<br />

des Orients“, das zwar nie veröffentlicht wurde,<br />

aber die Basis für seine späteren Arbeiten über den<br />

Orient wurde (Bobek 1962). Da die Leistungen von<br />

Bobek <strong>und</strong> Hartke auch im Kapitel 6 gewürdigt werden,<br />

soll hier eine kurze Zusammenfassung genügen.<br />

Nach Bobek bedarf jede Funktion eines Trägers, dies<br />

sind nicht Individuen sondern „menschliche Gruppen“,<br />

die sich im Raum betätigen. Er plädiert für<br />

eine Berücksichtigung des Gesellschaftlichen in der<br />

geographischen Forschung <strong>und</strong> begründet die Forschungstradition<br />

der sozialwissenschaftlichen Landschaftsforschung.<br />

Sozialgeographie sieht er als Betrachtungsweise,<br />

die zu einem vertieften Raumverständnis<br />

beitragen <strong>und</strong> soziale Erklärungen für die<br />

beobachtbaren Landschaftserscheinungen anbieten<br />

soll. Ziel solcher Betrachtungen sei ein tieferes Verständnis<br />

der großen Kulturgebiete <strong>und</strong> Kulturen<br />

der Erde durch Aufhellung ihres inneren Mechanismus.<br />

Die menschlichen Gruppen gleichartig handelnder<br />

Menschen stehen nicht isoliert da, sondern fügen<br />

sich zu bestimmten, konkreten, historisch <strong>und</strong> regional<br />

begrenzten größeren Komplexen, zu Gesellschaften,<br />

zusammen. Die konkreten Sozialkörper (Bevölkerungen<br />

bestimmter Sozialstruktur) sind nach Bobek<br />

Ausgangspunkt <strong>und</strong> Regler jedweder menschlichen<br />

Betätigung im Raum.<br />

Bobek hat das auf Vidal de la Blache zurückgehende<br />

Konzept der Lebensformengruppen in die


Soziale Missstände, soziale Reformen <strong>und</strong> die Anfänge der Sozialgeographie 273<br />

deutschsprachige Sozialgeographie eingeführt, allerdings<br />

zu einem Zeitpunkt, als sich die französische<br />

Geographie schon wieder von diesem Konzept verabschiedet<br />

hatte. Unter Lebensformen verstand er<br />

Gruppierungen, die sowohl von landschaftlichen<br />

als auch von sozialen Kräften gleichzeitig geprägt<br />

erscheinen <strong>und</strong> die ihrerseits durch ihr Funktionieren<br />

sowohl in den natürlichen wie in den sozialen Raum<br />

hinein wirken. Das Konzept der Lebensformengruppen<br />

war für die moderne Industriegesellschaft<br />

aus mehreren Gründen ungeeignet. Eine weitere<br />

Schwachstelle bestand darin, dass Bobek nicht mit<br />

dem soziologischen Gi uppeiibegriff oder mit sozialen<br />

Systemen, sondern mit Merkmalsgruppen gearbeitet<br />

hat.<br />

Bobek definiert die Sozialgeographie als die Lehre<br />

von den sozialen Kräften, die in allen Teilgebieten der<br />

Anthropogeographie wirken. Zentrales Forschungsprojekt<br />

der analytischen Sozialgeographie sei die<br />

Landschaft. Es geht ihm also um das Aufdecken<br />

der sozialen Kräfte, welche hinter den verschiedenen<br />

Ausprägungen <strong>und</strong> Erscheinungsformen von Landschaften<br />

stehen. Die Landschaftsforschung ist für<br />

ihn nicht ein Mittel, etwas über die Gesellschaft zu<br />

erfahren, sondern er erforscht die Gesellschaft, um<br />

mehr über die Hintergründe der Landschaftsentwicklung<br />

zu lernen.<br />

Hartke (Abbildung 6.7) versuchte, über Indikatoren<br />

an gesellschaftliche Strukturen, Prozesse <strong>und</strong><br />

Veränderungen von Wertsystemen heranzukommen.<br />

Um den gesellschaftlichen Wandel aufzuzeigen, untersuchte<br />

Hartke zuerst eine Reihe von in der Landschaft<br />

sichtbaren Phänomenen wie zum Beispiel die<br />

Sozialbrache, die Vergrünlandung (Umwandlung<br />

von Ackerland in Grünflächen), die Aufforstung,<br />

die Verbreitung von Sonderkulturen oder den Ausmärkerbesitz<br />

(Gr<strong>und</strong>stücke, die sich im Besitz von<br />

Personen befinden, die nicht in der Gemeinde wohnen,<br />

in denen sich ihr Besitz befindet). Später verwendete<br />

er auch noch andere Indikatoren. Exemplarisch<br />

für Hartkes Sichtweise ist sein Aufsatz über die Sozialbrache<br />

als Phänomen der geographischen Differenzierung<br />

der Landschaft (Hartke 1956; Fre<strong>und</strong><br />

1993). Es war ihm aufgefallen, dass nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg zahlreiche Parzellen ackerfähigen Landes<br />

brachfielen. Dies war jedoch nicht - wie bei echten<br />

Hlurwüstungen - mit einer Verminderung der Bevölkerungszahl<br />

oder Kriegszerstörungen verb<strong>und</strong>en.<br />

Diese „Kümmererscheinungen“ in der Landschaft<br />

waren auch nicht eine Folge von Armut, ganz im Gegenteil,<br />

die Sozialbrache ging mit wachsendem Wohlstand<br />

einher. Es wurden nicht die schlechten Böden<br />

oder die am weitesten vom Dorf entfernten Parzellen<br />

zuerst aufgelassen, sondern fruchtbare Äcker in der<br />

Nähe der Dörfer. Dies war nur zu verstehen, wenn<br />

man, wie Hartke, eine Veränderung des Wertesystems<br />

der Bevölkerung annahm. Mit dem dauerhaften<br />

Übertritt eines Bauern in eine nichtagrarische Sozialgruppe<br />

<strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Veränderung<br />

der sozialen Lage des Gr<strong>und</strong>besitzers änderten sich<br />

auch die Bewertung des Bodens <strong>und</strong> die Art der Bodennutzung,<br />

<strong>und</strong> zwar unabhängig von den natürlichen<br />

Gegebenheiten. In der neuen sozialen Wertordnung<br />

hatten naturräumliche Faktoren (zum Beispiel<br />

Fruchtbarkeit der Böden) ihren Sinn verloren. Deshalb<br />

war die Sozialbrache für Hartke ein aussagekräftiger<br />

Indikator für den sozialen Wandel von der<br />

Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft.<br />

Entscheidend waren für ihn die sich ständig wiederholenden<br />

Bewertungsprozesse, die von den sozialen<br />

Gruppen gegenüber den einzelnen Geofaktoren<br />

vorgenommen werden. Das Ergebnis dieser Bewertungsprozesse<br />

motiviert <strong>und</strong> begrenzt regional die<br />

Aktivitäten der Menschen. Das Ergebnis der Wertung<br />

sind Räume bestimmten Verhaltens von sozialen<br />

Gruppen <strong>und</strong> eine Differenzierung der Kulturlandschaft.<br />

Ein Ziel der Sozialgeographie bestand nach<br />

Hartke in der geographischen Analyse sozialer Verhaltensmuster<br />

im Raum. Dabei vertrat er eher einen<br />

prozesshaften Forschungsansatz. Er wollte die statische<br />

Betrachtung sozialer Strukturen durch eine dynamische<br />

Auffassung sozialer Prozessabläufe ablösen<br />

<strong>und</strong> forderte, dass sich die Sozialgeographie auch mit<br />

sozialen Normen, Interaktionsvorgängen, Bewertungen,<br />

sozialen Prozessen <strong>und</strong> Verhaltensmustern beschäftigt.<br />

Bei einer zusammenfassenden Bewertung bleibt<br />

festzuhalten, dass Bobek noch der Landschaftsgeographie<br />

verpflichtet blieb, während Hartke die<br />

Abkehr vom Forschungsgegenstand Landschaft <strong>und</strong><br />

eine Zuwendung zu menschlichen Aktivitäten <strong>und</strong><br />

ihren soziokulturellen Hintergründen verlangte<br />

(Werlen 2004). Bei Hartke ist die Kulturlandschaft<br />

nicht mehr der eigentliche Forschungsgegenstand,<br />

sondern eine Registrierplatte zur Erklärung menschlicher<br />

Aktivitäten beziehungsweise das Ergebnis<br />

menschlicher Wertung. Diese Wertung ist abhängig<br />

von der Zugehörigkeit des Wertenden zu bestimmten<br />

sozialen Gruppen. Die auf der Registrierplatte (Kulturlandschaft)<br />

abgebildeten Spuren sind als Anzeiger<br />

(Indikatoren) sozialer Prozesse zu interpretieren.<br />

Ausschlaggebend sind nicht die Geofaktoren (natürlichen<br />

Bedingungen) an sich, sondern die Bewertung<br />

der natürlichen Bedingungen durch die Akteure.<br />

Diese Bewertungen <strong>und</strong> Interpretationen hängen ab<br />

von den kulturellen Wertordnungen, auf die sich


274 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

m:'<br />

i<br />

i<br />

i<br />

die Akteure jeweils beziehen, von den subjektiven<br />

Zielsetzungen <strong>und</strong> von den verfügbaren technischen<br />

Möglichkeiten. Damit war schon die Bedeutung des<br />

Wissens für das Handeln angesprochen, ohne dass<br />

dies explizit so formuliert wurde. Mit Hartke erfolgte<br />

also eine entscheidende Wende zu einer engagierten<br />

sozialwissenschaftlichen Geographie, zu einer Geographie,<br />

welche die politischen Probleme erkennt<br />

<strong>und</strong> deren geographische Dimension erkennbar<br />

macht.<br />

Wissen, Ausbildungsniveau<br />

<strong>und</strong> Bildungsverhalten als<br />

Schlüsselthemen der Sozial-<br />

, géographie<br />

Auf dem Weg zur Wissens-<br />

I gesellschaft_____________<br />

Im Laufe der Geschichte waren Entwicklungssprünge<br />

der Wirtschaft, Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft immer mit<br />

der Generierung <strong>und</strong> Anwendung von neuem Wissen<br />

- Entdeckungen, Erfindungen, wissenschaftlichen Erkenntnissen,<br />

neuem Heils- oder Orientierungswissen,<br />

technologischem Eortschritt, neuen Organisationsstrukturen<br />

oder neuen Möglichkeiten der Speicherung<br />

<strong>und</strong> Übertragung von Informationen - verb<strong>und</strong>en.<br />

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

hat in Europa die Bedeutung von Eorschung, Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Humanressourcen noch extrem stark<br />

zugenommen, weil in den damals aufstrebenden<br />

Schlüsselindustrien (zum Beispiel Chemie, Elektrotechnik,<br />

Maschinenindustrie) der technologische<br />

Fortschritt - <strong>und</strong> damit auch der Vorsprung vor<br />

der Konkurrenz - immer weniger durch zufällig entstandene<br />

Erfindungen oder durch spontane Verbesserungen<br />

der Technologie, sondern durch zielgerichtete,<br />

mit hohen Summen finanzierte wissenschaftliche<br />

Forschungen zustande gekommen ist. Nachdem<br />

in den 80er-Jahren des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erstmals eigenständige,<br />

großindustrielle Forschungsorganisationen<br />

entstanden, wurden technische <strong>und</strong> organisatorische<br />

Innovationen zum Schlüssel des wirtschaftlichen<br />

Erfolgs. Der wissenschaftliche Fortschritt, die<br />

zunehmende Bedeutung des Fachwissens <strong>und</strong> der beruflichen<br />

Kompetenzen sowie der Wandel der Autorität<br />

haben den Übergang von einer Privilegienhierarchie<br />

zu einer Kompetenzhierarchie beziehungsweise<br />

den gesellschaftlichen Wandel von der askriptiven<br />

zur meritokratischen Gesellschaft eingeleitet. Der<br />

Prozess der Meritokratisierung hat ein gewaltiges Potenzial<br />

an individueller Kreativität <strong>und</strong> Motivation<br />

freigesetzt <strong>und</strong> ein hohes Maß an sozialer <strong>und</strong> regionaler<br />

Mobilität ausgelöst. Er hat nicht nur die Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie sozialer Status erworben wird, verändert,<br />

sondern auch eine neue wirtschaftliche Dynamik bewirkt.<br />

Ohne die Prozesse der Meritokratisierung, Professionalisierung<br />

<strong>und</strong> Bürokratisierung der Arbeitsbeziehungen<br />

wäre in Europa der rasche Modernisierungs-<br />

<strong>und</strong> Industrialisierungsprozess nicht möglich<br />

gewesen.<br />

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts erhielten<br />

wissenschaftliche Erkenntnisse, Erfindungen,<br />

technologische Innovationen, Forschungsinfrastruktur,<br />

berufliche Qualifikationen <strong>und</strong> effiziente Organisationsstrukturen<br />

eine so hohe Bedeutung, dass in<br />

den 1960er-Jahren erstmals von einer Wissensoder<br />

Informationsgesellschaft gesprochen wurde<br />

<strong>und</strong> sich Mitte der 1960er-Jahre (Geipel 1965) eine<br />

Geographie des Bildungswesens zu entwickeln begann<br />

(Meusburger 1998). Regionale Unterschiede<br />

des Wissens, des Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsniveaus,<br />

des wissenschaftlichen <strong>und</strong> technologischen<br />

Niveaus sowie die räumliche Verteilung der funktionalen<br />

Machteliten verschiedenster Institutionen sind<br />

jedoch nicht nur zentrale Themen einer Bildungsgeographie<br />

oder Geographie des Wissens, sondern für<br />

alle Teilgebiete der <strong>Humangeographie</strong> von f<strong>und</strong>amentaler<br />

Bedeutung, sodass sie hier etwas ausführlicher<br />

behandelt werden.<br />

Wenn man sich die für die <strong>Humangeographie</strong><br />

zentralen Fragen stellt, warum regionale Unterschiede<br />

des sozioökonomischen Entwicklungsniveaus über<br />

so lange Zeiträume bestehen bleiben, warum sich<br />

zentral-periphere Disparitäten der Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Gesellschaftsstruktur immer wieder von neuem entwickeln,<br />

warum bestimmte Zentren oder Regionen<br />

von Umbruchsphasen profitieren <strong>und</strong> andere nicht,<br />

warum einige Regionen bei technischen Umwälzungen<br />

ihre Chancen ergreifen <strong>und</strong> ihre Wettbewerbsposition<br />

verbessern können <strong>und</strong> andere nicht, dann kristallisieren<br />

sich als tiefer liegende Ursachen immer<br />

wieder räumliche Disparitäten des Wissens, die Zusammenhänge<br />

zwischen Wissen <strong>und</strong> Macht sowie<br />

die räumliche Mobilität verschiedener Wissensträger<br />

heraus.<br />

Bestimme technologische, soziale <strong>und</strong> organisatorische<br />

Innovationen können im Rahmen eines räumlichen<br />

Diffusionsprozesses nur von jenen Organisationen,<br />

Standorten oder Regionen sofort aufgenommen<br />

werden, in denen zumindest ein Teil der Bevöl-


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 275<br />

5.12 Räumliche Diffusion<br />

der Technik<br />

der Papierherstellung<br />

Die räumliche Diffusion<br />

der Technik der Papierherstellung<br />

vom<br />

Ursprungsland China<br />

bis nach Europa <strong>und</strong> in<br />

die USA benötigte r<strong>und</strong><br />

1900 Jahre. (Quelle:<br />

Bloom 1999, 28)<br />

kerung über das Vorwissen verfügt, das für die Übernahme<br />

<strong>und</strong> Anwendung des neuen Wissens notwendig<br />

ist. Jene Standorte, an denen die Arbeitsplätze von<br />

hoch qualifizierten Experten <strong>und</strong> wichtigen Entscheidungsträgern<br />

konzentriert sind <strong>und</strong> die sich durch ein<br />

überdurchschnittlich hohes Ausbildungsniveau der<br />

Bevölkerung sowie durch starke Zuwanderung<br />

hoch Qualifizierter auszeichnen, können sich aufgr<strong>und</strong><br />

ihres Wissensvorsprungs <strong>und</strong> ihrer Netzwerke<br />

immer wieder einen ökonomischen, technologischen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> infrastrukturellen Vorsprung sichern<br />

<strong>und</strong> damit zu Initiatoren von Neuerungen werden.<br />

Dieser Vorsprung übt im Rahmen eines Selbstverstärkungseffekts<br />

wiederum eine große Anziehungskraft<br />

auf Wissenschaftler, Intellektuelle, Experten, Kulturschaffende<br />

<strong>und</strong> sonstige hoch Qualifizierte aus anderen<br />

Regionen aus, sodass in weiterer Folge die Nachzügler<br />

des Innovationsprozesses ständig einen beträchtlichen<br />

Teil der aus ihnen hervorgehenden<br />

hoch Qualifizierten an die Zentren verlieren.<br />

Regionale Unterschiede des Wissens <strong>und</strong> des technologischen<br />

Niveaus sind seit frühester Menschheitsgeschichte<br />

nachweisbar. Die Arbeitsteilung führte<br />

einerseits zu beruflichen Spezialisierungen <strong>und</strong> damit<br />

zu einer sozialen <strong>und</strong> räumlichen Differenzierung<br />

von Wissen, Erfahrungen <strong>und</strong> Qualifikationen. Andererseits<br />

erforderte sie einen erhöhten Aufwand<br />

an Kommunikation, Koordination, Planung <strong>und</strong><br />

Kontrolle, der zur Entwicklung <strong>und</strong> Stärkung von<br />

Zentren führte. Nicht nur die Erfindung der Schrift,<br />

sondern auch die Herstellung von Papier, der Buchdruck,<br />

das Telefon, die Eisenbahn, der Computer <strong>und</strong><br />

das Internet haben das Potenzial für eine räumliche<br />

.•\rbeitsteilung jeweils vergrößert, die Steuerung<br />

<strong>und</strong> Koordination von komplexen Organisationen<br />

über große Entfernungen hinweg erleichtert, eine<br />

weitere Konzentration von Wissen <strong>und</strong> Macht <strong>und</strong><br />

eine Dezentralisierung von Routinefunktionen begünstigt<br />

<strong>und</strong> somit zu neuen räumlichen Disparitäten<br />

des Wissens beigetragen.<br />

In früheren Jahrh<strong>und</strong>erten haben sich bestimmte<br />

Wissensinhalte oder technische Errungenschaften in<br />

der räumlichen Dimension nur sehr langsam verbreitet.<br />

So vergingen beispielsweise r<strong>und</strong> 1 900 Jahre, bis<br />

die Technik der Papierherstellung von China über<br />

mehrere Stationen bis nach Europa <strong>und</strong> anschließend<br />

nach Amerika gelangte (Abbildung 5.12). Auch der<br />

Alphabetisierungsprozess Europas dauerte mehrere<br />

H<strong>und</strong>ert Jahre. Etwa ab dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden<br />

Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse durch den zunehmenden<br />

Fernhandel, das neu aufkommende Rechnungswesen<br />

<strong>und</strong> die Einführung des Wechsels auch für<br />

Kaufleute zu einer wirtschaftlich nützlichen Qualifikation.<br />

Trotzdem hat es noch etwa 600 Jahre gedauert,<br />

bis in Europa eine breite Alphabetisierung einsetzte<br />

(Abbildung 5.13). In der Peripherie Europas<br />

(Süd- <strong>und</strong> Osteuropa) war die Alphabetisierung<br />

erst in den 1930er-Jahren abgeschlossen (Meusburger<br />

1998). Da ein hoher Anteil von Analphabeten auch<br />

die räumliche Diffusion vieler anderer wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse<br />

behindert hat, hatten räumliche Disparitäten der Alphabetisierung<br />

nachhaltige Auswirkungen auf viele<br />

Bereiche der Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Das<br />

Nord-Süd-Gefälle der Alphabetisierung in Italien<br />

oder das West-Ost-Gefälle der Alphabetisierung in<br />

der Habsburger Monarchie (Abbildung 5.14) spiegelten<br />

sich noch 100 Jahre später in zahlreichen anderen<br />

Entwicklungsunterschieden wider. Dies heißt nicht,<br />

dass Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse an sich eine so<br />

nachhaltige Bedeutung hatten. Sondern dies ist<br />

eher ein Beleg für die Tatsache, dass der Indikator<br />

„Anteil der Analphabeten“ im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert repräsentativ<br />

für ein ganzes Bündel von anderen, sehr<br />

wichtigen Einflussfaktoren <strong>und</strong> Ursachen von Unterentwicklung<br />

war <strong>und</strong> in Entwicklungsländern auch<br />

heute noch ist. Deshalb haben auch Entwicklungstheorien,<br />

welche die Bedeutung des Analphabetismus<br />

nicht zur Kenntnis nehmen, nur einen geringen Erklärungswert.


276 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

%<br />

- 50<br />

5.13 Die Entwicklung des Anteils der<br />

Lese- <strong>und</strong> Schreibk<strong>und</strong>igen nach 1850<br />

Die regionalen Unterschiede der Alphabetisierung<br />

in Europa hatten nachhaltige<br />

Auswirkungen auf diverse wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Modernisierungsprozesse<br />

<strong>und</strong> spiegeln sich zum Teil bis<br />

heute in Entwicklungsunterschieden wider.<br />

(Quelle: Meusburger 1998, ergänzt nach<br />

Johansson E. 1977)<br />

Mi<br />

fl?.<br />

Alphabetisierung<br />

Alphabetisierung bezeichnet allgemein den Prozess der Vermittlung<br />

<strong>und</strong> Ausbreitung von Lese- <strong>und</strong>/oder Schreibkenntnissen.<br />

Mit der Entwicklung erster lokaler Schriftsysteme, die<br />

vermutlich nach 4000 v. Chr. in Sumer <strong>und</strong> etwas später in<br />

Ägypten entstanden, blieb Schriftlichkeit zunächst auf einzelne<br />

soziale Schichten, Kasten oder Berufsgruppen beschränkt,<br />

welche sie meist zu religiösen, wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> administrativen Zwecken nutzten.<br />

Technologische Innovationen wie der Buchdruck <strong>und</strong> die<br />

dadurch zunehmende Verfügbarkeit geschriebener Werke<br />

schufen die Voraussetzungen zur Massenalphabetisierung<br />

der Bevölkerung, die in Europa in der Frühen Neuzeit einsetzte<br />

(Houston 1988), aber erst während des späten 19. <strong>und</strong> im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts alle Bevölkerungsschichten erreichte (Cipolla<br />

1969, Vincent 2000). Seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war<br />

die zügige Verbreitung elementarer Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse<br />

eng mit der flächendeckenden Etablierung schulischer<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> staatlichen Maßnahmen zur Durchsetzung<br />

der Schulpflicht verknüpft, spiegelte aber auch eine steigende<br />

private Nachfrage wider (Meusburger 1998).<br />

Um den zeitlichen Verlauf <strong>und</strong> regionale Ausprägungen von<br />

Alphabetisierungsprozessen nachvollziehen zu können, ist<br />

man für den vorstatistischen Zeitraum auf die Auswertung<br />

von Urk<strong>und</strong>en (Testamente, Prozessvollmachten, Kaufverträge,<br />

Petitions- oder Steuerlisten) angewiesen. Als besonders<br />

repräsentative Quelle gelten Heiratsregister, die in vielen Ländern<br />

von den Brautleuten <strong>und</strong> den Trauzeugen zu unterzeichnen<br />

waren (Hoyler 1996). Seit Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde<br />

die Frage nach der Lese- <strong>und</strong> Schreibk<strong>und</strong>igkeit in zahlreiche<br />

Volkszählungen aufgenommen, später aber häufig durch<br />

eine differenziertere Erfassung des Ausbildungsniveaus abgelöst,<br />

sodass heute fürviele westliche Industrieländer in den Statistiken<br />

von UNESCO, UNDP oder Weltbank nur noch Schätzwerte<br />

zum Stand der Alphabetisierung angegeben werden.<br />

Die Rekonstruktion historischer Alphabetisierungsverläufe<br />

zeigt, dass die Verbreitung von Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnissen<br />

nicht als linearer Prozess verstanden werden darf, sondern<br />

sich sozial, berufs- <strong>und</strong> geschlechtsspezifisch sowie räumlich<br />

auf allen Maßstabsebenen sehr differenziert gestaltete (Furet<br />

& Ozouf 1977, Stephens 1987, Hoyler 1998). Eine historische<br />

Betrachtungsweise, die Schriftlichkeit als soziale Praxis im jeweiligen<br />

gesellschaftlichen Kontext analysiert, mahnt zur Vorsicht<br />

gegenüber Ansätzen, die Literalität als politisch oder kulturell<br />

neutrale beziehungsweise autonome Kulturtechnik interpretieren<br />

(Bödeker & Hinrichs 1999). Einige Autoren, meistens<br />

Historiker, warnen vor einem „Mythos Alphabetisierung“<br />

(Graff 1979) beziehungsweise vor der Annahme, dass ein enger<br />

Zusammenhang zwischen Alphabetisierung <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Entwicklung bestehe. Diese Skeptiker machen jedoch<br />

in der Regel mindestens einen der folgenden Fehler. Erstens<br />

haben sie nicht die unterschiedlichen Motive der Alphabetisierung<br />

beachtet. Wenn Leute Lesen lernten, weil Lesekenntnisse<br />

die Voraussetzung einer Heiratserlaubnis waren<br />

(zum Beispiel ab 1686 in Schweden) kann dies kaum Auswirkungen<br />

auf die wirtschaftliche Entwicklung haben (Meusburger<br />

1998). ln Ländern, in denen Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse<br />

erworben wurden, weil sie einen ökonomischen Vorteil brachten,<br />

ist die Korrelation dagegen sehr hoch. Zweitens hängt es<br />

von der Maßstabsebene ab, ob ein enger Zusammenhang zwischen<br />

Alphabetisierung <strong>und</strong> wirtschaftlicher Entwicklung<br />

nachgewiesen werden kann oder nicht. Am stärksten ist<br />

der Zusammenhang auf der Makroebene (auf der Ebene B<strong>und</strong>esland<br />

oder Staat), am geringsten auf der Mikroebene (Gemeinde<br />

oder Stadtviertel). Die Mikroebene ist aus mehreren<br />

Gründen für eine Korrelation zwischen Alphabetisierung <strong>und</strong><br />

wirtschaftlicher Entwicklung nicht oder nur mit Einschränkungen<br />

geeignet. Denn die räumliche Arbeitsteilung innerhalb<br />

eines großen Unternehmens <strong>und</strong> die räumliche Mobilität


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 277<br />

von Akteuren führen dazu, dass auf der Ebene der Wohngemeinden<br />

die Zusammenhänge zwischen der Alphabetisierung<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Entwicklung verwischt werden. Drittens<br />

muss man den time lag zwischen Alphabetisierung <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Entwicklung berücksichtigen. Eine Alphabetisierung<br />

kann erst dann wirtschaftliche Konsequenzen haben,<br />

wenn die betreffenden Personen wirtschaftlich aktiv werden<br />

beziehungsweise ins Erwerbsleben eintreten. Viertens ist zu<br />

berücksichtigen, dass jeder Indikator nur einen bestimmten<br />

Lebenszyklus hat. Solange nur 10 bis 40 Prozent der Bevölkerung<br />

lesen <strong>und</strong> schreiben können, hat der Indikator Analphabetenquote<br />

eine hohe Aussagekraft über den sozioökonomischen<br />

Entwicklungsstand, wenn 95 Prozent der Bevölkerung<br />

alphabetisiert sind, ist die Aussagekraft dieses Indikators<br />

gering. Fünftens hängen die wirtschaftlichen Auswirkungen<br />

einer Alphabetisierung davon ab, wann sie durchgeführt<br />

wird. Wenn die Bevölkerung eines Landes erst Ende des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts Lesen <strong>und</strong> Schreiben lernt, wird dies nur geringe<br />

wirtschaftliche Auswirkungen haben. Wenn der Alphabetisierungsprozess<br />

schon um 1810 erfolgte, bedeutete dies<br />

einen enormen wirtschaftlichen Wettbewerbsvorteil. Trotz dieser<br />

methodischen Bedenken wird die Alphabetisierungsquote<br />

heute als Schlüsselvariable eines umfassender definierten<br />

Entwicklungsbegriffs gesehen. Sie bildet eine zentrale<br />

Größe bei der Berechnung des Human Development Index<br />

(UNDP 2000) <strong>und</strong> ist gleichsam das Nadelöhr für Jede Entwicklung.<br />

Weltweit waren im Jahr 2000 r<strong>und</strong> 875 Millionen Erwachsene<br />

noch Analphabeten. Von diesen leben r<strong>und</strong> 98 Prozent in<br />

Entwicklungsländern, zwei Drittel sind Frauen (UNESCO<br />

2000). Diesen Zahlen liegt eine pragmatische Definition<br />

von Literalität zugr<strong>und</strong>e. Als alphabetisiert gilt demnach,<br />

wer eine einfache Aussage über das Alltagsleben lesen,<br />

schreiben <strong>und</strong> verstehen kann, wobei die Kriterien bei der<br />

Erhebung solcher Statistiken zwischen einzelnen Ländern<br />

variieren können (UNDP 2000). In mehreren afrikanischen<br />

Entwicklungsländern nimmt aufgr<strong>und</strong> der hohen Geburtenraten<br />

die absolute Zahl der Analphabeten trotz aller Anstrengungen<br />

im Bereich des Bildungswesens noch zu.<br />

In den westlichen Industrieländern tritt das Phänomen des<br />

„funktionalen“ Analphabetismus seit einigen Jahren stärker in<br />

das öffentliche Bewusstsein, das sich auf das Unterschreiten<br />

der Jeweiligen gesellschaftlichen Mindestanforderungen an<br />

die Beherrschung der Schriftsprache bezieht (Kramer 1997,<br />

OECD 2000).<br />

Eine besondere Problematik stellen sogenannte orale Kulturen<br />

dar, also Kulturen ohne Schrift. Eine orale Kultur kann<br />

zwar große kulturelle Leistungen erbringen, aber keine komplexen,<br />

großen Organisationen <strong>und</strong> keine höheren Stufen der<br />

Arbeitsteilung entwickeln. Da Informationen nur mündlich<br />

durch direkte Face-to-face Kontakte verbreitet werden können,<br />

ist keine höher entwickelte Arbeitsteilung möglich.<br />

Mündliche Überlieferung, Tradition <strong>und</strong> Brauchtum bilden<br />

das zentrale Bindeglied zwischen Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart.<br />

Quelle: P. Meusburger In: Lexikon der Geographie<br />

Wechselbeziehungen zwischen<br />

I Wissen <strong>und</strong> Macht___________<br />

Zwischen Wissen <strong>und</strong> Macht gibt es enge Wechselbeziehungen,<br />

die von Philosophen, Reformern <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlern,<br />

zum Beispiel von Konfuzius,<br />

Plato, Shotoku Taishi, Nietzsche, M. Weber, Foucault<br />

oder Lyotard, seit mehr als 2 000 Jahren thematisiert<br />

werden. Macht <strong>und</strong> Wissen haben in allen Kulturen<br />

<strong>und</strong> Zeitepochen Koalitionen geschlossen <strong>und</strong> die Inhaber<br />

der Macht haben immer versucht, auf die Verbreitung<br />

von Informationen Einfluss zu nehmen. Da<br />

Wissen Teil <strong>und</strong> Instrument von Herrschaft <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung<br />

ist, müssen die Inhaber der Macht<br />

versuchen, die wichtigsten Experten des analytischen<br />

Wissens (des Sach- <strong>und</strong> Verfügungswissens) <strong>und</strong> die<br />

wichtigsten Repräsentanten des Orientierungs- oder<br />

Heilswissen für ihre Ziele zu gewinnen <strong>und</strong> sie in<br />

Netzwerke der Zustimmung einzubinden. Wenn<br />

Wissen als Strategie der Lebensbewältigung interpretiert<br />

wird, ist es nicht möglich, beim einzelnen Akteur<br />

zwischen Sachwissen <strong>und</strong> Orientierungswissen eine<br />

scharfe Grenze zu ziehen. Beide Wissenskategorien<br />

sind notwendig, um sich im Leben zurechtzufinden,<br />

<strong>und</strong> sie beeinflussen sich auch gegenseitig. Innerhalb<br />

eines sozialen Systems benötigt man jedoch Spezialisten<br />

für die eine oder andere Form von Wissen, sodass<br />

auf dieser Ebene eine Unterscheidung gerechtfertigt<br />

ist.<br />

, Funktionen des Sachwissens<br />

Der Erfolg oder Misserfolg einer Aktion aber auch das<br />

langfristige Überleben eines zielgerichteten, sozialen<br />

Systems hängen davon ab, auf welche Weise bei<br />

den vielen iterativen Schritten eines Entscheidungsprozesses<br />

etwas wahrgenommen, analysiert <strong>und</strong> interpretiert<br />

wird <strong>und</strong> wie die dabei gewonnenen Erkenntnisse<br />

in Aktivitäten einfließen. Bei jedem einzelnen<br />

Glied dieser Wahrnehmungs-, Analyse- <strong>und</strong> Entscheidungsketten<br />

können Fehler gemacht, Ressourcen<br />

vergeudet oder gegenüber den Wettbewerbern<br />

Vorteile erreicht werden. Schon die rechtzeitige<br />

Wahrnehmung eines Problems sowie die Erfassung<br />

<strong>und</strong> Beschreibung einer Situation hängen in erster Li-


278 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

1880<br />

Analphabetenrate<br />

in %<br />

□ unter 20,0<br />

i I 20,0 =<<br />

I I 40,0 =<<br />

H 60,0 =<<br />

u m über 80,0<br />

mmm Staatsgrenzen 1997<br />

1 = 3 Grenze Ungarns seit 1919<br />

km<br />

0 50 100<br />

1890<br />

5.14 Regionale Unterschiede der Analphabetenquote in der Habsburger Monarchie Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Die östliche Peripherie der Habsburgermonarchie erreichte erst mit einer Verspätung von 200 Jahren das Alphabetisierungsniveau<br />

der \westlichen Alpenregionen. Auch die heutigen sozioökonomischen Disparitäten im Karpatenraum <strong>und</strong> dem Balkan<br />

haben noch eine bemerkenswerte Übereinstimmung mit den damaligen Disparitäten der Alphabetisierung. (Quelle: Meusburger 1998)


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthennen der Sozialgeographie 279<br />

nie vom Vorwissen der betreffenden Akteure ab. Das<br />

Vorwissen entscheidet, ob <strong>und</strong> wie verfügbare Informationen<br />

wahrgenommen, analysiert <strong>und</strong> bewertet<br />

werden. Von der Bewertung einer Information hängt<br />

es ab, ob sie in den Wissensbestand aufgenommen<br />

wird beziehungsweise diesen erweitern kann. Wenn<br />

die für eine Entscheidung wichtigen Fakten <strong>und</strong> Zusammenhänge<br />

nicht in ausreichendem Maße bekannt<br />

sind, wenn Probleme <strong>und</strong> Entwicklungen nicht rechtzeitig<br />

wahrgenommen werden, wenn die für die Analyse<br />

einer Situation benötigten Informationen <strong>und</strong><br />

Kenntnisse fehlen, wenn die eigenen Ressourcen<br />

<strong>und</strong> Fähigkeiten überschätzt <strong>und</strong> die der Konkurrenten<br />

unterschätzt werden, wenn die Chancen <strong>und</strong> Risiken<br />

einer Entwicklung falsch beurteilt werden,<br />

wenn sich also eine soziale Konstruktion allzu weit<br />

von dem entfernt, was man als Wirklichkeit, erfassbare<br />

Situation oder wahrnehmbare materielle Realität<br />

bezeichnen kann, ist bereits der Gr<strong>und</strong>stein für das<br />

Scheitern einer Aktion gelegt.<br />

ledes soziale System hat ständig Informationsdefizite<br />

<strong>und</strong> macht laufend Fehler, kann diese jedoch<br />

durch zusätzliche Anstrengungen, den Einsatz zusätzlicher<br />

Ressourcen, neues Lernen oder die Fehler seiner<br />

Wettbewerber zum Teil wieder ausgleichen. Um<br />

in einer dynamischen <strong>und</strong> mit großer Unsicherheit<br />

behafteten Außenwelt über einen längeren Zeitraum<br />

hinweg bestehen zu können, muss ein soziales System<br />

lern- <strong>und</strong> anpassungsfähig sein, hochrangige Kontakte<br />

zu anderen wichtigen Systemen haben <strong>und</strong><br />

frühzeitig neue Entwicklungen, Risiken <strong>und</strong> Chancen<br />

erkennen können. Deshalb benötigen die Inhaber der<br />

Macht für die Analyse einer Situation, für die Festlegung<br />

von erreichbaren Zielen, die Suche nach Problemlösungen<br />

<strong>und</strong> Alternativen, die effiziente Führung<br />

großer Organisationen, die Gewinnung eines<br />

technologischen Vorsprungs oder für die Aufrechterhaltung<br />

von Wettbewerbsfähigkeit die analytischen<br />

Fähigkeiten von Experten, Beratern <strong>und</strong> Wissenschaftlern.<br />

Der Begriff „Vorsprung“ impliziert, dass in vielen<br />

Situationen die zeitliche Dimension eine entscheidende<br />

Rolle spielt <strong>und</strong> dass Kompetenzen, die einem System<br />

einen Wettbewerbsvorteil verschaffen, immer<br />

selten sind. Um in einem Wettbewerb bestehen zu<br />

können, benötigt man nicht Wissen an sich, sondern<br />

einen Wissensvorsprung vor Konkurrenten oder sogenanntes<br />

zukunftsfähiges Wissen, also Wissen, über<br />

das nur wenige verfügen. Ein Vorsprung im Sachwissen<br />

kann in einem Technologievorsprung, in Erfindungen<br />

oder wissenschaftlichen Erkenntnissen bestehen,<br />

er kann sich aber auch in einer höheren<br />

Lern-, Anpassungs- <strong>und</strong> Analysefähigkeit sowie in<br />

Kreativität <strong>und</strong> Intuition ausdrücken, die dazu beitragen,<br />

dass ein soziales System mögliche Probleme <strong>und</strong><br />

Entwicklungen früher erkennt als seine Konkurrenten.<br />

Nicht zuletzt kann ein solcher Wissensvorsprung<br />

auch in effizienteren Organisationsstrukturen oder<br />

politischen Rahmenbedingungen liegen. Die Geschichte<br />

kennt Tausende Beispiele, wie ein Vorsprung<br />

an Technologie, Forschung, Produktivität oder Geheimdienstwissen<br />

zu militärischer Überlegenheit, höherer<br />

wirtschaftlicher Produktivität, einem Zuwachs<br />

an politischer Macht <strong>und</strong> ökonomischen Ressourcen<br />

führte <strong>und</strong> wie dieser Vorsprung im Laufe der Zeit<br />

durch fachliche Inkompetenz wichtiger Entscheidungsträger<br />

wieder verloren ging. Die entscheidenden<br />

Fragen lauten, wie die vertikale Arbeitsteilung<br />

<strong>und</strong> die formalen Kommunikationsstrukturen innerhalb<br />

einer Organisation aussehen sollen, wo die seltenen<br />

<strong>und</strong> wertvollen Kompetenzen eingesetzt werden<br />

sollen, ob wichtige Entscheidungsbefugnisse<br />

eher zentral oder eher dezentral angeordnet werden<br />

sollen <strong>und</strong> an welchen Standorten das für Führungskräfte<br />

erforderliche Potenzial für hochrangige Faceto-face<br />

Kontakte zur Verfügung steht (Geser 1983,<br />

Meusburger 1998, 2000, 2005).<br />

Funktionen des Orientierungswissens<br />

Es genügt nicht, zu einem bestimmten Zeitpunkt<br />

Macht zu erwerben, sie muss auch immer wieder legitimiert<br />

werden. Zu diesem Zwecke umgaben sich<br />

die Zentren der politischen Macht schon seit frühester<br />

Zeit mit Experten des Orientierungswissens oder<br />

Heilswissens, die den Anspruch erhoben, Botschaften<br />

von den Göttern oder Ahnen zu erhalten, Träume lesen<br />

<strong>und</strong> Orakel deuten zu können, vom Heiligen<br />

Geist inspiriert zu sein (Abbildung 5.15), heilige Bücher<br />

zu besitzen oder - im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert - als einzige<br />

die Schriften von Marx oder Mao richtig interpretieren<br />

zu können. Die Aufgaben der Experten des<br />

Orientierungswissens bestehen in erster Linie darin,<br />

dem eigenen sozialen System Orientierung, Motivation,<br />

Identität <strong>und</strong> Legitimation zu vermitteln.<br />

Beim Orientierungswissen geht es nicht um die Suche<br />

nach einer wissenschaftlich überprüfbaren Wahrheit,<br />

nicht um objektiv belegbare Fakten oder möglichst<br />

realitätsnahe Situationsanalysen, sondern um den<br />

Zusammenhalt <strong>und</strong> das Gemeinschaftserlebnis von<br />

sozialen Systemen, die Suche nach dem Sinnvollen,<br />

um moralische Urteile über Gut <strong>und</strong> Böse (das Eigene<br />

<strong>und</strong> das Fremde), um Verbindung mit unsichtbaren


280 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

1<br />

I# "<br />

/<br />

**6eii6G£Si^<br />

X<br />

t ^<br />

(a)<br />

\ < \ r<br />

5.15 Legitimierung von Orientierungswissen durch Berufung auf einen Wissensvorsprung durch göttliche Eingabe<br />

oder Kontakt zu den Ahnen a) Heiliger Gregor als Schreiber, Citeaux 12. Jahrh<strong>und</strong>ert: Der heilige Geist in Form einer Taube<br />

teilt dem Schreiber die göttliche Botschaft mit. (Quelle: Bibliothèque municipale de Dijon ms 180, fol 1) b) Die Krone wird dem<br />

Herrscher durch einen Engel aufgesetzt. Dies soll signalisieren, dass die Macht durch Gott verliehen wird. Portal von Notre<br />

Dame Paris.<br />

(b)<br />

oder übernatürlichen Kräften, um Ausschließung<br />

<strong>und</strong> Abgrenzung, um Beeinflussung, Propaganda<br />

<strong>und</strong> die „richtigen“ Interpretationen von Ereignissen.<br />

Diese der Festigung der Macht dienende Sinnsuche<br />

<strong>und</strong> die Legitimations-, Überzeugungs- <strong>und</strong> Motivationsarbeit<br />

leisteten in früheren Zeiten in erster Linie<br />

Schamanen, Seher, Traumdeuter, Schriftgelehrte<br />

oder Priester, später auch Propagandaabteilungen,<br />

Ideologen, fournalisten, Intellektuelle, Schriftsteller<br />

<strong>und</strong> Künstler. Da die Deutung von Orakeln <strong>und</strong><br />

Träumen, die Exegese von Texten oder die Interpretation<br />

des göttlichen Willens sehr beliebige Ergebnisse<br />

bringen können, konnten die Repräsentanten<br />

des Orientierungswissens ihre Privilegien <strong>und</strong> Deutungsmonopole<br />

in der Regel nur so lange aufrecht<br />

erhalten, wie sie das Wohlwollen oder den Schutz<br />

der jeweiligen Inhaber der politischen Macht genossen.<br />

Experten des Orientierungswissens sind für die Inhaber<br />

der Macht vor allem deshalb so nützlich, weil<br />

Priester, Ideologen <strong>und</strong> Propagandisten aufgr<strong>und</strong> der<br />

Tatsache, dass Heils- oder Orientierungswissen keinem<br />

wissenschaftlichen Beweis unterworfen <strong>und</strong><br />

nicht falsifizierbar ist, über ein viel größeres Beeinflussungs-,<br />

Mobilisierungs- <strong>und</strong> Täuschungspotenzial<br />

verfügen als etwa Naturwissenschaftler oder Techniker.<br />

Orientierungswissen, das in bestimmten Bevölkerungskreisen<br />

oder in bestimmten Territorien kraft<br />

Überlieferung für wahr oder richtig gehalten wird,<br />

kann eine enorme Wirksamkeit <strong>und</strong> Dynamik entfalten,<br />

eine große Mobilisierungskraft <strong>und</strong> soziale Kontrolle<br />

ausüben <strong>und</strong> somit das Handeln der Menschen<br />

stark beeinflussen. Es kann Menschen dazu bringen,<br />

große Anstrengungen <strong>und</strong> Opfer zu bringen, in<br />

schwierigen Situationen durchzuhalten oder gar als<br />

Märtyrer für eine gute Sache zu sterben.<br />

m<br />

i !


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 281<br />

Manifest Destiny als Leitmotiv der US-amerikanischen Politik<br />

Wie wirksam staatlich propagiertes Orientierungswissen zumindest<br />

für einen gewissen Zeitraum sein kann, zeigt sich<br />

nicht nur in den Ideologien totalitärer Regime oder in Religionskriegen.<br />

Wie am Beispiel der Manifest Destiny gezeigt werden<br />

kann, pflegen auch Demokratien solche politischen Legenden.<br />

Das von den Puritanern aus dem Alten Testament abgeleitete<br />

Konzept der Manifest Destiny (one nation <strong>und</strong>er god)<br />

ging von der Vorstellung aus, dass die USA die in Exodus 19:6<br />

erwähnte hoiy nation seien <strong>und</strong> einen göttlichen Auftrag hätten.<br />

John Winthrop {1606 - 1676), ein bedeutender Führer der<br />

Puritaner, überzeugte seine Anhänger, dass ihre Nation „a guiding<br />

light", ein Beispiel für die ganze Welt, <strong>und</strong> ein Bollwerk<br />

gegen das Königtum des Antichristen (damit waren die Jesuiten<br />

gemeint) sein werde. Die Manifest Destiny bestimmte von<br />

Anfang an die expansive amerikanische Politik. Wer Gottes<br />

eigene Nation ist <strong>und</strong> einen göttlichen Auftrag hat, muss rücksichtslos<br />

gegen seine Feinde vergehen, denn seine Kreuzzüge<br />

werden die Welt verbessern. Die Zerstörung des dämonischen<br />

Biests wird die Welt automatisch unter die Kontrolle der Heiligen<br />

bringen. Die Massaker an den Indianern wurden mit ähnlichen<br />

Begriffen <strong>und</strong> Argumenten gerechtfertigt, wie alle nachfolgenden<br />

Kriege. „ The bloodthirsty savages had to be radically<br />

decontaminated for inclusion in the kingdom o f the saints; and<br />

if they refused, annihilation was the logical solution“ (Jewett &<br />

Lawrence 2003). Für diese durch Zeitungen, Filme, Schulbü-<br />

Manifest Destiny<br />

Allegorie der Manifest Destiny von John<br />

Gast (1872). (Quelle: www.historyonthenet.com)<br />

eher, Romane <strong>und</strong> Comic-Hefte (Captain America) vermittelte<br />

Rhetorik der Manifest Destiny seien kurz einige Beispiele angeführt:<br />

John Adams schrieb am 13. Nov. 1813 an Thomas Jefferson:<br />

„Many h<strong>und</strong>red years must roll away before we shall be<br />

corrupted. Our pure, virtuous, public spirited, federative republic<br />

will last forever, govern the globe and introduce the perfection<br />

o f man“ (Jewett & Lawrence 2003).<br />

Die Manifest Desf/ny wurde von Kanzeln, in Schulen <strong>und</strong> in<br />

Romanen popularisiert. Dazu ein Beispiel aus einem Roman<br />

von Herman Melville. „And we Americans are the peculiar, chosen<br />

people - the Israel o f our time; we bear the ark o f the liberties<br />

o f the world [...] Long enough have we been sceptics<br />

with regard to ourselves, and doubted whether, indeed, the political<br />

Messiah had come. But he has come in us, if we would but<br />

give utterance to his promptings“ (Herman Melville 1850,<br />

1970, S. 151).<br />

Der Historiker <strong>und</strong> Senator Albert J. Beveridge unterstützte<br />

den Spanisch-Amerikanischen Krieg im Senat mit den Worten:<br />

„Almighty God f . ..] has marked the American people as the<br />

chosen nation to finally lead in the regeneration o f the world.<br />

This is the divine mission o f America ...We are the trustees of<br />

the world’s progress, guardians o f the righteous peace“ (Jewett<br />

& Lawrence 2003)<br />

Theodor Roosevelt erklärte vor dem Harvard Club bei der<br />

Kriegserklärung im Jahre 1917: „Ife v e r there was a holy war, it<br />

is this war“ (Jewett & Lawrence 2003).<br />

Der Prediger Randolph H. McKim unterstützte den Eintritt<br />

der USA in den Ersten Weltkrieg in Washington mit den Worten:<br />

„ It is God who has summoned us to this war. It is his war we<br />

are fighting... This conflict is indeed a crusade. The greatest in<br />

history - the holiest. It is in the profo<strong>und</strong>est and truest sense a<br />

Holy War. Yes, it is Christ, the King o f Righteousness, who calls<br />

us to grapple in deadly strife with this unholy and blasphemous<br />

power“ (Abrams 1969, Jewett/Lawrence 2003).<br />

Nicht nur der erste Golfkrieg wurde von George Bush am<br />

28. Januar 1991 mit Bewertungen wie „good versus evil, right<br />

versus wrong, human dignity and freedom versus tyranny and<br />

oppression" versehen (Jewett & Lawrence 2003), sondern<br />

auch der zweite Krieg gegen den Irak wurde von George W.<br />

Bush als „monumental struggle o f good versus evil“ beschrieben<br />

(Jewett & Lawrence 2003).<br />

(Quelle: Jewett & Lawrence 2003)<br />

Orientierungswissen als Machtinstrument<br />

Die Vermittlung der eigenen Kultur, Identität <strong>und</strong><br />

Ideologie an die nächste Generation funktioniert<br />

umso leichter, je weniger sie von konkurrierenden<br />

Hüten infrage gestellt wird <strong>und</strong> je eher man in der<br />

Lage ist, die Institutionen, welche Wissen produzieren<br />

<strong>und</strong> verbreiten, zu kontrollieren. Um Loyalitäten<br />

zu erzeugen <strong>und</strong> Macht zu legitimieren, haben die Inhaber<br />

der Macht seit frühester Menschheitsgeschichte<br />

immer wieder den Versuch unternommen, die ihrer<br />

Macht dienlichen Wertvorstellungen, kulturellen<br />

Normen <strong>und</strong> Interpretationen von historischen Ereignissen<br />

durchzusetzen beziehungsweise die Produktion<br />

<strong>und</strong> Verbreitung von Wissen zu kontrollieren.<br />

Eine wichtige Aufgabe der Repräsentanten des


282 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

I<br />

il i-<br />

i<br />

Orientierungswissens besteht darin, Situationen, Ereignisse,<br />

Personen <strong>und</strong> Organisationen zu definieren,<br />

zu kategorisieren <strong>und</strong> zu interpretieren. In einem bestimmten<br />

Konflikt kann ein <strong>und</strong> dieselbe Person als<br />

Terrorist oder Freiheitskämpfer, als Held oder<br />

Kriegsverbrecher definiert werden. Bei vielen Begriffen<br />

geht es nicht um Realdefinitionen, die auf empirischen<br />

Realitäten basieren, sondern um Nominaldefinitionen,<br />

die im Sinne einer Konvention festlegen,<br />

welcher Kampfbegriff im politischen Diskurs besonders<br />

brauchbar ist. Jene Partei, der es gelingt, ihre Begriffe<br />

durchzusetzen, hat einen Konflikt schon halb<br />

gewonnen.<br />

Die dafür verwendeten Methoden reichen von offener<br />

Zensur, Geheimhaltung, Fälschung <strong>und</strong> Einschüchterungsritualen<br />

bis zur subtilen Beeinflussungen<br />

durch Sprachregelungen <strong>und</strong> bildliche Darstellungen.<br />

Die meisten Methoden dienen dazu, die Aufmerksamkeit<br />

<strong>und</strong> das Interesse der Öffentlichkeit auf<br />

bestimmte Themen zu fokussieren <strong>und</strong> sie von anderen<br />

Themen abzulenken. Wie auf einer Theaterbühne<br />

soll der Zuschauer nur jene Teile der Szene betrachten,<br />

auf welche die Scheinwerfer gerichtet sind, während<br />

andere Akteure <strong>und</strong> Ereignisse im Dunkeln bleiben<br />

sollen. Durch die selektive Auswahl von Informationen<br />

<strong>und</strong> Themen (agenda setting) kann die Medienöffentlichkeit<br />

manipuliert werden, ohne dass<br />

zu Fälschungen oder Lügen gegriffen werden muss.<br />

Zensur, Fälschung von Dokumenten, Täuschung,<br />

Desinformation <strong>und</strong> Memorizid (Gedächtnismord)<br />

gehören seit mehr als 2 000 Jahren zum Werkzeug<br />

der Herrschenden. Die Unterscheidung von gutem<br />

<strong>und</strong> abzulehnendem Wissen sowie von falschen<br />

<strong>und</strong> richtigen Quellen des Wissens ist ein Gr<strong>und</strong>element<br />

vieler Religionen <strong>und</strong> politischer Ideologien.<br />

Der Höhepunkt in der Manipulation von Informationen<br />

wurde wohl von den totalitären Systemen <strong>und</strong><br />

den hegemonialen Demokratien des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

erreicht, die eine Meisterschaft in der Fälschung von<br />

Fotos <strong>und</strong> Dokumenten entwickelt haben. King<br />

(1997) hat die Foto- <strong>und</strong> Kunstmanipulationen in<br />

der Sowjetunion ausführlich dokumentiert <strong>und</strong> darauf<br />

hingewiesen, dass bei politischen Säuberungen<br />

die Gegner Stalins nicht nur liquidiert wurden, sondern<br />

auch jedes Andenken an sie verschwinden musste.<br />

Sobald Mitglieder des Herrschaftsapparats in Ungnade<br />

fielen, wurden sie aus Fotos in Lexika, Geschichts-<br />

<strong>und</strong> Schulbüchern wegretuschiert (Abbildung<br />

5.16). In der UdSSR wurden nach der bolschewistischen<br />

Machtergreifung bis zum Zusammenbruch<br />

des kommunistischen Systems etwa 100 000<br />

Buchtitel auf den Index gebracht <strong>und</strong> mehr als eine<br />

Milliarde gedruckter Bücher vernichtet (Ingold<br />

2005). Umfangreiche Büchervernichtungen gab es<br />

auch in anderen kommunistischen Staaten, im nationalsozialistischen<br />

Deutschland, im faschistischen Italien<br />

<strong>und</strong> anderen Ländern. Auch Demokratien kontrollieren<br />

<strong>und</strong> manipulieren die Verbreitung von Informationen<br />

durch eine Vielfalt von Maßnahmen. So<br />

werden in einigen Ländern bestimmte Dokumente in<br />

Archiven länger gesperrt, als es normalerweise vorgesehen<br />

ist, in Schulbüchern wird die Geschichte wider<br />

besseres Wissen selektiv dargestellt, weil man den<br />

Schülern vorenthalten will, dass ihr geliebtes Vaterland<br />

Verbrechen begangen hat, <strong>und</strong> selbst die Fälschung<br />

von Fotos <strong>und</strong> Dokumenten ist in Demokratien<br />

nicht ungewöhnlich. Schon im Mittelalter zielte<br />

das Verbrennen von Büchern <strong>und</strong> Schriften auf Memorizid<br />

(Gedächtnismord), also den Verlust von kulturellen<br />

Gedächtnissen <strong>und</strong> Erinnerungspotenzialen,<br />

das Ausrotten jeder künftiger Erinnerung <strong>und</strong> auf<br />

kollektives Vergessen; es galt als probates Mittel,<br />

um Häretiker <strong>und</strong> Ketzer zum Schweigen zu bringen.<br />

Da man über bestimmte Sprachregelungen auch<br />

die Denkstrukturen der Adressaten <strong>und</strong> die Legitimität<br />

von Handlungen beeinflussen kann, gibt es bei den<br />

meisten Konflikten harte Auseinandersetzungen um<br />

den Inhalt <strong>und</strong> die ,richtige’ Verwendung von Begriffen.<br />

Je nachdem, ob ein historisches Ereignis als Vertreibung,<br />

Deportation, Umsiedlung, Aussiedlung<br />

oder Überführung angesehen wird, entscheidet es<br />

sich, ob dieses ein Kriegsverbrechen, ein Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit, ein Verstoß gegen das Völkerrecht<br />

oder ein einfaches Migrationsereignis war.<br />

Der Begriff „Mauer“ löst andere politische Assoziationen<br />

aus als die Bezeichnungen „Zaun“ oder „Friedensgrenze“.<br />

In der DDR versuchte man mit dem Begriff<br />

„Neubürger“ die historische Erfahrung der Vertreibung<br />

zu verdrängen, der Begriff „Folter“ wirkt in<br />

der Öffentlichkeit anders als die Wortschöpfung „intelligente<br />

Befragungsmethoden“ <strong>und</strong> anstatt des Begriffs<br />

„Angriffskrieg“ verwendet man heute besser<br />

den Ausdruck pre-emptive strike. Es gehört zu den<br />

Aufgaben einer modernen Sozialgeographie <strong>und</strong> Politischen<br />

Geographie, zu analysieren, wer wo welches<br />

Ideologievokabular in welchen Zusammenhängen<br />

verwendet, mit welchen Methoden die politischen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Eliten versuchen, Einfluss auf die<br />

Verwendung <strong>und</strong> räumliche Verbreitung von Begriffen<br />

zu nehmen, wie durch Begriffe wie god's own<br />

country, „Schurkenstaat“ oder „Achse des Bösen“<br />

symbolisch besetzte Räume <strong>und</strong> Orte produziert werden<br />

<strong>und</strong> wie lange es in verschiedenen Regionen dauert,<br />

bis Manipulationen der eigenen Regierung <strong>und</strong><br />

der Medien von der Mehrheit der Bevölkerung<br />

durchschaut werden.


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 283<br />

5.16 Die Fälschung von Fotos unter Stalin Bei politischen<br />

Säuberungen wurden die Gegner Stalins nicht nur liquidiert,<br />

sondern es musste auch jedes Andenken an sie verschwinden,<br />

sodass die entsprechenden Fotos in späteren Publikationen<br />

retuschiert wurden, a) Stalin mit NKWD-Chef Jeschow am<br />

Moskau-Woiga-Kanal. Jeschow wurde 1939 verhaftet <strong>und</strong> 1940<br />

hingerichtet, b) Anschließend erschien Jeschow nicht mehr auf<br />

dem mehrfach publizirten Foto. (Quelle: King 1997)<br />

Die visuelle Wirkung von Bildern <strong>und</strong> monumentalen<br />

Bauten auf den Betrachter wird seit Jahrtausenden<br />

dazu herangezogen, um Machtansprüche <strong>und</strong><br />

Autorität im öffentlichen Raum sichtbar machen,<br />

um Status zu repräsentieren, Erinnerungen wach<br />

zu halten <strong>und</strong> das Gemeinschaftsgefühl eines sozialen<br />

Systems zu stärken. Kunsthistoriker, Architekten <strong>und</strong><br />

Geographen haben schon seit langem auf die enge<br />

V^erbindung zwischen politischer Propaganda <strong>und</strong><br />

Kunst im öffentlichen Raum hingewiesen. Die Erinnerungskultur<br />

wird durch die selektive Auswahl von<br />

Ereignissen gestaltet. Sie wird in der zeitlichen Dimension<br />

durch Gedenktage <strong>und</strong> in der räumlichen<br />

Dimension durch Gedenkstätten, Denkmäler, Museen,<br />

Straßenbezeichnungen, Wandmalereien (Graffiti,<br />

ttmrals), Musik, Aufmärsche <strong>und</strong> andere auf Affekte<br />

zielende Erscheinungen wach gehalten.<br />

Denkmäler, Erinnerungsstätten, Symbole, Graffiti<br />

<strong>und</strong> architektonische Stilelemente können gleichsam<br />

als ein externer Speicher von Informationen, als Gedächtnisstütze,<br />

Auslöser von Gefühlen <strong>und</strong> Kulturspeicher<br />

aber auch als Instrument der Verdrängung<br />

<strong>und</strong> Umdeutung dienen (Abbildung 5.17). Nationale<br />

Mythen werden mit Orten verknüpft, an denen bestimmte<br />

historische Ereignisse stattgef<strong>und</strong>en haben.<br />

Eine räumliche Verortung von Ritualen <strong>und</strong> Artefakten<br />

der Erinnerungskultur trägt dazu bei, dass die betreffenden<br />

Assoziationen <strong>und</strong> Wissensbestände immer<br />

wieder neu aufgerufen <strong>und</strong> im Bewusstsein<br />

<strong>und</strong> Unterbewusstsein verfestigt werden. Denkmäler,<br />

Erinnerungsstätten, Ortsbezeichnungen <strong>und</strong> Symbole<br />

haben nicht nur die Funktion, Botschaften an<br />

das eigene Publikum zu transportieren, sondern<br />

auch Machtansprüche anzumelden oder Territorien<br />

zu markieren, in denen gewisse Interpretationen zu<br />

gelten haben, in denen bestimmte Begriffe verwendet<br />

werden dürfen oder tabu sind. Nicht zuletzt dienen<br />

Denkmäler <strong>und</strong> monumentale Architekturen auch<br />

dazu, Menschen zu beeindrucken <strong>und</strong> Macht zu demonstrieren.<br />

Denkmäler können hinsichtlich ihrer Wirkung<br />

eine vom Verursacher nicht vorhersehbare Eigendynamik<br />

entwickeln. Die Wirkung von Bildern ist vor<br />

allem deshalb immer temporär, unfertig <strong>und</strong> im Werden<br />

begriffen, weil sich das Vorwissen der Betrachter<br />

<strong>und</strong> damit auch der Anteil der Bew<strong>und</strong>erer, Kritiker<br />

<strong>und</strong> Spötter verändert. Viele Wissenschaftler haben<br />

sich mit der Zerstörung von Bildern oder Denkmälern<br />

befasst, jedoch nur wenige mit den Folgen einer<br />

räumlichen Verlagerung von Denkmälern. Am Beispiel<br />

von Estland oder Budapest kann gezeigt werden,<br />

dass man Denkmäler bei einem politischen System-<br />

Wechsel nicht zerstören muss, um ihre politische<br />

Wirksamkeit zu beenden oder neue Konflikte zu verursachen.<br />

Es genügt, Denkmäler <strong>und</strong> Statuen von den<br />

prestigereichen Plätzen der Hauptstadt zu entfernen<br />

<strong>und</strong> sie einem sogenannten Statuenpark an der Peripherie<br />

der Stadt aufzustellen, um die Bedeutungslosigkeit<br />

oder Geringschätzung des früheren politischen<br />

Systems zu dokumentieren. Das Herausreißen von<br />

Monumenten aus ihrem ursprünglichen Kontext verändert<br />

also nachdrücklich deren Wirkung. Das heroische<br />

Pathos einer Statue, das am ursprünglichen<br />

Standort durch die Einbettung in ein bestimmtes architektonisches<br />

Ensemble oder die Verknüpfung mit<br />

einen historischen Ort erzielt werden konnte, verliert<br />

seine beabsichtigte Wirkung oder wird sogar ins Lächerliche<br />

gekehrt, wenn der Kontext geändert wird,<br />

indem man zum Beispiel eine größere Zahl von Statuen<br />

auf kleinem Raum konzentriert <strong>und</strong> damit dem<br />

Betrachter eine „Überdosis“ an Pathos, Heroismus<br />

oder Theatralik serviert (Abbildung 5.18).


28 4 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

:i<br />

5.17 Murals in Belfast Die Bilder in den katholischen (rechts) <strong>und</strong> protestantischen (links) Vierteln repräsentieren zwei verschiedene<br />

Systeme von Orientierungswissen, welche die historischen Ereignisse in Irland unterschiedlich interpretieren.<br />

Aus der Sicht der Sozialgeographie ist jedoch entscheidend,<br />

dass die Wirkung eines Bildes, einer Architektur<br />

oder eines Symbols auf den Betrachter<br />

von mindestens zwei Komponenten abhängt, erstens<br />

vom Kontext, in dem das Bild präsentiert wird, <strong>und</strong><br />

zweitens vom Vorwissen des Betrachters. Das Vorwissen<br />

des Betrachters entscheidet ganz maßgeblich<br />

darüber, welche Assoziationen, Emotionen <strong>und</strong><br />

Handlungen ein Bild bei ihm auslöst. Nicht selten bewirken<br />

Manipulationsversuche bei gut Informierten<br />

genau das Gegenteil von dem, was durch die Inszenierung<br />

beabsichtigt war.<br />

hohem Maße darauf zurückführen, dass jeweils<br />

zwei unvereinbare Bestände von Orientierungswissen<br />

(Ideologien, Religionen, nationalen Legenden, Geschichtsinterpretationen)<br />

aufeinanderprallen. In<br />

Konfliktgebieten wie dem Balkan, dem Nahen Osten,<br />

Nordirland oder dem Irak hat sich jede der Konfliktparteien<br />

ihr eigenes narratives Wissen, kollektives Gedächtnis<br />

<strong>und</strong> Interpretationsschema geschaffen. Jede<br />

Konfliktpartei pflegt ihre eigene „Wahrheit“ <strong>und</strong> ihr<br />

kulturelles Gedächtnis durch Legenden, Symbole,<br />

bildhafte Darstellungen <strong>und</strong> Schulbücher <strong>und</strong> versucht<br />

zu verhindern, dass sich auf dem eigenen Einflussgebiet<br />

die Mythen <strong>und</strong> Interpretationen der Gegenpartei<br />

verbreiten. Die Aufgaben der „intellektuellen<br />

Sinnvermittler“ <strong>und</strong> Propagandisten bestehen<br />

also vor allem darin, eine moralische Überlegenheit<br />

der eigenen Seite zu konstruieren. Die Propaganda<br />

versucht die Menschen zu überzeugen, dass die eigene<br />

Seite einen göttlichen Auftrag hat, die einzig wahre<br />

Religion oder eine unumstößliche Wahrheit verkörpert,<br />

einer guten Sache dient, im Namen Gottes, der<br />

Moral, der Gerechtigkeit, der historischen Notwen-


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 285<br />

5.18 Statuenpark in Budapest Die Verlagerung von Statuen <strong>und</strong> Monumenten vom Zentrum an die Peripherie verändert<br />

deren Wirkung. Ein Übermaß an Pathos auf kleinem Raum verändert den ursprünglichen Zweck eines Monuments ins Lächerliche.<br />

digkeit oder des Weltfriedens handelt oder Gottes<br />

aiiserwähltes Land ist, das für Freiheit, Weltfrieden,<br />

Menschenrechte <strong>und</strong> Demokratie kämpft, <strong>und</strong> dass<br />

die Gegner Barbaren, Untermenschen, Ungläubige,<br />

Ketzer, Terroristen, Kriminelle, Volks- oder Klassenfeinde<br />

sind.<br />

Religiöses Sendungsbewusstsein, politischer Messianismus<br />

oder der Anspruch, Gottes auserwähltes<br />

\'olk zu sein, haben nicht nur eine besonders starke<br />

identitätsstiftende Wirkung, sondern sind auch ein<br />

besonders wirksames Instrument der moralischen<br />

Ausschließung <strong>und</strong> der daraus resultierenden Doppelmoral.<br />

Die Konstruktion von kollektiver Identität, Kultur,<br />

Hthnizität <strong>und</strong> so weiter basiert sehr häufig auf einer<br />

Abgrenzung des „Wir“ von den „Anderen“. Die Unterscheidung<br />

in Gut <strong>und</strong> Böse ist ein Bestandteil der<br />

ältesten Mythen <strong>und</strong> Religionen. In einem Konflikt<br />

versucht jede der Parteien, sich selbst als moralische<br />

Autorität oder als Werkzeug Gottes (god’s own country)<br />

darzustellen, das gegen die Mächte der Finsternis,<br />

gegen Ungläubige, Heiden, Barbaren oder Terroristen<br />

kämpft oder die Segnungen der Zivilisation verbreiten<br />

will Die Abgrenzung des Heiligen vom Profanen<br />

oder des Eigenen vom Fremden ist unweigerlich mit<br />

moralischen (Vor-)Urteilen <strong>und</strong> Stereotypen verb<strong>und</strong>en.<br />

Schon vor dem 1. Kreuzzug wurden Muslime auf<br />

Bildern mit Teufelsköpfen versehen <strong>und</strong> somit als das<br />

personifizierte Gegenteil christlicher Werte, also als<br />

moralisch korrupt, gemein <strong>und</strong> verachtenswert, dargestellt<br />

(Abbildung 5.19). Auch in aktuellen Konflikten<br />

dient die moralische Ausschließung als Waffe <strong>und</strong>


286 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten<br />

IM<br />

“ j<br />

5.19 Moralische Ausschließung <strong>und</strong> die Konstruktion<br />

von Feindbildern Die Verwendung von Feindbildern zum<br />

Zwecke der moralischen Ausschließung ist nichts Neues. Auf<br />

diesem Bild, das schon vor dem 1. Kreuzzug entstanden ist,<br />

kämpft Karl der Große gegen die als Teufel dargestellten Araber<br />

in Spanien, die somit als das personifizierte Gegenteil christlicher<br />

Werte dargestellt werden. Die Muslime stellten ihrerseits<br />

die „Franken“ als unehrlich, hinterhältig, unzivilisiert <strong>und</strong><br />

grausam dar. (Foto: picture-alliance/akg-images)<br />

werden Gegner als Terroristen, „Achse des Bösen“<br />

oder Friedensfeinde dargestellt <strong>und</strong> rechtsfreie Räume<br />

wie das Lager in Guantanamo geschaffen, wo<br />

man auch unschuldig Eingesperrten alle Rechte vorenthalten<br />

kann. Damals wie heute suggerierten die<br />

verwendeten Bilder Gottgewolltheit als Rechtfertigung<br />

für aggressives Handeln.<br />

Symbolisches Wissen - vor allem in seiner übersteigerten<br />

Form eines religiösen <strong>und</strong> politischen F<strong>und</strong>amentalismus<br />

- kann zwar eine enorme Motivation<br />

bewirken, schränkt jedoch die Fähigkeit ein, eine Situation<br />

unvoreingenommen <strong>und</strong> realitätsnah zu beurteilen.<br />

Viele Entscheidungsträger in Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft haben ihre Ziele deshalb nicht erreicht,<br />

weil sie an die eigene Propaganda geglaubt haben,<br />

die ursprünglich nur dem Zusammenhalt des eigenen<br />

Systems dienen sollte <strong>und</strong> keinen „Wahrheitsanspruch“<br />

hatte.<br />

Die meisten europäischen Staaten haben Ende des 18.<br />

oder im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die allgemeine<br />

Schulpflicht eingeführt. Die Alphabetisierung der Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> der Ausbau des staatlichen Schulsystems<br />

waren eine Gr<strong>und</strong>voraussetzung für die Etablierung<br />

des Nationalstaats. Schulen übernahmen die<br />

Funktion von staatstragenden Einrichtungen, welche<br />

die politische Herrschaft absichern, die Wirtschaft<br />

fördern, herrschaftskonforme Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />

Einstellungen gewährleisten, zentrale Herrschaftsansprüche<br />

<strong>und</strong> Normen durchsetzen, eine kulturell homogene<br />

Nation schaffen, ethnische Minderheiten assimilieren,<br />

eine nationale Identität stiften <strong>und</strong> durch<br />

die Vermittlung der elementaren Kulturtechniken die<br />

Voraussetzungen für diverse Modernisierungsprozesse<br />

schaffen sollten. Schulbücher wurden gleichsam<br />

zu Medien der Indoktrination, welche der Bevölkerung<br />

jene Wertvorstellungen, Normen <strong>und</strong> Geschichtsinterpretationen<br />

vermitteln sollten, die für<br />

den Nationalstaat als wichtig angesehen wurden.<br />

Das Versprechen, dass die Schule gute Untertanen<br />

<strong>und</strong> eine einheitliche Nation hervorbringen werde,<br />

gehörte in der ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu den wichtigsten Argumenten zur Durchsetzung<br />

der allgemeinen Schulpflicht, einer besseren Lehrerbesoldung<br />

oder von höheren Ausgaben für das Schulwesen.<br />

I<br />

Das Ausbildungsniveau als Indikator<br />

der sozialen Schichtung___________<br />

Das schulische Ausbildungsniveau hat sich als sehr<br />

aussagekräftiger Indikator erwiesen, der auf allen<br />

Maßstabsebenen, bei quantitativen <strong>und</strong> qualitativen<br />

Analysen <strong>und</strong> bei fast allen theoretischen Konzepten<br />

der Sozialgeographie eine zentrale Rolle einnehmen<br />

kann. Dies verdankt es unter anderem dem Umstand,<br />

dass es mit vielen anderen sozioökonomischen Indikatoren<br />

in einem starken statistischen Zusammenhang<br />

steht. Da das Ausbildungsniveau maßgeblich<br />

die Zugangsberechtigung zu Berufen, die Startposition<br />

von Karriereverläufen beziehungsweise die erste<br />

Positionierung auf dem Arbeitsmarkt bestimmt, beeinflusst<br />

es auf der Individualebene die Erwerbsbeteiligung<br />

(Arbeitslosigkeit), die Migration, das Lebenseinkommen,<br />

das generative Verhalten von Frauen<br />

<strong>und</strong> viele anderen Bereiche. Auf der räumlichen<br />

Meso- <strong>und</strong> Makroebene gehören einzelne Ausbil-


Wissen, Ausbildungsniveau <strong>und</strong> Bildungsverhalten als Schlüsselthemen der Sozialgeographie 287<br />

dungsniveaus, die je nach Fragestellung auf die<br />

Wohn- oder Arbeitsbevölkerung oder andere soziale<br />

Kategorien bezogen werden, zu den aussagekräftigsten<br />

Indikatoren zur Beschreibung von sozio-kulturellen<br />

Milieus, zur Darstellung von räumlichen Disparitäten<br />

der sozialen Schichtung, zur Beschreibung<br />

des ökonomischen Entwicklungsniveaus oder zur<br />

Analyse von geschlechtsspezifischen Disparitäten<br />

<strong>und</strong> so weiter. So war beispielsweise im Jahre 1971<br />

ein Anteil von 80 <strong>und</strong> mehr Prozent Pflichtschulabsolventen<br />

unter der männlichen Wohnbevölkerung<br />

über 15 Jahre ein hervorragender Indikator zur Abgrenzung<br />

unterentwickelter Gebiete in Österreich.<br />

Multivariate Verfahren mit mehreren Dutzend Variablen<br />

konnten kein besseres Ergebnis liefern. Ein<br />

Vergleich der Karten in Abbildung 5.20 eröffnet<br />

auch einen Einblick in die damals bestehenden großen<br />

geschlechtsspezifischen Disparitäten. Räumliche<br />

Disparitäten des Ausbildungsniveaus der Wohn- oder<br />

Arbeitsbevölkerung bilden für zahlreiche sozial-, kultur-<br />

<strong>und</strong> stadtgeographische Forschungsthemen eine<br />

wichtige Gr<strong>und</strong>lage beziehungsweise einen Rahmen<br />

für weitergehende Analysen.<br />

Die Aussagekraft <strong>und</strong> Validität des schulischen<br />

.Ausbildungsniveaus variiert allerdings zwischen verschiedenen<br />

Staaten <strong>und</strong> Bildungssystemen. Sie hängt<br />

ab vom Ausmaß der Statusinkonsistenzen zwischen<br />

Beruf, Einkommen <strong>und</strong> Ausbildungsniveau (diese<br />

sind in totalitären Staaten größer als in Demokratien<br />

<strong>und</strong> auch einem zeitlichen Wandel unterworfen), von<br />

der Selektionswirkung des Schulsystems <strong>und</strong> von den<br />

Rekrutierungskriterien der Eliten. Da der ökonomische<br />

Wert einer Ausbildungsebene auf dem Arbeitsniarkt<br />

umso geringer ist, je mehr Personen diese Ebene<br />

erreicht haben, haben sich berufliche Selektionskriterien<br />

im Laufe der Zeit auf immer höhere Ausbildungsebenen<br />

verlagert. Diesem zeitlichen Wandel<br />

muss sich auch die Auswahl der Indikatoren anpassen.<br />

I_Einflussfaktoren des Bildungsverhaltens<br />

Im Gegensatz zum Begriff schulisches Ausbildungsni-<br />

N'cau, der einen erfolgreichen Abschluss einer bestimmten<br />

Schulform oder eines bestimmten Niveaus<br />

des Schulsystems impliziert, bezieht sich der Begriff<br />

Bildungsverhalten auf die Inanspruchnahme von Bildungseinrichtungen,<br />

also auf einen für den Akteur zu<br />

einem bestimmten Zeitpunkt noch nicht abgeschlossenen<br />

Prozess. Dabei lässt sich schulisches Bildungsverhalten<br />

von außerschulischem unterscheiden. Indikatoren<br />

des schulischen Bildungsverhaltens dienen<br />

dazu, die Leistungsfähigkeit einer Schule, Schulform<br />

oder eines Schulsystems, die Bildungsbereitschaft der<br />

Bevölkerung, die Verlaufsströme der Schüler im<br />

Schulsystem sowie Prozessabläufe eines gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Strukturwandels zu analysieren.<br />

Indikatoren des schulischen Bildungsverhaltens<br />

beziehen sich nicht nur auf den Besuch verschiedener<br />

Schulformen, sondern auch auf den Erfolg,<br />

Misserfolg <strong>und</strong> die Verlaufsströme innerhalb des<br />

Schulsystems (von der Gr<strong>und</strong>schule bis zur Universität).<br />

Für Entwicklungsländer oder historische Untersuchungen<br />

zählen der Anteil der schulbesuchenden<br />

an den schulpflichtigen Kindern, die durchschnittliche<br />

Dauer des Verbleibs im Schulsystem,<br />

der Umfang der Schulversäumnisse sowie geschlechtsspezifische<br />

Unterschiede des Schulbesuchs<br />

zu den aussagekräftigsten Indikatoren. Für höher entwickelte<br />

Länder bieten sich Übertrittsraten in höhere<br />

Schulformen, Erfolgsquoten, Prüfungsergebnisse <strong>und</strong><br />

Dropout-Quoten als Indikatoren an. Die Aussagekraft<br />

der jeweiligen Indikatoren hängt von der Selektionswirkung<br />

beziehungsweise den Anforderungen<br />

des Schulsystems ab.<br />

Bei einem zeitlichen Vergleich des Bildungsverhaltens<br />

ist der Lebenszyklus von Indikatoren zu beachten.<br />

Der Anstieg der Übertrittsraten eines Altersjahrgangs<br />

in Gymnasien von 5 Prozent auf 15 Prozent innerhalb<br />

von 30 Jahren kann Ausdruck eines sozioökonomischen<br />

Strukturwandels beziehungsweise<br />

einer vertikalen sozialen Inter-Generationen-Mobilität<br />

sein, aber auch nur eine allgemeine Bildungsinflation<br />

widerspiegeln, die auf eine Senkung der Anforderungen<br />

in Höheren Schulen zurückzuführen ist.<br />

Einflussfaktoren, welche das schulische Bildungsverhalten<br />

beeinflussen, können in vier Kategorien zusammengefasst<br />

werden:<br />

• Faktoren, welche die Schichtzugehörigkeit <strong>und</strong> das<br />

soziokulturelle Milieu des Elternhauses betreffen.<br />

Je höher das Ausbildungsniveau der Eltern,<br />

umso höher ist die Bildungsbeteiligung der Kinder.<br />

Viele Studien belegen, dass sich ein hohes Ausbildungsniveau<br />

der Mutter noch positiver auf das Bildungsverhalten<br />

der Kinder auswirkt als ein hohes<br />

Ausbildungsniveau des Vaters.<br />

• Faktoren, welche sich auf die Begabung, Leistungsmotivation<br />

<strong>und</strong> die beruflichen Aspirationen der<br />

Schüler beziehen.<br />

• Faktoren, welche das schulische Umfeld umfassen,<br />

zum Beispiel die schulische Infrastruktur, das<br />

Standortmuster <strong>und</strong> die Erreichbarkeit verschiedener<br />

Schultypen, die Schulwegbedingungen <strong>und</strong> die<br />

Qualifikation des Lehrpersonals.


5 288 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

- 11<br />

i:-.<br />

1<br />

P i<br />

;l<br />

□ 4 0 ,0 - 4 9 ,9 %<br />

□ □ 5 0 ,0 - 5 9 ,9 %<br />

IZ D 6 0 ,0 - 6 9 ,9 %<br />

m 7 0 ,0 - 7 9 ,9 %<br />

C2I3 8 0 ,0 - 8 9 ,9 %<br />

H 9 0 ,0 - 1 0 0 %<br />

:Sr<br />

i: r<br />

>v<br />

□ 0 - 1 ,9 %<br />

□ 2 ,0 - 4 ,9 %<br />

□ □ 5 ,0 - 7 ,9 %<br />

■ H 8 ,0 - 1 2 ,9 %<br />

B 1 3 ,0 - 1 9 ,9 %<br />

20,0 u. mehr %<br />

:>T<br />

5.20 Das Ausbildungsniveau der österreichischen Wohnbevölkerung im Jahre 1971 Die vier Ausschnitte über die Anteile<br />

der Pflichtschulabsolventen sowie der Abiturienten <strong>und</strong> Hochschulabsolventen an der Wohnbevölkerung über 15 Jahre (1971)<br />

können als Ausgangspunkt <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lage für eine große Zahl sozial-, kultur- <strong>und</strong> wirtschaftsgeographischer Themen verwendet<br />

werden. Besser als jede Tabelle können diese Karten auch die damals noch bestehenden großen geschlechtsspezifischen<br />

Disparitäten des Ausbildungsniveaus beschreiben. Auf der linken Seite ist der Anteil der männlichen Bevölkerung <strong>und</strong> auf der rechten<br />

Seite der Anteil der weiblichen Bevölkerung dargestellt. Die beiden oberen Karten beziehen sich auf die Anteile der Pflichtschulabsolventen<br />

an der Wohnbevölkerung über 15 Jahre; die beiden unteren Karten stellen die Anteile der Abiturienten <strong>und</strong> Hochschulabsolventen<br />

an der Wohnbevölkerung über 15 Jahre dar. (Quelle: Meusburger 1980)


Räumliche Disparitäten der Armut 289<br />

• Faktoren, die das kulturelle, gesellschaftliche <strong>und</strong><br />

ökonomische Anregungsmilieu im weitesten Sinne<br />

beschreiben. Dazu gehören unter anderem der<br />

Stellenwert der schulischen Ausbildung <strong>und</strong> des<br />

meritokratischen Prinzips im gesellschaftlichen<br />

Wertesystem, die Bildungspolitik <strong>und</strong> die Art<br />

der Bildungsfmanzierung, die Vielfalt <strong>und</strong> Qualifikationsstruktur<br />

des Arbeitsplatzangebots in der<br />

Wohnregion der Schüler, Mangelkrisen <strong>und</strong> Überfüllungskrisen<br />

auf dem akademischen Arbeitsmarkt<br />

<strong>und</strong> das Angebot an kulturellen Einrichtungen.<br />

Das Zusammenspiel dieser Faktoren ist sehr komplex.<br />

Während einige Faktoren, zum Beispiel das 0<br />

soziokulturelle Milieu des Elternhauses, unter allen<br />

politischen, gesellschaftlichen <strong>und</strong> infrastrukturellen<br />

Rahmenbedingungen einen großen Einfluss auf<br />

das schulische Bildungsverhalten ausüben, ist eine<br />

zweite Gruppe, zu der zum Beispiel die Schulwegbedingungen<br />

gehören, nur bei Überschreitung von<br />

bestimmten Schwellenwerten wirksam <strong>und</strong> der Einfluss<br />

einer dritten Gruppe von Faktoren, zum Bei­<br />

spiel das Arbeitsplatzangebot der Wohnortregion,<br />

ist nur bei bestimmten sozialen Schichten wirksam.<br />

Der jeweilige lokale Kontext bestimmt den Stellenwert<br />

der Einflussfaktoren, die in Abbildung 5.21 dargestellt<br />

werden.<br />

Räumliche Disparitäten<br />

der Armut<br />

Empirische Untersuchungen über Einkommensverhältnisse,<br />

Reichtum <strong>und</strong> Armut sind nicht nur wegen<br />

der schwierigen Datenlage noch relativ selten, sondern<br />

auch deshalb, weil ein Konsens darüber, was<br />

als Armut oder Reichtum zu bezeichnen ist, schwer<br />

zu erreichen ist. Eine absolute Armuts- oder Reichtumsgrenze<br />

ist wenig aussagekräftig <strong>und</strong> veraltet relativ<br />

schnell, <strong>und</strong> eine relative Armutsgrenze kann<br />

nur kontextbezogen festgelegt werden. Diese methodischen<br />

Probleme sollten die Geographie jedoch<br />

Eltern Schüler Schulisches Angebot<br />

Umfeld<br />

Sozioökonomischer<br />

Status der Eltern<br />

Berufliche Aspirationen<br />

der Schüler<br />

d<br />

J i<br />

Qualifikation <strong>und</strong><br />

Motivation des<br />

Lehrkörpers<br />

Gesellschaftliches<br />

Wertesystem<br />

<strong>und</strong><br />

Bildungspolitik<br />

r<br />

Berufliche Aspirationen<br />

der Eltern für ihre Kinder<br />

Kulturbedingte Normen<br />

<strong>und</strong> Einstellungen der<br />

Eltern zur Bildung<br />

r<br />

Kognitive Fähigkeiten<br />

(Begabung)der<br />

Schüler<br />

r<br />

y r<br />

Schulische Leistungen<br />

(Testergebnisse)<br />

Standortdichte von<br />

weiterführenden Schulen<br />

Schulorganisation<br />

z.B. Klassengröße,<br />

Lehrmittel<br />

Vielfalt <strong>und</strong><br />

Qualifikationsstruktur<br />

des<br />

Arbeitsplatzangebots<br />

der Wohnregion<br />

Kontaktpotential<br />

der Wohnregion<br />

Engagement <strong>und</strong><br />

Zeitaufwand der Eltern<br />

für die Förderung der<br />

Kinder<br />

r<br />

Schulwegbedingungen<br />

für den Besuch<br />

weiterführender<br />

Schulen<br />

Einflüsse des sozialen<br />

Umfelds,<br />

peer groups,<br />

Geschwister<br />

Bildungsverhalten der Schüler<br />

5.21 Einflussfaktoren des Bildungsverhaltens Je nach räumlichem Kontext haben die einzelnen Einflussfaktoren ein unterschiedliches<br />

Gewicht. (Quelle: Meusburger 1998)


290 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

nicht davon abhalten, sich mit dem Phänomen Armut<br />

zu befassen, das bei vielen sozialen Fragen<br />

eine zentrale Rolle spielt. Zu den Forschungsinteressen<br />

der geographischen Armutsforschung gehören<br />

unter anderem die Fragen, wie in bestimmten<br />

Gesellschaftssystemen, Kulturen, Zeitperioden <strong>und</strong><br />

Regionen mit Armut umgegangen wird <strong>und</strong> in welchem<br />

Maße sich Armut in Ausgrenzung <strong>und</strong> Segregation<br />

äußert.<br />

Da extreme Armut oft mit Obdachlosigkeit verb<strong>und</strong>en<br />

ist, sind in jüngster Zeit einige Arbeiten entstanden,<br />

die den Fragen nachgegangen sind, aufgr<strong>und</strong><br />

welcher gesellschaftlicher Mechanismen Armut <strong>und</strong><br />

Obdachlosigkeit entstehen, welche Orte von Obdachlosen<br />

bevorzugt werden, welche Wege sie im Tagesablauf<br />

zurücklegen <strong>und</strong> wie die Stadtverwaltungen<br />

versuchen, die Obdachlosen aus ihrer Stadt <strong>und</strong> besonders<br />

von den bei Touristen beliebten Sehenswürdigkeiten<br />

zu verdrängen. Zwei interessante Arbeiten<br />

zu diesem Thema wurden von N. Smith (1996)<br />

<strong>und</strong> D. Mitchell (2007) vorgelegt. Smith sprach<br />

von der revanchistischen Stadt, die sich gegen die Armen<br />

wendet. Mitchell (2007) befasste sich mit den<br />

Ursachen <strong>und</strong> Folgen der Anti-Obdachlosen-Gesetz-<br />

Der Streit um die Schule - Macht <strong>und</strong> Ohnmacht ethnischer<br />

Minderheiten<br />

Der massiven faschistischen Unterdrückungspolitik durch<br />

Mussolini haben sich die deutschsprachigen Südtiroler nirgendwo<br />

mit größerer Entschlossenheit entgegengesetzt als<br />

im Bereich des Schulwesens. Da ein Unterricht in deutscher<br />

Sprache verboten war, die Südtiroler Kinder aber kein Italienisch<br />

verstanden, haben Südtiroler Lehrer in geheimen, sogenannten<br />

Katakombenschulen unter großem persönlichem Einsatz<br />

<strong>und</strong> mit hohem Risiko den Kindern der deutschsprachigen<br />

Bevölkerung einen Gr<strong>und</strong>schulunterricht geboten. Wo die italienischen<br />

Faschisten solche Geheimschulen aufdecken konnten,<br />

bedeutete dies für viele Lehrer hohe Geldstrafen, eine berufliche<br />

Stigmatisierung <strong>und</strong> manchmal auch eine zwangsweise<br />

Versetzung in den fernen Süden Italiens.<br />

In den USA sind die Kinder zahlreicher Indianerstämme bis<br />

weit in das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert durch eine gezielte Schulpolitik<br />

des Bureau of Indian Affairs von ihren kulturell-ethnischen<br />

Wurzeln weitgehend entfremdet worden. Bereits Sechsjährige<br />

konnten mit einer mehrjährigen Trennung von ihren Eltern <strong>und</strong><br />

Geschwistern konfrontiert sein. In den meist weitab von den<br />

Indianerterritorien gelegenen Internaten wurden die Schüler<br />

einer planmäßigen kulturellen Assimilation unterzogen. Sowohl<br />

Lehrinhalte <strong>und</strong> als auch das Verhalten an der Schule<br />

orientierten sich streng an den kulturellen Vorstellungen<br />

des weißen, europäisch geprägten Amerika.<br />

Die Slowenen in Kärnten waren Jahrzehnte lang einer<br />

schulpolitischen Unterdrückung ausgesetzt. Dazu hat einerseits<br />

beigetragen, dass die Alltagskultur der Slowenen mit<br />

ländlich-rückständigen Attributen gleichgesetzt wurde. Andererseits<br />

war die Minderheit seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert auch in<br />

ihrer nationalen Identität gespalten. Die Etablierung eines<br />

zweisprachigen Gymnasiums im Jahre 1957 verlieh jedoch<br />

den Interessen der Slowenen in Kärnten neues Gewicht<br />

<strong>und</strong> ermöglichte der Gruppe eine soziale <strong>und</strong> vor allem wirtschaftliche<br />

Emanzipation, die den traditionellen Entwertungsprozess<br />

der ethnisch-kulturellen Identität in Südkärnten verlangsamte<br />

oder sogar zum Stillstand brachte.<br />

Diese <strong>und</strong> Dutzende anderer Beispiele zeigen sehr deutlich:<br />

Um das Beziehungsgefüge zwischen ethnischen Gruppen<br />

zu erhellen <strong>und</strong> Fragen von Macht <strong>und</strong> Ohnmacht, von Dominanz<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung zu analysieren, eignet sich vortrefflich<br />

ein Blick auf das Bildungswesen, dem in vielen Minderheitenkonstellationen<br />

eine zentrale Bedeutung zukommt <strong>und</strong> das<br />

zudem eine wichtige Indikatorfunktion in sozialgeographischen<br />

Belangen besitzt. Neben der Familie ist die Schule<br />

die wichtigste Sozialisationseinrichtung, <strong>und</strong> die Weichenstellungen,<br />

die hier in den Biographien der einzelnen Schüler erfolgen,<br />

bleiben in aller Regel über Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte<br />

oder lebenslang wirksam. Die Schule <strong>und</strong> die darin ablaufenden<br />

Prozesse können als merkwürdig ambivalentes Instrument<br />

in der Konstruktion sozialen Alltags gelten: Einerseits<br />

können im schulischen Ablauf soziale Differenzen reproduziert<br />

oder sogar verstärkt werden - etwa wenn sich mit Kindern<br />

aus bildungsferneren Flaushalten insgesamt geringere<br />

Übertrittsraten an Hochschulen <strong>und</strong> folgerichtig auch geringere<br />

Akademikerquoten verbinden. Andererseits können Schulen<br />

auch als Mittel zur Überwindung bestehender sozialer<br />

Grenzen fungieren <strong>und</strong> zum Aufbrechen traditioneller Strukturen<br />

führen - wie das einleitend erwähnte Beispiel des Gymnasiums<br />

für Slowenen zeigt. Für ethnische Minoritäten, die<br />

sich allein schon per definitionem in einer Konstellation mit<br />

einer Mehrheitsbevölkerung befinden, erhält die Institution<br />

Schule genau aus diesen Gründen enorme Bedeutung.<br />

Für die USA lassen sich diese Zusammenhänge zwischen<br />

Schule, Minoritäten, Unterdrückung <strong>und</strong> sozialem Aufstieg in<br />

ihrer sozialgeographischen Tragweite sehr gut veranschaulichen.<br />

Hauptsäule des Bildungssystems bildet die öffentliche<br />

Schule (public school), daneben besteht ein - zumindest im<br />

deutschen Vergleich - relativ starker <strong>und</strong> vielfältiger privater<br />

Sektor. Die Entstehungsgeschichte der public school, die sich<br />

im Wesentlichen in die zweite Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zurückverfolgen<br />

lässt <strong>und</strong> die nur in Ausnahmefällen noch die<br />

erste Jahrh<strong>und</strong>erthälfte berührt, steht in enger Verbindung<br />

mit dem gesellschaftlichen Aufstieg der Ideologie des weißen,<br />

protestantischen <strong>und</strong> englischsprachigen Amerika. Der öffentlichen<br />

Schule war dabei die Rolle eines „great equalizer“, eines<br />

sozialen Homogenisierungsapparats, zugedacht. Tatsächlich<br />

konnte die public school diese Erwartungen spätestens mit<br />

der Masseneinwanderung in die USA ab Mitte des 19. Jahrhun-


Räumliche Disparitäten der Armut 291<br />

Abbildung 1 Öffentliche Schule für Schwarze in Kentucky,<br />

etwa 1910 (Quelle: http://www.bcpl.org/JPGimages/<br />

Petersburg/Portraits2/african-american_public_school.jpg)<br />

derts erfüllen. H<strong>und</strong>erttausende, wenn nicht Millionen von Immigranten<br />

- nicht nur deren Kinder, sondern auch Erwachsene<br />

- wurden in den Mühlen der öffentlichen Schulen zu „wahren“<br />

Amerikanern verwandelt, die von einheitlichen Wertvorstellungen,<br />

einer gemeinsamen Sprache <strong>und</strong> einer verbindlichen politischen<br />

Loyalität getragen waren. Aus strukturalistischer Perspektive<br />

bleibt hingegen einzuwenden, dass dieser Assimilationsmechanismus<br />

über die Schule erstens die Dominanz der<br />

angelsächsischen Kultur auf Kosten ethnischer Nischen ver-<br />

fe.stigte, ohne dass dieser Prozess immer im Konsens <strong>und</strong> konfliktfrei<br />

abgelaufen wäre, <strong>und</strong> er zweitens - paradoxerweise -<br />

nicht für alle ethnischen <strong>und</strong> kulturellen Gruppen im gleichen<br />

Maße gültig war <strong>und</strong> Anwendung fand. Für bestimmte Minoritäten<br />

- die „offensichtlichsten“ (visible minorities) zumal - war<br />

dieser Regelkreis der public school nicht vorgesehen.<br />

Hierin liegt eine der substanziellen Erklärungsmöglichkeiten<br />

der bis heute unvermindert starken ethnischen, aber auch<br />

kulturellen Stratifizierung der US-amerikanischen Gesellschaft.<br />

Der in der Vergangenheit nicht selten bewusst intendierte<br />

Ausschluss mancher ethnischer Segmente aus dem öffentlichen<br />

Bildungswesen, der vor allem African Americans<br />

<strong>und</strong> Native Americans, aber auch Hispanics <strong>und</strong> Teile der<br />

Asian Americans betrifft, hat unter diesen Minderheiten zu<br />

teilweise prekären Qualifikationsstrukturen geführt, die nicht<br />

ohne Auswirkungen auf die Arbeitsmarktsituation der jeweiligen<br />

Gruppe geblieben sind. Eine strukturalistische Interpretation<br />

der ethnischen Gegensätze im US-amerikanischen Schulwesen<br />

darf dabei nicht bei der Analyse aktueller Bildungsparameter<br />

verharren, sondern sollte zur Erklärung dieser Situation<br />

auch historische Entwicklungslinien heranziehen. Diese Zusammenschau<br />

aus Gegenwart <strong>und</strong> Vergangenheit ermöglicht<br />

ein plausibleres Verständnis der Ungleichgewichte zwischen<br />

den verschiedenen ethnischen Gruppen als es der alleinige<br />

Blick auf die aktuellen Sozial- <strong>und</strong> Wirtschaftsdaten erlaubte.<br />

Die deutlichste Form der Unterdrückung erfuhr ohne Zweifel<br />

die schwarze Minderheit in den USA während der Epoche der<br />

Sklaverei; African Americans galten bis weit in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinein als entrechtet - ein Zustand, der mit Lese-, Lehr-<br />

<strong>und</strong> Versammlungsverboten das Aus- <strong>und</strong> Weiterbildungswesen<br />

elementar berührte. Auch Hispanics waren in den ersten<br />

Jahrzehnten des öffentlichen Schulsystems im US-amerikanischen<br />

Südwesten offenen bis subtilen Formen der Diskriminierung<br />

ausgesetzt, die von unverhohlener körperlicher Züchtigung<br />

über Strafsanktionen für jedes gesprochene spanische<br />

Wort bis zu Spott <strong>und</strong> Hohn über kulturelle Eigenschaften der<br />

hispanischen Bevölkerung reichten.<br />

Diese historisch begründeten <strong>und</strong> bis heute oft nur bruchstückhaft<br />

überw<strong>und</strong>enen Diskriminierungspraktiken äußern<br />

sich zusammen mit anderen Einflussfaktoren begreiflicher<br />

Weise in einer geringeren formalen Bildungsbeteiligung mancher<br />

Minoritäten (Tabelle 1). Unter schwarzen Amerikanern ist<br />

ebenso wie unter Hispanics der Anteil der Schulabbrecher signifikant<br />

höher als im statistischen Gesamtdurchschnitt der<br />

USA; umgekehrt liegt die Akademikerquote markant niedriger,<br />

mit der Konsequenz, dass diese ethnischen Gruppen sowie<br />

auch die Indianer in gesellschaftlich einflussreicheren Berufsfeldern,<br />

etwa als Rechtsanwalt oder Journalist, teilweise nur<br />

marginal vertreten sind. Aus dieser summa summarum ungün-<br />

Tabelle 1 Anteile ausgewählter formaler Ausbildungsniveaus, nach ethnischen Gruppen, 2000<br />

(Datenquelle: www.census.gov)<br />

Ethnizität'<br />

Anteil der Personen (25 Jahre <strong>und</strong> älter) mit folgendem formalen Ausbildungsniveau (in Prozent der<br />

Gesamtpersonen, 25 Jahre <strong>und</strong> älter, der jeweiligen ethnischen Gruppe; 2000)<br />

weniger als neun<br />

Jahre Schule<br />

neun bis zwölf Jahre<br />

Schule, aber kein<br />

Highschool-Diplom<br />

Bachelor-Abschluss<br />

Diplom-<br />

White 5,89 10,52 16,59 9,47<br />

African American 7,93 19,80 9,45 4,80<br />

American Indian 11,09 18,00 7,59 3,89<br />

Asian American 10,68 8,89 26,68 17,38<br />

Hispanic 27,78 19,80 6,66 3,79<br />

nur singuläre (z. B. „White alone“), keine Kombinationsangaben


292 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

xjr- i 1 1<br />

I ] I<br />

r l i ; t<br />

r iß<br />

günstig<br />

Egalitarismus <strong>und</strong> Individualismus<br />

im Ausbildungsprozess ethnischer M inoritäten<br />

Schulische Situation von Minoritäten<br />

ungünstig<br />

Abbildung 2 Egalitarismus<br />

<strong>und</strong> Individualismus<br />

im schulischen<br />

Ausbildungsprozess<br />

ethnischer Minoritäten<br />

(Quelle: W. Gamerith)<br />

stigeren Aufstellung der ethnischen Minorität im Arbeitsmarkt<br />

ergeben sich beträchtliche Einkommensverluste, die nun im<br />

stark individualistisch geprägten Bildungssystem der USA<br />

mit seinem limitierenden monetären Faktor wiederum negative<br />

Folgen für das Bildungsverhalten der betreffenden Minderheitengruppe<br />

zeitigen, wenn ihr der Zugang zu den teuren <strong>und</strong><br />

prestigeträchtigen Schul- <strong>und</strong> Flochschuleinrichtungen meist<br />

verschlossen bleibt. Die Vorstellung eines gesellschaftlich<br />

nivellierenden Egalitarismus, der die USA bereits in ihrer Gründungsphase<br />

begleitete, wird auf der Ebene des Bildungswesens<br />

von einem wirkungsmächtigen Individualismus überlagert.<br />

Neben dieser strukturalistischen Herangehensweise kann<br />

die Schulsituation ethnischer Minoritäten in den USA auch aus<br />

einem individuellen, handlungstheoretischen Blickwinkel be­<br />

griffen werden. Studien dieser Ausrichtung betonen die Wechselwirkung<br />

des persönlichen Umfelds der Schüler, ihres Elternhauses<br />

<strong>und</strong> ihres Fre<strong>und</strong>eskreises auf den Schulerfolg.<br />

Nicht selten gehen Vertreter dieser Provenienz so weit, einen<br />

vielleicht negativen Schulabschluss direkt auf die Person oder<br />

die mit ihr verb<strong>und</strong>ene Kultur (etwa im Sinne einer culture of<br />

poverty) zurückzuführen.<br />

Schließlich kann die Bildungslandschaft - ebenso wie die<br />

ethnoscapes der USA - unter symbolischen Gesichtspunkten<br />

analysiert werden. Hier stellt sich heraus, dass bestimmte<br />

schulische Einrichtungen, aber auch Nachbarschaften, Stadtviertel<br />

oder Regionen, von Angehörigen verschiedener ethnischer<br />

Gruppen unterschiedlich bewertet <strong>und</strong> interpretiert werden.<br />

Auch wenn viele Institutionen des amerikanischen Südens<br />

offiziell als „farbenblind“, also offen für alle Minderheiten


Räumliche Disparitäten der Armut 293<br />

ln Prozent<br />

0 keine Daten<br />


294 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Armut<br />

Armut <strong>und</strong> ihre Bekämpfung gehören weltweit zu den wichtigsten<br />

Politikfeldern. Trotz vielfältiger Anstrengungen auf unterschiedlichen<br />

Ebenen hat die Armut allerdings kaum abgenommen.<br />

Dabei sind Industrie- <strong>und</strong> Entwicklungsländer gleichermaßen<br />

betroffen; allerdings sind die Ausprägungen der Armut<br />

<strong>und</strong> die angewandten Definitionen unterschiedlich.<br />

Armut in einem Entwicklungsland bedeutet oftmals eine<br />

gravierende <strong>und</strong> eventuell sogar iebensbedrohliche Unterversorgung<br />

in verschiedenen elementaren Lebensbereichen, zum<br />

Beispiel Ernährung, Wohnen <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit. In Industrieländern<br />

geht es dagegen weniger um das schlichte Überleben als<br />

vielmehr um einen deutlich unterdurchschnittlichen Lebensstandard<br />

<strong>und</strong> eingeschränkte Möglichkeiten der gesellschaftlichen<br />

Teilhabe. Finanzielle Aspekte stellen eine zentrale<br />

Größe für die Abgrenzung von Armut dar, sind aber keineswegs<br />

ausreichend, um Armut umfassend zu beschreiben<br />

<strong>und</strong> zu analysieren. In der Armutsforschung wird daher zwischen<br />

verschiedenen Armutsdefinitionen <strong>und</strong> -konzepten unterschieden,<br />

deren Eignung für wissenschaftliche Untersuchungen<br />

vom jeweiligen Erkenntnisinteresse <strong>und</strong> dem gesellschaftlichen<br />

Kontext abhängt.<br />

Armutsdefinitionen <strong>und</strong> -konzepte<br />

So wird zunächst zwischen absoluter <strong>und</strong> relativer Armut unterschieden.<br />

Absolute Armut liegt vor, wenn das physische<br />

Überleben gefährdet ist; sie spielt in Industrieländern praktisch<br />

keine Rolle. Als relativ arm definiert der Rat der Europäischen<br />

Union hingegen Personen, Familien <strong>und</strong> Gruppen, „die<br />

über so geringe (materielle, kulturelle <strong>und</strong> soziale) Mittel verfügen,<br />

dass sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die<br />

in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum annehmbar<br />

ist“ (BMAS 2001). Das Konzept der relativen Armut bezieht<br />

sich also auf die „relative Schlechterstellung“ einer Bevölkerungsgruppe.<br />

Es thematisiert die in einer Gesellschaft<br />

bestehenden sozialen Unterschiede <strong>und</strong> Diskrepanzen <strong>und</strong><br />

ist gesellschafts- <strong>und</strong> zeitbezogen variabel.<br />

Die Definition des Rats der Europäischen Union macht<br />

deutlich, dass Armut ein mehrdimensionales Problem ist. Neben<br />

Einkommensarmut, das heißt mangelnden finanziellen<br />

Ressourcen, sind auch Unterversorgungslagen in anderen Bereichen<br />

wie zum Beispiel Wohnen, Ges<strong>und</strong>heit, Bildung <strong>und</strong><br />

soziale Beziehungen, zu berücksichtigen (Lebenslagenkonzept).<br />

Das Zusammenwirken verschiedener Formen der Benachteiligung<br />

hat in den 1990er-Jahren unter dem Stichwort<br />

„soziale Ausgrenzung“ beziehungsweise Exklusion - gemeint<br />

ist der Ausschluss von den verschiedenen „Teilhabemöglichkeiten<br />

am gesellschaftlichen Leben“ (Kronauer 1998) <strong>und</strong> eine<br />

umfassende soziale Isolierung - gerade auch in Industrieländern<br />

breitere Aufmerksamkeit erfahren (Kronauer 1997, Siebei<br />

1997).<br />

Armutsbegriffe, die auf dem Konzept der mehrdimensionalen<br />

Unterversorgungen beziehungsweise sozialer Ausgrenzung<br />

basieren, sind allerdings statistisch nur schwer zu fassen.<br />

Quantitative empirische Studien legen daher in der Regel<br />

den sogenannten Ressourcenansatz zugr<strong>und</strong>e, der sich auf finanzielle<br />

Ressourcen in Form von Einkommen bezieht. Diese<br />

Einschränkung wird inhaltlich damit gerechtfertigt, dass Einkommensarmut<br />

in der Regel Unterversorgungslagen in anderen<br />

Bereichen vorgelagert ist <strong>und</strong> die Verfügbarkeit von finanziellen<br />

Ressourcen dazu befähigt diese auszugleichen. Beim<br />

Ressourcenansatz wird zwischen zwei Fierangehensweisen<br />

beziehungsweise Armutsdefinitionen unterschieden. Im Gegensatz<br />

zu Definitionen von (Einkommens-)Armut über die Abweichung<br />

von einem zeitlich <strong>und</strong> räumlich variablen Durchschnittseinkommen<br />

(40-Prozent-, 50-Prozent-, 60-Prozent-<br />

Schwellenwert) stehen Definitionen, die sich auf konkrete Umstände<br />

beziehen. Dies ist häufig der Bezug von bestimmten<br />

Sozialleistungen - wie zum Beispiel in Deutschland Sozialhilfe<br />

oder neuerdings die Gr<strong>und</strong>sicherung für Arbeitssuchende<br />

(Flartz IV) -, der an bestimmte fest definierte Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Kriterien geb<strong>und</strong>en ist.<br />

Anzahl der extrem Armen nach Weltregionen<br />

1987<br />

1998<br />

Abbildung 1 Zahl<br />

<strong>und</strong> Anteil der extrem<br />

Armen nach Weltregionen,<br />

1987 <strong>und</strong><br />

1998 (Quelle: Arbeitskreis<br />

Armutsbekämpfung<br />

durch hülfe zur<br />

Selbsthilfe, 2003)


Räumliche Disparitäten der Armut 295<br />

Armut weltweit<br />

In globaler Perspektive gelten Menschen als absolut oder auch<br />

extrem arm, wenn sie über weniger als 1 US-Dollar täglich für<br />

ihren Lebensunterhalt verfügen. Gemäß Weltbank sind dies<br />

zur Zeit mehr als eine Milliarde Menschen, also fast ein Fünftel<br />

der Weltbevölkerung (The World Bank 2006). In den 1990er-<br />

Jahren ist der Anteil der extrem Armen an der gesamten Weltbevölkerung<br />

zwar gesunken, doch aufgr<strong>und</strong> des globalen Bevölkerungswachstums<br />

hat sich die Zahl der betroffenen Menschen<br />

kaum verändert. Dabei ist die räumliche Verteilung in<br />

höchstem Maße ungleich mit einem anhaltend hohen Anteil<br />

<strong>und</strong> einer steigenden Zahl extrem Armer im subsaharischen<br />

Afrika <strong>und</strong> in Südasien sowie stark gesunkenen Werten in Ostasien,<br />

im Nahen Osten <strong>und</strong> in Nordafrika (Abbildung 1).<br />

Neben dieser ressourcen- beziehungsweise einkommensbezogenen<br />

Abgrenzung von Armut stehen Indikatoren, die im<br />

Sinne einer mehrdimensionalen Betrachtungsweise auch Unterversorgungslagen<br />

in anderen Bereichen berücksichtigen.<br />

Mit dem Human Development Index (HDI) haben die Vereinten<br />

Nationen eine Kennzahl für den Stand der menschlichen Entwicklung<br />

eingeführt, die sich nicht auf Individuen oder Haushalte,<br />

sondern auf ganze Länder bezieht. Neben dem kaufkraftbereinigten<br />

Bruttoinlandsprodukt pro Kopf als finanzieller<br />

Variable werden weitere Indikatoren aus den Bereichen Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Bildung einbezogen, nämlich Lebenserwartung,<br />

Alphabetisierungs- <strong>und</strong> Einschulungsquoten. Mit dem HDI<br />

kann zwar die Zahl der armen Menschen nicht direkt gemessen<br />

werden, doch gibt der Index Auskunft über Lebensumstände<br />

<strong>und</strong> Armutsrisiken in vergleichender Länderperspektive<br />

(Tabelle 1). Inwieweit allerdings das Einkommen, der Bildungsstand<br />

oder die ges<strong>und</strong>heitliche Situation des Einzelnen von<br />

den bei der Indikatorenberechnung verwendeten Kriterien<br />

<strong>und</strong> Werten abweichen, also wie groß die Disparitäten innerhalb<br />

eines Landes ausgeprägt sind, wird nicht erfasst.<br />

Für die Erfassung des Ausmaßes von Disparitäten wird in<br />

der Regel der sogenannte Gini-Koeffizient verwendet. Dieser<br />

berechnet die Abweichung einer Verteilung, zum Beispiel des<br />

Einkommens oder des Vermögens, von einer Gleichverteilung.<br />

In einer Gesellschaft, in der alle Menschen über das gleiche<br />

Einkommen beziehungsweise Vermögen verfügen, ist der<br />

Tabelle 1 HDI-Ranking 2006 (Ausschnitt)<br />

Höe+isie ’A’erte<br />

Niedrigste Werte<br />

1. Norwegen 168. Mozambik<br />

2. Island 169. Bur<strong>und</strong>i<br />

3. Australien 170. Äthiopien<br />

4. Irland 171. Tschad<br />

5. S t" .vedon 172. Zentralafrikanische<br />

6. Kanada Republik<br />

7. Japdi-. 173. Guinea-Bissau<br />

8. Vereinigte Staaten 174. Burkina Faso<br />

9. Schweiz 175. Mali<br />

14. Österreich ... 176. Sierra Leone<br />

2' . Deutschland ... 177. Niger<br />

(Quelle: UNDP 2006)<br />

Gini- Koeffizient gleich Null. Mit wachsender Ungleichheit<br />

steigt der Koeffizient <strong>und</strong> erreicht maximal den Wert 1. Innerhalb<br />

der OECD haben die europäischen Wohlfahrtsstaaten Dänemark,<br />

Schweden, Niederlande <strong>und</strong> Österreich die niedrigsten<br />

Gini-Koeffizienten bezogen auf das verfügbare Haushaltseinkommen.<br />

Die höchsten Werte <strong>und</strong> damit ein reiativ hohes<br />

Maß an Ungleichheit weisen Mexiko, die Türkei, Polen <strong>und</strong> die<br />

USA auf, während Deutschland im Mittelfeld der OECD-Staa-<br />

ten liegt (Förster & D’Ercole 2005).<br />

Armut in Deutschland<br />

Armut hat sich auch in Deutschland in den 1990er-Jahren zu<br />

einem wichtigen Thema in Wissenschaft <strong>und</strong> Politik entwickelt<br />

(BMAS 2005). Hintergr<strong>und</strong> hierfür ist der Anstieg der Armut,<br />

vor allem gemessen über den Sozialhilfebezug, seit den<br />

1970er-Jahren. Die wichtigsten Ursachen sind die gestiegene<br />

Arbeitslosigkeit, die Zunahme schlecht bezahlter Tätigkeiten,<br />

vor allem in sogenannten prekären Beschäftigungsverhältnissen<br />

<strong>und</strong> das sukzessive Zurückschrauben der Leistungen der<br />

Arbeitslosenversicherung <strong>und</strong> anderer staatlicher Leistungen.<br />

Darüber hinaus ist - auch unter dem Stichwort der Individualisierung<br />

der Lebensstile - der Wandel der Haushaltsstrukturen<br />

<strong>und</strong> hier insbesondere die abnehmende Bedeutung traditioneller<br />

Familienhaushalte sowie die wachsende Zahl von Einpersonen-<br />

<strong>und</strong> Alleinerziehenden-Haushalten zu nennen. Neben<br />

Arbeitslosen stellen Haushalte mit Kindern <strong>und</strong> hier vor<br />

allem Alleinerziehenden-Haushalte sowie außerdem Ausländer<br />

wichtige Armutsrisikogruppen dar (Geißler 1996).<br />

Obwohl die Ungleichheit der Einkommen in<br />

(West-<br />

)Deutschland seit den 1970er-Jahren nur leicht zugenommen<br />

hat, sind in den sozialen Randbereichen deutliche Hinweise<br />

auf Polarisierungsprozesse <strong>und</strong> eine „Ausdünnung der Mittelschichten“<br />

zu verzeichnen (Hauser 2003). So haben sowohl<br />

die Einkommensreichtumsquote (Anteil der Einkommensempfänger<br />

mit einem Einkommen von mindestens 200 Prozent<br />

des Durchschnittswerts) als auch - <strong>und</strong> sogar stärker - die<br />

Einkommensarmutsquote (50-Prozent-Grenze) <strong>und</strong> die Sozialhilfeempfängerquote<br />

deutlich zugenommen.<br />

Aus geographischer Perspektive sind vor allem räumliche<br />

Disparitäten der Armut interessant. Neben den bereits thematisierten<br />

Unterschieden zwischen verschiedenen Ländern sind<br />

hier vor allem regionale Disparitäten <strong>und</strong> die innerstädtische<br />

(Armuts-)Segregation zu nennen. Regionale Disparitäten der<br />

Armut sind in Deutschland erstmals im Kontext des wirtschaftlichen<br />

Süd-Nord-Gefälles als Problem thematisiert worden<br />

(Friedrichs, Häußermann & Siebei 1986). Sie spielen aktuell<br />

in der Debatte um die gleichwertigen Lebensbedingungen<br />

in Ost <strong>und</strong> West eine Rolle; darüber hinaus bestehen Unterschiede<br />

zwischen Stadt <strong>und</strong> Land beziehungsweise den Kernstädten<br />

<strong>und</strong> ihrem Umland (Abbildung 2). Der wichtigste Bestimmungsgr<strong>und</strong><br />

für die bestehenden regionalen Disparitäten<br />

sind Unterschiede in der Arbeitsmarktsituation, vor allem in<br />

der Arbeitslosigkeit (Klagge 2001a).<br />

Die Segregation von Armut in der Stadt hat sich seit den<br />

1990er-Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld der Stadt-<br />

<strong>und</strong> Sozialgeographie in Deutschland entwickelt. Die in Stadtteilen<br />

mit einem besonders hohen Anteil armer Bevölkerung<br />

auftretenden Strukturen, Prozesse <strong>und</strong> Probleme bilden immer<br />

wieder den Anlass für Spekulationen über die „Spaltung“


296 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Sozialhilfequote 2002<br />

nach Kreisen<br />

t;:<br />

Sozialhilfequote* 1994-2003<br />

nach Altersgruppen<br />

. 94 19g5* »6 97 98 M 2000 01 03 OSr<br />

W<br />

9 t.J<br />

N 1 i t<br />

» ' i i v »<br />

‘ frntangtelii^^omma^we<br />

avK#ev«iwi


Kriminalität als Thema der Sozialgeographie 297<br />

sie kein Ersatz für Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut<br />

<strong>und</strong> Arbeitslosigkeit.<br />

Armut ist sowohl in globaler als auch in nationaler <strong>und</strong> regionaler<br />

Perspektive ein prägendes Merkmal heutiger Gesellschaften.<br />

Zur Erfassung, Beschreibung <strong>und</strong> Erklärung von Armut<br />

haben Wissenschaftler unterschiedliche Definitionen <strong>und</strong><br />

Konzepte entwickelt. Diese tragen den unterschiedlichen Ausprägungen<br />

von Armutsphänomenen Rechnung. Räumliche<br />

Disparitäten der Armut auf den unterschiedlichen Maßstabsebenen<br />

bilden einen Ansatzpunkt, um die komplexen Ursachen<br />

von Armut besser zu verstehen <strong>und</strong> Politikansätze zu ihrer<br />

Bekämpfung zu entwickeln.<br />

B. Klagge<br />

Raum „nach einem Image der Exklusivität neu zu<br />

schaffen“ (Mitchell 2007).<br />

In einem weiteren Forschungsfeld geht es darum,<br />

Indikatoren zu konstruieren, mit denen räumliche<br />

Disparitäten der Armut (Wohlfahrt) dargestellt <strong>und</strong><br />

analysiert werden können. Diese können ein wichtiger<br />

Ausgangspunkt für eine große Zahl humangeographischer<br />

Untersuchungen sein.<br />

Das reiche Angebot an Wohlfahrtsindikatoren, die<br />

für das gesamte B<strong>und</strong>esgebiet beziehungsweise für<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland zur Verfügung stehen,<br />

steht in krassem Gegensatz zur Verfügbarkeit von Indikatoren,<br />

welche sich bis auf Kreise oder Gemeinden<br />

aufgliedern lassen.<br />

L<br />

Kriminalität als Thema<br />

der Sozialgeographie<br />

Bei der Bewertung der Entwicklung der Kriminalgeographie<br />

ist zu beachten, dass sie bis in die jüngste Zeit<br />

vorwiegend von „Praktikern“ dominiert wurde, also<br />

von Personen, die eher an der Bekämpfung der Kriminalität<br />

als an einer wissenschaftlich tragfähigen,<br />

theoretischen Begründung interessiert waren. Dies<br />

trifft gleichermaßen für die frühen Wurzeln der Kriminalgeographie<br />

in der ersten Hälfte des 19. lahrh<strong>und</strong>erts<br />

während des sogenannten Social-Survey-Movement<br />

zu, wie für die Wiederentdeckung in den<br />

1960er- <strong>und</strong> 1970er-lahren. Schon die Vertreter<br />

des Social-Survey-Movements haben Kriminalität<br />

nicht aus theoriegeleitetem Interesse untersucht, sondern<br />

um Gr<strong>und</strong>lagen für Sozialreformen zu schaffen.<br />

Buchanan (1846) sah zum Beispiel in den tristen<br />

Wohnverhältnissen (Überbelegung der Wohnräume)<br />

eine Ursache für die hohe lugendkriminalität. Mayhew<br />

(1861/62) <strong>und</strong> seine Mitarbeiter kartierten die<br />

Tatorte <strong>und</strong> Wohnorte von „Dieben, Betrügern, Bettlern,<br />

Schwindlern <strong>und</strong> Prostituierten“ in London, beschrieben<br />

das soziale Milieu der Straßen <strong>und</strong> Wohnviertel,<br />

die eine hohe Kriminalität aufwiesen, <strong>und</strong> versuchten<br />

einen Zusammenhang zwischen Milieu <strong>und</strong><br />

Kriminalität nachzuweisen. Mayhew wies darauf hin,<br />

dass sowohl die Jugendkriminalität als auch die Kriminalität<br />

von Erwachsenen mit zunehmender Stadtgröße<br />

ansteige, aber auch innerhalb der Großstädte<br />

stark variiere. Er verwendete bereits Begriffe wie<br />

delinquency area <strong>und</strong> social disorganization, die<br />

dann in den 1920er-Jahren wieder von der Chicagoer<br />

Schule der Sozialökologie aufgegriffen wurden.<br />

Vertreter der Chicagoer Schule der Sozialökologie<br />

waren vor allem am Zusammenhang zwischen Schulschwänzen<br />

<strong>und</strong> Jugendkriminalität interessiert. Shaw<br />

<strong>und</strong> McKay (Shaw 1929, Shaw & McKay 1931) untersuchten<br />

anhand einer kleinräumigen Gliederung von<br />

Chicago, inwieweit Gebiete mit hohen Quoten von<br />

Schulschwänzern mit Gebieten hoher Jugendkriminalität<br />

beziehungsweise der räumlichen Verteilung<br />

von Straftätern korrelierten. Sie kamen zum Ergebnis,<br />

dass Schulschwänzen in vielen Fällen der Beginn einer<br />

kriminellen Laufbahn sei <strong>und</strong> eng mit verschiedenen<br />

Formen delinquenten Verhaltens aber auch mit Indikatoren<br />

wie Säuglingssterblichkeit, dem Anteil der an<br />

Tuberkulose Erkrankten, dem Wohnbesatz, dem Anteil<br />

der Familien, die von staatlicher Unterstützung<br />

leben, <strong>und</strong> dem Anteil der Abbruchhäuser korrelieren.<br />

Shaw <strong>und</strong> McKay sahen die hohen Korrelationen<br />

zwischen Verbrechenshäufigkeit <strong>und</strong> diversen sozialen<br />

Indikatoren jedoch nicht als Ursache-Wirkungs-<br />

Beziehung, sondern als Ausdruck von tiefer liegenden<br />

sozialen Problemen, die zu Kriminalität führen.<br />

In vielen Ländern kam es in den 1960er- <strong>und</strong><br />

1970er-Jahren zu einem Aufschwung der angewandten<br />

Kriminalgeographie. Auch in Deutschland entwickelte<br />

sich die Kriminalgeographie viele Jahre lang<br />

nicht aus der universitären Forschung an Geographischen<br />

Instituten heraus, sondern im Rahmen der angewandeten<br />

Kriminalitätsbekämpfung. Dies spiegelt<br />

sich auch in den Definitionen wider, die damals üblich<br />

waren. Nach Herold (1977) ist die Kriminalgeographie<br />

die Wissenschaft von den Beziehungen, die<br />

zwischen der spezifischen Struktur eines Raums<br />

<strong>und</strong> der in ihm örtlich <strong>und</strong> zeitlich anfallenden Kriminalität<br />

bestehen. Hellmer (1974) definierte die Kriminalgeographie<br />

als die Wissenschaft von der regio-


298 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

nalen Verteilung der Kriminalität <strong>und</strong> der Kriminalitätsfaktoren<br />

<strong>und</strong> von den regionalen Unterschieden<br />

der Kriminalitätsbekämpfung. Nach diesem traditionellen<br />

Verständnis untersuchte die Kriminalgeographie<br />

also die räumlichen Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

der Kriminalität sowie die Einflussfaktoren, welche<br />

kriminelles Handeln auslösen, anziehen oder begünstigen<br />

können. Um räumliche Disparitäten der Kriminalität<br />

zu messen, wurden verschiedene Indikatoren<br />

wie die Kriminalitätsziffer, die Tatortdichte, Täterwohnsitzdichte<br />

sowie Täterzustrom- <strong>und</strong> Täterabstromquoten<br />

verwendet.<br />

Die Kriminalstatistik erfasst nur Tatbestände, die<br />

nach dem geltenden Recht eines Landes strafbar sind.<br />

Eine verbrecherische, delinquente oder kriminelle<br />

Handlung wird definiert als ein Verstoß gegen eine<br />

gesetzliche Norm, der vom Gesetzgeber mit einer bestimmten<br />

Sanktion belegt wird. Was ein krimineller<br />

Tatbestand ist, wird je nach Land <strong>und</strong> Kultur sehr<br />

unterschiedlich definiert <strong>und</strong> ist auch einem zeitlichen<br />

Wandel unterworfen. Strafrechtliche Bestimmungen<br />

können durchaus im Widerspruch zum<br />

Schuldbegriff der Bevölkerungsmehrheit stehen. In<br />

der DDR gab es beispielsweise die Straftat der „Republikflucht“.<br />

In einigen Staaten der USA wurden<br />

im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert Gesetze erlassen, welche<br />

die Vermittlung von Lese- <strong>und</strong> Schreibkenntnisse an<br />

Sklaven unter Strafe stellten (Georgia 1770, Louisiana<br />

1830, Alabama 1832). In Belfast ist das Trinken von<br />

Alkohol auf öffentlichen Straßen <strong>und</strong> Plätzen verboten<br />

(Abbildung 5.22). In einigen US-amerikanischen<br />

Staaten steht das Aufhängen von Wäsche im<br />

Freien unter Strafe. Die gesetzlichen Normen sind<br />

auch von der Frage zu unterscheiden, was von den<br />

Menschen subjektiv als kriminelle Handlung empf<strong>und</strong>en<br />

wird. Auch diese subjektive Sicht variiert<br />

sehr stark nach Gesellschaftssystem, Subkultur, Zeitperiode,<br />

politischer Situation, sozialer Schichtzugehörigkeit<br />

<strong>und</strong> räumlichem Kontext.<br />

Die Schwierigkeiten der traditionellen Kriminalgeographie<br />

lagen vor allem in zwei Bereichen. Erstens<br />

ist die amtliche Kriminalstatistik, die sich auf Anzeigen,<br />

Anklagen <strong>und</strong> Verurteilungen stützt <strong>und</strong> nach<br />

Tätern, Tatorten <strong>und</strong> Täterwohnsitzen differenziert<br />

wird, mit starken Mängeln behaftet. Problematisch<br />

sind vor allem die hohe Dunkelziffer, das räumlich<br />

<strong>und</strong> schichtspezifisch sehr unterschiedliche Anzeigeverhalten<br />

<strong>und</strong> die Auswirkungen einer unterschiedlichen<br />

Polizeidichte. Bei einer hohen Polizeidichte werden<br />

einerseits mehr Straftaten erfasst, andererseits<br />

können vorbeugende Aktivitäten der Polizei sowie<br />

eine gute Revierführung <strong>und</strong> -abgrenzung die Straftatenhäufigkeit<br />

beeinflussen sowie zur räumlichen<br />

Verlagerung krimineller Tätigkeiten führen. Die<br />

zweite Schwachstelle der traditionellen Kriminalgeographie<br />

liegt in ihrer vorwiegend deskriptiven Vorgangsweise,<br />

ihrer positivistischen Gr<strong>und</strong>ausrichtung,<br />

der mangelhaften theoretischen Begründung der Beziehungen<br />

zwischen Raum <strong>und</strong> Kriminalität beziehungsweise<br />

in der weitgehenden Theorielosigkeit,<br />

welche im Exkurs „Kriminalität <strong>und</strong> Raum“ beschrieben<br />

werden.<br />

Die wichtigsten Untersuchungsziele der traditionellen,<br />

vorwiegend angewandten <strong>und</strong> nicht an theoretischen<br />

Fragen interessierten Kriminalgeographie<br />

lauteten;<br />

Wie sind die Straftaten nach Tatorten, Delikten,<br />

Begehungsarten, Begehungszeiten <strong>und</strong> Tätergruppen<br />

räumlich verteilt?<br />

Wie sind Delinquenzgebiete abzugrenzen?<br />

Welche demographischen, wirtschaftlichen, sozialen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Merkmale eines Raums führen<br />

zu erhöhter Kriminalität, können kriminelles<br />

Handeln auslösen, anziehen, begünstigen oder<br />

fernhalten?<br />

Welche Auswirkungen haben die bauliche Umwelt<br />

<strong>und</strong> Dichtefaktoren (zum Beispiel Hochhausbebauung,<br />

überbelegte Mietskasernen, Tiefgaragen<br />

oder unbeleuchtete Wege) auf kriminelles Verhalten?<br />

Was kennzeichnet „Angsträume“ oder<br />

„Gefahrenräume“?


Kriminalität als Thema der Sozialgeographie 299<br />

• Welche Entfaltungshemmnisse (zum Beispiel<br />

peace lines in Nordirland) führen zu Störungen<br />

des Sozialverhaltens <strong>und</strong> Kriminalität?<br />

• Welche Auswirkungen haben polizeiliche Maßnahmen<br />

oder eine hohe Polizeipräsenz auf die<br />

räumliche Verteilung von Kriminalität?<br />

Schon die Chicagoer Arbeiten der 1920er-Jahre haben<br />

daraufhingewiesen, dass hohe Kriminalitätsraten<br />

vor allem in sogenannten Übergangsquartieren mit<br />

häufig ablaufenden Invasions- <strong>und</strong> Sukzessionsprozessen<br />

auftreten. Der Einfluss des Raums beziehungsweise<br />

der sozialen <strong>und</strong> morphologischen Umwelt auf<br />

die Kriminalität ist zwar nicht zuletzt wegen des ökologischen<br />

Fehlschlusses oder eines möglichen Raumdeterminismus<br />

wissenschaftlich umstritten, wird aber<br />

in der täglichen Polizeiarbeit bei der Vorbeugung<br />

ernst genommen.<br />

Kritisiert wurde die traditionelle Kriminalgeographie<br />

auch deshalb, weil sie sich vorwiegend mit jenen<br />

Straftaten befasst hat, welche für die Unter- <strong>und</strong> Mittelschichten<br />

typisch sind, wie zum Beispiel Eigentumsdelikte<br />

oder Körperverletzung, <strong>und</strong> die sogenannte<br />

white co//iir-Kriminalität erst spät zur Kenntnis<br />

genommen hat. Die Kritik bezieht sich aber auch<br />

auf ihre „Präventionsperspektive“, denn: „Der Präventionsstandpunkt<br />

hindert überhaupt daran, das abweichende<br />

Phänomen richtig in den Blick zu bekommen,<br />

da er vom Ziel bestimmt <strong>und</strong> motiviert wird, es<br />

auszumerzen“ (Matza 1973). Diese Mainstreamkriminologie<br />

steht von ihrer ganzen Zielsetzung her<br />

„im Ordnungsdienst des Staates“ (Albrecht 1999).<br />

Die neuere Kriminalgeographie versucht, stärker<br />

theoriebezogen zu arbeiten, sie interessiert sich<br />

auch für Subkulturen, Einstellungen zu Kriminalität<br />

<strong>und</strong> subjektive Bedrohungsgefühle. Sie versucht, die<br />

Wechselbeziehungen zwischen Straftat, Situation <strong>und</strong><br />

Täter zu ergründen sowie räumliche <strong>und</strong> schichtspezifische<br />

Unterschiede der Anzeigebereitschaft: zu erfassen.<br />

So hat beispielsweise D.T. Herbert (1976b)<br />

in Cardiff den Interviewpartnern eine Liste von unterschiedlich<br />

schweren Straftaten vorgelegt <strong>und</strong> sie<br />

gefragt, welche dieser Delikte sie der Polizei melden<br />

würden, wenn sie in ihrer Nachbarschaft passierten.<br />

Hinsichtlich der Anzeigebereitschaft ergaben sich<br />

deutliche Unterschiede zwischen einzelnen Stadtvierteln,<br />

verschiedenen sozialen Schichten <strong>und</strong> Subkulturen.<br />

Auch das Ausmaß der elterlichen Kontrolle <strong>und</strong><br />

der elterlichen Sanktionen gegen jugendliche Straftaten<br />

war in den einzelnen Vierteln sehr unterschiedlich.<br />

Das Ursachengeflecht von kriminellem Handeln<br />

ist außerordentlich komplex, sodass an der Theoriediskussion<br />

auch verschiedene Disziplinen beteiligt<br />

sind. Gottfredson <strong>und</strong> Hirschi (1990) kamen nach<br />

der Sichtung der verfügbaren Literatur zur Ansicht,<br />

dass es wohl keine allgemeine Theorie der Kriminalität<br />

geben kann, sondern dass jede Art von Strafbeständen<br />

(Mord, Drogendelikte, Straßenraub, white<br />

co//ar-Kriminalität <strong>und</strong> so weiter) ihre eigene Theorie<br />

benötigt. Trotzdem seien hier einige der theoretischen<br />

Erklärungsansätze kurz erläutert. Die frühesten<br />

Versuche, Kriminalität zu erklären, waren die Anomietheorie<br />

von Durkheim (1893), die Theorie der<br />

sozialen Desorganisation <strong>und</strong> die Theorie der kulturellen<br />

Übertragung (Shaw 1929, Shaw 8c McKay<br />

1931). Vertreter der Anomietheorie haben argumentiert,<br />

dass das Fehlen einer stabilen Gesellschaftsordnung<br />

<strong>und</strong> ein Zustand der Normenlosigkeit (Anomie)<br />

kriminelles Verhalten begünstigen. Die Ursachen<br />

für die Desintegration der Gesellschaft wurden<br />

von diesen Autoren vor allem im Industrialisierungs<strong>und</strong><br />

Verstädterungsprozess gesehen. Dabei wurde<br />

auch ein Zusammenhang zwischen Kriminalität<br />

<strong>und</strong> Stadtgröße beschrieben. Je größer eine städtische<br />

Agglomeration sei, umso größer sei die Anonymität,<br />

Isolation, Entwurzelung <strong>und</strong> Entfremdung der Einwohner,<br />

umso geringer sei die soziale Kontrolle<br />

<strong>und</strong> soziale Kohäsion, umso heterogener sei die Sozialstruktur,<br />

umso bedeutender werde der Einfluss<br />

der Subkulturen <strong>und</strong> der Personen mit „abweichendem<br />

Verhalten“, umso mehr erhöhe sich unter sonst<br />

gleichen Bedingungen die Häufigkeit von Eigentumsdelikten,<br />

Gewalttaten <strong>und</strong> Drogendelikten. Diese<br />

Verallgemeinerungen werden heute sehr kritisch gesehen.<br />

Denn Areale mit hoher Kriminalität müssen<br />

nicht durch Normenlosigkeit gekennzeichnet sein.<br />

Gerade Jugendbanden oder die organisierte Kriminalität<br />

zeichnen sich durch sehr feste Normen, eine<br />

hohe soziale Kohäsion <strong>und</strong> eine starke soziale Kontrolle<br />

aus.<br />

Shaw <strong>und</strong> McKay waren Verfechter der Theorie<br />

der kulturellen Übertragung <strong>und</strong> gingen davon<br />

aus, dass kriminelles Verhalten durch Lernprozesse<br />

erworben sei. Das Aufwachsen in kriminellen Subkulturen<br />

<strong>und</strong> die Kontakte mit kriminellen Rollenmodellen<br />

können im Rahmen eines Sozialisationsprozesses<br />

Ziele <strong>und</strong> Motive vermitteln, welche bei entsprechenden<br />

Situationen kriminelles Verhalten bewirken<br />

können. Außerdem seien bestimmte Viertel mit einer<br />

Tradition der Delinquenz behaftet, die durch Auto<strong>und</strong><br />

Heterostereotype reproduziert oder noch verstärkt<br />

würden.<br />

Die sogenannte Sheffield School (Sheffield University,<br />

Centre for Criminological Research) konzentriert<br />

sich auf die Auswirkungen des lokalen Woh-


300 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Kriminalität <strong>und</strong> Raum<br />

Als im Herbst 2005 in den „Banlieus“, den Vororten französi­<br />

stammt von dem US-amerikanischen Architekten Oscar New-<br />

scher Großstädte, Autos <strong>und</strong> Barrikaden brannten, machten<br />

man (1972). Er stellt fest, dass in New York die registrierte<br />

nicht wenige Kommentatoren die dortige, durch Großwohn­<br />

Kriminalität in Hochhäusern höher ist als in niedrigeren Ge­<br />

blocks geprägte Baustruktur für die Unruhen mitverantwort­<br />

bäuden. Daraus schließt er erstens, dass die Kriminalitäts­<br />

lich. In der Süddeutschen Zeitung etwa war die Rede davon,<br />

belastung an der Stockwerkzahl liegen muss. Da zweitens<br />

„dass Architektur <strong>und</strong> Wohnungswesen eine Mitverantwor­<br />

der größte Teil der Delikte in Eingangshallen, Treppenhäusern,<br />

tung an der Förderung von Gewaltproblemen haben“ (Matzig<br />

Fahrstühlen <strong>und</strong> Korridoren begangen wird, trägt für ihn ins­<br />

12.11.05). Auch wenn es „keine monokausalen Zusammen­<br />

besondere die Gestaltung dieser halböffentlichen Räume die<br />

hänge von Städtebau <strong>und</strong> Kriminalität“ (ebd.) gäbe, so der<br />

Schuld. Eben diese Räume wären demnach kriminogen.<br />

Autor, sei die Randale seines Erachtens doch einem Mangel<br />

An der Denkweise, Kriminalität durch Eigenschaften des<br />

an heimat-<strong>und</strong> identitätsstiftender Wirkung der gebauten Um­<br />

Raums zu erklären, ist zu kritisieren, dass auf diese Weise ten­<br />

welt anzulasten. Der Zusammenhang von „gebautem“ Raum<br />

denziell von allen sozialen Aspekten des Phänomens „Krimi­<br />

<strong>und</strong> Gewalt würde in „vielen Studien bestätigt“ (ebd.).<br />

nalität“ abgesehen wird. Wenn Kriminalität durch den Raum<br />

Nicht nur in Medien <strong>und</strong> Politik, auch in der Wissenschaft,<br />

ausgelöst wird - also zum Beispiel durch halböffentliche Räu­<br />

vor allem in der Stadtsoziologie, der Kriminologie <strong>und</strong> seit eini­<br />

me in Hochhäusern -, dann hat sie mit gesellschaftlichen Ver­<br />

ger Zeit auch in der Sozialgeographie, wird häufig ein Zusam­<br />

hältnissen oder individuellen Beweggründen der Beteiligten<br />

menhang zwischen Kriminalität <strong>und</strong> Raum angenommen. Oft<br />

nichts zu tun; dann geht es nicht um Rache, Armut, Eifersucht,<br />

wird dabei behauptet, dass bestimmte Typen von Räumen zu<br />

Geldgier, Prahlereien, Not, Gruppenzwang oder andere Moti­<br />

einer erhöhten Kriminalität oder Kriminalitätsfurcht führen.<br />

ve, wie man sie aus Krimis kennt. Erst recht nicht geht es da­<br />

Kritiker dieser Vorstellung widersprechen: Dass bestimmte<br />

rum, dass <strong>und</strong> wie das Phänomen „Kriminalität“ selbst im Kern<br />

Räume als gefährlich gelten, liege nicht an diesen Räumen be­<br />

das Resultat eines Zuschreibungsprozesses ist. Wenn also be­<br />

ziehungsweise an dem, was in ihnen passiert, sondern an Zu­<br />

hauptet wird, dass die halböffentlichen Räume von Großwohn­<br />

schreibungen, die die gesellschaftlichen Phänomene Krimina­<br />

siedlungen kriminogen sind, dann wird vollkommen davon ab­<br />

lität <strong>und</strong> Kriminalitätsfurcht verräumlichen. Diese Denkweisen<br />

gesehen, wer dort lebt, welche sozialräumlichen (Belegung,<br />

werden im Folgenden nacheinander diskutiert.<br />

Instandhaltung <strong>und</strong> so weiter) <strong>und</strong> vor allem sozialen Verhältnisse<br />

(Armut, patriarchale Strukturen, Vereinsamung <strong>und</strong> so<br />

!H i<br />

Raum schafft Kriminalität<br />

weiter) dort vorherrschen. Wenn so getan wird, als wäre<br />

die Gestaltung der Räume schuld an „Kriminalität“, dann ist<br />

. 5<br />

!t<br />

i ir<br />

Der Suche nach kriminogenen (das heißt Kriminalität auslösenden)<br />

Räumen hat sich der allergrößte Teil der sogenannten<br />

Kriminalgeographie verschrieben. Diese wird im deutschsprachigen<br />

Raum kaum in der Geographie, sondern vor allem von<br />

Kriminologen <strong>und</strong> Kriminalisten betrieben. Der ehemalige Polizeipräsident<br />

von Nürnberg <strong>und</strong> spätere BKA-Chef etwa sieht<br />

egal, wer diese Räume nutzt, wer dort unter welchen Umständen<br />

wohnt <strong>und</strong> weiche Gründe Menschen haben könnten, kein<br />

Interesse daran zu haben, Verantwortung für die halböffentlichen<br />

Räume zu übernehmen - wie sich Newman, die Hausverwaltung<br />

oder die Polizei das wünschen würden.<br />

Eine weit verbreitete Variante der Denkweise „Raum<br />

die Aufgabe der Kriminalgeographie in der Untersuchung der<br />

schafft Kriminalität“, in der leicht anders argumentiert wird,<br />

„strukturellen <strong>und</strong> funktionellen Elemente des Raums, [...] um<br />

firmiert unter dem Titel Broken Windows. Im Kern behauptet<br />

sie sodann zu den Teilen der Kriminalität in Beziehung zu set­<br />

sie: „Ernsthafte Straßenkriminalität gedeiht in Gegenden, in<br />

zen, die vom Raum ausgelöst oder angezogen werden“ (Herold<br />

denen unordentliches Verhalten unkontrolliert durchgeht“<br />

1977). Er geht also davon aus, dass Kriminalität durch den<br />

(Wilson & Kelling 1982). Demnach kommt es in Räumen, in<br />

I»<br />

Raum ausgelöst wird. Wie diese Kausalität funktionieren<br />

soll, wird üblicherweise nur vage angedeutet. Wichtiger als<br />

eine Erklärung dieses Zusammenhangs sind für Kriminalisten<br />

denen es unordentlich aussieht, verstärkt zu schwerer Kriminalität.<br />

Dabei fungiert die Unordnung des Raums nicht direkt<br />

als Auslöser von Verbrechen, sondern ist vermittelt über den<br />

<strong>und</strong> andere Praktiker vor allem anwendungsrelevante Ergeb­<br />

Zwischenschritt ihrer Wahrnehmung durch potenzielle Straftä­<br />

nisse, die es Polizei, Strafjustiz oder Versicherungswirtschaft<br />

ter. Diesen signalisiere eine heruntergekommene Gegend den<br />

erlauben, ihre Aktivitäten besser zu planen. In diesem Zusam­<br />

Eindruck, dass in ihr die soziale Kontrolle niedrig ist <strong>und</strong> das<br />

menhang entstehen die „vielen Studien“ (Matzig 12.11.05),<br />

Einhalten von Normen nicht sanktioniert wird. Das bedeute für<br />

von denen in der Süddeutschen Zeitung die Rede war. Da da­<br />

Schwerverbrecher eine Einladung <strong>und</strong> sei für die Bewohner zu<br />

bei Computerkartographie <strong>und</strong> GIS neue Möglichkeiten einer<br />

Recht ein Gr<strong>und</strong> zur Sorge.<br />

schnellen Visualisierung großer Datenmengen bieten, ist Kri­<br />

Zum Beleg der Broken Windows-These wird häufig auf eine<br />

minalitätskartierung derzeit ein Wachstumsmarkt (Belina<br />

Studie des Kriminologen Wesley G. Skogan (1990) verwiesen,<br />

2007). In diesem Bereich geht es von vorneherein primär<br />

in der die Wahrnehmung der Ordnung im Stadtteil, die Krimi-<br />

um Beschreibung; nur selten werden Thesen zur Erklärung<br />

nalitätsfurcht <strong>und</strong> die eigene Viktimisierung (Opferwerdung)<br />

der unterstellten Kausalität „Raum schafft Kriminalität“ abge­<br />

abgefragt wurden. Durch eine statistische Analyse der Ant­<br />

leitet.<br />

worten sieht Skogan die Broken Windows-These bestätigt:<br />

Ein viel zitiertes Beispiel einer Untersuchung, in der aus der<br />

Wo es unordentlich ist, steigen Furcht <strong>und</strong> Verbrechen.<br />

Beschreibung der räumlichen Verteilung der registrierten Kri­<br />

Der Jurist Bernhard Harcourt (1998) hat anhand einer Neu­<br />

minalität auf deren räumliche Ursachen geschlossen wird.<br />

auswertung der verwendeten Daten gezeigt, mit welchen


Kriminalität als Thema der Sozialgeographie 301<br />

Tricks Skogan arbeitet, um zu diesem viel zitierten Ergebnis zu<br />

gelangen, das sich bei genauerem Hinsehen allerdings nicht<br />

halten lässt.<br />

Doch selbst wenn sich die These empirisch belegen ließe,<br />

so trifft nach wie vor die weiter oben angeführte Kritik zu, nach<br />

der Kriminalität durch ihre Verräumlichung nicht erklärt wird.<br />

Denn woher die Schwerverbrecher kommen, die in den unordentlichen<br />

Gegenden angeblich schwere Verbrechen begehen,<br />

erfährt man von Wilson & Kelling (1982) nicht. Sie gibt<br />

es einfach, erklärt werden soll nur, wo sie straffällig werden.<br />

Damit ist in dieser Denkweise von allem Gesellschaftlichen<br />

abgesehen.<br />

In den Polizeibehörden <strong>und</strong> Stadtverwaltungen der USA<br />

wird der von Broken Windows behauptete Zusammenhang<br />

weitgehend als kriminologische Wahrheit angesehen <strong>und</strong>-zusammen<br />

mit Kartierungen, die Unordnung <strong>und</strong> „Kriminalität“<br />

verräumlichen - zur Gr<strong>und</strong>lage weiter Teile der eigenen Arbeit<br />

gemacht. Die Denkweise „Raum schafft Kriminalität“ ist also,<br />

obschon theoretisch fragwürdig, sehr erfolgreich.<br />

Kriminalität schafft Raum<br />

Hier geht es nicht darum, wie die „tatsächliche Kriminalität“<br />

sozusagen „tatsächliche Räume“ schafft, sondern um die Frage,<br />

wie die Produktion von „Kriminalität“ erst „kriminelle Räume“<br />

herstellt. Mit „Produktion von Kriminalität“ ist folgender<br />

Zusammenhang angesprochen: Kriminalpolitik, also staatliche<br />

Politik, die sich mit „Kriminalität“ <strong>und</strong> dem Umgang mit „Kriminellen“<br />

befasst, schafft sich ihren Gegenstand selbst. „Kriminalität“<br />

<strong>und</strong> „Kriminelle“ werden durch staatliche Politik<br />

überhaupt erst erzeugt. Erstens gibt es ohne staatliche Gesetze<br />

keine „Kriminalität“. Nur Verhaltensweisen, die gegen das<br />

von der Legislative festgelegte Strafrecht verstoßen, sind „kriminell“.<br />

Das Strafrecht produziert also „Kriminalität“. Zweitens<br />

ist der Staat als Exekutive zuständig für die Verfolgung,<br />

als Judikative für die Aburteilung derjeniger Personen, denen<br />

als „kriminell“ festgelegte Verhaltensweisen nachgesagt werden.<br />

Nur Personen, gegen die staatlicherseits wegen Gesetzesbruchs<br />

vorgegangen wird, sind „kriminell“. Die Strafverfolgungsbehörden<br />

liefern der Strafjustiz also diejenigen Personen,<br />

die durch Verurteilung zu „Kriminellen“ werden. Anstatt<br />

„Kriminalität“ als scheinbar feststehende Sache zu untersuchen,<br />

sollte deshalb zu ihrer Erklärung der Prozess der „Kriminalisierung“<br />

im Fokus stehen.<br />

Damit ist nicht behauptet, dass bestimmte Verhaltensweisen<br />

nicht sinnvoller Weise als deviant, also als von gesellschaftlichen<br />

Maßstäben abweichendes Verhalten bezeichnet<br />

werden könnten oder sollten. Vergewaltigung <strong>und</strong> sexuelle Belästigung<br />

beispielsweise existieren natürlich, sind anhand geteilter<br />

Maßstäbe klar zu definieren <strong>und</strong> müssen verhindert<br />

werden. Etwas ganz anderes jedoch ist es zu erklären, wie<br />

aus einer derartigen Einschätzung, die auf Mechanismen ausgehandelter<br />

sozialer Kontrolle basiert, mittels staatlicher Kontrolle<br />

„Kriminalität“ wird. Um zu verstehen, was „Kriminalität“<br />

jeweils konkret ist, gilt es zu untersuchen, welche Maßstäbe<br />

staatlicher Kontrolle im Strafrecht gesetzt werden, wie diese<br />

durch die Polizei verfolgt <strong>und</strong> durch die Gerichte angewandt<br />

werden. Alle Ebenen dieser Kriminalitätsproduktion können<br />

räumlich differenziert stattfinden. So unterscheiden sich die<br />

Bestimmungen, wie viel „weiche Drogen“ legal sind, zwischen<br />

den B<strong>und</strong>esländern, <strong>und</strong> diejenigen, weiche Arten des Betteins<br />

verboten sind, von Stadt zu Stadt. Die Kontrolldichte durch die<br />

Polizei unterscheidet sich zwischen Stadt <strong>und</strong> Land, zwischen<br />

Grenzraum <strong>und</strong> Landesinnerem <strong>und</strong> zwischen Stadtteilen zum<br />

Teil erheblich <strong>und</strong> produziert damit unterschiedliche Kriminalitätsbelastungen<br />

unabhängig davon, was in den jeweiligen Räume<br />

wirklich vorfällt. Und auch die Rechtssprechung kann<br />

räumliche Unterschiede aufweisen, die unter anderem mit<br />

der Personalausstattung der Gerichte, der Belegung der Gefängnisse<br />

oder den hegemonialen Vorstellungen von „Recht<br />

<strong>und</strong> Gerechtigkeit“ an unterschiedlichen Gerichten Zusammenhängen<br />

können. So können also räumliche Unterschiede<br />

der Kriminalitätsbelastung durch staatliche Kontrolle produziert<br />

werden. Da die Städte gemeinhin als „Horte des Verbrechens“<br />

gelten, mögen einige Beispiele aus dem Bereich der<br />

städtischen Polizeiarbeit einen Aspekt dieses Zusammenhangs<br />

illustrieren.<br />

Bereits 1969 hat der Kriminologe Johannes Feest in einer<br />

b<strong>und</strong>esdeutschen Großstadt Streifenpolizisten bei der Arbeit<br />

begleitet <strong>und</strong> dabei untersucht, in welchen Situationen diese<br />

Verdacht schöpfen <strong>und</strong> Personen kontrollieren. Dabei hat er<br />

unter anderem die Kontrollpraxis in einem Revier am Stadtrand,<br />

in dem seitens der Polizisten die „Anständigkeit der Bewohner<br />

unterstellt“ (1971) wurde, mit derjeniger in einem Innenstadtrevier<br />

verglichen, in dem „das Gegenteil“ (ebd.) der<br />

Fall war. In letzteren Gegenden „werden Personen von der Polizei<br />

häufiger kontrolliert“ (ebd.). Die Streifenpolizisten suchen<br />

Verdächtige „unter denjenigen, die keinen geregelten Lebenswandel<br />

führen, nur gelegentlich arbeiten, keinen festen Wohnsitz<br />

haben oder (was für die Polizei auf das gleiche hinausläuft)<br />

in einer übel beleum<strong>und</strong>eten Gegend wohnen“ (ebd.). Feests<br />

Schluss, dass aufgr<strong>und</strong> der „variablen Definitionsmacht der<br />

Polizei (...) Angehörige der unteren sozialen Schichten besonders<br />

häufig als ,Kriminelle’ entlarvt <strong>und</strong> sanktioniert werden“<br />

(ebd.), kann dadurch ergänzt werden, dass auf diese Weise<br />

auch bestimmte Räume kriminalisiert werden.<br />

Nicht auf der Ebene individueller Polizisten, sondern im<br />

Hinblick auf die Institutionen der Jugendhilfe <strong>und</strong> -polizei insgesamt<br />

entdeckt Peter Best in seiner Untersuchung einer b<strong>und</strong>esdeutschen<br />

Stadt eine „bemerkenswerte örtliche Registrierungslandschaft“<br />

(1978), das heißt räumlich stark differenzierte<br />

Tätigkeitsschwerpunkte dieser Institutionen. Er folgert daraus,<br />

dass die „Adressangabe [von Jugendlichen] zum Ausgangspunkt<br />

einer territorial geb<strong>und</strong>enen Sozialkontrolle werden<br />

[kann]“ (ebd.), was in der Praxis bedeutet, dass der Wohnort<br />

dazu führen kann, dass Jugendliche als hilfs- beziehungsweise<br />

strafbedürftig wahrgenommen werden. Wie Sabine Hafner<br />

erwähnt, kann es als Folge solcher Zuschreibungen dazu<br />

kommen, dass „die Adresse ausgrenzt“ (2005), weil zum Beispiel<br />

potenzielle Arbeitgeber vom Wohnort auf die Ungeeignetheit<br />

von Bewerbern schließen.<br />

Wie räumlich differenzierte Polizeipraxen „kriminelle Räume“<br />

produzieren, hat der Kriminologe William Chambliss in<br />

Washington D.C. (1999) untersucht. Er zeichnet nach, wie<br />

das Vorgehen der Polizei im afroamerikanischen Ghetto mit<br />

Scheinkäufen von Drogen, verdachtslosen Fahrzeugdurchsuchungen<br />

<strong>und</strong> einer insgesamt deutlich höheren Kontrolldichte<br />

ghetto crime zu einer seif fulfilling prophecy macht. Chambilss


302 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

zeigt, wie die Polizei nicht nur abweichendes Verhalten durch<br />

ihre Kontrolle kriminalisiert, sondern zum Teil überhaupt erst<br />

schafft. Das geschieht etwa, wenn Polizisten Junkies auf Drogen<br />

ansprechen, die diese ihnen dann verkaufen, auch wenn<br />

sie sie eigentlich nur zum eigenen Gebrauch vorgesehen hatten.<br />

So wird aus Drogenbesitz Drogenhandel.<br />

Der Geograph Steve Herbert (1997) schließlich hat sich,<br />

wie Feest (1971), in teilnehmender Beobachtung mit der Territorialität<br />

der Polizei von Los Angeles beschäftigt. Seine Fragestellung<br />

ist diesbezüglich weiter gefasst als in den bisher<br />

diskutierten Arbeiten. Ihn interessiert, wie die räumlichen<br />

Praktiken von Polizisten durch „normative Ordnungen“ strukturiert<br />

werden <strong>und</strong> diese dabei wirklich werden lassen. Unter<br />

„normativen Ordnungen“ versteht Herbert „Konstellationen<br />

von Regeln <strong>und</strong> Praktiken, die, weil sie auf einem hochgehaltenen<br />

Wert basieren, Polizeiarbeit mit Struktur <strong>und</strong> Bedeutung<br />

ausstatten“ (ebd.). Er kommt zu dem Ergebnis, dass sechs derartige<br />

Konstellationen entscheidend sind: Gesetz, bürokratische<br />

Kontrolle, Abenteuer/Machismo, (eigene) Sicherheit, Zuständigkeit<br />

<strong>und</strong> Moralität. Anhand zahlreicher Beispiele kann<br />

Herbert zeigen, wie Polizisten ihre eigenen Vorstellungen in<br />

diesen Bereichen in räumliche Praxen übersetzen <strong>und</strong> dadurch<br />

diese Vorstellungen in die Wirklichkeit transferieren. Durch<br />

ihre eigene Arbeit stellen sie also die Geographien von Gefährlichkeit<br />

<strong>und</strong> Verbrechen selbst mit her.<br />

Bezogen auf die Kriminalisierung von Räumen stellt Herbert<br />

unter anderem fest, dass für zahlreiche (männliche) Polizisten<br />

„Abenteuer“ <strong>und</strong> „Machismo“ zum Teil dadurch gewährleistet<br />

werden, dass sie „einen einer schweren Straftat<br />

Verdächtigen in Handschellen als Trophäe nach Hause bringen“<br />

(ebd.) - wobei mit „nach Hause“ natürlich das Polizeirevier<br />

gemeint ist. Deshalb „neigen sie dazu Gegenden danach<br />

zu beurteilen, ob sie gefährliche Verdächtige beinhalten“<br />

(ebd.), was auch dazu führen kann, dass sie in eben diesen<br />

Gegenden Festnahmen tätigen, obwohl sie für diese gar nicht<br />

eingeteilt waren. Auf diese Weise reproduzieren sie ihre eigenen<br />

Einschätzungen nicht nur, weil durch die Festnahme in der<br />

Polizeistatistik die Gefährlichkeit des einen Stadtteils „belegt“<br />

wird, sondern auch, weil auf dieselbe Weise „ungefährliche<br />

Stadtteile“ tatsächlich ungefährlich bleiben - allerdings weniger<br />

wegen der sozialen Realität dort, sondern wegen der Abwesenheit<br />

staatlicher Kontrolle.<br />

Wie die Beispiele gezeigt haben sollten, gibt es gute Gründe,<br />

die vermeintliche „Gefährlichkeit“ eines Raums mit der<br />

räumlich differenzierten Produktion von „Kriminalität“ durch<br />

staatliche Kontrolle zu erklären. Räumlich differenzierte Kriminalisierungen<br />

durch unterschiedliche staatliche Apparate resultieren<br />

in „kriminellen Räumen“, die, wenn man diesen Zuschreibungszusammenhang<br />

ignoriert, selbst als kriminogen<br />

erscheinen können.<br />

Sozialgeographie der Kriminalisierung<br />

Die hergestellten räumlichen Kriminalitätsunterschiede können<br />

sich nur verselbständigen <strong>und</strong> als „kriminelle Räume“<br />

ein Eigenleben führen, weil im Alltag, in den Medien, in der<br />

Politik <strong>und</strong> zum Teil auch in der Wissenschaft die Produktionsbedingungen<br />

von Kriminalität entweder kaum bekannt sind<br />

oder nicht weiter Ernst genommen werden. Stattdessen<br />

wird die räumlich differenzierte Produktion von Kriminalität<br />

häufig verstärkt, weil die Agenturen staatlicher Kontrolle in<br />

den - durch ihre eigene Zuschreibung erst als „kriminell“ hergestellten<br />

- Gegenden strengere Gesetze erlassen, dort stärker<br />

kontrollieren oder härter bestrafen. Dieser Zusammenhang<br />

von staatlicher Kontrolle, Zuschreibung <strong>und</strong> Raum erklärt<br />

außerdem, woher die oben diskutierten Vorstellungen von kriminogenen<br />

Räumen kommen <strong>und</strong> warum sie so plausibel wirken.<br />

Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit<br />

dem Zusammenhang von „Kriminalität <strong>und</strong> Raum“ kann dann<br />

nur darin bestehen, eben diese Mechanismen aufzudecken,<br />

sie am konkreten Beispiel nachzuvollziehen <strong>und</strong> - im Sinne<br />

einer „Anwendungsorientierung“ - auf eine Kriminalpolitik einzuwirken,<br />

die den Vorstellungen kriminogener Räume aufsitzt.<br />

Dabei handelt es sich um ein Beispiel dezidierter Sozialgeographie,<br />

die hinter den räumlichen Manifestierungen von „Kriminalität“<br />

nach den sozialen Ursachen der Kriminalisierung<br />

sucht.<br />

B. Belina<br />

I I<br />

i I<br />

nungsmarktes auf die Wohnsitzdichte von Tätern.<br />

Ihre Argumente lauten, die lokalen Wohnverhältnisse<br />

<strong>und</strong> die Wohnbaupolitik würden zu räumlichen Clustern<br />

von potenziellen Tätern fuhren. Wohngebiete<br />

<strong>und</strong> Nachbarschaften hätten ähnlich wie Individuen<br />

„kriminelle Karrieren“, wobei sich Übergänge von<br />

niedrigen zu hohen Kriminalitätsraten <strong>und</strong> umgekehrt<br />

feststellen ließen. Auch die Environmental Criminology<br />

(Brantigham & Brantigham 1981) war vor<br />

allem an den local communities interessiert, in denen<br />

sich Straftaten ereignen.<br />

Vertreter der Opportunitätstheorie befassen sich<br />

vor allem mit der Situation, in welcher eine Straftat<br />

passiert. Sie gehen davon aus, dass sich bestimmte Situationen<br />

(erzielbarer Gewinn, Zugang zum Ziel,<br />

möglicher Fluchtweg, geringe Gefahr beobachtet zu<br />

werden) besser dafür eignen, eine Tat zu begehen<br />

als andere. Sie interessieren sich dafür, wie ein Täter<br />

sein Opfer <strong>und</strong> einen für ihn optimalen Tatort auswählt<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> welcher Verhaltensweisen (Eingehen<br />

eines Risikos, sorgloser Kontakt mit Kriminellen,<br />

Betreten gefährdeter Gebiete, Zurschaustellung von<br />

Reichtum) ein Opfer die Tat ermöglicht oder erleichtert<br />

hat. Die Bedeutung dieser situativen Selektion<br />

variiert allerdings sehr stark mit der Art der Straftat.<br />

Eine der Kernfragen der Kriminalsoziologie <strong>und</strong><br />

-géographie lautet, ob die Disposition des Täters<br />

oder die lokale Situation, in der eine Straftat passiert,<br />

im Vordergr<strong>und</strong> der Analyse stehen sollte. Soziologen<br />

<strong>und</strong> Anthropologen haben bisher ihren Schwerpunkt<br />

vorwiegend auf die Disposition des Täters gelegt. Sie<br />

interessieren sich also für soziale <strong>und</strong> demographi-


Raum <strong>und</strong> Zeit - Zeitgeographie 303<br />

sehe Attribute der Täter, für den Erziehungsstil des<br />

Elternhauses <strong>und</strong> Lernprozesse im Rahmen von Subkulturen.<br />

Experimentelle Psychologen <strong>und</strong> Geographen<br />

haben mehrheitlich Ansätze vertreten, welche<br />

der kurz anhaltenden Situation oder der längerfristig<br />

bestehenden sozialen Umwelt (environment), in welcher<br />

Straftaten passieren, größere Bedeutung zuweisen.<br />

Ihr Interesse gilt also eher dem Zusammenhang<br />

zwischen Situation <strong>und</strong> Handlung, <strong>und</strong> weniger dem<br />

Täterprofil.<br />

So wie nicht alle Menschen mit derselben Disposition<br />

gleich handeln, lösen auch bestimmte Situationen<br />

(oder Stimuli) der Umwelt nicht bei allen Menschen<br />

ein ähnliches Handeln aus. Dieses Problem versucht<br />

der symbolische Interaktionismus dadurch zu<br />

lösen, dass er die Situation <strong>und</strong> die Bewertung der Situation<br />

durch den Akteur verknüpft beziehungsweise<br />

als gleich wichtig ansieht. Dieser Ansatz verbindet<br />

also die Disposition <strong>und</strong> Motivation des Täters mit<br />

den Gelegenheiten <strong>und</strong> Restriktionen, die eine Situation<br />

bietet <strong>und</strong> richtet sein Interesse auf die Bedeutung,<br />

die eine Situation für den Täter in seinem Entscheidungsprozess<br />

hat. Dabei wird die Situation als<br />

.Möglichkeit aber nicht als Motiv angesehen. Die Motivation,<br />

eine Straftat zu begehen, <strong>und</strong> die Gelegenheit,<br />

die Tat durchzuführen, bleiben zwar bei den<br />

theoretischen Argumenten getrennt, die Verknüpfung<br />

zwischen Situation <strong>und</strong> Entscheidungsprozess<br />

des Täters wird jedoch als untrennbar angesehen. Situation<br />

<strong>und</strong> Täter gehören also zusammen. Vertreter<br />

dieser Theorie bevorzugen qualitative, induktiv vorgehende<br />

Ansätze, sodass ihre Ergebnisse nur selten<br />

verallgemeinert werden können.<br />

Trotz aller Bemühungen, bestehende Theoriedefizite<br />

auszugleichen, darf allerdings nicht übersehen<br />

werden, dass sich die Fragestellungen <strong>und</strong> Ergebnisse<br />

der traditionellen Kriminalgeographie in einigen Ländern<br />

immer noch einer großen Nachfrage erfreuen.<br />

In Nordamerika haben sich seit dem Ende der<br />

I980er-lahre kommerzielle Firmen auf die Prognose<br />

von Verbrechensrisiken spezialisiert. Sie stellen Risikoabschätzungen<br />

für Mord, Vergewaltigung, Raub,<br />

schwere Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl <strong>und</strong><br />

so weiter für jedes Stadtviertel <strong>und</strong> jede Region in verschiedenen<br />

Maßstäben zur Verfügung, die von Immobilienfirmen,<br />

Banken, Marketingunternehmen,<br />

Inhabern von Geschäften <strong>und</strong> verschiedenen Dienstleistungen<br />

stark nachgefragt werden.<br />

Eine neue Facette erhielt die Kriminalgeographie<br />

seit Mitte der 1990er fahre durch die stark ansteigende<br />

Videoüberwachung. Großbritannien gilt als Pionier<br />

der Videoüberwachung im öffentlichen Raum<br />

<strong>und</strong> in London ist die höchste Videokameradichte<br />

der Welt zu finden. 1994 hatten 78 britische Städte<br />

eine Videoüberwachung, 1999 schon mindestens<br />

530. Lukrative staatliche Fördermöglichkeiten für<br />

Stadtsanierungen werden an die Bedingung geknüpft,<br />

dass die Stadtviertel auch Programme zur Kriminalitätsbekämpfung<br />

unterhalten, wobei meistens auf die<br />

Videoüberwachung zurückgegriffen wird. Löw, Steets<br />

<strong>und</strong> Stoetzer (2007) befassen sich sehr ausführlich<br />

mit den technischen Möglichkeiten, den Kosten,<br />

den Fördermaßnahmen, der Speicherung, Auswertung,<br />

den Präventionseffekten <strong>und</strong> der Effizienz der<br />

Videoüberwachung.<br />

Die jüngere Kriminalgeographie hat sich von der<br />

traditionellen Kriminalgeographie in vielen Fragen<br />

distanziert. Ihr geht es weniger um angewandte, praxisbezogene<br />

Untersuchungen, welche dem Polizeialltag<br />

Hilfestellung leisten sollen, sondern sie ist stärker<br />

an theoretischen <strong>und</strong> methodischen Fragen interessiert.<br />

Der von Bernd Belina (Exkurs „Kriminalität<br />

<strong>und</strong> Raum“) verfasste kritische Beitrag ist ein Beispiel<br />

für neuere Ansätze der Kriminalgeographie.<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit -<br />

Zeitgeographie<br />

Caroline Kramer<br />

Die wechselseitigen Beziehungen von Zeit <strong>und</strong> Raum<br />

sind seit langem ein Thema der Philosophie <strong>und</strong> der<br />

Naturwissenschaften. In jüngster Zeit werden jedoch<br />

neue Visionen wie „Rasender Stillstand“ (Virilio<br />

1992) diskutiert, in denen sich die Menschheit mithilfe<br />

von weltweit vernetzten Computern in eine paradoxe<br />

Situation manövriert: ein extrem beschleunigtes<br />

digitales Leben bei gleichzeitig zunehmender physischer<br />

Unbeweglichkeit - in der einen Hand die<br />

Fernbedienung in der anderen die Maus. Virilio stellt<br />

die These auf, dass die reale Welt von der digitalen<br />

Welt abgelöst werde <strong>und</strong> damit auch die reale Mobilität<br />

zunehmend von der virtuellen Mobilität verdrängt<br />

werde. Dem postmodernen Menschen wird<br />

zudem nachgesagt, er wolle alles zur gleichen Zeit<br />

<strong>und</strong> überall <strong>und</strong> strebe ein Leben in einer Nonstop-Gesellschaft<br />

an (Geißler & Adam 1998). Gegenbewegungen<br />

zu diesem Trend sind in den Citta-Slow-<br />

Bewegungen (Exkurs „Gitta Slow Bewegung“), den<br />

Slow-food-Bewegungen oder den „Slow-Motion-<br />

Tours (Reiseunternehmen) zu erkennen. Doch nicht<br />

nur Philosophen beschäftigen sich mit den beiden Dimensionen,<br />

sondern auch in der Geographie wird die


304 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

.’J<br />

W 'J<br />

■^£&-<br />

^Ä'nVJ<br />

¡1<br />

Verknüpfung von Zeit <strong>und</strong> Raum in verschiedenen<br />

Zusammenhängen diskutiert.<br />

Die Anfänge einer sozialwissenschaftlichen Beschäftigung<br />

mit dem Faktor Zeit finden sich bereits<br />

in der Chicagoer Schule, die temporal dominance<br />

oder temporal segregation als strukturierende Merkmale<br />

einer Stadt erkannte. Begründet wurde die sogenannte<br />

time geography vom schwedischen Geographen<br />

Torsten Hägerstrand (1916-2004) (Abbildung<br />

5.23) <strong>und</strong> seinen Mitarbeitern an der Universität<br />

L<strong>und</strong>, wo die sogenannte time-space-structure theory<br />

entwickelt wurde. Diese Theorie beschreibt zum<br />

einen Gr<strong>und</strong>bedingungen des menschlichen Lebens<br />

(zum Beispiel die Tatsache, dass alle Aktivitäten<br />

eine Dauer besitzen, oder dass zur Überwindung<br />

von Raum Zeit benötigt wird), zum anderen basiert<br />

auf ihr wiederum die Constraints-Theorie, in der<br />

zentrale Einschränkungen der menschlichen Handlungsmöglichkeiten<br />

identifiziert werden. Hägerstrand<br />

fasst diese constraints in drei Gruppen zusammen:<br />

• capability constraints: biologische Hindernisse<br />

(Notwendigkeit von Schlaf, Essensaufnahme <strong>und</strong><br />

so weiter)<br />

• coupling constraints: Einschränkungen, die damit<br />

Zusammenhängen, dass Menschen als soziale Wesen<br />

sich miteinander koordinieren müssen<br />

• authority constraints: Einschränkungen durch Zugangsbeschränkungen<br />

oder Öffnungszeiten<br />

5.23 Torsten Hägerstrand (1916-2004) Torsten Hägerstrand<br />

wurde 1916 in Mittelschweden geboren <strong>und</strong> studierte<br />

von 1947 bis 1952 an der Universität L<strong>und</strong> Geographie. In<br />

seiner viel beachteten Dissertation beschäftigte er sich mit<br />

Innovation <strong>und</strong> Diffusion <strong>und</strong> begründete damit die geographische<br />

Diffusionsforschung. Gemeinsam mit seiner Arbeitsgruppe<br />

entwickelte er in L<strong>und</strong> die time-space-structured theory,<br />

die später als time geography weiter verfeinert wurde. Mit<br />

seinem Appell „ What about people in regional science?“ wies er<br />

bereits 1970 auf den sehr viel später in der handlungstheoretischen<br />

Sozialgeographie eingelösten Ansatz einer stärker am<br />

Individuum orientierten Sozialgeographie hin.<br />

Diese raum-zeitlichen Einschränkungen bedingen<br />

nach Hägerstrand unser alltägliches Handeln <strong>und</strong><br />

stellen den Rahmen unseres Aktionsraums dar. Insbesondere<br />

in den 1970er- <strong>und</strong> 1980er-Jahren wurde<br />

der Forschungsansatz der time geography oder Zeitgeographie<br />

im Zusammenhang mit der Aktionsraumforschung<br />

auch in Deutschland in zahlreichen<br />

Einzelstudien umgesetzt (Klingbeil 1980). Besonders<br />

eindruckvoll sind die Visualisierungen dieses Konzepts<br />

in Form von Zeitprismen oder Zeitpfaden,<br />

die dazu dienen, die alltäglichen raumzeitlichen Muster<br />

abzubilden <strong>und</strong> die daraus resultierenden Probleme<br />

(zum Beispiel bei der Gestaltung des öffentlichen<br />

Personennahverkehrs) zu veranschaulichen (Abbildung<br />

5.24). Die möglichen Anwendungen dieser<br />

Konzepte sind vielfältig <strong>und</strong> reichen von der Genderforschung<br />

(zum Beispiel Darstellung <strong>und</strong> Analyse der<br />

unterschiedlichen Mobilitätsansprüche von Männern<br />

<strong>und</strong> Frauen) bis zur Optimierung von Verkehrssystemen<br />

mit Hilfe von Geoinformationssystemen oder zu<br />

Untersuchungen darüber, inwieweit das raumzeitliche<br />

Aufeinandertreffen von Nobelpreisträgern an bestimmten<br />

Orten zu bestimmten Zeiten Auswirkungen<br />

auf deren Arbeiten hatte (Törnqvist 2004).<br />

Die Kritik an der Zeitgeographie richtet sich neben<br />

dem Vorwurf einer zu starken Vereinfachung <strong>und</strong> der<br />

Theorielosigkeit vor allem dagegen, dass sie von<br />

einem rational zweckorientiert handelnden Menschen<br />

ausgehe, dessen Handeln nach einer „Zeit-Nutzen-Funktion“<br />

ablaufe (Klingbeil 1980). Ein weiterer<br />

Kritikpunkt an der traditionellen time geography ist<br />

nach Zierhofer (1989) die Tatsache, dass sie „weitgehend<br />

ohne begriffliche <strong>und</strong> konzeptionelle Brücke zu<br />

soziokulturellen <strong>und</strong> psychischen Prozessen geblieben“<br />

sei (Zierhofer 1989). Er sieht in den handlungstheoretischen<br />

Ansätzen <strong>und</strong> der Strukturationstheorie<br />

die Stufe, auf der Handlungen als Elemente der<br />

sozialen Realität betrachtet werden <strong>und</strong> damit auch<br />

constraints als Ergebnisse von Handlungsfolgen einzustufen<br />

seien. In der Weiterführung der Konzepte<br />

der time geography in Giddens’ Strukturationstheorie<br />

(Giddens 1995) sieht er durchaus Möglichkeiten für<br />

eine verbesserte Anwendbarkeit dieses Ansatzes.<br />

In den Ansätzen der handlungszentrierten Sozialgeographie<br />

stellt der raum-zeitliche Kontext nun<br />

nicht mehr die Voraussetzung menschlichen Handelns<br />

- wie in der time geography - sondern das Ergebnis<br />

menschlichen Handelns dar (Werlen 2000).<br />

Dennoch besitzt er innerhalb der handlungszentrierten<br />

Perspektive als eines von mehreren Elementen<br />

eine gewisse Relevanz, obwohl seine zeitliche Komponente<br />

in dieser Diskussion deutlich in den Hintergr<strong>und</strong><br />

getreten ist. In einem aktualisierten Konzept


Raum <strong>und</strong> Zeit - Zeitgeographie 305<br />

(a)<br />

5.24 Zeitpfade <strong>und</strong> Zeitbündel als<br />

„tim e-geographic dynam ic m ap“ In<br />

Zeit<br />

zweidimensionaler<br />

Raum<br />

dreidimensionaler<br />

Raum<br />

der Darstellung der menschlichen Aktivitäten<br />

in Form von Zeitpfaden wird die<br />

dritte Dimension der Höhe durch die<br />

zeitliche Komponente ersetzt (a). So<br />

lassen sich zum Beispiel die Gleichzeitigkeit<br />

von Aktivitäten an verschiedenen<br />

(b)<br />

Orten (b, linke Seite), die Abfolge von<br />

Aktivitäten am gleichen Ort, wie zum<br />

Beispiel beim Jobsharing (b, Mitte) <strong>und</strong><br />

gleiche zeitliche<br />

Lage (Gleichzeitigkeit)<br />

gleiche räumliche Lage<br />

gleiche zeitliche <strong>und</strong><br />

räumliche Lage<br />

(Kopräsenz, „Zeitbündel“)<br />

die Gleizeitigkeit von Aktivitäten am<br />

gleichen Ort (b, rechte Seite) darstellen.<br />

(Quelle: Parkes & Thrift 1980)<br />

der Zeitgeographie soll der Begriff Kontext als Bündel<br />

von - zum größten Teil von Menschen geschaffenen -<br />

constraints <strong>und</strong> Möglichkeiten verstanden werden.<br />

Dabei wird davon ausgegangen, dass zum einen die<br />

Akteure ihren Kontext gestalten (zum Beispiel durch<br />

ihre PKW-Nutzung Staus produzieren, sowie langfristig<br />

neue Straßen „verursachen“), zum anderen<br />

aber auch dieser, durch (frühere) Akteure gestaltete<br />

aktuelle Kontext Bedingung oder constraint ihres<br />

Lebensalltags darstellt. Somit ist das Verständnis<br />

von Kontext hier nicht deterministisch, sondern probabilistisch<br />

<strong>und</strong> zudem im Sinne von Weichhart<br />

(2003) als action setting zu verstehen. Dass eine so verstandene<br />

moderne Zeitgeographie zu wichtigen Forschungsfragen<br />

der Sozial- <strong>und</strong> Stadtgeographie beitragen<br />

kann, soll anhand des Beispiels „Raum <strong>und</strong><br />

(Mobilitäts-)Zeit in der Stadt“ kurz aufgezeigt werden<br />

(Eberling & Henckel 2002):<br />

Wenn von der Gesellschaft in der Postmoderne die<br />

Rede ist, werden häufig mehrere ineinandergreifende<br />

raumzeitliche Prozesse genannt, die sowohl den<br />

Raum als auch die Zeit betreffen, nämlich die Beschleunigung,<br />

die Entgrenzung, Ausdehnung <strong>und</strong><br />

die Flexibilisierung. Eine Beschleunigung ist in den<br />

unterschiedlichsten Bereichen des Lebens festzustellen.<br />

Zu erwähnen sind die Verkehrsmittel <strong>und</strong> ihre<br />

Infrastruktur, die eine schnellere Fortbewegung ermöglichen<br />

oder technische Entwicklungen, welche<br />

die Produktlebenszyklen immer mehr verkürzen.<br />

Die Auswirkungen dieser Beschleunigungsprozesse<br />

auf den Raum gestalten sich vielfältig. LTurch die beschleunigte<br />

Mobilität kommt es zu einer zunehmenden<br />

Zerschneidung des urbanen Raums durch Verkehrswege<br />

sowie zu einem erhöhten Flächenverbrauch.<br />

Denn je höher das Tempo eines Verkehrsmittels<br />

ist, desto ausschließlicher ist die Nutzung<br />

der betreffenden Trasse; eine ICE-Trasse hat eine exklusive<br />

Nutzung, eine Straßenbahn kann sich die<br />

Trasse mit PKW, Motorrädern, Fahrrädern <strong>und</strong> so<br />

weiter teilen.<br />

Die Ausdehnung oder auch Entgrenzung zum Beispiel<br />

von Arbeitszeiten betrifft besonders die Berufe<br />

des tertiären <strong>und</strong> quartären Wirtschaftssektors: Sowohl<br />

die zeitliche Ausdehnung in den Abend, die<br />

Nacht oder das Wochenende als auch die räumliche<br />

Entgrenzung im Sinne des Arbeitens zuhause oder<br />

unterwegs betrifft eine zunehmende Zahl von Berufen.<br />

Dies besitzt zum Teil jedoch sehr negative Auswirkungen,<br />

wie zum Beispiel die Schäden durch übermüdungsbedingte<br />

Unfälle, die weltweit auf jährlich<br />

400 Milliarden US-Dollar (Tschernobyl, Exxon Valdez),<br />

in Deutschland immerhin auf etwa 20 Milliarden<br />

Euro jährlich geschätzt werden. Dennoch scheint dieser<br />

Prozess der zeitlichen Ausdehnung von Arbeitszeiten<br />

unaufhaltsam.<br />

Neben der Ausdehnung der Arbeitszeiten ist deren<br />

Flexibilisierung ein zentrales Merkmal der Postmoderne.<br />

Sie bietet zwar dem Individuum wesentlich<br />

größere Handlungsspielräume, erfordert allerdings<br />

neue soziale Verhandlungsleistungen für gemeinsame<br />

Zeiten <strong>und</strong> Orte der Treffen. Diese Flexibilisierung<br />

der alltäglichen Zeitmuster verstärkt in hohem<br />

Maße nicht nur den Individualverkehr, sondern<br />

auch den Transport von Gütern, die nach der Internetbestellung<br />

direkt zur Wohnung geliefert werden<br />

müssen. Zudem ermöglichen flexible Arbeitszeiten<br />

auch weitere Freizeitbeschäftigungen, die Flächen beanspruchen,<br />

zum Beispiel die Aufteilung der Wohnsitze<br />

in einen Erst- <strong>und</strong> einen Zweitwohnsitz. Der Ruf<br />

nach Chronotopen - geschützten sozialen Orten <strong>und</strong>


306 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Anteil der Personen mit Wegen<br />

5.25 Anteil der Personen, die<br />

Wege im Alltag ausführen <strong>und</strong><br />

durchschnittliche Dauer der Wege<br />

nach den verschiedenen Wegezwecken<br />

(1991/92 <strong>und</strong> 2001/02)<br />

Am häufigsten werden im Alltag Wege<br />

für Haushaltszwecke zurückgelegt<br />

(von 50 Prozent bis 70 Prozent der<br />

Befragten), was vor allem daran liegt,<br />

dass diese Wege sowohl für Erwerbstätige<br />

als auch für Nichter<br />

werbstätige aller Altersgruppen anfallen.<br />

Diese Wege nehmen insgesamt<br />

etwa 40 bis 45 Minuten pro Tag in<br />

Anspruch. Deutlich länger sind Wege<br />

für Arbeit, Freizeit <strong>und</strong> Kontakte (etwa<br />

55 bis 60 Minuten pro Tag), diese<br />

werden aber von einem geringeren<br />

Anteil der Befragten überhaupt<br />

durchgeführt. (Quelle; Kramer 2005)<br />

Zeiten - entspringt diesem Phänomen. Insgesamt<br />

zeigen all die genannten zeitlichen Phänomene postmoderner<br />

Gesellschaften wahrnehmbare räumliche<br />

Auswirkungen, die sich ganz besonders deutlich in<br />

den Städten, den Kristallisationspunkten dieser Prozesse,<br />

äußern.<br />

Prüft man diese gr<strong>und</strong>sätzlichen Überlegungen<br />

mithilfe empirischer Daten zur Mobilität (zum Beispiel<br />

anhand der b<strong>und</strong>esdeutschen Zeitbudgetstudien),<br />

dann hat sich seit den 1990er-Jahren der zeitliche<br />

Aufwand für Wege weiter erhöht (Kramer<br />

2005). Für eine Analyse der alltäglichen Mobilität<br />

ist es wichtig zu wissen, wie lang die durchschnittlichen<br />

Wegezeiten sind <strong>und</strong> wie viele Menschen denn<br />

Wege überhaupt zurücklegen. Diese beiden Aspekte<br />

sind in Abbildung 5.25 in der Form miteinander<br />

kombiniert, als die durchschnittliche Wegedauer<br />

auf der x-Achse <strong>und</strong> der Anteil derer, die Wege einer<br />

bestimmten Art zurücklegen, auf der y-Achse aufgetragen<br />

wurden. Zwischen 1991/92 <strong>und</strong> 2001/02 hat<br />

sich nicht nur die durchschnittliche Wegezeit für<br />

die meisten Wege erhöht, sondern es hat sich auch<br />

für fast alle Wegearten der Anteil derer erhöht, die<br />

Wege im Alltag zurücklegen.<br />

Im Jahre 2001/02 waren nicht nur die Wege, die<br />

für den Haushalt zurückgelegt wurden, sondern<br />

auch die Wege zum Arbeitsplatz länger als im Jahre<br />

1991/92 (die längeren Arbeitswege in Ostdeutschland<br />

hingen besonders mit der schwierigen Arbeitsmarktsituation<br />

zusammen). Deutlich erhöhte haben sich<br />

auch die Wege für Freizeit, sowie die Wege für Bildung<br />

<strong>und</strong> Kinderbetreuung. Die Erhöhungen der<br />

Wegezeiten lassen sich in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

zum Teil zumindest siedlungsstrukturell durch den<br />

Prozess der Suburbanisierung erklären, die Erhöhung<br />

der Wegezeiten zu Bildungs- <strong>und</strong> Kinderbetreuungseinrichtungen<br />

stehen vermutlich in Zusammenhang<br />

mit der Auflassung von Gr<strong>und</strong>schulen <strong>und</strong> Kinderbetreuungseinrichtungen.<br />

Auch die oft unterstellte Entwicklung hin zu einer<br />

Nonstop-Gesellschaft (Nonstop-Mobilität) lässt sich<br />

mit Hilfe der beiden Zeitbudgeterhebungen überprüfen.<br />

(Abbildung 5.26). Dabei wird deutlich, dass es an<br />

Wochentagen zwei Spitzen im Tagesverlauf gibt,<br />

nämlich eine steile Spitze morgens zwischen 6 <strong>und</strong><br />

8 Uhr, an der vor allem Wege zur Arbeit <strong>und</strong> zu<br />

den Schulen kumulieren, <strong>und</strong> eine zweite deutlich<br />

breitere Spitze am späten Nachmittag <strong>und</strong> Abend,<br />

an der die Arbeitswege mit Haushaltswegen <strong>und</strong> Freizeitwegen<br />

Zusammentreffen. 1991/92 waren zudem<br />

deutliche Unterschiede zwischen Ost- (grauer Balken)<br />

<strong>und</strong> Westdeutschland (blauer Balken) zu erkennen.<br />

Im Osten Deutschlands war zahlreiche Befiagte<br />

wesentlich früher auf dem Weg zum Arbeitsplatz (immerhin<br />

5 Prozent schon vor 6 Uhr) <strong>und</strong> entsprechend<br />

klar war auch eine frühere Spitze am Nachmittag, sodass<br />

in Ostdeutschland der Arbeitstag unter Umständen<br />

bereits um 15 Uhr zu Ende sein konnte. Außerdem<br />

waren hier zu diesem Zeitpunkt insgesamt größere<br />

Anteile der Befragten erwerbstätig als im Westen<br />

Deutschlands (vor allem unter den Frauen). Zehn<br />

Jahre später sind zwar immer noch die beiden Tages-


Raum <strong>und</strong> Zeit - Zeitgeographie<br />

5.26 Verteilung der Verkehrswege in<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland im Tagesverlauf<br />

Die Verteilung der alltäglichen Wegezeit, in<br />

Zeitintervallen von zwei St<strong>und</strong>en zeigt einen<br />

klaren Tagesverlauf von Mobilität, der sich stark<br />

nach den Verpflichtungen im Alltag, wie Arbeitszeiten,<br />

Schulzeiten oder Geschäftsöffnungszeiten<br />

richtet. Markant sind allerdings<br />

auch Unterschiede zwischen West- <strong>und</strong> Ostdeutschland,<br />

die sich auch zehn Jahre nach der<br />

Wende zum Beispiel im früheren Beginn der<br />

Arbeitszeiten in den neuen Ländern zeigen.<br />

(Quelle: Kramer 2005)<br />

gipfel deutlich zu erkennen, aber die Unterschiede<br />

zwischen Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland haben sich deutlich<br />

verringert. Hinzu kommt, dass sich um die Mittagszeit<br />

zwischen 12 <strong>und</strong> 14 Uhr eine leichte Erhöhung<br />

zeigt, was auf die zunehmende Teilzeitarbeit<br />

in beiden Regionen zurückzuführen ist.<br />

Die empirischen Analysen zeigen somit weder<br />

Hinweise auf die sogenannten time-space-compression<br />

in der Form, dass tatsächliche Mobilität durch virtuelle<br />

Mobilität ersetzt würde, wie zum Beispiel von Virilio<br />

<strong>und</strong> anderen vorausgesagt wird, noch auf eine<br />

Nonstop-Gesellschaft. Es ist eher das Gegenteil erkennbar:<br />

die durchschnittlichen Wegezeiten nehmen<br />

zu, wobei der Zeitaufwand für die Alltagswege besonders<br />

hoch in den Großstädten ist <strong>und</strong> besonders gering<br />

in den kleinen Zentren außerhalb der Verdichtungsregionen<br />

erscheint. Die Orte der (zeitlich) kurzen<br />

Wege sind somit die kleinen Zentren, in denen<br />

viele Ziele zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen<br />

sind.<br />

Es sind noch weitere vielfältige Anwendungsmöglichkeiten<br />

einer Zeitgeographie denkbar, wie<br />

sie zum Beispiel von Eberling & Henckel (2002)<br />

am Deutschen Institut für Urbanistik (difu) in<br />

Form einer „Chronourbanistik“ betrieben werden.<br />

Sie haben zum Beispiel eine Zonierung der Stadt<br />

nach raumzeitlichen Merkmalen vorgenommen,<br />

mit deren Hilfe eine Stadtplanung betrieben werden<br />

könnte, die auch dem strukturierenden Merkmal<br />

Zeit in der Stadt gerecht würde.<br />

In zukünftigen Arbeiten ist es außerdem notwendig,<br />

die wahrgenommene Qualität von Mobilitätszeit<br />

bei allen Maßnahmen zur Veränderung des<br />

Mobilitätsverhaltens oder genauer des Mobilitätshandelns<br />

stärker als bisher zu berücksichtigen. So<br />

zeigen Untersuchungen, dass die PKW-Nutzung<br />

häufig nicht mit rationalen Argumenten begründet<br />

wird, sondern damit, einen Rückzugsraum zu besitzen,<br />

ungestört zu sein oder ein Gefühl von Frei-


308 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Citta-Slow-Bewegung<br />

Als Gegenreaktion gegen die zunehmende Beschleunigung ist<br />

tige Einnahmequelle. In den Schulen werden die Mahlzeiten<br />

1999 in Italien die Citta-Slow-Bewegung enstanden. Sie ging<br />

für die Kinder aus biologisch angebautem Obst <strong>und</strong> Gemüse<br />

aus der besser bekannten Slow-Food-Bewegung hervor, die<br />

von lokalen Erzeugern zubereitet. Außerdem subventioniert<br />

der italienische Schriftsteller <strong>und</strong> Aktivist Carlo Petrini<br />

die Gemeinde Gebäuderenovierungen, bei denen der für die<br />

1989 ins Leben gerufen hatte, nachdem er sich über die ge­<br />

Piemontregion typische honigfarbene Stuck verwendet wird.<br />

plante Eröffnung einer McDonald’s-Filiale in der Piazza di Spa-<br />

<strong>2008</strong> erscheint ein Handbuch, das wichtige Erkenntnisse<br />

m<br />

I !<br />

gna in der römischen Altstadt geärgert hatte.<br />

Die Citta-Slow-Bewegung entstand im Oktober 1999, als<br />

Paolo Saturnini, der Bürgermeister von Greve in der Provinz<br />

Chianti in der Toskana ein Treffen mit den Bürgermeistern<br />

zum Konzept der „Öko-Stadt der Zukunft“ zusammenfassen<br />

soll.<br />

Kritische Stimmen meinen allerdings, dass Gemeinden, die<br />

sich an der Citta-Slow-Bewegung beteiligen, schnell wirt­<br />

der drei Gemeinden Orvieto, Bra <strong>und</strong> Positano organisierte.<br />

Auf diesem Gründungstreffen der Citta-Slow-Bewegung defi­<br />

schaftlich geschwächt, rückständig <strong>und</strong> isoliert werden könnten<br />

- kurzum lebende Mausoleen, in denen der puritanische<br />

nierten Saturnini <strong>und</strong> seine Kollegen die Eigenschaften, die<br />

Fanatismus der Langsamkeit an die Stelle des unermüdlichen<br />

eine cittä lente, also eine langsame <strong>und</strong> lebenswerte Stadt,<br />

Materialismus der globalisierten Welt getreten ist. Dem Image<br />

ihrer Meinung nach haben sollte. An der Citta-Slow-Bewegung<br />

der verordneten Langsamkeit versuchten die Mitglieder der<br />

beteiligen sich Gemeinden, deren Bürgermeister die Nordame-<br />

Citta-Slow-Bewegung durch Bauernmärkte, Festivals <strong>und</strong> die<br />

rikanisierung ihrer Städte verhindern wollen. Im Jahr 2001<br />

einladende Gestaltung öffentlicher Plätze <strong>und</strong> Räume in den<br />

wurden die ersten 28 „lebenswerten Städte“, allesamt italie­<br />

Städten entgegenzuwirken. Ein Ziel der Bewegung ist es auß­<br />

nische Gemeinden, die vor allem in der Toskana <strong>und</strong> Umbrien<br />

erdem, dass bei der Kontrolle <strong>und</strong> Reduktion der Wasser- <strong>und</strong><br />

liegen, zertifiziert. Mitte des Jahres 2005 hatte die Citta-Slow-<br />

Luftverschmutzung sowie bei der Beseitigung <strong>und</strong> Aufberei­<br />

Bewegung bereits 45 Mitgliedsstädte, darunter zum Beispiel<br />

tung von Abfall moderne Technologien eingesetzt werden.<br />

Verteneglio in Kroatien, Hersbruch, Überlingen <strong>und</strong> Waldkirch<br />

Ein umweltverträglicher, an den Besonderheiten der Region<br />

in Deutschland, Asolo, Chiavenna, Orvieto, Spilimbergo, Tevi,<br />

<strong>und</strong> der lokalen Küche orientierter Tourismus soll die örtlichen<br />

Todi <strong>und</strong> Urbino in Italien, Sokndal <strong>und</strong> Levanger in Norwegen<br />

Beschäftigungszahlen ankurbeln. Aber hier liegt paradoxer­<br />

sowie Ludlow <strong>und</strong> Aylsham in Großbritannien. Über ein Dut­<br />

weise eine weitere Gefahr: Die Bezeichnung „lebenswerte<br />

zend weitere Städte bemühen sich derzeit mit Pilotprojekten<br />

Stadt“ ist mittlerweile fast so etwas wie eine Handelsmarke<br />

das Zertifikat einer „lebenswerten Stadt“ zu erhalten <strong>und</strong> mehr<br />

geworden, die inzwischen auch in den professionell vermark­<br />

als 100 weitere Städte aus der ganzen Welt interessieren sich<br />

teten Kulturtourismus Eingang gef<strong>und</strong>en hat. Hier besteht nun<br />

für das Zertifikat. Gemäß der Satzung der Citta-Slow-Bewe­<br />

das Risiko, dass die relativ kleinen Städte <strong>und</strong> ihre örtlichen<br />

gung hat eine lebenswerte Stadt eine Bevölkerung von weni­<br />

Attraktionen allzu leicht vom Massentourismus überrollt wer­<br />

ger als 50 000 Menschen <strong>und</strong> die Mitgliedstädte verpflichten<br />

den könnten. Je mehr sie ihr ruhiges <strong>und</strong> entspanntes Leben<br />

sich, die Erzeugung traditionell <strong>und</strong> ökologisch angebauter<br />

zeigen, um so schneller könnte es damit vorbei sein. Bei die­<br />

<strong>und</strong> erzeugter Lebensmittel zu fördern, die Umweltbelastung<br />

sem Szenario steigen die Preise in den Geschäften an <strong>und</strong> im­<br />

zu minimieren, ein ruhiges Wohnumfeld zu schaffen, den<br />

mer weniger Cafés haben noch die traditionelle chaotische<br />

Charme der jeweiligen Stadt zu erhalten <strong>und</strong> eine entspannte<br />

Gemütlichkeit. Mit dem Bekanntheitsgrad der lebenswerten<br />

<strong>und</strong> auf Lebensqualität ausgerichtete Lebensweise der Be­<br />

Städte wird auch die Zahl derer wachsen, die sich in den Cit-<br />

wohner zu fördern.<br />

ta-Slow-Städten einen zweiten Wohnsitz einrichten. Die Häu­<br />

In Bra, einer der Gründungsgemeinden der Citta-Slow-Be­<br />

ser- <strong>und</strong> Bodenpreise könnten steigen <strong>und</strong> damit die ärmere<br />

wegung, sind in einigen Bereichen der historischen Altstadt<br />

<strong>und</strong> Jüngere Bevölkerung verdrängt werden.<br />

Autos, Supermärkte <strong>und</strong> grelle Leuchtreklame verboten. Im<br />

Trotz der möglichen negativen Auswirkungen der Citta-<br />

Sinne eines ruhigen <strong>und</strong> entspannten Lebensrhythmus<br />

Slow-Bewegung hängen ihre Gr<strong>und</strong>sätze direkt mit dem Kon­<br />

schließen die kleinen Lebensmittelläden in Bra donnerstags<br />

zept des „Wohnsitzes“ <strong>und</strong> der Intersubjektivität zusammen,<br />

<strong>und</strong> sonntags. Kleine Familienunternehmen verkaufen in der<br />

die beide eine wichtige Rolle bei der sozialen Konstruktion von<br />

Region hergestelltes Kunsthandwerk <strong>und</strong> Stoffe <strong>und</strong> regionale<br />

Orten spielen. Die Rückbesinnung auf ein traditionelles, am<br />

Spezialitäten wie Käse, geröstete Paprika, weiße Trüffel, fri­<br />

Rhythmus der Jahreszeiten orientiertes Leben fördert ein rei­<br />

sche Pasta, Olivenöl <strong>und</strong> Fleischspezialitäten sind eine wich­<br />

ches kulturelles Leben <strong>und</strong> eine soziale Gemeinschaft.<br />

heit zu genießen. Solche Erkenntnisse müssen in die<br />

politischen Maßnahmen integriert werden.<br />

Wenn es darum geht, die mithilfe einer Zeitgeographie<br />

gewonnenen Erkenntnisse umzusetzen, so<br />

gibt es in Form einer kommunalen beziehungsweise<br />

regionalen Zeitpolitik bereits zahlreiche Beispiele aus<br />

europäischen Nachbarländern. In Italien müssen<br />

zum Beispiel seit dem Jahr 2000 alle Kommunen<br />

mit mehr als 30 000 Einwohnern einen territorialen<br />

Zeitplan erstellen, ein Zeitbüro <strong>und</strong> einen r<strong>und</strong>en<br />

Tisch einrichten, an dem alle wichtigen Akteure<br />

der Stadt teilnehmen. Zentrale Inhalte sind in all diesen<br />

Zeitleitplänen nachhaltige Mobilität <strong>und</strong> der Zugang<br />

zu diversen öffentlichen Dienstleistungen. Eine<br />

moderne Raumplanung sollte sich als Raumzeitplanung<br />

verstehen.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 309<br />

Fazit<br />

Die zentralen Forschungsfragen der Sozialgeographie<br />

befassen sich mit der Räumlichkeit sozialer Strukturen,<br />

sozialer Phänomene, sozialer Prozesse <strong>und</strong> sozialen<br />

Handelns; wichtige Forschungsfelder sind die<br />

räumliche Dimension sozialer Ungleichheit, gesellschaftlicher<br />

Probleme <strong>und</strong> Konflikte, räumliche Unterschiede<br />

der Lebensqualität sowie die Beziehungen<br />

zwischen Raum <strong>und</strong> Gesellschaft. Räumliche Strukturen<br />

<strong>und</strong> Prozesse der sozialen Ungleichheit sind auf<br />

verschiedenen Maßstabsebenen sowie mit unterschiedlichen<br />

theoretischen Ansätzen <strong>und</strong> Methoden<br />

zu untersuchen. Wenn sich die Sozialgeographie<br />

auf einen einzigen theoretischen Ansatz, eine einzige<br />

Methode (zum Beispiel qualitative Verfahren) oder<br />

eine einzige Analyseebene (zum Beispiel Mikroebene)<br />

beschränkt, schließt sie sich von wichtigen Forschungsthemen<br />

<strong>und</strong> interessanten Erkenntnissen aus.<br />

Räumliche Ordnungsmuster wurden schon seit<br />

frühester Menschheitsgeschichte dazu benutzt, um<br />

gesellschafdiche Abläufe zu regeln, um Statusunterschiede<br />

auszudrücken, bestimmte Gruppen auszugrenzen<br />

<strong>und</strong> soziale Kontrolle auszuüben.<br />

Man kann den Raum als Erdausschnitt, als erlebten<br />

Raum, als Containerraum, als Medium der Wahrnehmung,<br />

als Ordnungsstruktur, als sozialen Raum,<br />

als Lagerungsqualität der Körperwelt (Räumlichkeit)<br />

Lind als Metapher auffassen. Das Interesse der Sozialgeographie<br />

richtet sich weniger auf den Raum an sich,<br />

sondern vielmehr auf die Strukturen <strong>und</strong> Elemente<br />

eines Raums. Diese können deshalb eine Bedeutung<br />

für das Handeln bekommen, weil sie eine bestimmte<br />

Funktion erfüllen oder weil sie von den Akteuren mit<br />

einer (im Laufe der Geschichte wechselnden) Bedeutung<br />

versehen werden <strong>und</strong> deshalb in Situationsanalysen<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsprozessen berücksichtigt<br />

werden. Diese räumlichen Strukturen, Elemente <strong>und</strong><br />

Beziehungen können für einen Teil der Akteure, welche<br />

bestimmte Ziele, Erfahrungen <strong>und</strong> Kompetenzen<br />

haben, Aufforderungs- oder Verhinderungscharakter<br />

haben. Für andere Akteure können sie völlig irrelevant<br />

sein. Räumliche Strukturen sind, wenn man<br />

von unüberwindlichen physischen Barrieren absieht,<br />

keine Ursache im naturwissenschaftlichen Sinne.<br />

Es gibt viele gute Gründe, warum auch solche Sozial-<br />

<strong>und</strong> Geisteswissenschaften, die sich früher weitgehend<br />

„raumblind“ verhallen haben, in den letzten<br />

lahren die soziale <strong>und</strong> kulturelle Bedeutung der<br />

Räumlichkeit, die Auswirkungen eines räumlichen<br />

Kontexts auf das Handeln <strong>und</strong> die wissenschaftliche<br />

Ergiebigkeit sozialgeographischer Ansätze entdeckt<br />

haben. Erstens ist die räumliche Dimension ein wichtiges<br />

Mittel zur Erfassung <strong>und</strong> Darstellung von Verschiedenheit<br />

<strong>und</strong> Vielfalt. Wer soziale Ungleichheit<br />

erfassen, angemessen beschreiben <strong>und</strong> erklären will,<br />

kommt nicht ohne die räumliche Dimension aus;<br />

eine Analyse von räumlichen Disparitäten ist geradezu<br />

der Königsweg, um soziale Ungleichheit zu untersuchen.<br />

Zweitens ist die Wahrnehmung <strong>und</strong> Interpretation<br />

räumlicher Muster ein Ausgangspunkt jedes<br />

Orientierungs-, Lern- <strong>und</strong> Bewertungsprozesses<br />

<strong>und</strong> damit ein gr<strong>und</strong>legender kognitiver Prozess<br />

der menschlichen Existenz. Viele kulturelle <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Phänomene <strong>und</strong> Prozesse lassen sich<br />

ohne die Analyse von räumlichen Disparitäten, Mustern,<br />

Beziehungen <strong>und</strong> Repräsentationen nicht ausreichend<br />

beschreiben <strong>und</strong> erklären. Dies dürfte einer<br />

der Gründe sein, warum in letzter Zeit mehrere Geistes-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaften die Räumlichkeit sozialer<br />

Phänomene neu entdeckt haben.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Abrams, R. Preachers present arms: The role o f the American<br />

Churches and Clergy in World Wars I and II, with some observations<br />

on the War in Vietnam. Revised edition. Scottdale, PA<br />

(Herald Press) 1969.<br />

Albert, K. Paretos hermeneutischer Positivismus. Eine Analyse<br />

seiner Handlungstheorie. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie<br />

<strong>und</strong> Sozialpsychologie 54 (2002) S. 625-644.<br />

Anderson, K.; Domosh, M.; Pile, S. (Hrsg.) Handbook o f Cultural<br />

Geography. London (Sage) 2003.<br />

Bales, K. Lives and labours in the emergence o f organised social<br />

research, 1886-1907. In: Journal of Historical Sociology 9 (2)<br />

(1996) S. 113-138.<br />

Bales, K. Popular reactions to sociological research: the case o f<br />

Charles Booth. In: Sociology 33 (1) (1999) S. 153- 168.<br />

Barker, R. G. Ecological psychology: Concepts and methods for<br />

studying the environment o f human behavior. Stanford, CA<br />

(Stanford University Press) 1968.<br />

Belina, B.; Michel, B. (Hrsg.) Raumproduktionen. Beiträge der Radical<br />

Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster (Westfälisches<br />

Dampfboot) 2007 (a).<br />

Belina, B.; Michel, B. Raumproduktionen. Zu diesem Band. In:<br />

Belina B.; Michel, B. (Hrsg.) Raumproduktionen. Beiträge<br />

der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster (Westfälisches<br />

Dampfboot) 2007(b).<br />

Bloom, J. M. Revolution by the ream. A history o f paper. In: Aram-<br />

co World 50 (3) (1999) S. 27-39.<br />

Bobek, H. Stellung <strong>und</strong> Bedeutung der Sozialgeographie. In: Erdk<strong>und</strong>e<br />

2 (1948) S. 118-125.


310 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Bobek, H. Die Hauptstufen der Gesellschafts- <strong>und</strong> Wirtschafts­<br />

Gigerenzer, G. The adaptive toolbox. In: Gigerenzer, G.; Selten,<br />

entfaltung in geographischer Sicht. In: Erde 90 (1959)<br />

R. (Hrsg.) Bo<strong>und</strong>ed rationality: The adaptive toolbox. Cambrid­<br />

S. 257-297.<br />

ge, MA (MIT Press) 2001.<br />

Bobek, H. Iran. Probleme eines unterentwickelten Landes <strong>und</strong><br />

Graumann, C. F.; Kruse, L. Räumliche Umwelt Die Perspektive<br />

seiner Kultur. Berlin (Diesterweg) 1962.<br />

der humanökologisch orientierten Umweltpsychologie. In;<br />

Böhm, H. Alfred Rühl. Leben <strong>und</strong> Werk eines universellen For­<br />

Meusburger P.; Schwan, T. (Hrsg.) Humanökologie. Ansätze<br />

schers. In: Rühl, A. Einführung in die Allgemeine Wirtschafts­<br />

zur Überwindung der Natur-Kultur-Dichotomie. Erdk<strong>und</strong>liches<br />

geographie. Erweiterte <strong>und</strong> überarbeitete Fassung. Stuttgart<br />

Wissen Bd. 135. Stuttgart (Steiner) 2003.<br />

(Brockhaus Antiquarium) 1989.<br />

Hägerstrand, T. Space, Time and Human Conditions. In: Karlq-<br />

Booth, C. Life and Labour o f the People in London. London (Mac­<br />

vist, A.; Snickars, F. (Hrsg.) Dynamic Allocation o f Urban<br />

millan) 1902/03.<br />

Space. Farnborough (Saxon House) 1975.<br />

■ 1-<br />

Borcherdt, C. Wolfgang Hartke zum 80. Geburtstag. In: Erdk<strong>und</strong>e<br />

42 (1988) S. 1-6.<br />

Hägerstrand, T. Survival and Arena. In: Carlstein, T.; Parkes, D.;<br />

Thrift, N. (Hrsg.) Timing Space and Spacing Time. London (Ed­<br />

Bourdieu, P. Social space and symbolic power. In: Sociological<br />

Theory 7 (1989) S. 14-25.<br />

ward Arnold) 1978.<br />

Hägerslrarid, T. Time-Geogaphy: Focus on the Corporeality of<br />

Bourdieu, P. Physischer, sozialer <strong>und</strong> angeeigneter Raum. In:<br />

Man, Society, and Environment. In: The United Nations Uni­<br />

Wentz, M. (Hrsg.) Stadt-Räume. Die Zukunft des Städtischen<br />

versity (Hrsg.) The Science and Praxis o f Complexity. Tokyo<br />

Bd. 2. Frankfurt a.M. (Campus) 1991.<br />

1984.<br />

Bulmer, M. The Chicago School o f Sociology: Institutionalization,<br />

Hägerstrand, T. The Two Vistas. In: Geografiska Annaler 86B (4)<br />

Diversity, and the Rise o f Sociological Research. Chicago<br />

(2004) S. 315-323.<br />

(University of Chicago Press) 1984.<br />

Harcsa, I. Ungarische Kader in den Achtziger Jahren. In: Meus­<br />

Burgess, E. W.; Bogue, D.J. (Hrsg.) Contributions to Urban Socio­<br />

burger, P.; Klinger, A. (Hrsg.) Vom Plan zum Markt Eine Un­<br />

r if T '<br />

logy. Chicago (University of Chicago Press) 1964.<br />

Burgess, E.W.; Bogue, D.J. (Hrsg.) Urban Sociology. Chicago<br />

tersuchung am Beispiel Ungarns. Heidelberg (Physica) 1995.<br />

Hard, G. Raumfragen. In: Meusburger, P. (Hrsg.) Handlungszen­<br />

(University of Chicago Press) 1967.<br />

trierte Sozialgeographie. Benno Werlen’s Entwurf in kritischer<br />

Eberling, M.; Henckel, D. (Hrsg.) Raumzeitpolitik. Opladen (Leske<br />

Diskussion. Erdk<strong>und</strong>liches Wissen Bd. 130. Stuttgart (Stei­<br />

& Budrich) 2002.<br />

ner) 1999.<br />

Fischer-Kowalski, M.; Erb, K. Gesellschaftlicher Stoffwechsel im<br />

Hard, G. Landschaft <strong>und</strong> Raum. Aufsätze zur Theorie der Geogra­<br />

Raum. A uf der Suche nach einem sozialwissenschaftlichen<br />

phie. Bd. 1. Osnabrück (V&R Unipress) 2002.<br />

4 -<br />

Zugang zur biophysischen Realität. In: Meusburger P.,<br />

Schwan T. (Hrsg.) Humanökologie. Ansätze zur Überwindung<br />

Harke, H. Alfred Rühl 1882-1935. Geographers. In: Biobibliogra-<br />

phical Studies 12 (1988) S. 139-147.<br />

. i ;<br />

der Natur-Kultur-Dichotomie. Erdk<strong>und</strong>liches Wissen Bd. 135.<br />

Stuttgart (Steiner) 2003.<br />

Hartke, W. Die „Sozialbrache" als Phänomen der geographischen<br />

Differenzierung der Landschaft. In: Erdk<strong>und</strong>e 10 (1956) S.<br />

Fletcher, J. Moral and Educational Statistics o f England and<br />

257-269.<br />

• i<br />

i<br />

I<br />

Wales. In: Journal of the Statistical Society of London 12<br />

(1849) S. 151-176, S. 189-335.<br />

Fre<strong>und</strong>, B. Sozialbrache - Zur Wirkungsgeschichte eines Begriffs.<br />

Hartke, W. Gedanken über die Bestimmung von Räumen gleichen<br />

sozialgeographischen Verhaltens. In: Erdk<strong>und</strong>e 13 (1959) S.<br />

426-436.<br />

In: Erdk<strong>und</strong>e 47 (1993) S. 12-24.<br />

Hartke, W. Der Weg zur Sozialgeographie. Der wissenschaftliche<br />

Gadamer, H.G. Theorie, Technik, Praxis. In: Hans-Georg Gada-<br />

Lebensweg von Hans Bobek. In: Mitteilungen der Österr.<br />

mer: Gesammelte Werke, Bd. 4. Tübingen (Mohr) 1987.<br />

Geogr. Gesellschaft 105 (1963) S. 5-22.<br />

Geipel, R. Sozialräumliche Strukturen des Bildungswesens. Stu­<br />

Hartmann, P. H. Lebensstilforschung: Darstellung, Kritik <strong>und</strong> Wei­<br />

dien zur Bildungsökonomie <strong>und</strong> zur Frage der gymnasialen<br />

terentwicklung. Opladen (Leske & Budrich) 1999.<br />

Standorte in Hessen. Frankfurt a.M. (Diesterweg) 1965.<br />

Harvey, D. Social Justice and the city. London (Edward Arnold)<br />

Geser, H. Strukturformen <strong>und</strong> Funktionsleistungen sozialer Sys­<br />

1973.<br />

teme. Ein soziologisches Paradigma. Opladen (Westdeut­<br />

Harvey, D. The limits to capital. Oxford (Blackwell) 1982.<br />

scher Verlag) 1983.<br />

Harvey, D. Space as a key word. In: Hettner Lectures 8. Stuttgart<br />

Giddens, A. Strukturation <strong>und</strong> sozialer Wandel. In: Müller, H.P.;<br />

(Steiner) 2005.<br />

Schmid, M. (Hrsg.) Sozialer Wandel. Modelle <strong>und</strong> theoreti­<br />

Helle, H.J. Symboltheorie <strong>und</strong> religiöse Praxis. In: Wössner, J.<br />

sche Ansätze. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1995 S. 151-<br />

(Hrsg.) Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situa­<br />

191.<br />

tion von Religion <strong>und</strong> Kirche in der gegenwärtigen Gesell­<br />

Gieryn, T. F. Sociology o f Science. In: Smelser N.J., Baltes, P. B.<br />

schaft. Stuttgart (Enke) 1972.<br />

(Hrsg.) International Encyclopedia o f the Social and Behavio­<br />

Horning, K. H. (Hrsg.) Soziale Ungleichheit. Strukturen <strong>und</strong> Pro­<br />

ral Sciences. Volume 20. Amsterdam et al. (Elsevier) 2001<br />

zesse sozialer Schichtung. Soziologische Texte 105. Darm­<br />

S. 13692-13698.<br />

stadt u. a. (Luchterhand) 1976.<br />

Gieryn, T. F. A space for place in sociology. In: Annual Reviews of<br />

Hoyler, M. Anglikanische Heiratsregister als Quellen historisch­<br />

Sociology 26 (2000) S. 463-496.<br />

Gieryn, T. F. Give place a chance: Reply to Gans. In; City & Com­<br />

geographischer Alphabetisierungsforschung. In: 100 Jahre<br />

Geographie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg<br />

munity 1 (2002a) S. 341-343.<br />

(1895-1995). Heidelberger Geographische Arbeiten 100.<br />

Gieryn, T. F. What buildings do. In: Theory and Society 31<br />

Heidelberg 1996.<br />

(2002b) 35-74.<br />

Hradil, S. Lebensstil. In: Schäfers, B. (Hrsg.) Gr<strong>und</strong>begriffe der<br />

Soziologie. 4. Auflage. Opladen (Leske & Budrich) 1994.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 311<br />

Ingold, F. P. Zaristisch-bolschewistisch. In Russland wächst die<br />

Sehnsucht nach Zensur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />

255 (2.11.2005) S. N3.<br />

Jewett, R.; Lawrence, J.S. Captain America and the Crusade<br />

against Evil. The Dilemma o f Zealous Nationalism. Grand Rapids,<br />

Michigan, Cambridge, UK (W. B. Eerdmans PubI) 2003.<br />

Jöns, H. Grenzüberschreitende Mobilität <strong>und</strong> Kooperation in den<br />

Wissenschaften. Deutschlandaufenthalte US-amerikanischer<br />

Humboldt-Forschungspreisträger aus einer erweiterten Akteursnetzwerkperspektive.<br />

Fleidelberger Geographische Arbeiten<br />

116. Fleidelberg (Geogr. Institut) 2003.<br />

Kazig, R.; Temme, D. Die reichen Reichen. In; Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland Band 7. Fleidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2006.<br />

King, D. Stalins Retuschen. Foto- <strong>und</strong> Kunstmanipulationen in der<br />

Sowjetunion. Flamburg (Flamburger Edition) 1997.<br />

Klee, A. Der Raumbezug von Lebensstilen in der Stadt. Ein Diskurs<br />

über eine schwierige Beziehung m it empirischen Bef<strong>und</strong>en<br />

aus der Stadt Nürnberg. Münchener Geographische<br />

Hefte 83. München (Geogr. Institut TU) 2001.<br />

Klee, A. Lebensstile, Kultur <strong>und</strong> Raum. Anmerkungen zum Raumbezug<br />

sozio-kultureller Gesellschaftsinformationen. In: Geographische<br />

Zeitschrift 91 (2) (2003) S. 63-74.<br />

Klingbeil, D. Zeit als Prozess <strong>und</strong> Ressource in der sozialwissenschaftlichen<br />

<strong>Humangeographie</strong>. In: Geographische Zeitschrift<br />

68 (1) (1980) S. 1-32.<br />

Kramer, C. Zeit für Mobilität. Räumliche Disparitäten der individuellen<br />

Zeitverwendung für Mobilität in Deutschland. Erdk<strong>und</strong>liches<br />

Wissen 138. Stuttgart (Steiner) 2005.<br />

Läpple, D. Gesellschaftszentriertes Raumkonzept. Zur Überwindung<br />

von physikalisch-mathematischen Raumauffassungen<br />

in der Gesellschaftsanalyse. In: Wentz, M. (Hrsg.) Stadt-Räume.<br />

Die Zukunft des Städtischen Bd. 2. Frankfurt a. M., New<br />

York (Campus) 1991.<br />

Lichtenberger, E. Hans B o bek-ein Nachruf. In: Mitteilungen der<br />

Österreichischen Geographischen Gesellschaft 132 (1990)<br />

S. 238-248.<br />

Lichtenberger, E. Hans Bobek 1903-1990. In; Geographers. Bio-<br />

bibliographical Studies 16 (1995) S. 12-22.<br />

Lippuner, R. Raum. Systeme, Praktiken. Zum Verhältnis von Alltag,<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Geographie. Sozialgeographische Bibliothek<br />

Bd. 2. Stuttgart (Steiner) 2005.<br />

Livingstone, D. N. The Spaces o f Knowledge : Contributions Towards<br />

a Historical Geography o f Science. In: Environment and<br />

Planning D: Society and Space 13 (1995) S. 5-34.<br />

Livingstone, D. N. Making Space for Science. In: Erdk<strong>und</strong>e 54<br />

(2000) S. 285-296.<br />

Livingstone, D. N. Knowledge, space and the geographies o f science.<br />

In: Hettner Lectures 5 Heidelberg (Geogr. Institut)<br />

2002.<br />

Livingstone, D. N. Putting Science in its Place: Geographies o f<br />

Scientific Knowledge. Chicago, London (University of Chicago<br />

Press) 2003.<br />

Lyotard, J. F. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. 3. Auflage.<br />

Wien (Passagen) 1994.<br />

Machlup, F. The Production and Distribution o f Knowledge in<br />

the United States. Princeton (Princeton University Press)<br />

1962.<br />

Massey, D. Imagining globalisation: power geometries o f time-<br />

space. In: Hettner-Lectures 2. Heidelberg (Geogr. Institut)<br />

1999(a).<br />

Massey, D. Philosophy and politics o f spatiality: some considerations.<br />

In: Hettner-Lectures 2. Heidelberg (Geogr. Institut)<br />

1999(b).<br />

Massey, D. For space. London (Sage) 2005.<br />

Matthews, F. H. Quest for an American Sociology: Robert E. Park<br />

and the Chicago School. Montreal (McGill-Queen’s University<br />

Press) 1977.<br />

Mayhew, H. London Labour and the London Poor; the condition<br />

and earnings o f those that will work, cannot work, and will not<br />

work. London (C. Griffin) 1861 /62, Neue Ausgabe: New York<br />

(Dover Publications) 1968.<br />

Melville, H. White-Jacket; or, the world in a man-of-war. Evanston,<br />

Chicago (Northwestern University Press u.a.) 1850, 1970.<br />

Meusburger, P. Beiträge zur Geographie des Bildungs- <strong>und</strong> Qualifikationswesens.<br />

Regionale <strong>und</strong> soziale Unterschiede des<br />

Ausbildungsniveaus der österreichischen Bevölkerung. Innsbrucker<br />

Geographische Studien Bd. 7. Innsbruck (Geogr. Institut)<br />

1980.<br />

Meusburger, P. Zur Veränderung der Frauenerwerbstätigkeit in<br />

Ungarn beim Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft<br />

zur Marktwirtschaft. In: Meusburger, P.; Klinger, A. (Hrsg.)<br />

Vom Plan zum Markt. Eine Untersuchung am Beispiel Ungarns.<br />

Heidelberg (Physica) 1995.<br />

Meusburger, P. Spatial and Social Inequality in Communist Countries<br />

and in the First Period o f the Transformation Process to a<br />

Market Economy: The Example o f Hungary. In: Geographical<br />

Review of Japan 70B (1997) S. 126- 143.<br />

Meusburger, P. Bildungsgeographie. Wissen <strong>und</strong> Ausbildung in<br />

der räumlichen Dimension. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 1998.<br />

Meusburger, P. Subjekt—Qrganisation—Region. Fragen an die<br />

subjektzentrierte Handlungstheorie. In: Meusburger, P.<br />

(Hrsg.) Handlungszentrierte Sozialgeographie. Benno Werlens<br />

Entwurf in kritischer Diskussion. Erdk<strong>und</strong>liches Wissen 130.<br />

Stuttgart (Steiner) 1999 S. 95-132.<br />

Meusburger, P. Regionale Unterschiede des Wissens. In; Mitteilungen<br />

der Fränkischen Geographischen Gesellschaft Bd.<br />

50/51. (2004) S. 27-54.<br />

Meusburger, P. Sachwissen <strong>und</strong> symbolisches Wissen als Machtinstrument<br />

<strong>und</strong> Konfliktfeld. Zur Bedeutung von Worten, Bildern<br />

<strong>und</strong> Qrten bei der Manipulation des Wissens. In: Geographische<br />

Zeitschrift 93 (2005) S. 148- 164.<br />

Meusburger, P. Wissen <strong>und</strong> Raum - ein subtiles Beziehungsgeflecht.<br />

In: Kempter, K.; Meusburger, P. (Hrsg.) Bildung <strong>und</strong><br />

Wissensgesellschaft. Heidelberger Jahrbücher 2005,49. Berlin,<br />

Heidelberg (Springer) 2006.<br />

Meusburger, P. Macht, Wissen <strong>und</strong> die Persistenz von räumlichen<br />

Disparitäten. In: Kretschmer, I. (Hrsg.) Das Jubiläum der<br />

Österreichischen Geographischen Gesellschaft. 150 Jahre<br />

(1856-2006). Wien (Österreichische Geographische Gesellschaft)<br />

2007.<br />

Miggelbrink, J. Konstruktivismus? „Use with caution“ ... Zum<br />

Raum als Medium der Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit.<br />

In; Erdk<strong>und</strong>e 56 (2002) S. 337-350.<br />

Mitchell, D. Die Vernichtung des Raums per Gesetz: Ursachen<br />

<strong>und</strong> Folgen der Anti-Qbdachlosen-Gesetzgebung in den<br />

USA. In: Belina, B.; Michel, B. (Hrsg.) Raumproduktionen. Beiträge<br />

der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster<br />

(Westfälisches Dampfboot) 2007.<br />

Mittelstraß, J. Wissen <strong>und</strong> Grenzen: philosophische Studien.<br />

Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2001.


312 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Müller, H.-P. Sozialstruktur <strong>und</strong> Lebensstile. Der neuere theore­<br />

Schwan, T. Clash o f imaginations - erfahrungswissenschaftliches<br />

tische Diskurs über soziale Ungleichheit. Frankfurt a.M.<br />

Menschenbild versus postmoderne Konstruktionen. In: Meus-<br />

(Suhrkamp) 1992.<br />

burger, P.; Schwan, T. (Hrsg.) Humanökologie. Ansätze zur<br />

Müller, K. P. Rentenkapitalismus - eine „geographische" Erklä­<br />

Überwindung der Natur-Kultur-Dichotomie. Erdk<strong>und</strong>liches<br />

rung für Unterentwicklung. In: Geographische R<strong>und</strong>schau<br />

Wissen Bd. 135. Stuttgart (Steiner) 2003.<br />

34 (1984) S. 264-267.<br />

Shaw, C. R. Delinquency Areas. A Study o f the Geographie Dis­<br />

Nakane, C. Japanese Society. Harmondsworth (Penguin Books)<br />

tribution o f School Truants, Juvenile Delinquents, and Aduit<br />

1970.<br />

Offenders in Chicago. Chicago (Chicago University Press)<br />

Nonaka, I. A dynamic theory o f organizational knowledge crea­<br />

1929.<br />

tion. In; Organization Science 5 (1994) S. 14-37.<br />

Shaw, C. R.; McKay, H. D. Juvenile delinquency and urban areas; a<br />

Nonaka, I.; Takeuchi, N. The knowledge-creating company. Ox­<br />

study o f rates o f delinquency inrelation to differential charac­<br />

ford (Oxford University Press) 1995.<br />

teristics o f local communities in American cities. Chicago<br />

Norman-Butler, B. Victorian Aspirations: the Life and Labour o f<br />

(University of Chicago Press) 1931.<br />

Charles and Mary Booth. London (Allen and Unwin) 1972.<br />

O’Day, R.; Englander, D. Mr Charles Booth’s Inquiry: Life and La­<br />

Simey, T. S.; Simey, M. B. Charies Booth: Sociai Scientist. Oxford<br />

(Oxford University Press) I960.<br />

bour o f the People in London Reconsidered. London (Hamble-<br />

Smith, N. The New Urban Frontier: Gentrification and the Revan­<br />

don Press) 1993.<br />

chist City. New York u.a. (Routledge) 1996.<br />

Oppenheim, F.E. The concept o f equality. In: Sills, D. L. (Hrsg.)<br />

Spellerberg, A. Lebensstile <strong>und</strong> Lebensqualität in West- <strong>und</strong> Ost­<br />

International Encyclopedia o f the Social Sciences, vol. 5. New<br />

deutschland. In: Angewandte Sozialfoschung 19 (1995) S.<br />

York (Macmillan u.a.) 1968.<br />

93-106.<br />

Osberg, L. Inequality. In; Smelser, N.J.; Baltes, P. B. (Hrsg.) In­<br />

Spicker, P. Charles Booth - the examination o f poverty. In: Social<br />

ternational Encyclopedia o f the Social & Behavioral Sciences,<br />

Policy and Administration 24 (1990) S. 21-38.<br />

vol I I . Amsterdam et al. (Elsevier) 2001.<br />

Thomale, E. Sozialgeographie. Eine disziplingeschichtliche Unter­<br />

Park, R. Human Communities: The City and Human Ecology.<br />

suchung zur Entwicklung der Anthropogeographie. Marburger<br />

Glencoe, III (Free Press) 1952.<br />

Geographische Schriften 53. Marburg (Geogr. Institut) 1972.<br />

Park, R.; Burgess, E. W. Introduction to the Science o f Sociology.<br />

Törnqvist, G. Creativity in Time and Space. In: Geografiska An-<br />

Chicago (University of Chicago Press) 1921.<br />

naler 86B (4) (2004) S. 227-243.<br />

Park, R.; Burgess, E.W.; McKenzie, R. D. The City. Chicago (Uni­<br />

Virilio, P. Rasender Stillstand. München, Wien (Hanser) 1992.<br />

versity of Chicago Press) 1925.<br />

Weber, M. Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Tübingen (Mohr) 1922.<br />

1<br />

•* t<br />

■I ii<br />

Pfautz, H.W. (Hrsg.) Charles Booth on the City: Physical Pattern<br />

and Social Structure. Selected Writings. Chicago (University<br />

of Chicago Press) 1967.<br />

Polanyi, M. Personal knowledge: towards a post-critical philosophy.<br />

London (Routledge and Kegan Paul) 1958.<br />

Polanyi, M. The tacit dimension. New York (Doubleday) 1967.<br />

Rawls, J. A Theory o f Justice. Cambridge, MA (The Belkamp Press<br />

of Harvard University Press) 1971.<br />

Reuber, P.; Pfaffenbach, C. Methoden der empirischen <strong>Humangeographie</strong>.<br />

Beobachtung <strong>und</strong> Befragung. Braunschweig (Westermann)<br />

2005.<br />

Rühl, A. Vom Wirtschaftsgeist im Orient. Leipzig (Quelle & Meyer)<br />

1925.<br />

Rühl, A. Vom Wirtschaftsgeist in Amerika. Leipzig (Quelle & Meyer)<br />

1927.<br />

Rühl, A. Vom Wirtschaftsgeist in Spanien. 2. Aufl. Leipzig (Quelle<br />

& Meyer) 1928.<br />

Runciman, W.G. Relative deprivation and social Justice. Harmondsworth<br />

(Penguin Books) 1966.<br />

Ruppert, K. Laudatio zum 80. Geburtstag von Wolfgang Hartke.<br />

In: Mitt. D. Geogr. Ges. in München 73 (1988) S. 5-16.<br />

Scheler, M. Die Wissensformen <strong>und</strong> die Gesellschaft. Leipzig<br />

(Der Neue Geist Verlag) 1926.<br />

Schluchter, W. Handlung, Ordnung <strong>und</strong> Kultur. Studien zu einem<br />

Forschungsprogramm im Anschluss an Max Weber. Tübingen<br />

(Mohr Siebeck) 2005.<br />

Schubert, D. Charles Booth - Entdecker der 'Zwei-Drittel-Gesellschaft'<br />

<strong>und</strong> die ’ Arithmetik des Jammers’. In: Jahrbuch für<br />

Soziologiegeschichte,<br />

1994.<br />

1994. Qpladen (Leske & Budrich)<br />

Schultz, H. D. Alfred Rühl - ein Nonkonformist unter den (Berliner)<br />

Geographen. In: Die Erde 134 (2003) S. 317-342.<br />

Weichhart, P. Die Region—Chimäre, Artefakt oder Strukturprinzip<br />

sozialer Systeme? In: Brunn, G. (Hrsg.) Region <strong>und</strong> Regionsbildung<br />

in Europa: Konzeptionen der Forschung <strong>und</strong> empirische<br />

Bef<strong>und</strong>e. Schriftenreihe des Instituts für Europäische<br />

Regionalforschung Bd. 1. Baden-Baden (Nomos) 1996.<br />

Weichhart, P. Die Räume zwischen den Welten <strong>und</strong> die Welt der<br />

Räume. Zur Konzeption eines Schlüsselbegriffs der Geographie.<br />

In: Meusburger, P. (Hrsg.) Handlungszentrierte Sozialgeographie:<br />

Benno Werlens Entwurf in kritischer Diskussion.<br />

Erdk<strong>und</strong>liches Wissen Bd. 130. Stuttgart (Steiner)<br />

1999.<br />

Weichhart, P. Gesellschaftlicher Metabolismus <strong>und</strong> Action Settings.<br />

Die Verknüpfung von Sach- <strong>und</strong> Sozialstrukturen im alltagsweltlichen<br />

Handeln. In: Meusburger, P.; Schwan, T.<br />

(Hrsg.) Humanökologie: Ansätze zur Überwindung der Natur-Kultur-Dichotomie.<br />

Erdk<strong>und</strong>liches Wissen 135. Stuttgart<br />

(Steiner) 2003(a).<br />

Weichhart, P. Physische Geographie <strong>und</strong> <strong>Humangeographie</strong> -<br />

eine schwierige Beziehung: Skeptische Anmerkungen zu einer<br />

Gr<strong>und</strong>frage der Geographie <strong>und</strong> zum Münchner Projekt einer<br />

„Integrativen Umweltwissenschaft". In: Heinritz, G. (Hrsg.) Integrative<br />

Ansätze in der Geographie - Vorbiid oder Trugbild?<br />

Münchner Symposium zur Zukunft der Geographie. Münchner<br />

Geographische Hefte 35. München (Geogr. Institut TU)<br />

2003(b).<br />

Weichhart, P. Humanökologie, ln: Gebhardt, H.; Glaser, R.; Radt-<br />

ke, U.; Reuber, P. (Hrsg.) Geographie. Physische Geographie<br />

<strong>und</strong> <strong>Humangeographie</strong>. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2007(a).<br />

Weichhart, P. Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans<br />

Bobek bis Benno Werlen. Sozialgeographie kompakt Band 1.<br />

Stuttgart (Steiner) 2007(b).


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 313<br />

VVeisskopf, W. The Dialectics o f Equality. In: Levine, D. M.; Bane,<br />

M.J. (Hrsg.) The „Inequality“ Controversy. Schooling and Distributive<br />

Justice. New York (Basic Books) 1975.<br />

Werlen, B. Gesellschaft, Handlung <strong>und</strong> Raum. Gr<strong>und</strong>lagen hand-<br />

lungstheoretlscher Sozialgeographie. Erdk<strong>und</strong>liches Wissen<br />

89. Stuttgart (Steiner) 1987.<br />

Werlen, B. Society, action and space: An alternative human geography.<br />

London (Routledge) 1993.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen.<br />

Band 1: Zur Ontologie von Gesellschaft <strong>und</strong> Raum. Erdk<strong>und</strong>liches<br />

Wissen 116. Stuttgart (Steiner) 1995.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen.<br />

Band 2: Globalisierung. Erdk<strong>und</strong>liches Wissen 119. Stuttgart<br />

(Steiner) 1997.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie. Bern, Stuttgart (UTB) 2000.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie. Eine Einführung. Bern (UTB/Paul<br />

Haupt) 2004.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie. In: Gebhardt, H.; Glaser, R.; Radtke,<br />

U.; Reuber, P. (Hrsg.) Geographie. Physische Geographie <strong>und</strong><br />

<strong>Humangeographie</strong>. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2007 S. 579-598.<br />

Werlen, B.; Lippuner, R. Regionale Kulturen <strong>und</strong> globalisierte Lebensstile.<br />

In: Geographische R<strong>und</strong>schau 59 (2007) S. 22-<br />

27.<br />

Zierhofer, W. Alltagroutinen von Erwachsenen <strong>und</strong> Erfahrungsmöglichkeiten<br />

von Schulkindern. In: Geographica Helvetica<br />

2 (1989) S. 87-92.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Albrecht, P.A. Kriminologie. München (Beck) 1999.<br />

Althoff, M.; Leppelt, M. „Kriminaiität“ - eine diskursive Praxis<br />

(= Spuren der Wirklichkeit 8). Münster, Hamburg (Lit) 1995.<br />

Arbeitskreis Armutsbekämpfung durch Hilfe zur Selbsthilfe.<br />

(Hrsg.) Die Kluft überwinden - H^e^e aus der Armut. 2003.<br />

http://www.bmz.de/de/service/infothek/buerger/ar-<br />

mut.pdf (22.02.2006).<br />

Belina, B.; Rolfes, U. Zur Produktion von Sicherheit <strong>und</strong> Kriminalität.<br />

In: Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland Bd. 7. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 2005.<br />

Belina, B. „Kriminelle Räume“ - zur Produktion räumlicher Ideologien.<br />

In: Geographica Helvetica 54 (1999) S. 59-66.<br />

Belina, B. Kriminelle Räume (=Urbs et Regio 71). Kassel (Gesamthochschulbibliothek)<br />

2000.<br />

Belina, B. Videoüberwachung öffentlicher Räume in Großbritannien<br />

<strong>und</strong> Deutschland. In: Geographische R<strong>und</strong>schau 54 (7-<br />

8) (2002) S. 16-22.<br />

Belina, B. Zur Kritik von Kriminalgeographie <strong>und</strong> Kriminalitätskartierung-...<br />

<strong>und</strong> warum deren heutige Bemühungen noch hinter<br />

Quetelet zurückfallen. In: Tzschaschel, S.; Wild, H.; Lentz,<br />

S. (Hrsg.) Visualisierung des Raumes. Karten machen - die<br />

Macht der Karten (=ifl-forum 6). Leipzig (forum ifl) 2007<br />

S. 241-255.<br />

Best, P. Alltagswissen <strong>und</strong> örtliche Sozialkontrolle. Bremen (Univ.<br />

Diss.) 1978.<br />

Birkbeck, C.; LaFree, G. The situational analysis o f crime and deviance.<br />

In: Annual Review of Sociology 19 (1993) S. 113-<br />

137.<br />

BMAS (B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Sozialordnung). Lebenslagen<br />

in Deutschland. Der erste Armuts- <strong>und</strong> Reichtumsbericht<br />

der B<strong>und</strong>esregierung. Bd. 1: Bericht, Bd. 2: Daten <strong>und</strong><br />

Fakten. Bonn. 2001.<br />

BMAS (B<strong>und</strong>esministerium für Arbeit <strong>und</strong> Soziales). Armuts- <strong>und</strong><br />

Reichtumsbericht. 2005.<br />

http://www.bmas.b<strong>und</strong>.de/BMAS/Navigation/Soziale-Si-<br />

cherung/berichte,did = 89972.html (22.02.2007).<br />

Bödeker, H. E.; Hinrichs, E. (Hrsg.) Alphabetisierung <strong>und</strong> Litera-<br />

lisierungin Deutschland in der Frühen Neuzeit. Tübingen (Niemeyer)<br />

1999.<br />

Bösebeck, U. Stadtluft macht frei - <strong>und</strong> unsicher. In: Munier, G.<br />

(Hrsg.) Kriminalität <strong>und</strong> Sicherheit. Berlin (Heinrich-Böll-Stiftung)<br />

2002.<br />

Brantingham, P.J.; Brantingham, P.L. Residential burglary and<br />

urban form. In: Urban Studies 12 (1975) S. 273-284.<br />

Christie, N. Crime control as Industry: Towards Gulags, Western<br />

Style. London, New York (Routledge) 2000.<br />

Cipolla, C. M. Literacy and Development in the West. Harmond-<br />

sworth (Penguin Books) 1969.<br />

Conseil de l’Europe. Statistique Penale Annuelle du Conseil de<br />

l ’Europe. Strasbourg 2004.<br />

Difu (Deutsches Institut für Urbanistik). Soziale Stadt. 2007.<br />

http://www.sozialestadt.de/(22.02.2007).<br />

Dinges, M.; Sack, F. Unsichere Großstädte? In: Dinges, M.; Sack,<br />

F. (Hrsg.) Unsichere Großstädte? Konstanz (UVK Univ. Verlag<br />

Konstanz) 2000.<br />

Doron, A. Definition and measurement o f p o ve rty- the unsolved<br />

issue. In: Social Security 2 (1990) S. 27-50.<br />

Evans, D.J.; Herbert, D.T. (Hrsg.) The Geography o f Crime. London,<br />

New York (Routledge) 1989.<br />

Feest, J. Die Situation des Verdachts. In: Feest, J.; Lautmann, R.<br />

(Hrsg.) Die Polizei. Opladen (Westdeutscher Verlag) 1971.<br />

Feest, J.; Blankenburg, E. Die Definitionsmacht der Polizei. Düsseldorf<br />

(Bertelsmann Univ.-Verlag) 1972.<br />

Förster, M.; d’Ercole, M. M. Income Distribution and Poverty in<br />

OECD Countries in the Second Half o f the 1990s.<br />

( = OECD social,employment and migration working papers,<br />

22). Paris (OECD) 2005.<br />

http://www.oecd.Org/dataoecd/48/9/34483698.pdf<br />

(20.02.2006).<br />

Friedrichs, J.; Häußermann, H.; Siebei, W. (Hrsg.) Süd-Nord-Ge-<br />

fälle In der B<strong>und</strong>esrepublik? Sozialwissenschaftliche Analysen.<br />

Opladen (Westdeutscher Verlag) 1986.<br />

Furet, F.; Ozouf, J. Lire et écrire: l'alphabétisation des français, de<br />

Calvin à Jules Ferry. Paris (Les Editions de Minuit) 1977.<br />

Geißler, R. Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen<br />

Entwicklung m it einer Zwischenbilanz zur Vereinigung.<br />

2., neubearbeitete <strong>und</strong> erweiterte Auflage. Opladen (Leske<br />

& Budrich) 1996.<br />

Gillie, A. The origin o f the poverty line. In: Economic History Review<br />

49 (1996) S. 715-730.<br />

Graff, H. J. The Literacy Myth: Literacy and Social Structure in the<br />

Nineteenth-Century City. New York (Academic Press) 1979.<br />

Günther, H.; Ludwig, 0. (Hrsg.) Schrift <strong>und</strong> Schriftlichkeit: ein<br />

interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung. 2<br />

Bände. Berlin (de Gruyter) 1994, 1996.<br />

Häußermann, H. Armut <strong>und</strong> städtische Gesellschaft. In: Geographische<br />

R<strong>und</strong>schau 50 (1998) S. 136- 138.


314 5 Gr<strong>und</strong>fragen der Sozialgeographie<br />

Hafner, S. Wie aus Großwohnsiedlungen Ghettos werden ... In;<br />

Flitner, M.; Lossau, J. (Hrsg.) Themenorte. Berlin, Münster<br />

(Lit) 2005.<br />

Harcourt, B. E. Reflecting on the Subject: a Critique o f the Social<br />

Influence Conception o f Deterrence, the Broken Windows<br />

Theory, and Order-Maintaining Policing New York Style. In:<br />

Michigan Law Review 97 (1998).<br />

Hauser, R. Die Entwicklung der Einkommens- <strong>und</strong> Vermögensverteilung<br />

in Deutschland - ein Überblick. In: Informationen zur<br />

Raumentwicklung V4 (2003) S. 111-124.<br />

Herbert, D.T. The study o f delinquency areas: a social geographical<br />

approach. In: Transactions (Institute of British Geographers)<br />

New Series 1 (1976a) S. 472-492.<br />

Herbert, D.T. Social Deviance in the City: A Spatial Perspective.<br />

In: Herbert, D.T.; Johnston, R.J. (Hrsg.) Social Areas in Cities.<br />

Bd. 2: Spatial Perspectives on Problems and Policies. New<br />

York (Wiley) 1976(b).<br />

Herbert, D.T. Crime, delinquency and the urban environment. In:<br />

Progress in Human Geography 1 (1977) S. 208-239.<br />

Herbert, D.T. Crime, Policing, andPiace: Essays in Environmental<br />

Criminology. London (Routledge) 1992.<br />

Herbert, S. Policing Space. Minneapolis (University of Minnesota<br />

Press) 1997.<br />

Herold, H. Die Bedeutung der Kriminalgeographie für die polizeiliche<br />

Praxis. In: Kriminalistik 31 (1977) S. 289-296.<br />

Houston, R. A. Literacy in Early Modern Europe: Culture and Education<br />

1500-1800. Harlow (Longman) 1988.<br />

Hoyler, M. Anglikanische Heiratsregister als Quellen historischgeographischer<br />

Alphabetisierungsforschung. In: Heidelberger<br />

Geographische Arbeiten 100. Heidelberg (Geogr. Institut)<br />

1996.<br />

Hoyler, M. Smail Town Development and Urban Illiteracy: Comparative<br />

Evidence from Leicestershire Marriage Registers<br />

1754-1890. In: Historical Social Research 23 (1998) S.<br />

202-230.<br />

Klagge, B. Räumliche Disparitäten des Sozialhilfebezugs in<br />

Deutschland: ein Überbiick. In: Raumforschung <strong>und</strong> Raumordnung<br />

59 (2001a) S. 287-296.<br />

Klagge, B. „Armutsghettos“ in westdeutschen Städten? Konzeptionelle<br />

Überlegungen <strong>und</strong> empirische Bef<strong>und</strong>e. In: Die Erde<br />

132 (2001b) S. 141-160.<br />

Klagge, B. Armut in westdeutschen Städten: Strukturen <strong>und</strong><br />

Trends aus stadtteilorientierter Perspektive - eine vergleichende<br />

Langzeituntersuchung der Städte Düsseldorf, Essen,<br />

Frankfurt, Hannover <strong>und</strong> Stuttgart. Stuttgart (Steiner)<br />

2005(a).<br />

Klagge, B. Armut <strong>und</strong> Sozialhilfebezug. In: Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 2006, S. 113, Karte 3.<br />

Kramer, W. Funktionaler Analphabetismus. Köln (Dt. Inst. Verlag)<br />

1997.<br />

Kronauer, M. „Soziale Ausgrenzung“ <strong>und</strong> „Underclass". Über<br />

neue Formen der gesellschaftlichen Spaltung. In: Leviathan<br />

25 (1997) S. 28-49.<br />

Kronauer, M. Armut, Ausgrenzung, Unterklasse. In: Häußermann,<br />

H. (Hrsg.) Großstadt. Soziologische Stichworte. Opladen (Leske<br />

& Budrich) 1998.<br />

Lenhart, V.; Maier, M. Erwachsenenbildung <strong>und</strong> Alphabetisierung<br />

in Entwicklungsländern. In; Tippelt, R. (Hrsg.) Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung.<br />

Opladen (Leske & Budrich)<br />

1994.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 315<br />

Löw, M.; Steets, S.; Stoetzer S. Einführung in die Stadt- <strong>und</strong><br />

Raumsoziologie. Opladen, Farmington Hills (Budrich) 2007.<br />

Lowman, J. Conceptual issues in the geography o f crime: towards<br />

a geography o f social control. In: Annals of the Assoc, of<br />

American Geographers 76 (1986) S. 81-94.<br />

Matza, D. Abweichendes Verhalten. Heidelberg (Quelle & Meyer)<br />

1973.<br />

Matzig, G. Formen des Zorns. Licht, Luft <strong>und</strong> Randale: Welche<br />

Verantwortung tragen Architekten <strong>und</strong> Stadtplaner für die exzessive<br />

Gewalt in den französischen Vorstädten? In: Süddeutsche<br />

Zeitung (12.11.2005) S. 13.<br />

Meusburger, P. Bildungsgeographie. Wissen <strong>und</strong> Ausbildung in<br />

der räumlichen Dimension. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 1998.<br />

Mitchell, D. Die Vernichtung des Raums per Gesetz: Ursachen<br />

<strong>und</strong> Folgen der Anti-Obdachlosen-Gesetzgebung in den<br />

USA. In: Belina, B.; Michel, B. (Hrsg.) Raumproduktionen. Beiträge<br />

der Radical Geography. Eine Zwischenbilanz. Münster<br />

(Westfälisches Dampfboot) 2007.<br />

Newman, 0. Defensible Space. London (Macmillan) 1972.<br />

OECD Statistics Canada 2000. Literacy in the Information Age -<br />

Final Report o f the International Adult Literacy Survey. Paris<br />

(OECD) 2000.<br />

Rolfes, M. Kriminologische Regionalanalyse Osnabrück (= OSG-<br />

Materialien 53). Osnabrück 2003.<br />

Sack, F. Probleme der Kriminalsoziologie. In: König, R. (Hrsg.)<br />

Handbuch der empirischen Sozialforschung. Bd. 2. Stuttgart<br />

(Enke) 1969.<br />

Siebei, W. Armut oder Ausgrenzung? Vorsichtiger Versuch einer<br />

begrifflichen Eingrenzung der sozialen Ausgrenzung. In: Leviathan<br />

25 (1997) S. 67-75.<br />

Skogan, W. G. Disorder and Decline. Berkeley, Los Angeles (Free<br />

Press et al.) 1990.<br />

Smith, N. The New Urban Frontier: Gentrification and the Revanchist<br />

City. New York u.a. (Routledge) 1996.<br />

Steinert, H. Zur Aktualität der Etikettierungs-Theorie. In: Kriminologisches<br />

Journal 17 (1985) S. 29-43.<br />

Stephens, W. B. Education, Literacy and Society, 1 8 3 0 -7 0 : the<br />

Geography o f Diversity in Provincial England. Manchester<br />

(Manchester University Press) 1987.<br />

Strasser, P. Verbrechermenschen. Frankfurt, New York (Campus)<br />

1984.<br />

The World Bank. Poverty. 2006.<br />

http://web.worldbank.org/WBSITE/EXTERNAL/NEWS/<br />

0„conten-<br />

tMDK:20040961~page-<br />

pagePK : 64257043\simpiPK : 437376\sim-<br />

37376~theSitePK:4607,00.html (20.02.2006).<br />

UNDP Human Development Report 2000. New York 2000.<br />

UNDP (United Nations Development Programme). Statistics in<br />

the Human Development Report. 2006.<br />

http://hdr.<strong>und</strong>p.org/hdr2006/statistics/ (22.02.2007).<br />

UNESCO Institute for Statistics Education for all year 2000 Assessment:<br />

Statistical Document. Nomes 2000.<br />

Vincent, D. The Rise o f Mass Literacy: Reading and Writing in<br />

Modern Europe. Cambridge (Polity Press) 2000.<br />

Weinberg, A. K. Manifest destiny: A study o f nationalist expansionism<br />

in American history. Baltimore (Johns Hopkins Press)<br />

1935.<br />

Wilson, J.Q.; Kelling, G.L. Broken Windows. In: Atlantic Monthly<br />

3 (1982) S. 29-38.


6 Kulturgeographie<br />

Das gemeinsame Verstehen von Wörtern <strong>und</strong> Wortgruppen ist die Gr<strong>und</strong>lage<br />

jeder Sprache <strong>und</strong> erlaubt es den Menschen, miteinander zu kommunizieren.<br />

Dieses geteilte Verstehen basiert auf Regeln - über den Klang <strong>und</strong><br />

die Struktur von Wörtern die von einer Gemeinschaft von Personen<br />

verstanden werden <strong>und</strong> die Kommunikation ermöglichen. Kommunikation<br />

mittels Sprache funktioniert präzise, weil wir die Aussprache einer<br />

Person nachvollziehen, ihre Handschrift lesen <strong>und</strong> uns über die Wortbedeutung<br />

verständigen können <strong>und</strong> wissen, dass der gleiche Satz im einen<br />

Fall eine Frage <strong>und</strong> im anderen eine Aussage ist. Die geschriebene <strong>und</strong><br />

gesprochene Sprache basiert auf zahlreichen Regeln, welche die Rechtschreibung,<br />

die Zeichensetzung, die Grammatik, den Satzbau <strong>und</strong> die<br />

Form, beispielsweise beim Schreiben von privaten <strong>und</strong> geschäftlichen Briefen,<br />

betreffen. Zumindest haben Sprachwissenschafter, Herausgeber, Lehrer<br />

<strong>und</strong> andere Sprachhüter bisher geglaubt, dass jede Sprache Regeln hat<br />

<strong>und</strong> deren Missachtung zu zahlreichen, mehr oder weniger gravierenden<br />

Missverständnisse führt.<br />

In den letzten 15 Jahren ist jedoch in den USA <strong>und</strong> anderswo eine neue<br />

Generation von Sprechern herangewachsen, die sich nicht an die alten<br />

Sprachregeln hält, sodass es zu unzähligen Unstimmigkeiten im Sprachgebrauch<br />

kommt. Linguisten wie Naomi Baron, die sich mit computervermittelter<br />

Kommunikation (CMC) beschäftigt, glauben, dass zwei Hauptursachen<br />

für den langsamen aber stetigen Wandel der Sprache <strong>und</strong> des<br />

Sprachgebrauchs verantwortlich sind: zum einen die Einflüsse, die sich<br />

aus der Verwendung von Technologien (vor allem Computern <strong>und</strong> Mobiltelefonen)<br />

ergeben <strong>und</strong> zum anderen der schnellere Rhythmus des täglichen<br />

Lebens, sei es im Büro, zu Hause oder sogar beim Spielen. E-Mails,<br />

SMS <strong>und</strong> das Chatten am Computer sind ein fester Bestandteil unseres<br />

hektischen Lebens <strong>und</strong> stehen im Zentrum des Wandels der Sprache, insbesondere<br />

der Schriftsprache.<br />

Veränderung ist ein natürlicher Teil der Sprachentwicklung. So benutzen<br />

wir beispielsweise andere Wörter als unsere Großeltern <strong>und</strong> oder die<br />

Menschen in vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erten. Gedichte, Liedtexte oder auch<br />

Bücher zeigen uns, wie drastisch Sprache abgewandelt werden kann. Der<br />

heutige Wandel der Sprache unterscheidet sich von früheren Veränderungen<br />

dadurch, dass computervermittelte Kommunikation die Sprache in<br />

bisher unbekannter Schnelligkeit verändert. Ein Wörterbuch mit Internetausdrücken<br />

<strong>und</strong> Akronymen, die in Kurznachrichten verwendet werden,<br />

wie unter www.netlingo.de veröffentlicht, verdeutlicht dies. Je mehr wir<br />

die computervermittelte Kommunikation nutzen, desto stärker beeinflusst<br />

sie die Art <strong>und</strong> Weise, wie wir miteinander kommunizieren <strong>und</strong> interagie-<br />

Hinter dem jüngsten Sprachwandel steht die junge Generation des 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts, die Teenager <strong>und</strong> die 20- bis 30-Jährigen. Durch ihre Nutzung<br />

von CMC verändern sie nicht nur die Regeln der Sprache, sondern<br />

durch die Verwendung der neuen Sprache sind sie auch an anderen kulturellen<br />

Veränderungen beteiligt, beispielsweise an der Bildung sozialer<br />

Beziehungen <strong>und</strong> Praktiken, die durch Sprache erst möglich werden.<br />

Ein Beispiel dafür ist das, was als „ständige Teilaufmerksamkeit“ {contin-


318 6 Kulturgeographie<br />

Xicr'<br />

M<br />

uous partial attention, CPA) bezeichnet werden kann,<br />

bei der ein Mensch gleichzeitig über E-Mail, Mobiltelefon<br />

<strong>und</strong> Textnachricht kommuniziert <strong>und</strong> seine<br />

Aufmerksamkeit auf alle Medien aufteilt. Das Verschicken<br />

von Textnachrichten ist ein Nebenprodukt<br />

der ständigen Teilaufmerksamkeit, denn hier ist nicht<br />

genügend Zeit, um eine förmliche Schriftsprache zu<br />

verwenden. Die Technologie (Mehrfachbelegung der<br />

Tasten) begünstigt zusätzlich diese Entwicklung.<br />

Noch ist nicht abzusehen, welche Auswirkungen<br />

CPA auf unser tägliches Leben <strong>und</strong> unsere sozialen<br />

Beziehungen haben wird. Wird die ständige Teüaufmerksamkeit<br />

dazu führen, dass unsere Beziehungen<br />

an Intensität verlieren? Oder wird die computervermittelte<br />

Kommunikation dazu führen, dass wir mehr<br />

Beziehungen aufrechterhalten können, da wir auch<br />

mehr Kontaktmöglichkeiten zur Verfügung haben?<br />

Werden sich CPA <strong>und</strong> CMC auf unsere tägliche<br />

Kommunikation, beispielsweise in der Schule oder<br />

auf der Arbeit, auswirken? In stärkerem Maße als jemals<br />

zuvor verändern sich die Sprache - das kulturelle<br />

Medium, mit dem wir Bedeutungen ausdrücken<br />

- sowie die Räumlichkeiten <strong>und</strong> Rahmenbedingungen,<br />

innerhalb derer Bedeutungen produziert <strong>und</strong><br />

verstanden werden. Allerdings ist dieser Wandel<br />

von Region zu Region verschieden <strong>und</strong> selbst in<br />

der nächsten Umgebung oder in ein <strong>und</strong> demselben<br />

Haushalt bestehen Unterschiede. Was wir wissen ist,<br />

dass sich ein bedeutsamer kultureller Wandel über<br />

Sprache vollzieht, was wir nicht wissen ist, was dieser<br />

Wandel im Einzelnen zu bedeuten hat.<br />

Im vorliegenden Kapitel stellen wir vor, auf welche<br />

vielfältige Weise Geographen Konzepte von Kultur<br />

untersucht haben - einschließlich der Globalisierung<br />

von Kultur - sowie die Einsichten, die sie aus diesen<br />

Forschungen gewonnen haben. Wir fragen: Was kann<br />

als Kultur bezeichnet werden, was wird unter diesem<br />

Begriff zusammengefasst? Wie untersuchen Geographen<br />

Kultur? Wie können wir das Phänomen interpretieren,<br />

dass kulturelle Erzeugnisse <strong>und</strong> Praktiken<br />

der USA noch in den fernsten Winkel der Erde exportiert<br />

werden, während zugleich die Kultur in den USA<br />

von Kräften von weit außerhalb verändert wird?<br />

Die Geographie interessiert besonders, wie Kultur<br />

Raum (space) <strong>und</strong> Ort {place) formt <strong>und</strong> wie umgekehrt<br />

Raum <strong>und</strong> Ort die Kultur beeinflussen. Sie<br />

hat erkannt, dass Kultur dynamisch ist <strong>und</strong> innerhalb<br />

größerer sozialer, politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Zusammenhänge in Frage gestellt wird <strong>und</strong><br />

sich verändert. Die aktuellen Ansätze der Kulturgeographie<br />

versuchen die Rolle zu erfassen, die Politik<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft bei der Begründung <strong>und</strong> Erhaltung<br />

von kultureller Eigenheit, Kulturlandschaften<br />

sowie globaler Muster von Kulturmerkmalen<br />

<strong>und</strong> Kulturkomplexen spielen.<br />

Die Kulturgeographie wurde um die Analyse von<br />

Geschlechterrollen, Klasse, sexueller Orientierung,<br />

Ethnizität, Alter <strong>und</strong> anderem mehr erweitert, um<br />

der Tatsache Rechnung zu tragen, dass nicht nur<br />

zwischen, sondern auch innerhalb von Kulturen<br />

wichtige Unterschiede bestehen können.<br />

Wie viele andere Bereiche des heutigen Lebens ist<br />

auch die Kultur gr<strong>und</strong>legend von der Globalisierung<br />

betroffen, die jedoch nicht so sehr zu einer<br />

vereinheitlichten Kultur geführt hat, sondern vielmehr<br />

ganz unterschiedliche Auswirkungen auf die<br />

verschiedenen Gesellschaften <strong>und</strong> geographischen<br />

Regionen gehabt hat, da die globalen Einflüsse<br />

durch lokale Kulturen modifiziert werden.<br />

Globalisierung bedeutet nicht automatisch, dass<br />

die Welt immer homogener wird. Globalisierung<br />

bedeutet einerseits, dass die lokale Ebene immer<br />

wichtiger wird, aber andererseits auch, dass lokale<br />

Kulturen von negativen Folgen betroffen sind, wie<br />

beispielsweise das Verschwinden indigener Sprachen<br />

zeigt. In wieder anderen Fällen hat der Prozess<br />

der Globalisierung zu hybriden kulturellen<br />

Formen geführt, die getrennte Kulturen in einzigartiger<br />

Weise miteinander verbinden.<br />

Kultur als geographischer<br />

Prozess<br />

Schlüsselsätze<br />

Kultur ist ein zentraler <strong>und</strong> komplexer Begriff der<br />

Geographie. Dennoch lässt sich Kultur in wenigen<br />

Worten als „Lebensweise, die einen spezifischen<br />

Bestand von Fertigkeiten, Werten <strong>und</strong> Bedeutungen<br />

umfasst“ beschreiben.<br />

In der Geographie geht man seit langem der Frage<br />

nach, wie sich Kultur auf die geographischen Gegebenheiten<br />

auswirkt <strong>und</strong> wie sie sich in ihnen manifestiert.<br />

Genauso versucht man umgekehrt, die Auswirkungen<br />

der geographischen Situation auf die Kultur<br />

sowie deren Ausdrucksformen zu erfassen. Während<br />

sich die Anthropologen vor allem für die Schaffung<br />

<strong>und</strong> Erhaltung von Kultur durch den Menschen<br />

interessieren, möchten die Geographen herausfmden,


Kultur als geographischer Prozess 319<br />

wie die Kultur Ort <strong>und</strong> Raum verändert <strong>und</strong> wie wiederum<br />

diese kulturell geprägten räumlichen Bedingungen<br />

das Handeln der Menschen beeinflussen.<br />

ln Anthropologie, Geographie <strong>und</strong> anderen Kulturwissenschaften<br />

wie Geschichte, Soziologie <strong>und</strong> Politologie<br />

ist man sich über die Komplexität des Konzepts<br />

„Kultur“ einig. Im Laufe der Zeit hat sich unser<br />

Verständnis von Kultur gewandelt <strong>und</strong> ist zunehmend<br />

differenzierter geworden. Eine einfache Auffassung<br />

von Kultur ist diejenige einer bestimmten Lebensweise,<br />

bestehend aus dem Inventar an erlernten<br />

Aktivitäten, Werten <strong>und</strong> Bedeutungen, die sich im<br />

Umfeld einer bestimmten wirtschaftlichen Tätigkeit<br />

herausbilden. Einige Menschen legen klassische Maßstäbe<br />

an Kultur an <strong>und</strong> definieren sie etwa über die<br />

ästhetische Qualität von Literatur, Opern- <strong>und</strong> Ballettaufführungen.<br />

Der Begriff Kultur wird auch zur zusammenfassenden<br />

Beschreibung der Aktivitäten einer bestimmten<br />

Gruppe verwendet, wie in den Bezeichnungen<br />

„Arbeiterkultur“, „Unternehmenskultur“ oder „Jugendkultur“<br />

geschehen. All diese Auffassungen von<br />

Kultur sind zwar zutreffend, für unsere Zwecke<br />

aber unzureichend. Allgemein gesagt ist Kultur ein<br />

gemeinsames Inventar an Bedeutungen, die tagtäglich<br />

durch materielle <strong>und</strong> symbolische Gepflogenheiten<br />

gelebt werden (Abbildung 6.1) <strong>und</strong> sich mit der<br />

Zeit auch stets verändern. Geographen glauben,<br />

dass Kultur nicht notwendigerweise an einen Ort geb<strong>und</strong>en<br />

ist. Sie betrachten die Beziehungen <strong>und</strong> Verbindungen<br />

zwischen Menschen, Orten <strong>und</strong> Kulturen<br />

als soziale Konstruktionen, die veränderlich sind <strong>und</strong><br />

die untersucht werden müssen, wenn man verstehen<br />

will, was Kultur ausmacht. Dieses „gemeinsame Inventar<br />

an Bedeutungen“ kann sowohl Werte, Überzeugungen<br />

<strong>und</strong> Gepflogenheiten als auch Ansichten<br />

bezüglich Religion, Sprache, Familie, Geschlecht, Sexualität<br />

sowie weitere wichtige Identitäten beinhalten.<br />

Kultur ist häufig Gegenstand der Neubetrachtung<br />

<strong>und</strong> Neudefinition, die letztendlich zu kulturellem<br />

Wandel führen, wobei die Änderungen sowohl innerhalb<br />

als auch außerhalb der betroffenen Gruppe bewirkt<br />

werden.<br />

Kultur ist ein dynamisches Konzept, das um komplexe<br />

soziale, politische, wirtschaftliche <strong>und</strong> sogar<br />

historische Faktoren kreist. Diese Definition von Kultur<br />

ist Bestandteil einer relativ langen, sich weiter entwickelnden<br />

Tradition in der Geographie <strong>und</strong> anderen<br />

Disziplinen wie der Anthropologie <strong>und</strong> der Soziologie.<br />

Auf die Herausbildung dieser Tradition wird im<br />

folgenden Abschnitt näher eingegangen, in dem die<br />

kulturbezogenen Debatten innerhalb der Geographie<br />

beschrieben werden.<br />

6.1 Jugendkultur Der Begriff „Kultur“ wird oft für eine Reihe<br />

von Praktiken verwendet, die kennzeichnend für eine bestimmte<br />

Gemeinschaft sind. Das Foto steht für eine als „Gothic“ bekannte<br />

Jugendkultur. Sie wird durch eine spezifische Haartracht,<br />

Kleidung <strong>und</strong> Körperschmuck sowie eine bestimmte Philosophie<br />

<strong>und</strong> Musik charakterisiert. Jugendkulturen sind vielfältig<br />

<strong>und</strong> verändern sich mit der Zeit. Dabei ist Kultur mehr als nur der<br />

physische, unterscheidende Aspekt einer Gruppe. Kultur ist<br />

auch die Art <strong>und</strong> Weise, wie sich Gruppen Bedeutung verleihen,<br />

<strong>und</strong> der Versuch, die sie umgebende Welt zu prägen <strong>und</strong> zu<br />

interpretieren.<br />

L Rückblicke<br />

Die Geographie interessiert sich seit langem für die<br />

Wechselbeziehungen zwischen Mensch <strong>und</strong> Kultur<br />

sowie zwischen Raum (space), Ort (place) <strong>und</strong> kultureller<br />

<strong>und</strong> natürlicher Umwelt (landscape). Einer der<br />

in dieser Hinsicht einflussreichsten Wissenschaftler<br />

war Carl Sauer, der als Geograph an der Universität<br />

von Kalifornien lehrte. Carl Sauer war der Hauptbegründer<br />

der Berkeley-Schule für Kulturgeographie<br />

(Abbildung 6.2). Sein besonderes Interesse galt den<br />

gegenständlichen Manifestationen von Kultur, die<br />

er vor allem anhand ihrer landschaftlichen Ausprägungen<br />

zu verstehen suchte. Daraus entstand das<br />

Konzept der Kulturlandschaft als charakteristisches<br />

<strong>und</strong> materialisiertes Ergebnis der komplexen Wechselwirkungen<br />

zwischen einer sozialen Gruppe - mit<br />

den ihr eigenen Gepflogenheiten, Vorlieben, Werten<br />

<strong>und</strong> Zielen - <strong>und</strong> der natürlichen Umwelt. Sauer unterschied<br />

die Kulturlandschaft von der Naturlandschaft.<br />

Er betonte, dass die Kulturlandschaft eine vermenschlichte<br />

Version der Naturlandschaft sei, in dem


32 0 6 Kulturgeographie<br />

6.2 Carl Sauer (1899- 1975) Carl Sauer kam als Sohn<br />

deutscher Emigranten im Mittleren Westen der USA zur Welt<br />

<strong>und</strong> verbrachte später ein erfolgreiches Berufsleben als Geograph<br />

an der University of California in Berkeley. Er lehnte die<br />

Auffassung des Naturdeterminismus als ungeeignetes humangeographisches<br />

Konzept ab <strong>und</strong> betonte stattdessen die Einzigartigkeit<br />

von Landschaften, die er als das Resultat physischer<br />

<strong>und</strong> kultureller Prozesse ansah.<br />

Sinne, dass menschliche Aktivität zu einer erkennbaren<br />

<strong>und</strong> für die Akteure sinnvollen Änderung der natürlichen<br />

Umwelt führe (Abbildung 6.3).<br />

R<strong>und</strong> fünf Jahrzehnte lang war Sauers Werk im Bereich<br />

der Kulturgeographie richtungsweisend. Er befasste<br />

sich mit der Kulturlandschaft aus einer ökologischen<br />

Perspektive, <strong>und</strong> die Vielzahl seiner Publikationen<br />

zeugt von seinem Interesse an den vielfältigen<br />

menschlich bedingten Veränderungen der Erdoberfläche.<br />

Während man in Großbritannien die Beschäftigung<br />

mit den menschlichen Einwirkungen auf die natürliche<br />

Umwelt als Historische Geographie bezeichnete,<br />

umriss man sie in Frankreich mit dem Terminus<br />

gerne de vie. Genre de vie („Lebensformengruppe“),<br />

ein Schlüsselkonzept in dem von Paul Vidal de la Blache<br />

erarbeiteten Ansatz einer Kulturgeographie<br />

Frankreichs, bezog sich auf eine funktional organisierte<br />

Lebensweise, die als typisch für eine bestimmte<br />

kulturelle Gemeinschaft angesehen wurde (Abbildung<br />

6.4). Im Mittelpunkt dieses Konzepts standen<br />

die Lebensgewohnheiten einer Gruppe, die gemäß Vidal<br />

de la Blache deren physische, soziale <strong>und</strong> psychologische<br />

Bindungen formten. Andere Ansätze unterschieden<br />

sich zwar hinsichtlich der Gewichtung der<br />

Einflüsse der physischen Umwelt <strong>und</strong> der ihr zugeschriebenen<br />

Rolle, rückten aber alle ausnahmslos<br />

die Kulturlandschaft in das Zentrum ihres Interesses<br />

an den Mensch-Umwelt-Beziehungen.<br />

Vidal de la Blache betonte die Notwendigkeit der<br />

Untersuchung kleiner, homogener Gebiete, denn nur<br />

so ließen sich seiner Ansicht nach die engen Beziehungen<br />

zwischen dem Menschen <strong>und</strong> seiner unmittelbaren<br />

Umgebung aufdecken. Er erstellte komplexe<br />

Beschreibungen des vorindustriellen Frankreichs, die<br />

den kausalen Zusammenhang zwischen den von der<br />

lokalen physischen Umwelt gegebenen Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Beschränkungen <strong>und</strong> den sich daraus entwickelnden<br />

unterschiedlichen Lebensformengruppen<br />

(genres de vie) aufzeigten (Abbildungen 6.5).<br />

Im Anschluss daran befasste er sich mit den durch<br />

die Industrialisierung verursachten Veränderungen<br />

in den französischen Regionen, wobei er beobachtete,<br />

dass regionale Homogenität nicht länger das verbindende<br />

Element war. Stattdessen hatte die gestiegene<br />

Mobilität der Menschen <strong>und</strong> Wirtschaftsgüter<br />

neue, komplexere Felder der Geographie geschaffen,<br />

in denen zuvor isolierte Lebensformengruppen gemeinsam<br />

allmählich in ein durch Wettbewerb <strong>und</strong><br />

6.3 Massai-Dorf in Kenia Die Kulturlandschaft<br />

reflektiert nach der Definition<br />

von Carl Sauer die Art <strong>und</strong> Weise, in der<br />

kulturelle <strong>und</strong> Umweltprozesse zusammenkamen,<br />

um ein einzigartiges Produkt<br />

hervorzubringen. Das Bild zeigt ein kleines<br />

Dorf, in dem die Herdenhaltung die<br />

Hauptbeschäftigung ist. Das Dorf ist<br />

eingefasst von dornigen Brombeersträuchern<br />

<strong>und</strong> Zweigen, die in der Umgebung<br />

geerntet wurden. Innerhalb der Einzäunung<br />

sind die Behausungen in einem<br />

spezifischen ringförmigen Muster angeordnet.<br />

Die Tierpferche befinden sich<br />

dabei in der Mitte der Siedlung, damit die<br />

Einwohner die Tiere leicht beaufsichtigen<br />

können.


Kultur als geographischer Prozess 321<br />

6.4 Paul Vidal de la Blache (1845 - 1919) Vidal de la Blache<br />

war der Begründer der Annales de Geographie, einer einflussreichen<br />

wissenschaftlichen Zeitschrift, welche die Vorstellung<br />

einer <strong>Humangeographie</strong> als Wissenschaft von den Mensch-<br />

Umwelt-Beziehungen förderte. Von den Arbeiten Vidal de la<br />

Blaches entfaltete sein Konzept der genres de vie („Lebensformengruppen“)<br />

die stärkste <strong>und</strong> am längsten andauernde<br />

Wirkung. Er verstand darunter die Lebensformen einer<br />

menschlichen Gruppe in einer bestimmten Region, in welchen<br />

sich die der Landschaft entsprechenden ökonomischen, sozialen,<br />

ideologischen <strong>und</strong> psychologischen Identitäten widerspiegeln.<br />

6.6 Hans Bobek (1903-1990) Hans Bobek schuf die<br />

Konzeption eines „logischen Systems der Geographie“, indem<br />

er der Länderk<strong>und</strong>e eine Allgemeine Geographie gegenüberstellte.<br />

In den „Hauptstufen der Gesellschafts- <strong>und</strong> Wirtschaftsentfaltung“<br />

vergleicht er koexistierende Typen von zwar<br />

historischen, aber bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nachwirkenden<br />

Gesellschaftsstrukturen.<br />

zunehmende Industrialisierung geprägtes wirtschaftliches<br />

Gefüge integriert wurden. Die weit verbreiteten<br />

Auswirkungen einer globalisierten Wirtschaft vorausahnend,<br />

sah Paul Vidal de la Blache, wie sich die Menschen<br />

in ihrem lokalen Umfeld bemühten, die umwälzenden<br />

Veränderungen mit ihrer Lebenswelt,<br />

die sich ja ebenfalls gr<strong>und</strong>legend gewandelt hatte,<br />

in Einklang zu bringen.<br />

Im übrigen Europa verfolgten die Geographen, die<br />

sich mit den Wechselwirkungen zwischen Mensch<br />

<strong>und</strong> Landschaft befassten, etwas andere Ansätze.<br />

Hans Bobek (Abbildung 6.6) entwickelte in seinen<br />

„Gedanken über das logische System der Geographie“<br />

eine Integrationsstufenlehre. Die Landschaft wird als<br />

Integrationsprodukt der Geofaktoren gesehen, wobei<br />

die höchste Stufe der Integration die Kulturlandschaft<br />

ist. Dabei versteht er unter Integration<br />

die Verschmelzung verschiedener Elemente zu einem<br />

neuen Ganzen, dem Eigenschaften zukommen, die<br />

die Elemente im Einzelnen nicht besitzen (Bobek<br />

6.5 Gartenbaubetrieb in Korsika.<br />

Dieses Bild zeigt eine ländliche Gegend<br />

auf Korsika, wo kommerzieller Landbau<br />

betrieben wird. Landwirtschaft ist eine<br />

Lebensart - genre de vie - die aus der<br />

Landschaft abgelesen werden kann, in<br />

der extensiv bewirtschaftete Felder <strong>und</strong><br />

isoliert gelegene Bauerhäuser die<br />

Schlüsselelemente sind.


322 6 Kulturgeographie<br />

m<br />

I 1<br />

6.7 Wolfgang Hartke (1908-1997) Wolfgang Hartke<br />

etabliert mit seinem Konzept des „Geographie-Machens“<br />

eine Sozialgeographie, die nicht nur beschreibend, sondern<br />

erklärend ist <strong>und</strong> zudem durch die Hinwendung zu menschlichen<br />

Aktivitäten die Beleuchtung von Machtaspekten ermöglicht.<br />

1957). Bobek sieht aber nicht nur den Naturraum,<br />

sondern in enger Verbindung damit den Menschen,<br />

dessen vorherrschende Lebensformen er in den<br />

Hauptstufen der Gesellschafts- <strong>und</strong> Wirtschaftsentfaltung<br />

typisiert. Dabei versucht er, unterschiedliche<br />

Kulturen nach ihrer Nutzung des physischen Lebensraums<br />

in einem zeiträumlichen Koordinatensystem<br />

einzuordnen.<br />

Im Gegensatz zu Bobek prägte der deutsche Geograph<br />

Wolfgang Hartke (Abbildung 6.7) die wissenschaftliche<br />

Geographie durch den Begriff des „Geographie-Machens“.<br />

Er vertritt damit die Verbindung<br />

von Geographie <strong>und</strong> Politik, denn „Geographie betreiben<br />

soll heißen, die Fortsetzung der Politik mit<br />

friedlichen Mitteln zu ermöglichen [...] [<strong>und</strong> die Politik]<br />

befähigen, eine angemessene Geographie zu machen“<br />

(Hartke 1962, zit. in Werlen 2000, 143). Mit<br />

diesem programmatischen Ausspruch wendet sich<br />

Hartke von Bobeks Landschaftswissenschaft ab <strong>und</strong><br />

etabliert die Sozialgeographie als Gesellschaftswissenschaft<br />

(Kapitel 5). Im Zuge dessen verlangt er<br />

die Abwendung vom „Raum“ <strong>und</strong> der „Landschaft“<br />

<strong>und</strong> plädiert für die Hinwendung zu „menschlichen<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> ihren soziokulturellen Hintergründen“<br />

(Bartels 1970, zit. in Werlen 2000,144) als zentrale<br />

Forschungsgegenstände.<br />

Dieser kurze geschichtliche Rückblick zeigt, dass<br />

Geographen sich vordergründig der Erforschung kulturspezifischer<br />

Aspekte widmeten, die von einzelnen<br />

Attributen bis hin zu komplexen Systemen reichen<br />

konnten. Zu den geographisch relevanten einfachen<br />

Aspekten zählte unter anderem das Konzept der speziellen<br />

Merkmale, das solche Charakteristika wie Bekleidungssitten,<br />

Ernährungsgewohnheiten oder architektonische<br />

Traditionen umfasste. Unter einem<br />

kulturellen Merkmal verstand man einen einzelnen<br />

Aspekt der Gesamtheit der alltäglichen Praktiken, die<br />

eine bestimmte kulturelle Gemeinschaft konstituieren.<br />

Die Ernährungsvorschriften der Moslems zum<br />

Beispiel untersagen den Verzehr von Schweinefleisch.<br />

Diese Beschränkung kann als kulturelles Merkmal<br />

dieser Glaubensgemeinschaft angesehen werden. Zudem<br />

verbietet der religiöse Kodex der Moslems die<br />

Darstellung von menschlichen Gesichtern, eine Regel,<br />

die ebenfalls ein kulturelles Merkmal darstellt. Neben<br />

der geographischen Dynamik kultureller Merkmale<br />

wie dem Meiden von Schweinefleisch befasste sich<br />

die Geographie immer auch mit der Kombination<br />

solcher Charakteristika zu komplexeren, lebensbestimmenden<br />

Wertsystemen. Letztlich sind kulturelle<br />

Merkmale nicht unbedingt nur einer einzigen Gruppe<br />

zuzuordnen, <strong>und</strong> ihr Verständnis ist lediglich ein<br />

Aspekt der Komplexität von Kulturen. So gibt es neben<br />

den Moslems auch andere Gemeinschaften (etwa<br />

die luden <strong>und</strong> viele Hindus), die kein Schweinefleisch<br />

essen.<br />

Etliche Kulturen begehen den Übergang von der<br />

Kindheit zum Erwachsenenalter mit einer Feier<br />

oder einer Zeremonie. Diese sogenannten Übergangsriten<br />

sind zeremonielle Akte, Bräuche, Praktiken<br />

oder Verfahren, welche die wichtigsten Einschnitte<br />

des menschlichen Lebens begleiten - die Geburt,<br />

die Menstruation <strong>und</strong> andere Kennzeichen des<br />

Erwachsenenalters wie das Erwachen der Sexualität<br />

oder die Eheschließung. Solche Übergangsriten gibt<br />

es in vielen Kulturen der Erde. In einigen nichtwestlichen<br />

Kulturen werden beispielsweise die jungen<br />

Männer aus dem Dorf fortgeschickt, um eine Mutprobe<br />

zu bestehen, das kann das rituelle Beibringen<br />

von Narben oder eine Beschneidung sein, oder um<br />

in der Abgeschiedenheit über ihre neue Rolle als erwachsene<br />

Männer nachzudenken, die sie nach ihrer<br />

Rückkehr übernehmen werden. Diese Zeit der Isolation<br />

bewirkt bei den jungen Männern eine Veränderung,<br />

sodass sie nach ihrer Rückkehr bereit sind, ihre<br />

Kindheit hinter sich zu lassen <strong>und</strong> typisch kindliche<br />

Eigenschaften abzulegen.<br />

Auch in der christlichen Religion gibt es Übergangsriten<br />

wie die Konfirmation oder die Firmung<br />

(Abbildung 6.8). In der katholischen Kirche wird<br />

bei der Firmung der Kandidat im Beisein eines Paten<br />

oder einer Patin vom Bischof zur Stärkung des Glaubens<br />

gesalbt. Damit wird der Übergang zum erwachsenen<br />

Christen markiert. Ähnlich wie die Christen<br />

begehen auch die Juden das Ende der Kindheit mit<br />

i -


Kultur als geographischer Prozess 323<br />

6.8 Christliche Jugendriten Auch in der<br />

christlichen Religion gibt es Übergangsriten wie<br />

die Konfirmation oder die Firmung. Dabei wird<br />

der Glaube der jungen Menschen gestärkt, <strong>und</strong><br />

sie sollen das Taufbekenntnis nun aus eigenem<br />

Willen bestätigen. So wird der Übergang vom<br />

Kind zum erwachsenen, selbstbestimmten<br />

jungen Christen markiert.<br />

zeremoniellen Handlungen, die allerdings nach Geschlecht<br />

getrennt ablaufen: Die Jungen feiern die<br />

Rar Mizwa, die Mädchen die Bat Mizwa. Wenngleich<br />

beide Religionsgemeinschaften den Übergang in das<br />

Erwachsenenalter zelebrieren, so manifestiert sich<br />

dieses Merkmal in den genannten Gruppen nicht<br />

auf genau gleiche Weise. Tatsächlich tritt es, wie andere<br />

Merkmale auch, stets in Verbindung mit weiteren<br />

Merkmalen auf. Die Kombination von Merkmalen,<br />

die für eine bestimmte Gemeinschaft typisch<br />

sind, wird als kulturelle Komplexität bezeichnet.<br />

So setzt sich die kulturelle Komplexität des Judentums<br />

aus dem Gebot, kein Schweinefleisch zu essen,<br />

der Feier von Bar Mizwas <strong>und</strong> Bat Mizwas sowie anderen<br />

Ernährungsgewohnheiten, religiösen <strong>und</strong> sozialen<br />

Praktiken zusammen. Dabei ist allerdings zu<br />

beachten, dass auch innerhalb des Judentums religiöse<br />

<strong>und</strong> regionale Variationen bestehen.<br />

Ein weiteres Schlüsselkonzept der traditionellen<br />

kulturgeographischen Ansätze ist das der Kulturregion.<br />

Ihre Fläche kann zwar je nach Ansatz erheblich<br />

schwanken oder überhaupt nicht als zusammenhängendes<br />

Gebilde wahrgenommen werden. In jedem<br />

Fall aber ist sie das Gebiet, in dem ein bestimmtes kulturelles<br />

System vorherrscht. Eine Kulturregion ist ein<br />

Raum, in dem spezifische kulturelle Praktiken, Glaubenslehren<br />

oder Werte von der Mehrheit der Bevölkerung<br />

mehr oder weniger befolgt werden.<br />

Der US-B<strong>und</strong>esstaat Utah zum Beispiel gilt als<br />

Kulturregion der Mormonen, denn, wie aus Abbildung<br />

6.9 hervorgeht, besteht die Bevölkerung dieses<br />

Staates vornehmlich aus Angehörigen der mormonischen<br />

Kirche, die ihrer Glaubenslehre anhängen <strong>und</strong><br />

ihr Wertemuster übernehmen. Abbildung 6.9 veranschaulicht<br />

überdies die landesweite räumliche Verbreitung<br />

der in den USA vertretenen Religionen.<br />

Wie die Karte zeigt, leben im Süden der Vereinigten<br />

Staaten zahlreiche Baptisten, während der Westen<br />

<strong>und</strong> Südwesten, insbesondere Kalifornien, Nevada,<br />

Arizona <strong>und</strong> New Mexico, überwiegend römisch-katholisch<br />

geprägt sind. Die hohe Konzentration von<br />

Katholiken im Nordosten <strong>und</strong> in den zentralen Atlantik-Anrainerstaaten<br />

spiegelt die mehrere Jahrzehnte<br />

zurückliegende Einwanderung aus den katholischen<br />

Ländern Europas <strong>und</strong> den Bevölkerungszustrom<br />

aus der Karibik in jüngerer Zeit wider. In den westlichen<br />

<strong>und</strong> südwestlichen Staaten hingegen hat sich<br />

erst in jüngster Zeit eine große Zahl von Immigranten<br />

aus Mexiko <strong>und</strong> anderen Teilen Mittelamerikas niedergelassen.<br />

Die verstreuten Konzentrationen von<br />

lutherischen Protestanten in den nördlichen Staaten<br />

des Mittleren Westens deuten auf Einwanderer aus<br />

den skandinavischen Ländern hin.<br />

Cultural studies<br />

In der heutigen Zeit sind die raumgeb<strong>und</strong>enen Wechselwirkungen<br />

zwischen Kultur <strong>und</strong> globalen politischen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Kräften für die Kulturgeographie<br />

von zentralem Interesse. In jüngster Zeit hat<br />

sich unter dem Einfluss der cultural studies ein neues<br />

Verständnis von Kulturgeographie mit ausgeprägten<br />

theoretischen <strong>und</strong> inhaltlichen Orientierungen an der<br />

Ethnologie <strong>und</strong> Sozialanthropologie entwickelt. Die<br />

so verstandene Kulturgeographie zeichnet sich durch<br />

ihre erhöhte Sensibilität für Fragen der kulturellen<br />

Traditionen <strong>und</strong> Werte aus. Ihre Arbeitsgebiete<br />

sind unter anderem Ethnizität, Kolonialismus <strong>und</strong><br />

Postkolonialismus, wobei die Vorstellung von Kultur<br />

ausgeweitet wird. Neben der klassischen Betrachtung<br />

des Auftretens <strong>und</strong> der Verteilung fremder Kulturen


324 6 Kulturgeographie<br />

FT<br />

/<br />

T'i'<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

0".<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

i<br />

■■-^ T<br />

1 I<br />

Pazifischer<br />

Ozean \<br />

Pazifischer<br />

Ozean 0<br />

3^*<br />

¡<br />

katholisch Kirche 1259<br />

Church of Je s u s C hrist of Latter-day Sa in ts 81<br />

Evan g elical Lutheran C hurch in A m erica 157<br />

Southern B a p tist C onvention 1 222<br />

United M ethodist C hurch 244<br />

______; andere 177<br />

unsicher 1<br />

6.9 Verteilung der religiösen Bevölkerung in den USA nach Kreisen, 2000. Die Karte zeigt die Hauptreligion auf Kreisebene für<br />

die Vereinigten Staaten <strong>und</strong> veranschaulicht das Konzept der Kulturregionen basierend auf der Religion. Wichtig ist sich zu vergegenwärtigen,<br />

dass es bei einer solchen Größenordnung falsch wäre, eine zu große Homogenität in diesen Regionen anzunehmen.<br />

Man geht davon aus, dass es in jeder Kreisgemeinschaft oder Region beträchtliche Unterschiede auf der lokalen Ebene im Glaubenssystem<br />

<strong>und</strong> den religiösen Bräuchen gibt.<br />

H<br />

werfen die cultural studies einen ethnologischen Blick<br />

auf sich selbst: Die europäischen Kulturen in ihren<br />

vielfältigen Ausdrucksweisen, von der Alltagskultur<br />

- beispielsweise cyberculture - bis hin zur Kultur<br />

der Bühne <strong>und</strong> der Museen, tauchen in der wissenschaftlichen<br />

Reflexion auf. Dabei wird die Selbstwahrnehmung<br />

verfremdet, während die Fremdwahrnehmung<br />

an Mysteriösem verliert.<br />

Die heutige Kulturgeographie untersucht, inwieweit<br />

Kultur Raum (space), Ort (place) <strong>und</strong> Umwelt<br />

(landscape) prägt <strong>und</strong> wie diese wiederum ihrerseits<br />

die Kultur formen. Folglich besteht die Kulturgeographie<br />

aus zwei wichtigen, voneinander abgegrenzten<br />

<strong>und</strong> doch miteinander verb<strong>und</strong>enen Elementen. Kultur<br />

ist der ständige Prozess der Erzeugung eines gemeinsamen<br />

Inventars an Bedeutungen, während<br />

Geographie die veränderbare <strong>und</strong> sich immerzu verändernde<br />

Umgebung bezeichnet, in der Gruppen am<br />

Werk sind, diese Bedeutungen zu entwickeln <strong>und</strong> dabei<br />

eine eigene Identität <strong>und</strong> ein eigenes Auftreten<br />

herauszubilden. Nach dieser Definition kann sich<br />

Kulturgeographie auf die Mikroebene des menschlichen<br />

Körpers beschränken, aber auch die Makroebene<br />

der Erde umfassen.<br />

Es besteht ein bedeutender Unterschied zwischen<br />

der hier vertretenen Auffassung <strong>und</strong> der Sichtweise<br />

traditioneller Kulturgeographen. Viele Einführungstexte<br />

in die Kulturgeographie teilen Kultur in die<br />

Volks- <strong>und</strong> die Populärkultur. Unter Volkskultur<br />

verstehen Forscher die traditionellen Praktiken <strong>und</strong><br />

Bräuche kleiner kultureller Gruppen - insbesondere<br />

Gesellschaften, die im ländlichen Raum leben <strong>und</strong><br />

eine einfache Lebensweise haben, wie beispielsweise<br />

die Amischen in Pennsylvania oder die Roma in Eu-


Kultur als geographischer Prozess 325<br />

Die neue Kulturgeographie (new cultural geography)<br />

Die neue Kulturgeographie entwickelte sich seit den 1980er-<br />

Jahren vor allem im englischen <strong>und</strong> französischen Sprach-<br />

raum. Basierend auf den gesellschaftskritischen Ansätzen<br />

der humanistic geography <strong>und</strong> seit den 1990er-Jahren auch<br />

unter dem Einfluss der britischen cultural studies haben<br />

sich mehrere neue Forschungszweige in dieser Richtung entwickelt,<br />

für die Jackson (1989) mit seinen Maps o f Meaning<br />

den theoretischen Gr<strong>und</strong>stein legte. Die Jüngere Entwicklung<br />

steht unter dem Einfluss des Poststrukturalismus <strong>und</strong> hat<br />

nach dem cultural turn nun auch den lingulstic turn der Kulturwissenschaften<br />

nachvollzogen. Eine besondere Bedeutung<br />

kommt dabei der (Stadt-)Landschaft als Text <strong>und</strong> der Semiotik<br />

<strong>und</strong> Ästhetik als Reflexionsbasis zu.<br />

Sahr (2001) unterscheidet sechs Strömungen:<br />

• Eine der Kernfragen der neuen Kulturgeographie ist die<br />

Frage nach der Identität, die sie mit vielen anderen Disziplinen<br />

teilt. Identität wird aus der Perspektive der kulturellen<br />

<strong>und</strong> ethnischen Differenzierung, der regionalen Identität,<br />

des Nationalismus <strong>und</strong> der Rolle des Körpers bei der<br />

Identitätszuschreibung betrachtet. Dabei wird Identität<br />

nicht essenzialistisch, sondern relational <strong>und</strong> dynamisch<br />

verstanden. Besonders thematisiert wird Kultur als Ausdrucksform<br />

für Widerstand, zum Beispiel in der Musik,<br />

Mode <strong>und</strong> in der Repräsentation im öffentlichen Raum.<br />

Auch einige queer studies sind diesem Bereich zuzuordnen,<br />

ebenso wie jüngere Arbeiten der Geschlechterforschung<br />

im Allgemeinen.<br />

• Als neuer Forschungsgegenstand der Geographie wird die<br />

künstlerische Repräsentation im Raum semiotisch, ästhetisch<br />

<strong>und</strong> soziopolitisch untersucht. Jüngste Arbeiten widmen<br />

sich diesen Fragen auch im Cyberspace.<br />

• Unter dem Einfluss der französischen Soziologen, vor allem<br />

Bourdieu (1987, 1991), der Flandlungstheorie <strong>und</strong> des symbolischen<br />

Interaktionismus werden Alltagspraktiken als<br />

kulturelle Ausdrucksformen <strong>und</strong> ihre geographischen Implikationen<br />

studiert.<br />

• Ein weiterer Schwerpunkt der neuen kulturellen Geographie<br />

setzt die Richtung von Cosgrove (1984, 1988) fort <strong>und</strong> widmet<br />

sich der semiotischen Gestaltung von Landschaften<br />

<strong>und</strong> Städten. Besonders interessant erscheinen hier die me-<br />

dialisierten Konsum- <strong>und</strong> Freizeitwelten (Flasse 1997).<br />

• Auch die kritische Auseinandersetzung mit der Konstruktion<br />

von imaginären Geographien, wie sie Said (1981,<br />

1994) am Beispiel des Orients aufgezeigt hat, ist ein Thema<br />

der neuen kulturellen Geographien. Dieser ursprünglich<br />

postkoloniale Zugang wird heute auch für Traumwelten<br />

wie in Filmen <strong>und</strong> in der Werbung gewählt. Hier sind<br />

auch einige feministische Arbeiten angesiedelt.<br />

• Autoren der kritischen Postmoderne wie Harvey (1989,<br />

2000) <strong>und</strong> Soja (1989, 1996, 2000) setzen sich mit dem<br />

Zusammenhang von Kapitalismus, Postmoderne <strong>und</strong><br />

Kultur auseinander <strong>und</strong> schaffen damit neue Einsichten<br />

beispielsweise in der Stadtgeographie. Stärker konflikttheoretisch<br />

orientierte Arbeiten sehen sogar einen cultural<br />

war (Mitchell 2000).<br />

Im deutschen Sprachraum gibt es erst seit kurzem Ansätze in<br />

diese Richtungen (Gebhardt et al. 2003), doch sind viele junge<br />

Geographinnen <strong>und</strong> Geographen an dieser neuen Kulturgeographie<br />

interessiert <strong>und</strong> es finden regelmäßig Konferenzen<br />

des entsprechenden Arbeitskreises der deutschsprachigen<br />

Geographen statt.<br />

D. Wastl-Walter, nach Lexikon der Geographie verändert<br />

ropa - von denen man annimmt, dass sie homogene<br />

.Ansichten <strong>und</strong> Handlungsweisen haben. Im Gegensatz<br />

dazu verstehen einige Kulturgeographen unter<br />

Populärkultur die Praktiken <strong>und</strong> Begriffssysteme,<br />

die von großen Bevölkerungsgruppen ausgeübt <strong>und</strong><br />

vertreten werden <strong>und</strong> innerhalb derer die Ansichten,<br />

Werte <strong>und</strong> Normen sehr unterschiedlich sind <strong>und</strong> die<br />

sich, oft als Reaktion auf die Konsumkultur, verändern.<br />

Die Hip-Hop-Kultur ist so ein Beispiel für<br />

die Fopulärkultur (Exkurs 6.1 „Geographie in Beispielen<br />

- Die Hip-Hop-Kultur“).<br />

Hier soll nicht zwischen Volks- <strong>und</strong> Populärkultur<br />

unterschieden werden, denn wir betrachten Kultur<br />

als einen allumfassenden Vorgang, der durch Politik,<br />

Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft beeinflusst wird <strong>und</strong> wiederum<br />

auf diese zurückwirkt, <strong>und</strong> der nicht klar abgegrenzt<br />

werden kann unter Bezugnahme auf die<br />

Charakteristika oder den Grad der Homogenität derjenigen,<br />

die sie ausüben. Wir verstehen unter Kultur<br />

etwas, das sowohl weiter- als auch neu entstehen<br />

kann, aber das immer beeinflusst wird von einer ganzen<br />

Bandbreite komplexer Beziehungen, bei denen<br />

Gruppen Traditionen <strong>und</strong> Bräuche fortführen, verändern<br />

oder in der täglichen Praxis sogar neu schaffen.<br />

Kultur <strong>und</strong> Globalisierung<br />

Hinzu kommt, dass kulturelle Prozesse im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

vordergründig durch die Globalisierung geprägt<br />

sind, die klar abtrennbare Einheiten von Kultur<br />

aufweicht. Der Soziologe Anthony Giddens (1997)<br />

definiert Globalisierung als die „Intensivierung weltweiter<br />

sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte<br />

in solcher Weise miteinander verb<strong>und</strong>en werden,<br />

dass Ereignisse an einem Ort durch Vorgänge geprägt<br />

werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten<br />

Ort abspielen, <strong>und</strong> umgekehrt“. Immer mehr Ereignisse<br />

werden weltweit gleichzeitig wahrgenommen<br />

<strong>und</strong> mit immer kürzeren Verzögerungen an unter-


326 6 Kulturgeographie<br />

Exkurs 6.1<br />

Geographie in Beispielen - Die Hip-Hop-Kultur<br />

wy-<br />

Hip-Hop ist eine Straßenkultur, die bei Jugendlichen in US-<br />

amerikanischen Städten <strong>und</strong> darüber hinaus ausgesprochen<br />

populär ist. Typische Merkmale von Hip-Hop sind Graffiti,<br />

Breakdance <strong>und</strong> Rap-Musik. Diese kulturellen Praktiken gelten<br />

allgemein als wichtige Möglichkeit für viele Jugendliche <strong>und</strong><br />

junge Erwachsene, ihre Probleme <strong>und</strong> Bedürfnisse zu artikulieren<br />

<strong>und</strong> ihre Geschichten zu erzählen. Weltweit verbindet man<br />

Hip-Hop vor allem mit Rap-Musik, die durch stark rhythmisch<br />

angelegte Klangmuster <strong>und</strong> den gereimten Sprechgesang des<br />

MC (Master of Ceremonies) oder Rappers charakterisiert ist.<br />

Zu den Vorvätern zählen beispielsweise der Boxer Mohammed<br />

Ali, der Jamaikanische Rastafari <strong>und</strong> Reggaemusiker Bob Mar-<br />

ley, das Black-Panther-Mitglied Huey Newton, Straßenpoeten<br />

wie die Last Poets, Radio-DJs der 1940er- <strong>und</strong> 1950er-Jahre<br />

<strong>und</strong> die Funkstars James Brown <strong>und</strong> George Clinton. Frühe<br />

Wurzeln der Rap-Musik liegen in der westafrikanischen Tradition<br />

des Geschichtenerzählens sogenannter griots. Musikalisch<br />

greift ein Hip-Hop-Discjockey (DJ) in der Regel auf bereits<br />

veröffentlichte Musiktitel zurück, die sie neu zusammen mischen<br />

<strong>und</strong> durch verschiedene Klangquellen wie Filmausschnitte,<br />

Telefonate, nachgestellte Straßenszenen oder Töne<br />

aus Computerspielen elektronisch anreichern. Heute ist<br />

Rap-Musik der ökonomisch einträglichste Aspekt von Hip­<br />

Hop, sie erwirtschaftete im Jahr 2004 r<strong>und</strong> 14 Prozent des gesamten<br />

Tonträgerumsatzes in den USA.<br />

Wie viele andere Kulturen hat auch Hip-Hop eine Wiege: die<br />

New Yorker Stadtteile Bronx <strong>und</strong> Harlem während der 1970er-<br />

Jahre. Schon früh ist die Hip-Hop-Kultur über die Grenzen ihrer<br />

Ursprünge hinaus gewachsen <strong>und</strong> wird heute auf allen Kontinenten<br />

produziert <strong>und</strong> konsumiert. Hip-Hop ist mittlerweile<br />

globale Populärkultur, was weniger auf Migrationsprozessen<br />

der Musiker <strong>und</strong> ihrer Fans beruht als vielmehr auf der weltweiten<br />

Verbreitung durch elektronische Massenmedien <strong>und</strong><br />

die ökonomischen Verflechtungen der Unterhaltungsindustrie.<br />

Hip-Hop existiert über geographische Grenzen hinweg in der<br />

Musik, der Kleidung <strong>und</strong> der Sprache seiner Anhänger. In<br />

der New York Times verortet Toure Hip-Hop aus der Sicht eines<br />

Afroamerikaners folgendermaßen: „Ich lebe in einem Land, das<br />

kein Kartograph jemals fassen kann. Ein Ort mit eigener Sprache,<br />

Kultur <strong>und</strong> Geschichte (...) Wir sind eine Kultur ohne genaues<br />

Entstehungsdatum, ohne ein räumlich existierendes<br />

Land, ohne einen einzigen Meinungsführer. Doch wer in der<br />

Hip-Hop-Kultur lebt, wer nicht nur ein Fan der Musik ist, sondern<br />

die Kultur täglich in sich aufnimmt, wer in seine Gespräche<br />

Wendungen wie ’o ff the m eter’ (für etwas wirklich Großartiges)<br />

oder ’got me open’ (für den Auslöser einer positiven<br />

<strong>und</strong> befreienden Gefühlsregung) einstreut, (...) der weiß,<br />

dass die Hip-Hop-Kultur, unsere ’Nation’, so real ist wie Amerika<br />

in einem Atlas aus der Zeit vor Kolumbus (Toure The Hip­<br />

Hop Nation. Who is it? In the End, Black Men Must Lead. In: New<br />

York Times, „Arts and Leisure“ 1999).<br />

Die Protagonisten des US-amerikanischen Hip-Hop sind<br />

hauptsächlich afroamerikanisch <strong>und</strong> männlich, zu den Vorreitern<br />

zählen aber weiße Graffiti-Sprüherinnen ebenso wie hispanische<br />

Breakdancer <strong>und</strong> afroamerikanische DJ’s <strong>und</strong> MC’s.<br />

Viele der Rap-Texte sind explizit sexistisch, schwulenfeindlich<br />

<strong>und</strong> gewaltverherrlichend, sodass eine nur relativ geringe Zahl<br />

von Frauen im Hip-Hop bekannt <strong>und</strong> ökonomisch erfolgreich<br />

ist.<br />

Einzelnen weiblichen Stars gelingt es aber immer<br />

wieder, eigenständige musikalische <strong>und</strong> inhaltliche Akzente<br />

zu setzen <strong>und</strong> sich selbstbewusst als Unternehmerfiguren<br />

zu präsentieren (Abbildung 6.1.1).<br />

6,1.1 Ladies first: Missy Elliott Auch wenn Hip-Hop wie die<br />

meisten anderen Spielarten populärer Kultur durch eine<br />

männliche Dominanz von Kulturschaffenden <strong>und</strong> von Entscheidungsträgern<br />

in der Unterhaltungsindustrie geprägt ist,<br />

gelingt es einzelnen Rapperinnen, sich als eigenständige<br />

Künstlerinnen <strong>und</strong> erfolgreiche Geschäftsleute selbstbewusst<br />

zu positionieren. Missy Elliott aus Virginia ist neben Queen<br />

Latifah aus New Jersey eine der wenigen Künstlerinnen, die<br />

eher spielerisch mit dem vorherrschenden Sexismus im Hip­<br />

Hop umzugehen wissen, indem sie sich beispielsweise der<br />

Herabsetzung ihrer Körper zu Sexobjekt mit Standardmaßen<br />

verweigern. Die Geschäftstüchtigkeit von Missy Elliott bleibt<br />

dabei nicht nur auf ihre Rolle als Rapperin beschränkt, sondern<br />

erstreckt sich auch auf die Musikproduktion für andere<br />

Künstler, kleinere Rollen in Kinofilmen <strong>und</strong> das Entwerfen einer<br />

eigenen Turnschuh- <strong>und</strong> Kleiderkollektion für eine internationale<br />

Sportartikelfirma.


Kultur als geographischer Prozess 327<br />

Betrachtet man die räumliche Herkunft der amerikanischen<br />

Hip-Hop-Musiker, so lassen sich grob drei Hauptzentren unterscheiden;<br />

Die „Ostküste“ umfasst neben New York City auch<br />

Long Island, New Jersey <strong>und</strong> Philadelphia; die „Westküste“<br />

steht für Los Angeles, Compton, Long Beach, Vallejo <strong>und</strong><br />

Oakland; <strong>und</strong> die Region im „Süden“ schließt Atlanta, Houston,<br />

Miami <strong>und</strong> New Orleans ein. ln den vergangenen Jahren sind<br />

vereinzelt Künstler aus dem Mittleren Westen populär geworden,<br />

etwa aus Chicago, Cieveland oder Detroit. Für die verschiedenen<br />

musikalischen Regionen lassen sich charakteristische<br />

Produktionsstile <strong>und</strong> spezifische Genres wie Party<br />

Rap an der Ostküste, G(angsta)-Funk an der Westküste oder<br />

Crunk im Süden identifizieren, die zum Teil an einzelne Studios<br />

oder Plattenfirmen geb<strong>und</strong>en sind. Auch einige DJ’s <strong>und</strong> Produzenten<br />

besitzen einen beträchtlichen sozialen <strong>und</strong> musikalischen<br />

Einfluss, der sich nicht auf ihre lokale Szene beschränkt.<br />

So hat zum Beispiel Afrika Bambaataa, ein ehemaliges<br />

Gang-Mitglied, vor über 30 Jahren die Universal Zulu<br />

Nation ins Leben gerufen. Bambaataa, oder Barn, integrierte<br />

frühere Bandenmitglieder in eine Gemeinschaft, die in Hip-<br />

Hop-Kreisen weltweitzu einem Begriff geworden ist. Einer einschlägigen<br />

Website zufolge gehören der Zulu Nation weltweit<br />

über 10 000 Menschen an, die in zahlreichen lokalen Gruppen<br />

organisiert sind.<br />

Hip-Hop hat sich Jedoch nicht nur über regionale Grenzen<br />

hinaus ausgebreitet, sondern ist heute ein internationales Phänomen.<br />

Wie in vielen anderen westlichen Ländern wurde Hip­<br />

Hop auch in Deutschland während der vergangenen 20 Jahre<br />

populär. Erste sichtbare Einflüsse zeigten sich zu Beginn der<br />

1980er-Jahre, nachdem frühe Hip-Hop-Filme in deutschen Kinos<br />

gezeigt worden waren <strong>und</strong> die Verbindung der „vier ursprünglichen<br />

Elemente“ - MCing, DJing, Breakdance <strong>und</strong> Graffiti<br />

- veranschaulichen konnten. Nach einer kurzen, modischen<br />

Breakdance-Phase Mitte des Jahrzehnts blieb eine kleine<br />

Gruppe interessierter Fans zurück, die sich durch lokale Einflüsse<br />

von in Deutschland stationierten US-Streitkräften sowie<br />

über persönliche Kontakte zu anderen Szenen auch in Europa<br />

<strong>und</strong> den USA ein qualifiziertes kulturelles Wissen erwerben<br />

konnten. Seit Ende der 1980er-Jahre erschienen mit Platten<br />

von Gruppen aus Frankfurt am Main, Berlin <strong>und</strong> Köln erste<br />

deutsche Genreversuche auf Tonträgern. Seither lässt sich<br />

ein stetiger Anstieg der Veröffentlichungen beobachten, zu<br />

neuen Zentren entwickelten sich neben Hamburg <strong>und</strong> Stuttgart<br />

auch kleinere Städte wie Braunschweig, Heidelberg<br />

oder Lüdenscheid. Dortm<strong>und</strong>, München <strong>und</strong> Mainz galten lange<br />

Zeit als die Graffiti-Hochburgen in Westdeutschland.<br />

In der DDR begann mit dem Film Beat Street (1984) das<br />

Interesse an Hip-Hop. In den Folgejahren dienten neben<br />

den illegal empfangenen Sendungen der Fernseh- <strong>und</strong> R<strong>und</strong>funkanstalten<br />

des Westens vor allem familiäre Kontakte in<br />

die B<strong>und</strong>esrepublik als Informationsquellen. Die staatliche<br />

Sportförderung ermöglichte einzelnen semiprofessionellen<br />

Breakdance-Gruppen Auftritte in der ganzen DDR. Die wenigen<br />

musikalischen Hip-Hop-Versuche wurden, ähnlich der Rockmusik,<br />

in den staatlichen Kulturzentren geduldet <strong>und</strong> erlebten<br />

1988/89 mit zwei DDR-weiten Wettbewerben in Dresden<br />

einen Höhepunkt, bevor die Szene 1990 auseinanderbrach<br />

<strong>und</strong> sich nach zaghaften musikalischen Versuchen erst in<br />

der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre langsam erholen konnte.<br />

Die frühe Entwicklung von Rap-Musik in Deutschland lässt<br />

sich interpretieren als der stufenweise Übergang von der Imitation<br />

US-amerikanischer Modelle - zunächst wurde in englischer<br />

Sprache über die Instrumentalversionen der B-Seiten importierter<br />

US-Platten gerappt - über eingedeutschte’Versio-<br />

nen in den späten 1980er- <strong>und</strong> frühen 1990er-Jahren hin zu<br />

hybriden <strong>und</strong> re-ethnifizierten Adaptionen, die stärker auf eigene<br />

musikalische Vorlieben sowie auf die persönlichen Alltagskontexte<br />

der Musiker Bezug nehmen. Heute sind die Texte<br />

überwiegend deutsch, werden Jedoch mit englischen Satzteilen<br />

<strong>und</strong> Slang durchsetzt <strong>und</strong> bleiben weniger provokativ als in<br />

den US-amerikanischen Versionen.<br />

Hip-Hop handelt häufig von der näheren Umgebung oder<br />

der „Nachbarschaft“ der Künstler. Dieser Raum wird von<br />

den Graffiti-Sprühern, Breakdancern <strong>und</strong> Rappern „kontrolliert“<br />

<strong>und</strong> in seiner ganzen Vielfalt in Songs, Musikvideos<br />

<strong>und</strong> Filmen wie zum Beispiel Wild Style (1982), Boyz N The<br />

Hood (1991) oder 8 Mile (2002) geschildert. Die Künstler „repräsentieren“,<br />

sie stehen für einen physischen Ort <strong>und</strong> eine<br />

soziale Gruppe, die zugleich für die Künstler stehen sollen.<br />

Über die Positionierung an spezifischen Orten <strong>und</strong> die Abgrenzungen<br />

gegenüber anderen Orten werden zentrale Werte wie<br />

Respekt, Ansehen <strong>und</strong> Glaubwürdigkeit im Hip-Hop verhandelt<br />

<strong>und</strong> Authentizität immer wieder hergestellt. Die ausdrückliche<br />

Betonung eines räumlichen Bewusstseins <strong>und</strong> eines identitätsstiftenden<br />

Ortsbezugs gilt als eine wichtige Eigenschaft, die<br />

Hip-Hop weltweit von anderen Genres populärer Musik unterscheidet.<br />

Hip-Hop handelt davon, wie Orte <strong>und</strong> Räume die Persönlichkeit<br />

von (in den USA insbesondere afroamerikanischen)<br />

Rappern prägen. Hier kommen Ethnizität, Raum <strong>und</strong> Ort zusammen<br />

<strong>und</strong> schaffen scheinbar gegensätzliche Begriffe von<br />

„Heimat“ . Einerseits ist Heimat das Zuhause, der Herkunftsort<br />

<strong>und</strong> der Ausgangspunkt der eigenen Geschichte <strong>und</strong> Identität.<br />

Andererseits verweist die Herkunft aus dem großstädtischen<br />

Ghetto auf eine „schlechte Herkunft“ im Vergleich zu den besseren<br />

Wohnvierteln der wohlhabenden <strong>und</strong> meist weißen Bevölkerungsmehrheit.<br />

Ein wichtiges Raumbild ist das der<br />

Straße, die im Hip-Hop fast immer im urbanen Kontext auftaucht.<br />

Der musikalische Bezug zur Straße gilt als Beweis<br />

der realness eines Künstlers, hier hat er sich zu bewähren<br />

<strong>und</strong> muss seine Musik legitimieren. Erst wenn die Musik<br />

von der Straße - Rap schöpft häufig aus dem akustischen<br />

<strong>und</strong> visuellen Archiv der Stadt - auf der Straße als Kommunikationsmittel<br />

echter Geschichten funktioniert, sind Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> damit die Voraussetzungen für ökonomischen Erfolg<br />

geschaffen.<br />

Auch in Deutschland gab es von Beginn an Orte, an denen<br />

sich Authentizität im Hip-Hop festmachen konnte. Häufig konzentrierten<br />

sich die Aktivitäten der begeisterten Jugendlichen<br />

zunächst in den lokalen Kulturzentren <strong>und</strong> Jugendhäusern. Hier<br />

war es möglich, gemeinsam Musik zu hören, sich über die Fortschritte<br />

der musikalischen do it yourse/AVersuche auszutauschen<br />

oder eigene Versionen vor einem ersten Publikum aufzuführen.<br />

Insbesondere die Gastarbeiterkinder sahen in Hip­<br />

Hop eine Möglichkeit, sich sowohl der Kultur der Elterngeneration<br />

als auch einer Assimilierung an die deutsche Gesellschaft<br />

zumindest teilweise zu entziehen. Ab etwa 1987 wurden in den<br />

Jugendzentren von Zeit zu Zeit Hip-Hop-Parties, sogenannte<br />

Jams, organisiert, zu denen die aktiven Konsumenten aus


n<br />

328 6 Kulturgeographie<br />

Ml II<br />

1<br />

.1<br />

ipWWlH'i<br />

— Fortsetzung Exkurs 6.1<br />

Reisetätigkeit des Breakers<br />

Storni aus Hamburg {0 )<br />

A 1987 bis 1989<br />

! I<br />

6.1.2 Die Vernetzung<br />

der Alten Schule<br />

Die Reisen des Breakdancers<br />

Storm aus<br />

Hamburg verdeutlichen<br />

exemplarisch die hohe<br />

Mobilität der Hip-Hopbeigeisterten<br />

Jugendlichen<br />

zwischen dem Ende<br />

der 1980er- <strong>und</strong> Mitte der<br />

1990er-Jahre. Auf den<br />

Hip-Hop-jams wurden<br />

Graffiti-Skizzen ausgetauscht,<br />

musikalische <strong>und</strong><br />

tänzerische Freistil-Wettbewerbe<br />

ausgetragen <strong>und</strong><br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Kontakte<br />

geknüpft, die bis<br />

heute ein wichtiges<br />

Rückgrat der Szene in<br />

Deutschland darstellen.<br />

ganz Deutschland <strong>und</strong> den angrenzenden Nachbarländern für<br />

ein Wochenende per Bahn, Bus oder Auto anreisten, um gemeinsam<br />

zu musizieren, zu tanzen <strong>und</strong> zu feiern. Räumliche,<br />

ethnische, soziale <strong>und</strong> sprachliche Herkunft waren dabei<br />

schiedlichen Orten der Welt wirksam. Motoren dieses<br />

Prozesses sind die Eigendynamik der Märkte, neue<br />

Technologien, die den Aufbau globaler Produktionsnetzwerke<br />

<strong>und</strong> die Funktionsfähigkeit der internationalen<br />

Finanzmärkte gewährleisten, <strong>und</strong> schließlich<br />

die Kommunikationsrevolution, die einen Übergang<br />

von der Industrie- zur Wissens- <strong>und</strong> Informationsgesellschaft<br />

einleitet.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist es für die Geographie interessant,<br />

wie sich globale Kulturen lokal auswirken. Die<br />

Globalisierung bildet damit den Ausgangspunkt kulturgeographischer<br />

Betrachtungen. Damit erweitert<br />

sich die Analyse kultureller Systeme wie zum Beispiel<br />

Geographie <strong>und</strong> Religion oder Geographie <strong>und</strong> Sprache<br />

von einer materiellen Deskription hin zur Analyse<br />

globaler Zusammenhänge. Religion <strong>und</strong> Sprache sind<br />

in diesem Falle dann nicht mehr Gr<strong>und</strong>kategorien,<br />

um die Weltbevölkerung einzuteilen, sondern Elemente<br />

von Kultur, die gleichzeitig eingrenzenden<br />

<strong>und</strong> ausgrenzenden Charakter besitzen.<br />

Über weite Strecken des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hinweg<br />

haben Geographie sowie Anthropologie diese weniger<br />

greifbare symbolische oder spirituelle Ebene von Kultur<br />

zugunsten ihrer materiellen Ausprägungen vernachlässigt.<br />

So interessierte sich die Geographie<br />

zwar für die Religion als Studienobjekt, beschränkte<br />

sich aber lange Zeit hauptsächlich auf die Untersuchung<br />

ihrer materiellen Basis. Man hat zum Beispiel<br />

die räumliche Ausdehnung bestimmter religiöser<br />

Praktiken wie die weltweite Verbreitung des Buddhis-


Kultur als geographischer Prozess 329<br />

6.1.3 Hip-Hop-Diskurse in Deutschland Plattencover als Repräsentationen zentraler Koordinaten im deutschen Hip-Hop<br />

der 1990er-Jahre. 1) Schwarz-rot-gold: Sampler/('rat/is With Attitude (IDE/Boombastic 1991); 2) Kiel-Nürnberg-Berlin: das<br />

„türkische“ Projekt Cartel (Mercury 1995); 3) „In vollem Effekt“ - Posing der „Alten Schule“: Advanced Chemistry (MZEE 1992) in<br />

einer Heidelberger fiasse; 4) „Hamburg represent“ —die „Neue Schule“: Technik, Drogen, Spaß <strong>und</strong> Politik: Absolute Beginner<br />

(Buback 1996); 5) Der beste deutsche Rapper ist eine Frau“: Cora E (MZEE 1998).<br />

von untergeordneter Bedeutung. Nach <strong>und</strong> nach verdichteten<br />

sich diese Kontakte zu einem kulturellen Netzwerk der „Alten<br />

Schule“ mit Knoten an verschiedenen Orten innerhalb <strong>und</strong> außerhalb<br />

Deutschlands (Abbildung 6.1.2).<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer Vergrößerung des Absatzmarkts<br />

für Tonträger <strong>und</strong> eines wachsenden nationalen Selbstbewusstseins<br />

nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr<br />

1990 entfalteten sich Diskurse, als deren Ergebnis ein eigenständiges<br />

musikalisches Genre institutionalisiert wurde:<br />

„Deutschrap“ zeichnet sich aus durch die explizite Verwendung<br />

der deutschen Sprache <strong>und</strong> eine prinzipiell kommerzielle<br />

Ausrichtung. Parallel dazu entstand bei den Protagonisten<br />

der „Alten Schule“ einerseits das Gefühl des Ausgeschlossenseins<br />

von musikindustriellen Produktionszusammenhängen.<br />

Andererseits fürchteten sie den Verlust des<br />

Zusammenhalts einer überschaubaren Szene informierter<br />

<strong>und</strong> engagierter Vertreter des ursprünglichen <strong>und</strong> echten<br />

Hip-Hop, der sich an den authentischen Orten der Jugendzentren<br />

formiert hatte.<br />

Die wachsende Popularität <strong>und</strong> Zahl deutschsprachiger<br />

Rapkünstler <strong>und</strong> -Produktionen führte seit Mitte der 1990er-<br />

Jahre zu einer stärkeren Ausdifferenzierung entlang ethnischer<br />

<strong>und</strong> geographischer Linien, was sich beispielsweise an der Betonung<br />

der räumlicher Herkunft ablesen lässt: Stuttgart ist die<br />

„Mutterstadt“, Eimsbush rules (Hamburg-Eimsbüttel) oder das<br />

„derbe, türkische“ Berlin-Kreuzberg bringen eine neue Rapper-<br />

Generation hen/or (Abbildung 6.1.3).<br />

Hinzu tritt ein wachsendes kommerzielles Verwertungsinteresse<br />

der Unterhaltungsindustrie, welche dieser „Neuen<br />

Schule“ die Räume von Studios, Fernsehauftritten <strong>und</strong> Festivalbühnen<br />

des mainstream zuweist. Heute orientiert sich<br />

das musikalisch wie inhaltlich stark ausdifferenzierte Genre<br />

in Deutschland weiterhin stark an räumlichen Grenzziehungen<br />

<strong>und</strong> identitätsstiftenden Ortsbezügen <strong>und</strong> bezieht verstärkt<br />

US-amerikanischen Vorgaben von innerstädtischem<br />

Gangstertum <strong>und</strong> Ghettorhetorik mit ein, die nicht nur in<br />

der „Rap-Hauptstadt“ Berlin als Beweis authentischer Musik<br />

gelten.<br />

Zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts bleibt der Einfluss von Hip­<br />

Hop auf Musik, Sprache, Mode <strong>und</strong> Ästhetik populärer Kultur<br />

enorm, <strong>und</strong> die mit ihm verb<strong>und</strong>enen Praktiken werden bis<br />

weit in das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein fortbestehen <strong>und</strong> sich weiter<br />

über den Globus ausbreiten.<br />

Ch. Mager, Universität Heidelberg<br />

mus ermittelt <strong>und</strong> sich mit religiösen Ausdrucksforinen<br />

befasst, ln gleichem Sinne interessierte sich die<br />

Geographie in kulturgeographischer Tradition für die<br />

räumliche Ausdehnung von Sprachen <strong>und</strong> Sprachgemeinschaften,<br />

beleuchtete jedoch nicht die dahinter<br />

verborgenen Mechanismen wie Sprache als Instrument<br />

der Meinungsbildung. Die Folgen der Globalisierung<br />

wie zum Beispiel „Entankerung“ (Werlen<br />

1997) <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Wunsch nach Wiederverankerung<br />

erfordern, dass die Kategorien Religion<br />

<strong>und</strong> Sprache nicht allein in ihrer Ausbreitung<br />

<strong>und</strong> ihren Ausdrucksformen, sondern hinsichtlich ihrei<br />

Machtmechanismen untersucht werden (Kapitel 5).<br />

Begriffe wie „Weltmusik“ oder „globales Dorf'<br />

spiegeln das Gefühl wider, dass die Welt mit einem<br />

Mal sehr klein geworden ist <strong>und</strong> Menschen durch<br />

den weit verbreiteten Einfluss des Fernsehens <strong>und</strong> anderer<br />

Medien wie Radio oder Internet überall Zugang<br />

zu bestimmten Aspekten derselben kulturellen Vorstellung<br />

haben. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sind die in diesem<br />

Kapitel verwendeten Karten eine Ausgangsbasis <strong>und</strong><br />

dienen der Orientierung. Karten <strong>und</strong> Bilder müssen<br />

jedoch immer vor dem Hintergr<strong>und</strong> betrachtet werden,<br />

dass sie nicht die „reale“ Welt oder Wirklichkeit<br />

abbilden, sondern Modelle der Welt sind <strong>und</strong> damit<br />

auch immer in einem gesellschaftlichen Kontext zu<br />

„lesen“ sind. Durch ihre Darstellung (re)produzieren<br />

sie Wissen <strong>und</strong> Vorstellungen, verräumlichen diese<br />

<strong>und</strong> konstruieren damit selbst Wirklichkeit.


330 6 Kuiturgeographie<br />

Wie in Kapitel 2 ausgeführt wurde, ist die Welt jedoch<br />

trotz der starken vereinheitlichenden Kräfte, die<br />

seit einiger Zeit wirksam sind, nicht so gleichförmig<br />

geworden, dass das lokale Umfeld (place) keine Rolle<br />

mehr spielt. In Bezug auf Kultur ist sogar das Gegenteil<br />

der Fall. Bei der Integration globaler Einflüsse in<br />

die eigenen kulturellen Bräuche <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

hat die geographische Verankerung eine größere Bedeutung<br />

denn je, da lokale Kräfte den Einflüssen von<br />

außen entgegenwirken. Aus diesem Spannungsfeld<br />

entstehen letztlich einzigartige, ortstypische Ausprägungen<br />

der globalen Kultur.<br />

L<br />

Kulturelle Systeme<br />

Das Konzept der kulturellen Systeme ist definiert als<br />

eine Gruppe miteinander in Wechselwirkung stehender<br />

Elemente, die zusammen die Identität einer Gemeinschaft<br />

prägen. Es beinhaltet Merkmale, die territoriale<br />

Zugehörigkeit <strong>und</strong> die gemeinsame Geschichte<br />

sowie andere komplexere Elemente wie<br />

Sprache. Innerhalb eines kulturellen Systems können<br />

bei bestimmten Elementen Abweichungen bestehen,<br />

zugleich aber sorgen übergeordnete Gemeinsamkeiten<br />

für Kohärenz. So vereint etwa das Christentum<br />

die verschiedenen katholischen Kirchen <strong>und</strong> alle protestantischen<br />

Religionen - Lutheraner, Evangelisch-<br />

Reformierte, Anglikaner, Quäker <strong>und</strong> andere mehr<br />

- in sich, obgleich diese sich in ihren Praktiken unterscheiden.<br />

Während in Mexiko, Bolivien, Kuba <strong>und</strong><br />

Chile Variationen bezüglich der Aussprache, der<br />

Tonhöhe, der Betonung <strong>und</strong> anderer Aspekte der<br />

Sprechweise bestehen, so wird doch überall Spanisch<br />

gesprochen. Die Menschen teilen ein Hauptelement<br />

eines kulturellen Systems, das in diesem Falle auch<br />

den römisch-katholischen Glauben <strong>und</strong> das koloniale<br />

Erbe der Spanier beinhaltet.<br />

, Geographie <strong>und</strong> Religion<br />

Der Großteil der Weltbevölkerung gehört kulturellen<br />

Systemen an, zu deren Hauptkomponenten die jeweilige<br />

Sprache <strong>und</strong> Religion zählen. Religion lässt sich<br />

definieren als Glaubenssystem <strong>und</strong> Kombination von<br />

Praktiken, welche die Existenz einer höheren Macht<br />

annehmen. Zwar verlieren die Kirchen in einigen<br />

zentralen Regionen der Welt an Mitgliedern, doch<br />

prägen Religionen nach wie vor das tägliche Leben,<br />

in den Industrieländern ebenso wie in den peripheren<br />

Gebieten. Ihr Einfluss reicht von Essgewohnheiten<br />

<strong>und</strong> Bekleidungsvorschriften bis hin zu Volljährigkeitsriten<br />

<strong>und</strong> Sterbezeremonien. Ebenso wie sich<br />

Sprache wandelt, ändern sich auch religiöse Glaubensvorstellungen<br />

<strong>und</strong> Praktiken mit der Formulierung<br />

neuer Interpretationen <strong>und</strong> der Übernahme aktueller<br />

spiritueller Einflüsse. Religiöser Wandel basiert<br />

vor allem auf der Bekehrung von Menschen<br />

<strong>und</strong> der sich daraus ergebenden Ersetzung eines<br />

Glaubenssystems durch ein anderes.<br />

Die im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert einsetzenden großräumigen<br />

Verflechtungen gingen stets auch mit missionarischer<br />

Tätigkeit - der Verbreitung des Glaubens <strong>und</strong><br />

der Bekehrung von „Heiden“ - einher. In den 500<br />

fahren seit den Entdeckungsreisen haben überall<br />

auf der Welt Bekehrungsaktivitäten jeglicher Provenienz<br />

um sich gegriffen. Seit dem fahre 1492 haben<br />

sich die traditionellen Religionen infolge Missionsarbeit<br />

<strong>und</strong> Bekehrungen, aber auch Diaspora <strong>und</strong><br />

Emigration in enormem Umfang über ihre angestammten<br />

Herkunftsgebiete hinaus ausgebreitet.<br />

Während Missionierung <strong>und</strong> Bekehrung bewusste<br />

Versuche sind, die religiösen Ansichten einer Person<br />

oder eines Volkes zu ändern, sind Diaspora <strong>und</strong><br />

Emigration mit der unfreiwilligen beziehungsweise<br />

freiwilligen Umsiedlung von Menschen verb<strong>und</strong>en,<br />

die ihren Glauben <strong>und</strong> ihre religiösen Praktiken in<br />

ihre neue Heimat mitbringen.<br />

Diaspora ist die räumliche Zersplitterung einer<br />

homogenen Gruppe. Dieselben Prozesse des globalen<br />

politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Wandels, die in den<br />

letzten 500 fahren riesige Migrationsbewegungen<br />

auslösten, hatten auch die Verdrängung der vielen<br />

auf der Welt existierenden Religionen aus ihren traditionellen<br />

Geltungsbereichen <strong>und</strong> deren Ausbreitung<br />

zur Folge. Bei den religiösen Praktiken hat<br />

eine so große räumliche Durchmischung stattgef<strong>und</strong>en,<br />

dass es ein schwieriges Unterfangen ist, eine<br />

Übersichtskarte über die gegenwärtige globale Verbreitung<br />

der bestehenden Religionen zu erstellen,<br />

die eher für Klarheit als für Verwirrung sorgt. Angesichts<br />

der großen Variationsbreite unterschiedlicher<br />

Glaubensformen innerhalb <strong>und</strong> zwischen den einzelnen<br />

Religionen ist die weltweite Darstellung zu grob.<br />

Abbildung 6.10 zeigt die heutige Verbreitung der aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer besonders großen Zahl von Anhängern so<br />

bezeichneten Weltreligionen. Wie andere globale<br />

Karten ist auch diese insofern nützlich, als sie einen<br />

großräumigen Überblick verschafft.<br />

Abbildung 6.11 weist die Ursprungsregionen von<br />

vier der Weltreligionen aus <strong>und</strong> illustriert, wie sie<br />

sich ausgehend von diesen Gebieten im Laufe der<br />

Zeit über den ganzen Erdball verbreitet haben. Wie


Kulturelle Systeme 331<br />

6.10 Globale Verteilung der Weltreligionen Die Karte zeigt einen generalisierten Überblick über die Weltreligionen. Der größte<br />

Teil der Erdbevölkerung gehört einer der hier verzeichneten Religionen an. Die lokalen Abweichungen in der Religionsausübung<br />

fanden in dieser Karte allerdings keine Berücksichtigung, ebenso wenig die vielen anderen Religionen dieser Welt. (Quelle: Kartenprojektion:<br />

Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung Dymaxion <strong>und</strong> das<br />

Fuller Projection Dymaxion^’^ Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara,<br />

CA© 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

die Karte zeigt, sind die Weltreligionen in lediglich<br />

zwei relativ kleinen Gebieten entstanden. Die erste<br />

Region, die Wiege des Hinduismus <strong>und</strong> Buddhismus<br />

sowie der Religion der Sikh, befindet sich in einer von<br />

den Flüssen Indus <strong>und</strong> Ganges durchflossenen Tiefebene<br />

(Punjab) auf dem indischen Subkontinent. Das<br />

zweite Gebiet, der Ursprungsort des Christentums<br />

<strong>und</strong> des Islam sowie des Judentums, liegt in den Wüsten<br />

des Vorderen Orients.<br />

Von den vier Weltreligionen ist der Hinduismus<br />

die älteste. Er entstand bei den Völkern der Indus-<br />

Ganges-Ebene vor etwa 4 000 Jahren. Aus dem Hinduismus<br />

entwickelten sich die beiden Reformreligionen<br />

Buddhismus <strong>und</strong> Sikhismus, wobei der Buddhismus<br />

erstmals um ungefähr 500 v. Chr. in Erscheinung<br />

trat <strong>und</strong> sich der Sikhismus im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert herausbildete.<br />

Es ist nicht überraschend, dass diese<br />

neuen Religionen ausgerechnet aus dem Hinduismus<br />

entstanden <strong>und</strong> von ihm geformt wurden, denn Indien<br />

war lange Zeit ein wichtiger Begegnungsort der<br />

Kulturen. Daher breiteten sich in Indien beheimatete<br />

Vorstellungen <strong>und</strong> Praktiken rasch aus, während zugleich<br />

andere Vorstellungen <strong>und</strong> Praktiken aus weit<br />

entfernten Ländern nach Indien mitgebracht wurden<br />

<strong>und</strong> dort an die lokalen Bedürfnisse <strong>und</strong> Werte angeglichen<br />

<strong>und</strong> integriert wurden.<br />

Der Buddhismus entwickelte sich als eine Spielart<br />

des Hinduismus in einem Gebiet unweit des Punjab.<br />

In seinen Anfängen war die Zahl der um den Prinzen<br />

Gautama, den Begründer der Religion, gescharten<br />

Anhänger sehr klein <strong>und</strong> auf den Norden Indiens begrenzt.<br />

Langsam aber stetig breitete sich indes der<br />

Buddhismus in Teilen außerhalb des indischen Subkontinents<br />

aus (Abbildung 6.12); Missionare <strong>und</strong><br />

Händler trugen ihn nach China (100 v. Chr. bis<br />

200 n. Chr.), Korea <strong>und</strong> Japan (300 bis 500 n.<br />

Chr.), Südostasien (400 bis 600 n. Chr.), Tibet<br />

(700 n. Chr.) <strong>und</strong> in die Mongolei (1500 n. Chr.).<br />

Es überrascht nicht, dass sich im Zuge der Ausbreitung<br />

des Buddhismus zahlreiche regionale Formen<br />

herausbildeten, die wenig miteinander gemein haben.<br />

So unterscheidet sich der tibetische Buddhismus<br />

deutlich von der japanischen Ausprägung dieser Religion.


332 6 Kulturgeographie<br />

6.11 Entstehungsgebiete<br />

<strong>und</strong> Verbreitung<br />

der vier Weltreligionen<br />

Die Weltreligionen sind<br />

in einer relativ kleinen<br />

Region entstanden.<br />

Juden- <strong>und</strong> Christentum<br />

stammen aus dem Gebiet<br />

des heutigen Israel<br />

<strong>und</strong> Jordanien, der Islam<br />

entwickelte sich in<br />

Westarabien. Die Wiege<br />

des Buddhismus ist<br />

Indien, der Hinduismus<br />

bildete sich in der<br />

Indusregion im heutigen<br />

Pakistan heraus. Die<br />

Ursprungsgebiete der<br />

Weltreligionen sind auch<br />

die Geburtsregionen des<br />

Ackerbaus, des städtischen<br />

Lebens <strong>und</strong><br />

weiterer Meilensteine<br />

der menschlichen<br />

Entwicklung.<br />

Die Wiege des Christentums, des Islam <strong>und</strong> des<br />

Judentums stand bei den semitischsprachigen Völkern<br />

in den Wüsten des Vorderen Orients. Wie die<br />

Religionen aus dem Indus-Ganges-Gebiet sind auch<br />

diese drei Glaubensrichtungen miteinander verwandt.<br />

Das Judentum ist die älteste, aber am wenigsten<br />

verbreitete Religion. Es entstand vor r<strong>und</strong> 4 000<br />

Jahren, während das Christentum etwa 2 000 <strong>und</strong> der<br />

Islam ungefähr 1 300 Jahre alt sind. Ihre Wurzeln liegen<br />

in den Kulturen <strong>und</strong> Glaubensvorstellungen der<br />

Bronzezeit. Das Judentum war die erste monotheistische<br />

- dem Glauben an einen einzigen Gott verpflichtete<br />

- Religion. Trotz seiner frühen Entwicklung <strong>und</strong><br />

seiner weiten <strong>und</strong> schnellen Verbreitung hat das Judentum<br />

vergleichsweise wenige Anhänger, da es keine<br />

Andersgläubigen zu bekehren sucht. Das Christentum<br />

entstand im Kreise der Jünger Jesu, die ihren<br />

Führer als den von den Juden erwarteten Messias<br />

priesen. Als sich das christliche Glaubensgebiet<br />

nach Osten <strong>und</strong> Süden ausdehnte, wurde die Verbreitung<br />

des Christentums durch missionarische Bemühungen<br />

<strong>und</strong> Eroberungszüge seitens weltlicher Herrscher<br />

(Kreuzzüge) unterstützt. Abbildung 6.11 illustriert<br />

die Ausbreitung der christlichen Religion in<br />

Europa. Auf den Islam soll zwar erst an späterer Stelle<br />

in diesem Kapitel eingegangen werden, doch sei hier<br />

die wichtige Anmerkung vorweggenommen, dass der<br />

Islam wie auch das Christentum jahrh<strong>und</strong>ertelang<br />

über den Weg der oft gewaltsamen Bekehrung verbreitet<br />

wurden, unter anderem mit dem Ziel der Erlangung<br />

<strong>und</strong> Sicherung politischer Kontrolle.<br />

Ein Beispiel, das die globalen Kräfte hinter der sich<br />

verändernden geographischen Verbreitung der Religionen<br />

hervorragend veranschaulicht, ist die Begegnung<br />

zwischen Kolumbus <strong>und</strong> den Bewohnern der<br />

Neuen Welt. Bevor Kolumbus <strong>und</strong> spätere europäische<br />

Seefahrer den amerikanischen Doppelkontinent<br />

erreichten, praktizierte der überwiegende Teil der<br />

Eingeborenen diverse Formen des animistischen<br />

Glaubens <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>ene Rituale. Die Ureinwohner<br />

hatten eine holistische (ganzheitliche) Weitsicht;<br />

sie sahen sich als lediglich ein Teil der belebten<br />

<strong>und</strong> der unbelebten Natur. Religiöse Rituale <strong>und</strong> Talismane<br />

begleiteten sie in ihrem alltäglichen Leben<br />

ebenso wie in den extremeren Situationen des Krieges<br />

<strong>und</strong> Kampfes. Ihr Zauber sollte sie leiten <strong>und</strong> ihnen


die Große Mauer zur Zeit der nördlichen Wei-Dynastie<br />

Seidenstraße<br />

sonstige bedeutende Handelswege<br />

Ausbreitung des Buddhismus<br />

buddhistische Höhlentempel. Die Daten bezeichnen<br />

die ungefähre Zeit ihrer ersten Nutzung<br />

Landesgrenzen des heutigen China<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

6.12 Ausbreitung des Buddhismus Die Karte zeigt die Expansion des Buddhismus von seinem Ursprungsgebiet in Indien<br />

zunächst nach China, <strong>und</strong> später von China aus nach Korea <strong>und</strong> Japan. Die Ausbreitung der Religion von Indien nach China<br />

erfolgte weitgehend entlang der damaligen Handelswege wie der Seidenstraße. Missionare trugen den Buddhismus dann weiter<br />

nach Korea <strong>und</strong> Japan. (Quelie: Schirokauer, C. A Brief History o f Chinese and Japanese Civilizations, 2. Auflage. Florence, K.Y.<br />

(Wadsworth) 2005.)<br />

filück bringen. Ein bedeutsamer Aspekt des in der<br />

Zeit der Begegnung mit den Europäern bestehenden<br />

Glaubenssystems der amerikanischen Ureinwohner<br />

ist der Schamanismus, die Vorstellung, dass spirituell<br />

begabte Menschen die Macht zur Kontrolle übernatürlicher<br />

Kräfte besitzen. Der Kontakt der Europäer<br />

mit den Bewohnern der Neuen Welt ging von Anfang<br />

an mit Missionierungsbestrebungen einher, mit dem<br />

\'ersLich also, die Glaubenssysteme der eingeborenen<br />

\'ölker dahingehend zu ändern, dass sie die „eine,<br />

wahre Religion“ auch als die ihre annahmen. Religion<br />

war insbesondere für die spanischen Kolonisten ein<br />

wichtiges Mittel zur Eingliederung der Ureinwohner<br />

in das Feudalsystem ihres Landes.<br />

Der vielleicht interessanteste Aspekt der gegenwärtigen<br />

geographischen Verbreitung von Religionen besteht<br />

darin, dass in der Zeit der Kolonisation eine Bewegung<br />

der Missionierungsaktivitäten <strong>und</strong> Bekehrungen<br />

vom Zentrum in die Peripherie stattfand,<br />

während heute, in der postkolonialen Ära, immer<br />

häufiger das Gegenteil der Fall ist. Die in den USA<br />

gegenwärtig am schnellsten wachsende Religion ist<br />

der Islam, <strong>und</strong> der Buddhismus gewinnt gerade in<br />

den Ländern der westlichen Welt die meisten Anhänger<br />

hinzu. Papst Johannes Paul II. war der am weitesten<br />

gereiste Pontifex in der Geschichte der katholischen<br />

Kirche. Gleiches lässt sich auch über das Oberhaupt<br />

der tibetischen Buddhisten, den Dalai Lama<br />

(Abbildung 6.13), sagen, der im Namen des Buddhismus<br />

unermüdlich in der Welt unterwegs ist. Während<br />

der Papst vor allem bestrebt ist, die Mitglieder<br />

seiner Kirche zu halten <strong>und</strong> ihre Abwanderung zu anderen<br />

Religionen wie der evangelikalen Bewegung in<br />

den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> in Lateinamerika zu verhindern,<br />

wirbt der Dalai Lama für den Buddhismus,<br />

indem er die Botschaft seiner Religion an neue Orte,<br />

besonders in die westlichen Industriestaaten trägt.<br />

Aber auch heute noch kommen Missionare aus<br />

dem Zentrum in die Peripherie.


334 6 Kulturgeographie<br />

6.13 Der Dalai Lama Die Weigerung Chinas, ein unabhängiges<br />

Tibet anzuerkennen, veranlasste den Dalai Lama, auf<br />

zahlreichen internationalen Reisen die Not des tibetischen<br />

Volkes, das extreme Unterdrückung erleiden muss, in der Welt<br />

bekannt zu machen. Gegenüber den Lehren des Christentums<br />

<strong>und</strong> des Judentums gewinnt der Buddhismus in westlichen<br />

Ländern zunehmend an Popularität. In der Öffentlichkeit stehende<br />

Personen, die sich wie der amerikanische Schauspieler<br />

Richard Gere zum Buddhismus bekennen, haben dazu nicht<br />

unwesentlich beigetragen.<br />

Eine weitere Folge der Globalisierung der Religion<br />

ist die Bekehrung durch elektronische Medien. Die<br />

Zunahme von Fernsehpredigten (Televangelismus)<br />

führte insbesondere in den Vereinigten Staaten<br />

dazu, dass sich die Zahl der christlichen F<strong>und</strong>amentalisten<br />

deutlich vergrößert hat. Der populäre Ausdruck<br />

„christlicher F<strong>und</strong>amentalismus“ bedeutet,<br />

dass Gläubige die christlichen Glaubenslehren strikt<br />

einhalten <strong>und</strong> die Bibel wortwörtlich auslegen. Die<br />

Bezeichnung „F<strong>und</strong>amentalismus“ kam im späten<br />

19. <strong>und</strong> frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert im Zuge der transkonfessionellen<br />

protestantischen Bewegung auf, die<br />

sich gegen eine zeitgemäße Anpassung der christlichen<br />

Glaubenssätze <strong>und</strong> gegen die darwinistischen<br />

Theorien von der Entstehung der Erde wandte. Die<br />

Bewegung hatte ihren Ursprung in einer Reihe von<br />

Flugblättern, die unter dem Titel „Die F<strong>und</strong>amentalen:<br />

Ein Zeugnis der Wahrheit“ zwischen 1910 <strong>und</strong><br />

1915 erschienen.<br />

Bei der traditionellen f<strong>und</strong>amentalistischen Erweckungsbewegung<br />

ermutigten Wanderprediger<br />

ihre Zuhörer dazu, an die Vergebung ihrer Sünden<br />

durch den Glauben an Jesus Christus zu glauben<br />

<strong>und</strong> sich in geistlicher Selbstdisziplin <strong>und</strong> religiösen<br />

Aktivitäten wie Gebet, Bibellektüre <strong>und</strong> Besuch von<br />

Gottesdiensten zu üben. Als sich immer weniger<br />

Gläubige zur Erweckungsbewegung bekannten,<br />

kam der Televangelismus auf, was in den USA durch<br />

die massenhafte Verbreitung von Fernsehgeräten in<br />

den 1950er-Jahren begünstigt wurde. Anfang der<br />

1990er-Jahre erlitt er allerdings eine empfindliche<br />

Schlappe, als bekannt wurde, dass f<strong>und</strong>amentalistische<br />

TV-Pfarrer wie James Baaker <strong>und</strong> andere in<br />

einen Korruptionsskandal verwickelt waren. Daraufhin<br />

waren zahlreiche Anhänger in ihrem Glauben<br />

derart erschüttert, dass sie zum traditionellen Gottesdienst<br />

zurückkehrten. Während der Televangelismus<br />

in abgeschwächter Form weiterlebt, erstarkt der auf<br />

die traditionelle Kirche gegründete christliche F<strong>und</strong>amentalismus,<br />

dessen vVnhänger in den USA <strong>und</strong> anderswo<br />

zunehmend politischen Einfluss gewinnen<br />

(Abbildung 6.14).<br />

6.14 Politik der religiösen Rechten.<br />

Die religiösen Rechten sind eine starke<br />

politische Kraft in den Vereinigten Staaten,<br />

<strong>und</strong> ihre Bedeutung wächst auch<br />

in anderen Länder. Abgebildet sind hier<br />

eine Mutter <strong>und</strong> ihre Tochter, welche<br />

den Triumph von Angeklagten aus der<br />

Vereinigung „Repent America“ („Reuiges<br />

Amerika“) vor einem Gericht in Philadelphia<br />

zu Beginn des Jahres 2005 feiern.<br />

Ein Stadtrichter hatte die Klage gegen vier<br />

Mitglieder der konservativ-christlichen<br />

Vereinigung abgewiesen, die im Frühjahr<br />

2004 verhaftet worden waren, als sie<br />

auf einem Straßenfest für Schwule <strong>und</strong><br />

Lesben Streikposten errichtet hatten.<br />

Die Novellierung des Rechts auf homosexuelle<br />

Ehen war ein wichtiger Aspekt<br />

bei der Präsidentschaftswahl 2004.


Kulturelle Systeme 335<br />

Geographie <strong>und</strong> Sprache<br />

Für die Geographie sind neben den Religionen auch<br />

andere Aspekte kultureller Systeme von wissenschaftlichem<br />

Interesse, wie etwa die Sprachen. Als ein zentraler<br />

Bestandteil der kulturellen Identität bilden sie<br />

einen wichtigen Untersuchungsschwerpunkt. Ohne<br />

Sprache wäre es nicht möglich, die kulturellen Leistungen<br />

von einer Generation an die nächste weiterzugeben.<br />

Die Verbreitung <strong>und</strong> Ausbreitung von Sprachen<br />

sagt viel über die wechselvolle Geschichte des<br />

Menschen <strong>und</strong> die kulturellen Auswirkungen der<br />

Globalisierung aus (Exkurs 6.2 „Geographie in Beispielen<br />

- Sprache <strong>und</strong> Ethnizität in Afrika“).<br />

Sprache ist Ausdrucks- <strong>und</strong> Kommunikationsmittel<br />

zur Vermittlung von Ideen oder Gefühlen anhand<br />

eines konventionalisierten Systems von Zeichen, Gesten<br />

oder stimmlich artikulierten Lauten. Kommunikation<br />

basiert auf Symbolen, auf allgemein verstandenen<br />

Bedeutungen von Zeichen <strong>und</strong> Lauten. Innerhalb<br />

der Standardsprachen, die auch als Amtssprachen bezeichnet<br />

werden, da sie von staatlichen Einrichtungen<br />

wie Schulen oder Gerichten gepflegt werden, gibt es<br />

regionale Varietäten, die Dialekte. Dialekte entstehen<br />

<strong>und</strong> heben sich voneinander ab durch räumlich zuordenbare<br />

Unterschiede der Aussprache, der<br />

Grammatik <strong>und</strong> des Wortschatzes.<br />

Sprachen lassen sich klassifizieren, indem man sie<br />

in Familien, Zweige <strong>und</strong> Gruppen unterteilt. Eine<br />

Sprachfamilie ist eine Gruppe verwandter Sprachen,<br />

von denen man annimmt, dass sie auf einen gemeinsamen<br />

prähistorischen Ursprung zurückgehen. Etwa<br />

die Hälfte der Weltbevölkerung spricht eine Sprache,<br />

die der indoeuropäischen Sprachfamilie zugerechnet<br />

wird. Als Sprachzweig bezeichnet man eine Gruppe<br />

von Sprachen, die einen eindeutig bestimmbaren gemeinsamen<br />

Ursprung besitzen, sich dann aber getrennt<br />

entwickelt haben. Unter einer Sprachgruppe<br />

versteht man eine Klasse von Sprachen, die Teil eines<br />

Sprachzweiges sind <strong>und</strong> sich in der jüngeren Vergangenheit<br />

aus einer gemeinsamen Wurzel entwickelt<br />

haben. In Grammatik <strong>und</strong> Vokabular sind sie sich daher<br />

relativ ähnlich. Spanisch, Französisch, Portugiesisch,<br />

Italienisch, Rumänisch <strong>und</strong> Katalanisch bilden<br />

eine solche Sprachgruppe; sie gehören zum romani-<br />

6.15 Globale Verbreitung der wichtigsten Sprachen <strong>und</strong> Sprachfamilien Durch die Einteilung der Sprachen in Familien <strong>und</strong> ihre<br />

kartographische Darstellung gelangt man zu humangeographischen Erkenntnissen. So können sich beispielsweise interessante<br />

kulturelle Verbindungen zwischen scheinbar unterschiedlichen, räumlich <strong>und</strong> zeitlich weit auseinander liegenden Kulturen ergeben.<br />

Zudem lassen sich Schlüsse hinsichtlich großräumiger Migrationen über lange Zeitspannen hinweg ziehen. (Quellen: Nach Bergman,<br />

E. F. Human Geography: Cultures, Connections, and Landscapes. Westliche Hemisphäre: nach Greenberg, J.H. Language in the<br />

Americas. 1987. Östliche Hemisphäre: nach Crystal, D. Encyclopedia o f Language.)


336 6 Kulturgeographie<br />

Exkurs 6.2<br />

Geographie in Beispielen - Sprache <strong>und</strong> Ethnizität in Afrika<br />

Die geographische Verbreitung der Sprachen in Afrika ist äuß­<br />

charakteristischen Schnalzlauten, die unter den gleichnami­<br />

erst vielfältig: Es gibt über 800 verschiedene lebende Spra­<br />

gen Völkern im südlichen Afrika verbreitet sind.<br />

chen, von denen 40 größere von jeweils mehr als 1 Million<br />

Die Mannigfaltigkeit der Sprachen <strong>und</strong> Dialekte spiegelt<br />

Menschen gesprochen werden (Abbildung 6.2.1). Hausa (Sa-<br />

auch die Vielfalt der kulturellen <strong>und</strong> ethnischen Gruppen Afri­<br />

hel), Ungala {Zentralafrika), Suaheli (Ostafrika), Setswana-So-<br />

kas wider, die oft von einem Häuptling oder mitunter auch von<br />

'<br />

I<br />

I (<br />

tho <strong>und</strong> isiZulu (vereinfacht auch Zulu genannt, südliches Afrika)<br />

sind die häufigsten Sprachen, die insgesamt über 10 Millionen<br />

Menschen sprechen. Hausa <strong>und</strong> Suaheli sind Handelssprachen,<br />

die als zweite Fremdsprachen von vielen Völkern gesprochen<br />

werden, um den Warenaustausch zu erleichtern. Die ehemaligen<br />

Kolonialsprachen Englisch, Französisch, Portugiesisch<br />

<strong>und</strong> Niederländisch (Afrikaans) werden noch in vielen Regionen<br />

gesprochen, in denen der koloniale Einfluss besonders lange<br />

andauerte, in der Kolonialzeit errichtete Bildungssysteme<br />

fortbestehen oder der Anteil der weißen Bevölkerung besonders<br />

hoch ist. Arabisch ist in den nördlichen Ländern des afrikanischen<br />

Kontinents weit verbreitet <strong>und</strong> hatte einen großen<br />

Einfluss auf das entlang der afrikanischen Ostküste gesprochene<br />

Suaheli. Da es in den meisten Ländern keine dominierende<br />

einheimische Sprache gibt, ist meistens eine europäische<br />

Sprache die Handels- <strong>und</strong> Amtssprache. In Somalia<br />

(Somali), Botswana (Setswana) <strong>und</strong> Äthiopien (Amharisch)<br />

sind das Staatsgebiet <strong>und</strong> die vorherrschende afrikanische<br />

Sprache am ehesten identisch.<br />

Die einheimischen Sprachen werden in vier anerkannte<br />

Sprachfamilien eingeteilt: Die afroasiatischen Sprachen in<br />

Nordafrika, zu denen Somali, Amharisch <strong>und</strong> Tamascheq<br />

(die Sprache der Tuareg) zählen, die nilosaharanischen Sprachen<br />

mit Dinka, Turkana <strong>und</strong> Nuer in Ostafrika <strong>und</strong> die am weitesten<br />

verbreitete Gruppe der Niger-Kongo-Sprachen, zu denen<br />

Hausa, Yoruba, Zulu, Suaheli <strong>und</strong> Kikuyu gehören. Eine<br />

weitere, kleine Familie bilden die Khoisan-Sprachen mit ihren<br />

einem König oder einer Königin als Monarchien geführt werden.<br />

Die größten ethnischen Gruppen Afrikas sind an einige<br />

der vorherrschenden Sprachen wie Hausa, Yoruba <strong>und</strong> Zulu<br />

geb<strong>und</strong>en, aber fast alle Gruppen, egal ob groß oder klein,<br />

sind durch die alte koloniale Staatenbildung geographisch zersplittert<br />

oder mit benachbarten, oft völlig unähnlichen Gruppen<br />

zusammengefasst worden.<br />

Versuche, ethnische Gruppen länderübergreifend zusammenzuführen<br />

sowie Machtkämpfe zwischen einzelnen Gruppen<br />

eines Land sind die Hauptursachen für aktuelle Konflikte<br />

in Afrika. Beispielsweise führten Spannungen zwischen den ¡bo<br />

<strong>und</strong> den Yoruba in Nigeria zu einem Bürgerkrieg, dem so<br />

genannten Biafra-Krieg von 1967 bis 1970, als die Ibo ihre Unabhängigkeit<br />

von Nigeria erklärten <strong>und</strong> versuchten, einen eigenen<br />

Staat zu gründen, der als Republik Biafra nur wenige Jahre<br />

bestand. Nicht nur die gravierende Hungersnot in Biafra, sondern<br />

auch die lukrativen Erdölvorräte in der Region machten<br />

während des Krieges ein internationales Eingreifen notwendig.<br />

Im Biafra-Krieg kamen etwa 2 Millionen Menschen ums Leben,<br />

vor allem durch Hunger <strong>und</strong> Krankheiten. Auch nach der Wiedervereinigung<br />

bestehen noch heute ethnische Ressentiments<br />

in Nigeria. Weitere gewalttätige Stammesrivalitäten finden in<br />

Kenia zwischen den Kikuyu, der dominierenden Ethnie, <strong>und</strong><br />

anderen Gruppen statt. Hier haben sich je nach Volkszugehörigkeit<br />

oppositionelle Parteien gebildet, die angesichts<br />

korrupter Wahlen <strong>und</strong> einer einseitigen Ausrichtung auf die<br />

Belange der Kikuyu mit Gewalt drohen.<br />

- i<br />

sehen Zweig, der wiederum Teil der indoeuropäischen<br />

Sprachfamilie ist.<br />

Die traditionellen geographischen Ansätze befassten<br />

sich mit der Ermittlung der Herkunftsgebiete der<br />

einzelnen Sprachen der Welt <strong>und</strong> den Diffusionsmustern<br />

dieser Sprachen. Carl Sauer bezeichnete<br />

den Ursprungsort bestimmter kultureller Gepflogenheiten<br />

als cultural hearth (wörtlich: „kultureller<br />

Herd“). Kulturelle Entstehungsgebiete sind die geographischen<br />

Ursprünge oder Quellen von Innovationen,<br />

Ideen oder Ideologien. Von ihrem Ursprungsort<br />

aus werden die Sprachen immer weiter verbreitetet,<br />

bis die sprachliche Landkarte der Erde das heutige<br />

Muster ergab (Abbildung 6.15).<br />

Die Abbildung 6.16 zeigt die Sprachen Indiens, ln<br />

Indien werden laut der letzten Volkszählung über<br />

1 600 Sprachen gesprochen, die in 200 Gruppen miteinander<br />

verwandter Sprachen untergliedert werden.<br />

Diese werden nach ihrer geographischen Verbreitung<br />

in folgende vier Hauptsprachfamilien eingeteilt: Die<br />

indogermanische Sprachfamilie, die von indogermanischen<br />

Hirten zwischen 1500 <strong>und</strong> 500 v. Chr.<br />

eingeführt wurde <strong>und</strong> in den nördlichen Flachländern,<br />

auf Sri Lanka <strong>und</strong> den Malediven verbreitet<br />

ist. Zur ihr gehören Hindi, Bengalisch, Pandschabi,<br />

Bihari <strong>und</strong> Urdu. Dann die M<strong>und</strong>a-Sprachen, die<br />

von den Volksstämmen der abgelegenen Hügelländern<br />

der indischen Halbinsel gesprochen werden,<br />

die Drawidischen Sprachen, zu denen Tamilisch,


Kulturelle Systeme 337<br />

Oetim<br />

Arab<br />

Fulani —<br />

■Wo|of Sf ^<br />

^ in k e Bambara<br />

-Fulani<br />

Malinke B o b o G u r r t<br />

tMende SenufoDa^m ba<br />

Baule<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

0 400 800 Kilometer<br />

Yoruba<br />

_<br />

Kanembu<br />

Bagiim<br />

~ Sara<br />

Fulani<br />

\l9 b0 Mum Baya<br />

'':0amileke Ngala<br />

iang<br />

/■ Teke Mongo<br />

>^ira -----<br />

■^0090 ( lingalaM<br />

Kuba<br />

Luba<br />

Hadendo*(a<br />

TigréJt.<br />

* AfaKÍ^<br />

Ñu6a. *C¿MHARA><br />

Galla Esa Ishaak<br />

Dinlra“®'^ Sidamo Somali<br />

Q<br />

Galla<br />

Azande<br />

Hawiya/<br />

Lango R a h a n w ^ '<br />

■ ^ C Í ^ n d a ^ - J Ü ^ ^ /<br />

Rti^^nHA' p jK á m b a /<br />

í^ ^<br />

tíJim wezf »<br />

Gogo<br />

;Kimb<strong>und</strong>u<br />

V Chokwe<br />

(Mb<strong>und</strong>u L<strong>und</strong>a TongajlYao<br />

rhBwd.i' Makua<br />

onewa^Lomwej<br />

Maravi - Makua<br />

/ Ambo Tonga<br />

Sena<br />

Zezuru<br />

r ^ ’flerero^"'^"""<br />

Karanga ^<br />

)íJilD a_Q _4 ¿í?en a ^ *° Thorida<br />

ketse Ndeb^lar<br />

TSWANA-'\ SWazi<br />

SOTHO J<br />

ifrikaaner (Z I^ U<br />

Xoi<br />

Tsimihety<br />

SaC^v^<br />

IMerit»^<br />

B^misaraka<br />

,^tsi|^o<br />

\ AnUiisaka<br />

yAntandroy<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

i<br />

¡ Semitisch-Hamitisch<br />

Bantu<br />

n Guineisch<br />

m Hausa<br />

¡ I Westbantoid<br />

m Nilotisch<br />

I H Zentralbantoid<br />

Mande<br />

Zentral- <strong>und</strong><br />

Ostsudanesisch<br />

Ostbantoid<br />

H Malayo-Polynesisch<br />

I I Kanuri<br />

Songhai<br />

Khoisan<br />

Indoeuropäisch<br />

*(SW A H iLi) Sprachen, von mehr als 10 Millionen gesprochen<br />

6.2.1 Sprachenkarte von Afrika. Die kulturelle<br />

Komplexität von Afrika zeigt sich deutlich in der<br />

Vielfalt der einheimischen Sprachen, die auf der<br />

obigen Karte verzeichnet sind. Suaheli <strong>und</strong> Hausa<br />

werden von Millionen Menschen als die jeweiligen<br />

Handelssprachen in Ost- <strong>und</strong> Westafrika gesprochen.<br />

Telugu, Kannada (Kanaresisch) <strong>und</strong> Malayalam gehören<br />

<strong>und</strong> die in Südindien <strong>und</strong> dem nördlichen<br />

Teil Sri Lankas verbreitet sind, sowie die tibetischburmesischen<br />

Sprachen, die in der Himalajaregion<br />

Vorkommen.<br />

In Indien wurden die Grenzen der meisten Teilstaaten<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage der Sprachverbreitung festgelegt.<br />

Keine einzige indische Sprache wird von mehr<br />

als 40 Prozent der Bevölkerung gesprochen oder verstanden.<br />

Seit der Unabhängigkeit Indiens gab es Versuche,<br />

Hindi, die am weitesten verbreitete Sprache<br />

des Landes, zur Nationalsprache zu erheben, aber<br />

zahlreiche indische Staaten, deren politische Identität<br />

sich auf eine regionale Sprache gründet, waren dagegen.<br />

In der Literatur <strong>und</strong> den populären Medien florieren<br />

Hindi <strong>und</strong> andere regionale Sprachen, während<br />

das Fernsehen vor allem Programme in Hindi<br />

<strong>und</strong> Tamilisch sowie Telugu sendet.<br />

Englisch, das weniger als 6 Prozent der Bevölkerung<br />

sprechen, dient als Verbindungssprache zwischen<br />

den Staaten <strong>und</strong> Regionen Indiens. Wie in anderen<br />

ehemaligen britischen Kolonien in Südasien ist<br />

Englisch die Sprache des Bildungsbürgertums <strong>und</strong><br />

der Akademiker sowie Wirtschafts- <strong>und</strong> Regierungssprache,<br />

ohne die keine wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale<br />

Mobilität möglich ist. Die meisten Schulkinder werden<br />

allerdings nur in ihrer regionalen Sprache unterrichtet<br />

<strong>und</strong> sind deshalb sehr eingeschränkt in ihren<br />

Zukunftschancen. Ein Wachmann, Straßenkehrer,<br />

Koch oder Eahrer, der nur Hindi oder Urdu spricht.


338 6 Kulturgeographie<br />

Sprachfamilien in Indien<br />

í'í. '- , .<br />

M<br />

Afghanistan<br />

300 Kilometer<br />

h "<br />

Indoarisch<br />

Dravtdisch<br />

Austroasiatisch<br />

Dogrtr'<br />

C h i n a<br />

TibetO'Burmanisch<br />

Hauptsprache<br />

Ludhiana<br />

/ •<br />

r Puniabl.<br />

Arabisches<br />

Meer<br />

Raiasthani<br />

/<br />

Hindi.<br />

Raiasthani<br />

Bh«<br />

'AlvnsdBtoSid • bmh.<br />

Sindhi.<br />

Gufarati<br />

—GuiaratI V a d o d ^<br />

Guiarati<br />

•f' •<br />

27..<br />

- 'Surat^“:<br />

Guiarati^37<br />

Mumbai<br />

(Bombay)<br />

Khandasts.<br />

Guiaratl<br />

Pune<br />

Marathi.<br />

Kannada<br />

Marathi ^<br />

BhopaJ<br />

IfxJore<br />

Taiueu.-'<br />

Kannada<br />

Garhwafi.<br />

Kumauni<br />

.Delhi<br />

o<br />

New Delhi<br />

Hindi.<br />

Koduj<br />

/ Hindi.<br />

Gondi Hindi O»*<br />

/ OoiK»<br />

M « * “ « % a r a t h i<br />

Nagpur Marathi,<br />

^ Gondi<br />

Marathi<br />

Kolami-----<br />

Kolami,'-«...^<br />

Triugu 44<br />

TeKigu<br />

Hyderabad<br />

■ \ Urdu.<br />

TtKigu<br />

Nepal<br />

Lapcha<br />

Bhutan 'äprv*<br />

BengaM. ■NepalLKimilch/Oraon'<br />

Santaü ''<br />

Blhari<br />

■ /< X J<br />

Assam«««<br />

Bengali<br />

B*r>9»‘i- Lothar..<br />

B»wri<br />


Kulturelle Systeme 339<br />

wird wahrscheinlich sein Leben lang die gleiche Arbeit<br />

verrichten. Im Gegensatz dazu, können jene,<br />

die Englisch sprechen - dies sind in der Regel Angehörige<br />

der oberen Mittelschicht - ihren Beruf in jeder<br />

Region des Landes <strong>und</strong> in den meisten Teilen der<br />

Welt ausüben.<br />

Die Geographie der Sprachen lässt sich noch dynamischer<br />

konzipieren, indem man die Auswirkungen<br />

der Globalisierung in ihre Betrachtungsweise mit einschließt.<br />

So kann zum Beispiel die Vielzahl der in<br />

einer Region wie Südasien existierenden Sprachen<br />

<strong>und</strong> Dialekte die Kommunikation <strong>und</strong> den Handel<br />

zwischen Gruppen unterschiedlicher sprachlicher<br />

Herkunft erschweren (Abbildung 6.17). Auch das Regieren<br />

einer solchen Bevölkerung kann sich problematisch<br />

gestalten. Jedes Entwicklungsland hat sich<br />

deshalb auf eine Nationalsprache festgelegt, die die<br />

Kommunikation <strong>und</strong> die erfolgreiche Führung der<br />

Staatsgeschäfte erleichtert. In der Folge sterben manche<br />

Regionalsprachen aus, andere verlieren durch<br />

einen deutlichen Rückgang ihrer Sprecher stark an<br />

Bedeutung (Abbildung 6.18).<br />

Frankreich ist eines der Länder, in welchen die<br />

Sprachenvielfalt abgenommen hat. Bereits im 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert begann der stark zentralisierte französische<br />

Staat, den Gebrauch regionaler Sprachen <strong>und</strong><br />

Dialekte in offiziellen Geschäften aktiv zu unterbinden.<br />

Nach dem Sturz der Monarchie im späten 18.<br />

lahrh<strong>und</strong>ert verfolgte die neue Französische Republik<br />

eine Politik, die auf eine größere Einheit der Provinzen<br />

abzielte. Ein Bestandteil dieser Politik war die Unterdrückung<br />

der regionalen Sprachen. Sprachliche<br />

Vielfalt wurde als Hindernis bei der Errichtung einer<br />

stabilen Demokratie <strong>und</strong> der Verwirklichung des<br />

Gleichheitsprinzips angesehen. Das Argument für<br />

eine solche Politik lautete, dass freie Menschen -<br />

Menschen, die nicht länger Untertanen eines Monarchen<br />

sind - die gleiche Sprache - das Französisch der<br />

nördlichen Zentralprovinzen oder Pariser Französisch<br />

- sprechen müssen, um Frankreich zu einen<br />

<strong>und</strong> die Demokratie zu stärken. Wie kann schließlich<br />

das Volk eine Regierung bilden <strong>und</strong> führen, wenn<br />

sprachliche Barrieren dem entgegenstehen. In der<br />

Folge wurden die regionalen Sprachen <strong>und</strong> Dialekte<br />

Frankreichs immer stärker verdrängt, wobei ihr Niedergang<br />

durch die offizielle Regierungspolitik langer<br />

lahre, von Napoleon bis de Gaulle, noch beschleunigt<br />

wurde.<br />

Ein konkretes Beispiel für eine solche Verdrängung<br />

ist Provençal, ein in der südfranzösischen Provence<br />

beheimateter Dialekt der okzitanischen Sprache,<br />

der durch die Erhebung des Französischen zur Amtssprache<br />

des Landes nahezu ausgelöscht wurde. Heute<br />

6.17 Sprache <strong>und</strong> Macht Im Jahre 1492, als Kolumbus<br />

die Neue Welt erreichte, äußerte der Sprachforscher Nebrijia<br />

gegenüber Königin Isabella von Spanien seine Sicht der Beziehung<br />

zwischen Macht <strong>und</strong> Sprache. Die mächtige Königin<br />

<strong>und</strong> ihr Gemahl, König Ferdinand (in der Holzschnitzerei beide<br />

zu Pferd im Vordergr<strong>und</strong> dargestellt), gaben die Mittel zur<br />

Erforschung - <strong>und</strong> Ausbeutung - der Neuen Welt.<br />

wird das Provençal nur noch von r<strong>und</strong> 1 Million<br />

Menschen gesprochen. Abbildung 6.19 zeigt die Verbreitung<br />

der regionalen Sprachen <strong>und</strong> Dialekte im<br />

vorrevolutionären Frankreich.<br />

In den 1980er-Jahren jedoch beschloss die französische<br />

Regierung, Gegenmaßnahmen zu der fast<br />

400 Jahre währenden Unterdrückung regionaler<br />

Sprachen <strong>und</strong> Dialekte zu ergreifen <strong>und</strong> richtete<br />

ihre offizielle Sprachpolitik daraufhin völlig neu<br />

aus. Als Reaktion auf die Gründung der Europäischen<br />

Union <strong>und</strong> aus Furcht vor einer Erosion der französischen<br />

Kultur betrachtet die französische Regierung<br />

Regionalsprachen nun als Schatz, den es zu bewahren<br />

gilt. In den frühen 1990er-lahren begann die Regierung<br />

mit der Finanzierung zweisprachigen Unterrichts<br />

an staatlichen Schulen in Gegenden mit lokalen<br />

Sprachen. Die Regierung sieht in der Wiederbelebung<br />

von Regionalsprachen eine Möglichkeit, den vereinheitlichenden<br />

Einfluss der Globalisierung zu mäßigen.<br />

Gültigkeit hat dies vor allem in Gebieten wie<br />

der Provence, wo Tourismus, Hightech-Industrien<br />

<strong>und</strong> ausländisches Kapital sowohl das Landschaftsbild<br />

als auch die Gebräuche der dort lebenden<br />

Menschen transformieren. Zwar ist die Provence


340 6 Kulturgeographie<br />

N.<br />

l ■'<br />

r<br />

(' ■<br />

1<br />

Ír.<br />

i"’■<br />

e. ■<br />

fe il<br />

' ^ 1<br />

Gambia<br />

Guinea-Bissau.—<br />

Sierra-<br />

Leone<br />

® ©<br />

Burkina<br />

Benin<br />

Lybien<br />

Tschad<br />

r<br />

Ägypten<br />

©<br />

( T ) ( 2 ) / Sudan<br />

A ® ®<br />

/ 1 ^ > '^ fiT k a n is c h<br />

b e r i a - Q , X £ i © ; A V ^ ^ K am eru n R«P“ blik<br />

m ausgestorben oder bedroht<br />

I<br />

I nicht betroffen<br />

/ © © “' ;v 4Y2^ ' ‘<br />

®<br />

Ghana / A i A i ....<br />

( A ) ( Ä ) Equatorial- ^ Republik<br />

/^..;___^<br />

Guinea<br />

S Kongo _ . „<br />

Demokr. Rep.<br />

Gabi) «t A ' W Kongo<br />

, R u anda'<br />

C a b in d a -'A<br />

(Angola) \ / \<br />

/<br />

Zahl der ausgestorbenen Sprachen<br />

Zahl der bedrohten Sprachen<br />

O ® -<br />

Angola<br />

Sambia<br />

¡Botswana<br />

Kenia<br />

‘® ® 1<br />

“ Bur<strong>und</strong>i '<br />

Tansania<br />

^ ® ®<br />

• n<br />

cambique<br />

r — Swasiland<br />

Lesotho<br />

©<br />

DscMbMti<br />

Somafia<br />

M adagaskar<br />

6.18 Ausgestorbene<br />

<strong>und</strong> bedrohte Sprachen<br />

in Afrika Es gibt keine<br />

sicheren Angaben darüber,<br />

wie viele Sprachen<br />

gegenwärtig auf der Welt<br />

existieren. Schätzungen<br />

zufolge sind es zwischen<br />

4 200 <strong>und</strong> 5 600. Während<br />

durch die Verschmelzung<br />

einheimischer Sprachen<br />

mit den Sprachen der<br />

ehemaligen Kolonialmächte,<br />

wie Englisch oder<br />

Portugiesisch, neue Sprachen<br />

entstehen, stirbt der<br />

Großteil der eingeborenen<br />

Sprachen aus. Die Karte<br />

zeigt lediglich Afrika. In<br />

Nord- <strong>und</strong> Südamerika<br />

sowie in Asien ist die Situation<br />

allerdings vergleichbar.<br />

noch überwiegend landwirtschaftlich geprägt, doch<br />

sie zieht zunehmend auch Computerfirmen <strong>und</strong> andere<br />

Bereiche der Konsumgüterindustrie an. Ackerland<br />

wird in Industrieparks umgewandelt, Dörfer<br />

wachsen mit dem Zuzug neuer Arbeitskräfte zu<br />

Städten.<br />

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einführung<br />

von Amtssprachen oft eine Bedrohung für<br />

nicht-französisch <strong>und</strong><br />

nicht-okzitanisch<br />

r r -<br />

.' 1 Bf t<br />

f’Tfl<br />

0 50 100 Kilometer<br />

6.19 Die um 1789 in Frankreich gesprochenen<br />

Sprachen Am Vorabend der Französischen Revolution<br />

unterschied sich Frankreich im Hinblick auf seine<br />

Sprachenvielfalt nicht wesentlich von anderen europäischen<br />

Regionen, die im Begriff waren, sich zu Staaten<br />

zusammenzuschließen. Während die Zahl der lokalen<br />

Sprachen <strong>und</strong> Dialekte vor der Entstehung starker<br />

Zentralstaaten in der Regel groß war, ergriffen die<br />

Regierenden danach oft Maßnahmen zu ihrer Ausrottung.<br />

Sprachvarietäten erschwerten die Eintreibung von<br />

Steuern, die Sicherstellung der Geltung von Gesetzen<br />

<strong>und</strong> die Belehrung der Bürger. (Quelle: Bell, D. Lingua<br />

Populi, Lingua Dei. In: American Historical Review. 1996,<br />

S. 1406.)


Kulturelle Systeme 341<br />

6.20 Ungleichheit von Amts- <strong>und</strong> Muttersprache Ein weiterer Ansatzpunkt der Sprachgeographie ist die Bestimmung des<br />

Anteils von Menschen, deren Muttersprache eine andere als die offizielle Landessprache ist. In Ländern wie China, wo die dominante<br />

Sprache nur in wenigen Fällen auch die Muttersprache ist, stellen simple Kommunikationsprobleme mitunter eine große Herausforderung<br />

dar. Häufig rührt die Disparität zwischen Amtssprache <strong>und</strong> Muttersprache aus der Kolonisation. Während Mandarin<br />

basierend auf der kaiserlichen Mandarin-Bürokratie die offizielle Landessprache ist, gibt es sechs wichtige regionale Dialekte des<br />

Mandarin <strong>und</strong> weitere 41 eigene Sprachen, die von ethnischen Minderheiten in China gesprochen werden. In anderen Ländern ist<br />

der Unterschied zwischen der offiziellen Sprache <strong>und</strong> der Muttersprache das Ergebnis der Kolonisation. Bevor beispielsweise in<br />

Südafrika die Apartheid beseitigt wurde, gab es als die beiden offiziellen Sprachen Englisch <strong>und</strong> Afrikaans - beides Sprachen der<br />

Kolonisatoren - jedoch über 50 indigene Sprachen. Seit der Wahl von Nelson Mandela zu Beginn der 1990er-Jahre ist die Zahl der<br />

offiziellen Sprachen auf elf gestiegen. Dieser Zuwachs ermöglicht den Einheimischen einen größeren Zugang zu öffentlichen<br />

Informationen <strong>und</strong> es ist vorgesehen, ihre Teilhabe an der bürgerlichen Zivilgesellschaft auszuweiten sowie die kulturelle Vielfalt des<br />

Landes zu bewahren. (Quellen: Nach Kidron, M.; Segal, R. The New State o f World Atlas 4. Auflage. Nachdruck mit Genehmigung<br />

des Verlages Simon & Schuster aus Kidron, M.; Segal, R. The New State o f World Atlas 4. Auflage, © 1991. Karten <strong>und</strong> Grafiken;<br />

© 1991, Swanston Publishing Limited. Kartenprojektion: Buckminster Füller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA.<br />

Die Bezeichnung Dymaxion <strong>und</strong> das Füller Projection Dymaxion^'^ Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster<br />

Füller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

indigene Sprachen darstellt. Allerdings ist die Wirksamkeit<br />

globalisierender Einflüsse, zu denen auch<br />

.Amtssprachen gehören, je nach Ort <strong>und</strong> Zeit verschieden.<br />

Wie Abbildung 6.20 zeigt, deutet die Gesamtlendenz<br />

auf das Aussterben indigener Sprachen<br />

<strong>und</strong> anderer kultureller Merkmale hin. Zugleich muss<br />

man sich aber auch vor Augen halten, dass Religion,<br />

Sprache <strong>und</strong> andere Formen kultureller Identität als<br />

Mittel des Widerstands gegen die politischen, wirtschaftlichen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> sozialen Kräfte der Globalisierung<br />

eingesetzt werden können. Als Beispiele<br />

hierfür wären unter anderem Frankreich, Spanien<br />

mit der baskischen Separatistenbewegung <strong>und</strong> Kanada<br />

mit der Bewegung für ein unabhängiges Quebec<br />

(Exkurs 6.3 „Fenster zur Welt - Separatismus in<br />

der Provinz Quebec“) zu nennen.


342 6 Kulturgeographie<br />

Exkurs 6.3<br />

Fenster zur Welt - Separatismus in der Provinz Quebec<br />

In der Provinz Quebec im B<strong>und</strong>esstaat Kanada gibt es eine<br />

politische Unabhängigkeitsbewegung, welche die Provinz<br />

von Kanada trennen möchte, um die traditionelle französisch-kanadische<br />

Kultur zu erhalten. Der Ursprung dieser Separationsbewegung<br />

liegt in der frühen Geschichte des kolonialen<br />

Kanadas, als 1763 die französischen Siedler von den Briten<br />

besiegt wurden <strong>und</strong> alle nordamerikanischen Kolonien an die<br />

englische Krone fielen. Als einzige „besiegte“ europäische<br />

Siedler in Nordamerika sind die Quebecer unbestreitbar einzigartig.<br />

Bis zur Revolution tranquille, der stillen Revolution, in Quebec<br />

in den 1960er-Jahren, als die separatistische Partei Parti<br />

Québécois aufkam, war der französisch-kanadische Nationalismus<br />

eine größtenteils konservative Bewegung. In der Tradition<br />

Quebecs, die sich auf die französisch-kanadische Kultur <strong>und</strong><br />

den römisch-katholischen Glauben gründet, haben Kirche, traditionelles<br />

ländliches Leben <strong>und</strong> Landwirtschaft einen besonders<br />

hohen Stellenwert. Während Wissenschaftler zahlreiche<br />

Gründe für das Aufkommen <strong>und</strong> Erstarken des rückwärts gewandten<br />

<strong>und</strong> traditionellen französischen Nationalismus in<br />

Quebec ausmachen, ist unserer Ansicht nach die periphere<br />

Stellung der Provinz in der nationalen <strong>und</strong> internationalen Wirtschaft<br />

ausschlaggebend.<br />

Als die kanadische Wirtschaft zunehmend in das globale<br />

<strong>und</strong> insbesondere das US-amerikanische Wirtschaftsgeschehen<br />

eingeb<strong>und</strong>en wurde, profitierte Quebec weit weniger als<br />

früher von der Hegemonialstellung der USA. Da sich die Identität<br />

der Quebecer auf traditionelle Werte <strong>und</strong> Vorstellungen<br />

gründete, konnten sie nur in geringem Maße an den revolutionären<br />

Änderungen teilhaben, die sich im näheren Umfeld ereigneten.<br />

Die Provinz geriet ins Hintertreffen, als der westkanadische<br />

Energiesektor erstarkte <strong>und</strong> Toronto als Folge des<br />

wachsenden Dienstleistungssektors zur Finanz- <strong>und</strong> Industriehauptstadt<br />

Kanadas aufstieg.<br />

Da diese Veränderungen die traditionelle soziale, wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> politische Identität Quebecs bedrohten, sahen<br />

die politischen Eliten als einzigen Ausweg aus der Peripherisie-<br />

rung der Provinz den Ausstieg aus der kanadischen Föderation.<br />

Es gelang ihnen, die Kontrolle über die Provinzregierung zu erlangen<br />

<strong>und</strong> ein eigenes politisches System zu errichten, dessen<br />

Politik nicht einfach an den alten Werten <strong>und</strong> Traditionen<br />

festhält, sondern einen eigenen Weg in die neue Wirtschaft beschreitet,<br />

um die Vision eines eigenständigen Quebecs in die<br />

Realität umzusetzen.<br />

Die Quebecer Separatisten hatten den Wunsch, ihren regionalen<br />

bzw. provinziellen Status aufzugeben <strong>und</strong> eine unabhängige<br />

Nation mit einer eigenen Identität zu werden <strong>und</strong> initiierten<br />

deshalb mehrere Volksabstimmungen. So kam es 1980<br />

<strong>und</strong> 1985 in Quebec zu zwei Volksabstimmungen, in denen<br />

es um die politische Unabhängigkeit von Kanada ging. Die<br />

Mehrheit der Quebecer lehnte derartige Souveränitätsbestrebungen<br />

beide Male ab. 1995 wurde eine erneute Abstimmung<br />

durchgeführt, bei der die Unabhängigkeitsgegner wiederum<br />

einen, allerdings diesmal nur knappen Sieg errungen (Abbildung<br />

6.3.1).<br />

Noch kann man nicht sagen, ob in Quebec die Unabhängigkeit<br />

von Kanada weiter vorangetrieben wird. Es gibt Anzeichen<br />

dafür, dass angesichts des steigenden Wohlstands durch den<br />

Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

Kultur hat einen nachhaltigen Einfluss auf die Gesellschaft,<br />

da sie die soziale Ordnung bestimmt. Soziale<br />

Kategorien wie Verwandtschaft, Clique, Generation,<br />

Geschlecht <strong>und</strong> so weiter spielen je nach Land <strong>und</strong><br />

Region eine geringe oder bedeutende Rolle in der Gesellschaft.<br />

Allerdings verändert sich ihre Bedeutung<br />

im Laufe der Zeit, je nachdem, welche äußeren Einflüsse<br />

durch den Kontakt mit anderen kulturellen<br />

Gruppen hinzukommen. Beispielsweise haben die<br />

Länder des Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordaffikas eine komplexe<br />

soziale Organisation, in deren kulturellen Beziehungen<br />

<strong>und</strong> Bedeutungssystemen das Geschlecht, der<br />

Stamm, die Nationalität, die Verwandtschaft <strong>und</strong> die<br />

Familie eine große Rolle spielen. Weltweite Medien<br />

wie Satellitenfernsehen <strong>und</strong> Internet erreichen in zunehmendem<br />

Maße auch solche Regionen, beeinflussen<br />

die alte kulturelle Ordnung <strong>und</strong> können zu neuen<br />

Formen sozialer Organisation fuhren. Obwohl die<br />

heute in einer Region bestehenden Formen der gesellschaftlichen<br />

Ordnung bereits H<strong>und</strong>erte von Jahren<br />

überdauert haben, unterlagen sie auch in der Vergangenheit<br />

immer wieder mehr oder weniger dramatischen<br />

Veränderungen.<br />

Verwandtschaft als Form der sozialen Organisation<br />

spielt heute noch besonders in den Kulturen des<br />

Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas eine bedeutende Rolle.<br />

Die Verwandtschaft ist für gewöhnlich eine enge<br />

Bindung aufgr<strong>und</strong> der Geburt in eine Familie (Bluts-


Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft 343<br />

6.3.1 Volksabstimmung über die Trennung von Kanada<br />

Die Verteilung der Stimmen spiegelt die ethnische Teilung<br />

von Ober- <strong>und</strong> Unter-Québec wider. Während das untere<br />

Québec urbanisiert ist <strong>und</strong> die Mehrheit der Bevölkertung<br />

aus französisch sprechenden Kanadiern besteht, ist das obere<br />

Québec größtenteils ländlich geprägt <strong>und</strong> die Bevölkerung<br />

setzt sich aus nicht-frankophonen Gemeinschaften zusammen.<br />

Einstieg in die globale Wirtschaft, das Interesse daran momentan<br />

etwas abgeflaut ist. Einige Experten glauben jedoch, dass<br />

das Nordamerikanische Freihandelsabkommen (NAFTA) <strong>und</strong><br />

die intensiven Beziehungen der Provinz zu Europa, Quebecs<br />

nationale Identität eher gestärkt als geschwächt haben. Im<br />

Moment gibt es keine klare Antwort auf die Frage, ob Quebec<br />

eine eigene kulturelle Gemeinschaft innerhalb der kanadischen<br />

Föderation bleiben oder ein neuer Nationalstaat werden<br />

wird. Fest steht nur, dass sich die Rahmenbedingungen für<br />

diese Entscheidung schnell wandeln, denn die Veränderungen,<br />

die im Zuge der Globalisierung in Kanada stattfanden, haben<br />

Quebec nicht nur wirtschaftliches Wachstum beschert, sondern<br />

es der Provinz auch ermöglicht, ihre eigene Identität<br />

zu bewahren <strong>und</strong> das eigene Schicksal stärker in die Hand<br />

zu nehmen, ohne sich dabei von Kanada loszusagen.<br />

Eine aktuelle Umfrage hat ergeben, dass zum ersten Mal<br />

seit den 1990er-Jahren 50 Prozent der Quebecer die Souveränität<br />

der Provinz befürworten. Zugleich gaben aber zwei Drittel<br />

von ihnen an, dass sie stolz sind, Kanadier zu sein <strong>und</strong> die<br />

meisten von ihnen wollen, dass Quebec weiterhin ein Teil Kanadas<br />

bleibt. Die Bestrebungen der Quebecer sind damit in<br />

steigendem Maße nicht von Nationalismus sondern dem Streben<br />

nach Souveränität gekennzeichnet. Der Wunsch nach Unabhängigkeit<br />

von Kanada ist scheinbar je nach Generation unterschiedlich<br />

ausgeprägt <strong>und</strong> erst die Zeit wird zeigen, welche<br />

Haltung dominieren wird. Die Gegner einer Trennung von<br />

Kanada, die „traditionellen Föderalisten“, wurden vor dem<br />

II. Weltkrieg geboren <strong>und</strong> sterben langsam aus. Die geburtenstarken<br />

Jahrgänge der stillen Revolution befürworten die Eigenständigkeit,<br />

möchten aber dennoch, dass Quebec weiter<br />

zu Kanada gehört. Die heutige Generation junger Erwachsener<br />

- die Kinder des Gesetzes 101, jenes bedeutenden Sprachengesetzes<br />

von 1977, das Französisch zur Hauptsprache erklärte<br />

- befürwortet wahrscheinlich die Souveränität, aber erst die<br />

Zukunft wird zeigen, ob es zu einer Trennung von Kanada<br />

kommen wird, wenn diese Generation an die Macht gekommen<br />

ist.<br />

Verwandtschaft), der Heirat oder der Adoption in dieselbe.<br />

Diese Definition wird erweitert um die Kategorie<br />

der gemeinsamen Idee von Verwandtschaft, die<br />

Mitglieder einer Gruppe teilen. Nicht alle sozialen<br />

Gruppen verstehen unter verwandtschaftlichen Beziehungen<br />

nur jene, die sich aus Abstammung oder<br />

Heirat ergeben. Die biologische Abstammung, die<br />

üblicherweise vom Vater abgeleitet wird, hat vor<br />

allem im Nahen Osten eine große Bedeutung. Es<br />

gibt aber auch andere Formen der Verwandtschaft,<br />

die Individuen <strong>und</strong> Gruppen miteinander verbinden.<br />

Obwohl in den Gesellschaften des Nahen Ostens die<br />

Verwandtschaft oft als „Blutsband“ definiert wird,<br />

werden auch Nachbarn, Fre<strong>und</strong>e <strong>und</strong> sogar Personen<br />

mit ähnlichen wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Interessen<br />

oder, etwa in nordwestafrikanischen Nomadenkulturen,<br />

auch ehemalige Sklaven als Verwandte<br />

angesehen. Verwandtschaft wird hier als Kategorie<br />

verwendet, um Solidarität <strong>und</strong> Verb<strong>und</strong>enheit auszudrücken,<br />

<strong>und</strong> damit die Zugehörigkeit zu einer<br />

Gruppe festzulegen, wenn keine „natürlichen“ Verbindungen<br />

oder „Blutsbande“ bestehen. Auf diesem<br />

Verwandtschaftskonzept basieren beispielsweise<br />

Burschen- <strong>und</strong> Schwesternschaften, Gangs oder<br />

auch Berufsgruppen wie die Polizei <strong>und</strong> die Feuerwehr,<br />

bei denen ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl<br />

unter den Kollegen besteht.<br />

In Nordafrika <strong>und</strong> dem Nahen Osten regelt Verwandtschaft<br />

sogar zu einem Großteil die räumlichen<br />

Beziehungen in einem Haushalt <strong>und</strong> auch außerhalb<br />

davon. Auf ihrer Gr<strong>und</strong>lage wird festgelegt, wer sich<br />

mit wem <strong>und</strong> unter welchen Umständen unterhalten


344 6 Kulturgeographie<br />

oder in einem Raum aufhalten darf. Neben dem Verwandtschaftsgrad<br />

bestimmt auch das Geschlecht den<br />

streng geregelten Zugang von Frauen <strong>und</strong> Männern<br />

zu öffentlichen <strong>und</strong> privaten Räumen.<br />

Die Sippe ist eine weitere zentrale Kategorie, die<br />

die gesellschaftspolitische Organisation im Nahen<br />

Osten, in Nordafrika <strong>und</strong> anderen Regionen der<br />

Erde bestimmt. Während die Stammeszugehörigkeit<br />

für die Bevölkerungsverteilung in einer Region verantwortlich<br />

ist, bestimmt die Sippe das soziale Gefüge<br />

in der näheren Umgebung. Die Bezeichnung „Sippe“<br />

ist ein sehr umstrittenes Konzept <strong>und</strong> sollte vorsichtig<br />

verwendet werden. Zum Beispiel wird sie oft als negative<br />

Bezeichnung empf<strong>und</strong>en, die von den weißen<br />

Kolonialherren des 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eingeführt<br />

wurde, um eine primitive soziale Organisation<br />

der afrikanischen Gesellschaften zu suggerieren. Im<br />

Nahen Osten <strong>und</strong> in Nordafrika hat die Sippe dagegen<br />

einen hohen Stellenwert <strong>und</strong> wird keineswegs als<br />

Ausdruck einer einfachen Gesellschaftsordnung verstanden.<br />

Sie definiert vielmehr die moderne nationale<br />

Identität. Allgemein gesagt, ist die Sippe eine Art<br />

sozialer Gruppenidentität, die sich aus gemeinsamer<br />

Bindung <strong>und</strong> gemeinsamem politischen Handeln<br />

ergibt. Sippen gründen sich in einfacher oder mehrfacher<br />

Hinsicht auf soziale, politische <strong>und</strong> kulturelle<br />

Identitäten, die von Individuen festgelegt werden, die<br />

wiederum Teil dieser Identitäten sind.<br />

Die gemeinsame Stammeszugehörigkeit führt zu<br />

kollektiven Bindungen, die eine gr<strong>und</strong>legende Loyalität<br />

gegenüber anderen Mitgliedern der Sippe beinhalten.<br />

Mitunter versuchen fremde Gruppen das<br />

Fortbestehen dieser selbstbestimmten Stammesgruppen<br />

zu untergraben oder es zu fördern. Beispielsweise<br />

versuchten die Machthaber im Iran im frühen<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert systematisch <strong>und</strong> schonungslos,<br />

die Stammeszugehörigkeit abzuschaffen. Im<br />

Sudan <strong>und</strong> in Marokko dagegen wurden die Sippen<br />

während der Zeit der europäischen Kolonisation<br />

als soziale Kräfte angesehen, die Unabhängigkeitsbewegungen<br />

verhindern könnten <strong>und</strong> wurden deshalb<br />

von den kolonialen Regierungen unterstützt <strong>und</strong> gefördert.<br />

Überall im Nahen Osten, in Nordafrika <strong>und</strong> anderen<br />

Teilen der Erde verändert die Globalisierung die<br />

bestehenden kulturellen Systeme. Während einige<br />

Gruppen diese Veränderungen akzeptieren, versuchen<br />

andere, ihnen zu widerstehen <strong>und</strong> sich auf<br />

vielfältige Weise aktiv dagegen zu wehren, zum Beispiel<br />

mit Gesetzen zum Schutz des kulturellen Erbes<br />

aber auch mittels Vandalismus <strong>und</strong> Terroranschlägen.<br />

Kultureller Nationalismus<br />

Die Anstrengungen zur Bewahrung von Regionalsprachen<br />

sind Teil einer größeren Bewegung, die<br />

das Interesse der Geographen <strong>und</strong> anderer Wissenschaftler<br />

auf sich gezogen hat. Der sogenannte kulturelle<br />

Nationalismus ist bestrebt, die regionale oder<br />

nationale kulturelle Vielfalt vor den homogenisierenden<br />

Auswirkungen der Globalisierung <strong>und</strong> insbesondere<br />

vor dem alles durchdringenden Einfluss der USamerikanischen<br />

Kultur zu schützen (Abbildung<br />

6.21). Die Abbildungen 6.22 <strong>und</strong> 6.23 vermitteln<br />

ein Bild von der Macht eines weit verbreiteten<br />

Aspekts der US-Kultur, dem Fernsehen. Doch nicht<br />

nur das Fernsehen, auch andere amerikanische Produkte<br />

finden selbst an weit entfernten Orten Verwendung.<br />

Nicht alle werden freudig angenommen. So<br />

kämpft beispielsweise Frankreich schon seit Jahren<br />

gegen die Amerikanisierung seiner Sprache.<br />

Um gegen die vereinheitlichenden Kräfte der Globalisierung<br />

<strong>und</strong> die Ausbreitung der amerikanischen<br />

Kultur anzugehen, verfolgen die betroffenen Länder<br />

6.21 US-Produkte in Afrika. Westliche Produkte wie<br />

Schuhe der Sporthersteliers Nike, Mobiltelefone <strong>und</strong> Coca Cola<br />

haben zunehmend die Märkte peripherer Länder durchsetzt,<br />

wobei sie oftmals einheimische Erzeugnisse verdrängt haben.<br />

Der Coca-Cola-Konzern ist dermaßen erpicht darauf, die<br />

weitreichende Verteilung seiner Produkte zu fördern, dass<br />

die Rezeptur auf lokale Geschmäcker abgestimmt wird.


Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft 345<br />

6.22 Weltweite Filmproduktion <strong>und</strong> -importe Die beiden Weltkarten zeigen die Zahl der je Land produzierten <strong>und</strong> importierten<br />

Filme. Erwartungsgemäß werden die meisten Filme von den Industriestaaten produziert, die aus diesem Gr<strong>und</strong> auch weniger<br />

Filme einführen. In den USA zum Beispiel liegt das Verhältnis zwischen Filmproduktion <strong>und</strong> Filmimport bei vier zu eins. In der<br />

Semiperipherie stellt Indien, ein Land mit einer enorm populären Filmindustrie, achtmal so viele Filme her, wie es importiert. Chile<br />

dagegen hat in den späten 1990er-Jahren nur einen Film produziert <strong>und</strong> 220 Filme eingeführt. (Quellen: UNESCO, World Culture<br />

Report, table 2b: wvm/unesco.org/culture worldreport/html_eng/table2.htm. Karten <strong>und</strong> Grafiken © 1991, Swanston Publishing<br />

Limited. Kartenprojektion; Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung Dymaxion<br />

<strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion^'^ Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara,<br />

CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)


346 6 Kulturgeographie<br />

w<br />

m .<br />

Atlantischer<br />

Ozean .<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

TV-Geräte pro<br />

1000 Einwohner (1970)<br />

über 300<br />

100 bis 299<br />

0 1 5 0 0 3 0 0 0 K ilo m e te r<br />

1 bis 99<br />

b<br />

'<br />

I unter 1<br />

nicht verfügbar<br />

■"w- ^ jj:sy ^<br />

Atlantischer<br />

_<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

m<br />

IÜ<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

TV-Geräte pro<br />

1000 Einwohner (2001)<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

r J<br />

! I<br />

über 300<br />

100 bis 299<br />

1 bis 99<br />

unter 1<br />

nicht verfügbar<br />

Kabel-TV-Abonnenten<br />

pro 1000 Einwohner<br />

0 1 5 0 0 3 0 0 0 K ilo m e te r<br />

6.23 Weltweite Verteilung der Fernsehgeräte (1970-1997) Die Möglichkeit des Empfangs von Fernsehsendungen <strong>und</strong> damit<br />

der Zugang zu elektronischen Massenmedien ist sehr ungleich verteilt. In einigen Gebieten der Peripherie, etwa in den wohlhabenderen<br />

Ländern Südamerikas, kommen auf 1000 Menschen 300 Fernseher. In weiten Teilen Schwarzafrikas stehen demgegenüber<br />

jeweils 1000 Personen weniger als zehn TV-Geräte zur Verfügung. In den Industriestaaten, zum Beispiel in Japan oder<br />

den USA, besitzt jeder Haushalt im Durchschnitt einen Farbfernseher. Videogeräte sind dort ebenfalls weit verbreitet. (Quelle:<br />

Nachdruck mit Genehmigung von Prentice Halt, Rubenstein, J.M. The Cultural Landscape: An Introduction to Human Geography.<br />

6. Auflage. (© 1999, S. 142.)


Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft 347<br />

unterschiedlichste Strategien. Manche Gemeinschaften<br />

schotten sich ab, um durch die Isolation unerwünschten<br />

Einflüssen zu entgehen. Andere versuchen,<br />

den Zufluss fremder Ideen <strong>und</strong> Werte gesetzlich<br />

zu regeln. Dies ist in einigen islamischen Staaten der<br />

Fall.<br />

Islam <strong>und</strong> Islamismus<br />

Der Islam ist eine der großen Offenbarungsreligionen<br />

<strong>und</strong> besitzt nach dem Christentum die zweitgrößte<br />

Zahl an Anhängern, weltweit über 1 Milliarde (Abbildungen<br />

6.24 <strong>und</strong> 6.25). Ein Muslim ist ein Angehöriger<br />

der Gemeinschaft der Gläubigen. Der Begriff bedeutet<br />

im Arabischen „einer, der sich unterwirft“,<br />

womit die Unterwerfung (isläm) unter den allgewaltigen<br />

Gott gemeint ist. Nach muslimischer Auffassung<br />

ergingen im Laufe der Geschichte mehrere<br />

Offenbarungen von Gott, so auch in der Bibel <strong>und</strong><br />

der Thora. Jedoch nur im Koran, dem Text der letzten<br />

Offenbarung, sind die Worte Gottes unverfälscht<br />

erhalten, so wie sie dem Propheten Mohammed im<br />

Jahr 609 oder 610 n. Chr. vom Engel Gabriel offenbart<br />

wurden.<br />

Der Islam ist nicht nur eine Religion, sondern der<br />

Begriff steht für eine Kultur im umfassenden Sinne,<br />

Spezifisch religiöse Aspekte des Islams, wie das Gottesbild,<br />

die Sicht <strong>und</strong> die Stellung des Propheten <strong>und</strong><br />

vor allem das Verständnis der Offenbarung prägen<br />

auch andere Kulturbereiche. Alltagsleben, Politik<br />

<strong>und</strong> Wirtschaft in islamischen Ländern sind noch<br />

heute in einer Weise von den Normen des islamischen<br />

Rechts beeinflusst, wie es in den weitgehend säkularisierten<br />

Gesellschaften Europas oder Amerikas<br />

kaum mehr vorstellbar ist.<br />

Gr<strong>und</strong>legende Bedingung für jeden Muslim <strong>und</strong><br />

jede Muslimin ist einmal der Glaube an Alläh,<br />

dann an seinen Propheten Mohammed <strong>und</strong> daran,<br />

dass der Koran als Gottes Wort unbedingte Gültigkeit<br />

hat. Die Sunna (arab. für gewohnte Handlung, eingeführter<br />

Brauch“), eine Sammlung von überlieferten<br />

Worten <strong>und</strong> Taten des Propheten sowie Äußerungen<br />

seiner prominenten Gefährten, bezeichnet im Islam<br />

die prophetische Tradition <strong>und</strong> ist neben dem Koran<br />

die zweite Quelle religiöser Normen. Nach islamischem<br />

Verständnis wurden seit der Schöpfung an<br />

alle Völker immer wieder Propheten ausgesandt. Im<br />

Koran finden sich wiederholt Listen von Propheten<br />

(Suren 4:163 ff.; 6:83 ff,). So werden die alttestamentlichen<br />

Propheten (zum Beispiel Abraham, Moses,<br />

Noah) <strong>und</strong> fesus als Vorgänger von Mohammed betrachtet;<br />

sie besaßen für ihn eine wichtige Modellfunktion:<br />

Mohammed selbst aber steht am Ende dieser langen<br />

Kette als „Siegel der Propheten“ (Sure 33:40).<br />

Das Gottesbild des Islam lässt vier Hauptzüge erkennen.<br />

Ein Hauptdogma der islamischen Theologie<br />

ist der strenge Monotheismus, die Lehre von Gott als<br />

dem „Unteilbar-<strong>und</strong>-absolut-Einen“. Dazu kommt<br />

Gottes Allmacht <strong>und</strong> absolute Größe: Gott sieht alles,<br />

hört, weiß alles, er ist der allgewaltige Schöpfer des<br />

Universums, Herr über Werden <strong>und</strong> Vergehen, alles<br />

Geschehen <strong>und</strong> Handeln folgt seinem Willen. Zudem<br />

ist Gott der Richter des jüngsten Gerichts, der am Tag<br />

der Abrechnung die Taten der Menschen absolut gerecht<br />

verurteilt <strong>und</strong> vergilt <strong>und</strong> über Hölle oder Paradies<br />

entscheidet. Und schließlich ist Gott die unermessliche<br />

Güte (arab. rahma), die sich in der Vergebung<br />

der Sünden, der Gnade, äußert, aber auch in der<br />

gesamten Schöpfung selbst <strong>und</strong> in der Offenbarung,<br />

wo er zu den Menschen spricht.<br />

Es gibt fünf Gr<strong>und</strong>pflichten, die ein Muslim erfüllen<br />

muss <strong>und</strong> die als die fünf Säulen des Islam bekannt<br />

sind: die Wiederholung des Glaubensbekenntnisses<br />

(„Es gibt keinen Gott außer Gott, <strong>und</strong> Mohammed<br />

ist sein Prophet.“); das Gebet, das fünfmal am<br />

Tag mit dem Gesicht in Richtung Mekka zu verrichten<br />

ist; die jährlichen Bezahlung einer bestimmten Art<br />

von Almosen (zakät); das Fasten im Monat Ramadan<br />

(d.h. einen Monat lang zwischen Sonnenauf- <strong>und</strong><br />

Sonnenuntergang nichts essen <strong>und</strong> trinken); die Pilgerfahrt<br />

nach Mekka (hadj), die jeder Muslim einmal<br />

im Leben unternehmen sollte, falls es Finanzen <strong>und</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heit des Gläubigen zulassen.<br />

Das Aufkommen <strong>und</strong> die Verbreitung des Islam<br />

sind verb<strong>und</strong>en mit der Geschichte der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung des Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas.<br />

Der geographische Ursprung des Islam ist die<br />

Stadt Mekka im heutigen Saudi-Arabien, in der Mohammed<br />

570 n. Chr. geboren wurde. Zu dieser Zeit<br />

war Mekka ein bedeutender Knotenpunkt im System<br />

der Handelswege, die zunächst jemen <strong>und</strong> Syrien,<br />

später die Region mit Europa <strong>und</strong> Asien verbanden.<br />

Heute ist Mekka nicht nur die wichtigste heilige Stadt<br />

der islamischen Welt, sondern auch ein bedeutendes<br />

Handelszentrum, Auch Medina ist für die Muslime<br />

eine wichtige heilige Stadt, denn hier fand Mohammed<br />

Aufnahme, als er von verärgerten Kaufleuten,<br />

die durch seine religiösen Gr<strong>und</strong>sätze ihre Handelsgeschäfte<br />

bedroht sahen, aus Mekka vertrieben worden<br />

war.<br />

Bald nach dem Tod des Propheten Mohammed im<br />

fahr 632 führte Uneinigkeit über die Nachfolge zu der<br />

Herausbildung zweier Hauptgruppen, den Sunniten<br />

<strong>und</strong> den Schiiten. Die Sunniten waren der Meinung,<br />

dass die vier sogenannten „rechtsgeleiteten Kalifen“,


348 6 Kulturgeographie<br />

Exkurs 6.4<br />

Geographie in Beispieien - Wandel religiöser Traditionen<br />

in Lateinamerika <strong>und</strong> der Karibik<br />

I<br />

Während der kolonialen Eroberung Lateinamerikas <strong>und</strong> der Karibik<br />

war die Konvertierung der indigenen Bevölkerung eines<br />

der Hauptziele der spanischen <strong>und</strong> portugiesischen Kolonialherren.<br />

Während einige Völker heftigen Widerstand gegen<br />

ihre Zwangsmissionierung leisteten, fanden andere einen<br />

Weg, die eigenen Traditionen mit den Bräuchen der römisch-katholischen<br />

Kirche zu verbinden. Die Zwangsbekehrung<br />

wurde dadurch erleichtert, dass nach der Überlieferung<br />

die heilige Maria von Guadeloupe einem konvertierten Indio<br />

am 9. Dezember 1531 in Mexiko erschienen ist <strong>und</strong> auf dessen<br />

Mantel einen Abdruck ihrer dunkelhäutigen Gestalt hinterlassen<br />

hat. Der Erfolg der katholischen Kirche gründete sich auch<br />

auf die Bemühungen einiger Missionare, die Bevölkerung vor<br />

den gewaltsamen Übergriffen der spanischen Regierung zu<br />

schützen, die mit Gewalt das Land der Indios in Regierungsbesitz<br />

überführte <strong>und</strong> die Ureinwohner zu Abgaben <strong>und</strong> Zwangsarbeit<br />

nötigte.<br />

Mit dem Sklavenhandel gelangten auch einige religiöse afrikanische<br />

Bräuche nach Lateinamerika <strong>und</strong> in die Karibik. Sie<br />

mischten sich mit den einheimischen Religionen <strong>und</strong> dem katholischem<br />

Glauben <strong>und</strong> brachten neue Glaubensrichtungen<br />

wie Candomblé <strong>und</strong> Umbanda in Brasilien, Voodoo in Haiti<br />

<strong>und</strong> Santería auf Kuba <strong>und</strong> einigen anderen Inseln hervor (Abbildung<br />

6.4.1). Candomblé <strong>und</strong> Umbanda sind santerianische<br />

Sekten, bei deren Ritualen getanzt wird, Kerzen <strong>und</strong> Blumen<br />

dargebracht <strong>und</strong> heilige Tiere wie zum Beispiel Hühner geopfert<br />

werden. Menschliche Medien <strong>und</strong> Priester versetzten sich<br />

in Trance, um mit Geistern zu kommunizieren, unter denen<br />

auch verschiedene katholische Heilige sind. Die Rituale des<br />

Voodoo werden von Priestern durchgeführt, die als Heiler<br />

<strong>und</strong> Beschützer vor Zaubererei gelten. Es wird getrommelt, gebetet<br />

<strong>und</strong> wichtigen Heiligen (afrikanische Götter oder Heilige<br />

der katholischen Kirche) werden Tiere geopfert. Bei der<br />

Santería, die eng verwandt ist mit der Religion der in Westafrika<br />

lebenden Yoruba <strong>und</strong> deren Bräuche denen anderer lateinamerikanischer<br />

Religionen ähneln, werden neben Heiligen der katholische<br />

Kirche auch afrikanische Naturgeister angebetet.<br />

In den 1970er-Jahren kam die christliche Strömung der<br />

Befreiungstheologie auf, eine Glaubensrichtung, bei der die<br />

6.4,1 S anteria-M tar. Dieser Altar in Brasilien zeigt, wie die<br />

Santería-Religión Elemente des Animismus mit religiösen<br />

Symbolen des Katholizismus kombiniert.<br />

die nach dem Tod des Propheten als Anführer des<br />

muslimischen Gemeinwesens gewählt worden waren,<br />

weiterhin die Gemeinschaft der Gläubigen leiten sollten.<br />

Die Schiiten hingegen meinten, dass Ali, der Vetter<br />

<strong>und</strong> Schwiegersohn Mohammeds, die Prophetennachfolge<br />

ausüben sollte. Dies führte zu kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen (zum Beispiel „Kamelschlacht“)<br />

<strong>und</strong> schließlich wurde Ali 661 vor der Mosche<br />

in Kufa ermordet. Sein Mausoleum in Nadschaf<br />

im Irak, 150 Kilometer südlich von Bagdad, ist eines<br />

der wichtigsten islamischen Heiligtümer für die Schiiten<br />

wie auch für die Sunniten.<br />

Die Sunniten bilden bis heute mit etwa 85 Prozent<br />

die Mehrheit der Muslime, wenn auch ihre Verbreitung<br />

in den muslimischen Ländern der Erde unterschiedlich<br />

ist. Die Mehrzahl der 60 Millionen Iraner


Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft 349<br />

katholisch<br />

408968000<br />

evangelisch<br />

40000000<br />

6.4.2 Die Religionen Lateinamerikas<br />

<strong>und</strong> der Karibik.<br />

Obwohl die Mehrheit der Lateinamerikaner<br />

katholisch ist, werden<br />

evangelische <strong>und</strong> traditionelle<br />

afrikanische Religionen, wie zum<br />

Beispiel Santería, ebenfalls von<br />

Millionen Menschen praktiziert.<br />

Amen <strong>und</strong> Benachteiligten im Mittelpunkt stehen. Die Befreiungstheologie<br />

orientiert sich an der ausdrücklichen Bevorzugung<br />

der Armen <strong>und</strong> Hilflosen durch Jesus sowie an marxistischen<br />

Schriften, in denen soziale Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Unterdrückung angeprangert werden. Die Glaubenssätze der<br />

Befreiungstheologie wurden vom Zweiten Vatikanischen Konzil<br />

unterstützt, das vom 11. Oktober 1962 bis zum 8. Dezember<br />

1965 stattfand <strong>und</strong> von Papst Johannes XXIII. mit dem Auftrag<br />

zu pastoralem <strong>und</strong> ökumenischem Denken einberufen wurde,<br />

in den sogenannten Basisgemeinden in Lateinamerika predigten<br />

Priester eine lebensnahe <strong>und</strong> praktische Bibelauslegung<br />

<strong>und</strong> sprachen sich gegen Unterdrückung <strong>und</strong> Autoritarismus<br />

aus. Einige von ihnen wurden daraufhin von einflussreichen<br />

Gegnern der Befreiungstheologie ermordet, welche die religiöse<br />

Strömung als revolutionär <strong>und</strong> kommunistisch verdammten.<br />

Eines der Mordopfer war der katholische Erzbischof in<br />

Salvador, Oscar Romero, der am 24. März 1980 während einer<br />

Eucharistiefeier erschossen wurde.<br />

In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl protestantischer<br />

Glaubensgruppen, die einen f<strong>und</strong>amentalistischen christlichen<br />

Glauben vertreten, in Lateinamerika <strong>und</strong> der Karibik stark zugenommen<br />

(Abbildung 6.4.2). Ihre Botschaft von Bildung <strong>und</strong><br />

Ausbildung, Genügsamkeit <strong>und</strong> ernsthaftem Glauben sowie<br />

der Erlösung jedes Einzelnen durch Jesus Christus stößt vor<br />

allem bei der Landbevölkerung auf weite Zustimmung. Heute<br />

gehören über 15 Prozent der Lateinamerikaner den evangelischen<br />

Kirchen an <strong>und</strong> jeden Tag treten 8 000 Lateinamerikaner<br />

zum evangelischen Glauben über. In Brasilien gibt es momentan<br />

noch mehr Katholiken als Evangelische, allerdings treten<br />

jährlich 500 000 Gläubige aus der katholischen Kirche aus,<br />

<strong>und</strong> in Mexiko ist die Zahl der katholischen Gläubigen seit<br />

den 1950er-Jahren um 10 Prozent zurückgegangen. Beobachter<br />

der evangelischen Missionierung in Lateinamerika gehen<br />

davon aus, dass es mehr <strong>und</strong> jüngere f<strong>und</strong>amentalistische Missionare<br />

<strong>und</strong> Pfarrer als katholische Priester gibt, <strong>und</strong> Erstere<br />

einfach mehr Seelsorge- <strong>und</strong> Glaubensarbeit als Letztere leisten.<br />

In Mexiko beispielsweise betreut ein evangelischer Pfarrer<br />

230 Gläubige, während ein katholischer Priester für 8.600<br />

Gläubige zuständig ist. Hinzu kommt, dass sich die Vertreter<br />

der evangelischen Kirchen stärker in lokalen Gemeinden engagieren<br />

als ihre katholischen Kollegen.<br />

In vielen lateinamerikanischen Gemeinden wird die katholische<br />

Kirche generell abgelehnt, da der Papst dem spanischen<br />

Königshaus einen großen Einfluss zugebilligt hat, der Besitz<br />

von Land <strong>und</strong> Lohnarbeit von Missionaren kontrolliert wird<br />

<strong>und</strong> die katholische Kirche eine Allianz mit Landbesitzern<br />

<strong>und</strong> politischen Regierungsführern eingegangen ist, die im<br />

Sinne der alten kolonialen Ordnung die Unabhängigkeit der<br />

einheimischen Bevölkerung ablehnen. Zum Beispiel gab es<br />

nach der Revolution 1910 in Mexiko für viele Jahre eine strenge<br />

Trennung von Kirche <strong>und</strong> Staat <strong>und</strong> es war katholischen<br />

Priestern untersagt, ihre kirchlichen Gewänder auch in der<br />

Öffentlichkeit zu tragen.<br />

hängt der schia an, der offiziellen Staatsreligion der im<br />

Iah re 1979 gegründeten Islamischen Republik Iran.<br />

Der Großteil der irakischen Bevölkerung zählt ebenfalls<br />

zu den Schiiten, während die von Saddam Hussein<br />

geführte Regierung aus Sunniten bestand. Neben<br />

den Sunniten <strong>und</strong> den Schiiten existieren kleine Splittergruppen<br />

<strong>und</strong> Abspaltungen, die sich vor allem aus<br />

dem schiitischen Zweig entwickelt haben.<br />

Der Islam zeigt im Mittleren Osten, in Nordafrika,<br />

Schwarzafrika oder Asien - Indien oder Indonesien -<br />

je nach Land, Region, vorislamischer Kultur <strong>und</strong><br />

aktuellen soziokulturellen Einflüssen verschiedene<br />

Ausprägungen <strong>und</strong> wird sehr unterschiedlich praktiziert.<br />

Gerade Muslime in der Diaspora, die beispielsweise<br />

nach Europa oder in die USA ausgewandert<br />

sind, entwickelten oft sehr eigenständige islamische


350 6 Kulturgeographie<br />

^ -<br />

x>C<br />

d o n 6 8 i f t<br />

0 *ttim o f<br />

6.24 Die islamische Welt Der Islam ist weit verbreitet. Die heutige Verbreitung in Afrika, Südostasien <strong>und</strong> Südasien zeugt von<br />

der großen Reichweite der Handelstätigkeit <strong>und</strong> dem kolonialen <strong>und</strong> dem kulturellen Einfluss der Bevölkerung aus dem arabischislamischen<br />

Raum seit dem frühen Mittelalter. Heute ist Indonesien das bevölkerungsreichste islamische Land. Doch auch in Europa<br />

gibt es bedeutende muslimische Minderheiten, so 4,3 Prozent in der Schweiz (B<strong>und</strong>esamt für Statistik: Volkszählung 2000);<br />

3,2 Prozent in Deutschland (Stat. B<strong>und</strong>esamt Wiesbaden, 2001) <strong>und</strong> 7 Prozent in Frankreich (2001, Quelle: epd, 2003). Die islamische<br />

Weit liegt somit nicht nur in entfernten Ländern, sondern sie ist Teil unserer unmittelbaren Nachbarschaft in Städten wie Berlin,<br />

Paris oder New York, wo ausserdem neben Millionen von gebürtigen Muslimen auch zahlreiche Konvertiten leben.<br />

6.25 Das Ursprungsgebiet des Islam Der Islam ist in die meisten Regionen der Erde vorgedrungen, doch das Zentrum der<br />

muslimischen Kultur bleibt der Mittlere Osten, wo sich die heiligen Stätten Mekka <strong>und</strong> Medina befinden. Alljährlich unternehmen 2 bis<br />

3 Millionen muslimische Gläubige aus der ganzen Welt die Pilgerfahrt zur Kaaba nach Mekka.


Kultur <strong>und</strong> Gesellschaft 351<br />

'I'endenzen, die sich stark vom Islam in den islamischen<br />

Ländern unterscheiden, teils in Richtung einer<br />

eher säkularen, teils einer eher f<strong>und</strong>amentalistischen<br />

Ausprägung.<br />

Islamischer F<strong>und</strong>amentalismus<br />

Der islamische F<strong>und</strong>amentalismus - in der Forschung<br />

auch als Islamismus oder Integrismus bezeichnet<br />

- strebt danach, die aktuellen Glaubensinhalte<br />

<strong>und</strong> religiöser Praktiken einer reinigenden Reform<br />

zu unterziehen, um wieder zurück zu der, nach<br />

Ansicht der F<strong>und</strong>amentalisten, wahren Religion zu<br />

finden. Dabei sehen die F<strong>und</strong>amentalisten ihre eigene<br />

Interpretation der heiligen Texte als die einzig richtige<br />

an. Der Unterschied zu den Reformislamisten wie<br />

Mohammed Abduh (1849 - 1905) oder Djamal Al Afghani<br />

(1838-1897), die zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

als Antwort auf die ideologische Diffamierung<br />

der islamischen Gesellschaften durch den Westen, die<br />

Befreiung der Muslime von europäischer Hegemonie<br />

<strong>und</strong> die gleichzeitige Erneuerung des Islam aus eigener<br />

Kraft forderten, liegt weniger in den Ideen, als darin,<br />

dass der islamische F<strong>und</strong>amentalismus stärker<br />

gesellschaftlich <strong>und</strong> politisch aktiv ist. Insbesondere<br />

unterscheidet er sich von der weltweit allgemeinen<br />

Tendenz zur Re-Islamisierung durch einen hohen<br />

Grad an Organisiertheit. Als Träger des Islamismus<br />

<strong>und</strong> der antikolonialen <strong>und</strong> antiimperialistischen politischen<br />

Bewegung gelten unter anderem die radikale<br />

Fraktion der Muslimbruderschaft, die palästinensische<br />

Hamas, die algerische Islamische Heilsfront,<br />

die libanesische Hizbollah <strong>und</strong> das weltweit agierende<br />

Netzwerk der al-Qä’ida (arab. für Basis).<br />

Das Gr<strong>und</strong>anliegen der islamischen F<strong>und</strong>amentalisten<br />

- oder Islamisten - ist die Schaffung eines Gesellschaftsmodells,<br />

in dem die „reinen“ islamischen<br />

Prinzipien zentrale Bedeutung haben. Dies setzt die<br />

Rückkehr zu einem in jeder Hinsicht islamischen, religiös<br />

<strong>und</strong> politisch geeinten Staat voraus. Die ablehnende<br />

Haltung der Islamisten gegenüber jeglicher<br />

Modernisierung wurzelt in ihrer Überzeugung, dass<br />

die verderblichen Einflüsse des Westens die Rechte<br />

des Einzelnen über das Wohl der Allgemeinheit stellen.<br />

Die Islamisten sehen in der Popularität westlicher<br />

Ideen eine Abwendung von der Religion hin zu einer<br />

weltlichen, nicht religiösen Gesellschaft. Staatliches<br />

Handeln soll nach ihrer Auffassung auf religiösen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen des Islams beruhen. So fordern sie die<br />

Aufnahme des heiligen islamischen Rechts (scharia),<br />

als die von Gott eingesetzte Ordnung, in die Verfassung<br />

eines Staates.<br />

Ein wichtiger Aspekt im Islam ist der Gedanke des<br />

Jihad (arab. für das Bemühen, ein bestimmtes Objekt<br />

zu erreichen), des heiligen Kampfes. Dabei wird das<br />

individuelle Bemühen um den Glauben <strong>und</strong> um moralisches<br />

Handeln als „Großer Jihad“ bezeichnet. Im<br />

islamischen Recht bezeichnet der „Kleine Jihad“ die<br />

zulässigen Formen des Krieges gegen die Feinde<br />

des Islams. Damit wurde der Jihad zum heiligen<br />

Krieg, wie ihn gewisse radikale Islamisten vertreten.<br />

Durch die Konvertierung von Nichtgläubigen kann<br />

er aber auch als friedlicher Kampf für die Errichtung<br />

des Islam als Universalreligion geführt werden. Das<br />

Konzept des Jihad gehört heute zur Rhetorik radikaler<br />

<strong>und</strong> teils auch muslimischer Staaten, in ihrem Bemühen,<br />

sich vom Westen abzugrenzen.<br />

Die Berichte in den Massenmedien zeigen klar,<br />

dass sich keine andere Bewegung der Peripherie<br />

über einen so großen Raum verbreitet <strong>und</strong> vergleichbare<br />

politische, militärische, wirtschaftliche <strong>und</strong> kulturelle<br />

Auswirkungen gezeitigt hat, wie die verschiedenen<br />

Gruppierungen des islamischen F<strong>und</strong>amentalismus.<br />

6.26 Westliche Einflüsse sind nicht universell Das Festhalten<br />

an islamischen Bekleidungsregeln - oder die Öffnung<br />

gegenüber westlichen Konsumgütern - variiert von Land zu<br />

Land <strong>und</strong> sogar von Region zu Region innerhalb eines Landes.<br />

Die größten Unterschiede treten dabei oft zwischen den ländlichen<br />

Gebieten <strong>und</strong> den Städten zutage. Letztlich bedeutet dies<br />

eher größere Vielfalt als Uniformität. Wie diese Straßenszene<br />

in Kairo zeigt, bevorzugen auch manche Stadtbewohner noch<br />

immer die traditionelle Bekleidung.


352 6 Kulturgeographie<br />

/<br />

J<br />

i<br />

6.27 Muslimische Frauen in Afghanistan <strong>und</strong> der<br />

Türkei, a) Das f<strong>und</strong>amentalistische theokratische Taliban-Regime<br />

verlangt von Frauen, sich äußerst konservativ<br />

zu kleiden, wenn sie in der Öffentlichkeit erscheinen.<br />

Diese strenge Regelung wurde erheblich gelockert, als<br />

die neue Regierung zu Beginn des Jahres 2002 die Macht<br />

übernahm. Frauen können jetzt auf zahlreiche Alternativen<br />

zurückgreifen, wenn es um die Wahl der Kleidung<br />

für die Öffentlichkeit geht. Einige tragen einfache Kopftücher,<br />

während andere, wie die abgebildeten Frauen auf<br />

einem Straßenmarkt in Mazar-e Sharif im nördlichen Teil<br />

Afghanistans, weiterhin die Burka tragen, b) Drei junge<br />

Frauen bei einem Straßenspaziergang in Istanbul. Obwohl<br />

die Türkei zu 99 Prozent muslimisch ist, hat das Land eine<br />

weltliche demokratische Regierung <strong>und</strong> eine Bevölkerung<br />

mit einer allgemein liberalen Einstellung gegenüber dem<br />

Westen, insbesondere in den Stadtgebieten. Während<br />

einige ältere Frauen <strong>und</strong> Frauen, die auf dem Land leben,<br />

es bevorzugen, in der Öffentlichkeit eine Kopfbedeckung<br />

zu tragen, haben viele der jüngeren Frauen, besonders<br />

aus der Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht, den Kleidungsstil <strong>und</strong><br />

das gesamte Erscheinungsbild der westlichen Frauen<br />

übernommen.<br />

Der Islamismus darf aber auf keinen Fall mit dem<br />

Islam gleichgesetzt werden, ebenso wenig wie der<br />

christliche F<strong>und</strong>amentalismus als repräsentativ für<br />

das Christentum anzusehen ist. Der Islam ist keine<br />

monolithische Religion. Zwar teilen alle seine Anhänger<br />

die gr<strong>und</strong>legenden Glaubensbekenntnisse, doch<br />

die ausgeübten Praktiken unterscheiden sich je<br />

nach der Tradition des betreffenden Landes, Volkes<br />

oder Stammes. In zahlreichen muslimischen Gesellschaften<br />

hat die globalisierte Weltkultur Einzug gehalten<br />

mit der Integration westlicher Kleidungsstile,<br />

Nahrungsmittel, Musik, Kommunikationsmittel <strong>und</strong><br />

sonstiger kultureller Eigenheiten (Abbildungen 6.26<br />

<strong>und</strong> 6.27). In anderen Teilen der islamischen Welt<br />

wiederum wird von islamischen F<strong>und</strong>amentalisten<br />

die Verbannung sämtlicher westlicher Ideen <strong>und</strong> Produkte<br />

gefordert werden, obschon die gleichen Gruppierungen<br />

seit vielen Jahren mit großer Professionalität<br />

die modernen Kommunikationsmittel wie Handy<br />

<strong>und</strong> Internet ungeniert für ihre Zwecke nutzen.<br />

Der öffentliche Diskurs über den Islam wird heute<br />

in der westlichen Welt, nach der Iranischen Revolution,<br />

der Rushdie-Affäre <strong>und</strong> dem Anschlag auf das<br />

World Trade Center in New York, vorwiegend von<br />

Diskussionen um die Menschenrechte, um Meinungsfreiheit<br />

<strong>und</strong> die Stellung der Frau bestimmt.<br />

Damit dient der Islam in aktuellen Diskussionen<br />

oft als negatives Kontrastbild zu den eigenen politischen<br />

Ideen <strong>und</strong> Prinzipien, durchaus vergleichbar<br />

mit dem negativen Bild des Westens, wie es die Islamisten<br />

ihrerseits vertreten.<br />

Die Bewahrung kultureller Trenn-<br />

I linien am Beispiel USA/Kanada<br />

Widerstand gegen Kulturimperialismus findet sich jedoch<br />

nicht nur in der Peripherie. Auch Australien,<br />

Großbritannien, Frankreich <strong>und</strong> Kanada haben offizielle<br />

Schritte unternommen, um den ungehinderten


Kultur <strong>und</strong> Identität 353<br />

Zufluss US-amerikanischer Kulturerzeugnisse zu<br />

stoppen. Die schärfsten Maßnahmen traf Kanada,<br />

das eine umfassende <strong>und</strong> sehr stark in die Öffentlichkeit<br />

getragene Politik zum Schutz der einheimischen<br />

Kultur gegen das Bombardement amerikanischer<br />

Musik, Fernsehsendungen, Zeitschriften, Filme <strong>und</strong><br />

anderer Kunstformen <strong>und</strong> Medien konzipierte.<br />

Anfang 1995 belegte die kanadische Regierung die<br />

einheimische Ausgabe des amerikanischen Magazins<br />

Sports lllustrated mit einer 80-prozentigen Verbrauchssteuer,<br />

da die Zeitschrift ihrer Ansicht nach<br />

nicht stark genug auf den kanadischen Markt zugeschnitten<br />

war. Zu viele Artikel bezogen sich auf amerikanische<br />

Sportthemen <strong>und</strong> -ereignisse, so die Kritik<br />

der Staatsvertreter. Einige Regierungsstellen wie das<br />

National Film Board of Canada <strong>und</strong> die kanadische<br />

R<strong>und</strong>funk- <strong>und</strong> Fernsehbehörde achten ebenfalls darauf,<br />

dass die Medien nicht mit amerikanischen Kulturerzeugnissen<br />

überschwemmt werden. So müssen<br />

beispielsweise 30 Prozent der im kanadischen R<strong>und</strong>funk<br />

gespielten Musik von einheimischen Interpreten<br />

stammen. Der im amerikanischen Nashville beheimatete<br />

Sender Country Music TV wurde Anfang<br />

der 1990er-Jahre aus dem kanadischen Kabelfernsehen<br />

verbannt <strong>und</strong> durch einen von Kanadiern geleiteten<br />

Countrymusic-Kanal ersetzt.<br />

Die kanadische Regierung reguliert nicht nur den<br />

Umfang des amerikanischen Kulturimports <strong>und</strong> bestimmt,<br />

welche Produkte die Grenze passieren dürfen,<br />

sie finanziert auch ein Subventionsprogramm<br />

zur Stärkung der eigenen Kulturbranche. Gefördert<br />

werden unter anderem Fernsehsendungen, die sich<br />

mit der kanadischen Lebenswirklichkeit befassen<br />

wie Liberty Street, eine Serie über einheimische<br />

Twens. Die international erfolgreiche Musikgruppe<br />

Crash Test Dummies produzierte ihr erstes Album<br />

mithilfe eines staatlichen Zuschusses in Höhe von<br />

umgerechnet gut 40 000 Euro. Zusammenfassend<br />

lässt sich sagen, dass der mit kulturellem Nationalismus<br />

einhergehende Wunsch nach Kontrolle der Produktion<br />

kultureller Erzeugnisse mit gewaltigen Anstrengungen<br />

verb<strong>und</strong>en ist. Auf Kanada, das seinen<br />

Kampf um eine eigene Identität, die es aus dem Schatten<br />

der Vereinigten Staaten heraustreten lässt, fortsetzt,<br />

trifft dies in besonderem Maße zu.<br />

Kultur <strong>und</strong> Identität<br />

Neben Untersuchungen zu kulturellen Aspekten wie<br />

Religion, Sprache <strong>und</strong> Bewegungen - wie die des kulturellen<br />

Nationalismus - hat man in der Geographie<br />

damit begonnen, nach anderen Formen von Identität<br />

zu fragen. Dieses Interesse beruht überwiegend auf<br />

der Tatsache, dass bestimmte traditionelle <strong>und</strong> andere<br />

sich erst in neuerer Zeit als solche wahrnehmende<br />

kulturelle Gruppen dazu übergegangen sind, ihre<br />

Identität für die Durchsetzung ihrer politischen, wirtschaftlichen,<br />

sozialen <strong>und</strong> kulturellen Ansprüche zu<br />

nutzen. In diesem Sinne rücken die Kategorien Gender,<br />

sexuelle Orientierung, Alter <strong>und</strong> Ethnie in den<br />

Mittelpunkt des Forschungsinteresses.<br />

Gender-Geographien<br />

Die ersten Publikationen im deutschen Sprachraum<br />

von Geographinnen zeigen, dass es den Wissenschaftlerinnen<br />

zunächst um die Sichtbarmachung der Frau<br />

innerhalb des Faches Geographie sowohl als Wissenschaftlerin<br />

als auch als „Untersuchungsobjekt“. Sie<br />

wehren sich dagegen, dass Frauen immer nur „mitgedacht“<br />

<strong>und</strong> „Männer als Maß“ (Meier 1989) angesehen<br />

werden. Und sie kritisieren, dass wissenschaftliche<br />

Arbeiten vor allem die Theorien, Methoden, Lebens-<br />

<strong>und</strong> Sichtweisen von Männern reflektieren,<br />

Frauen in den Institutionen unterschiedlich verteilt<br />

sind, durch die Vernachlässigung der Subsistenzwirtschaft<br />

als Forschungsthema marginalisiert werden<br />

<strong>und</strong> bei der Durchführung von Entwicklungsprojekten<br />

nicht einbezogen wurden, wobei sie aber häufig<br />

Hauptträgerinnen von strukturellen Transformationen<br />

sind. Mit ihren Artikeln verdeutlichen die feministischen<br />

Wissenschafterinnen, dass ohne einen<br />

gendersensiblen Blick in der Geographie eine umfassende<br />

Analyse nicht möglich ist.<br />

Dabei fällt auf, dass die Feministische Geographie<br />

nicht ein bestimmter Analyseansatz, aufbauend auf<br />

gleichen Voraussetzungen, Annahmen <strong>und</strong> Zielen<br />

ist, sondern ein durch unterschiedliche Theorietraditionen<br />

<strong>und</strong> länderspezifische Charakteristika beeinflusstes<br />

vielseitiges Feld gendersensiblen Denkens.<br />

Auf der einen Seite befinden sich die Gleichheitsoder<br />

Differenzdebatten der 1980er-Iahre, die Diskussion<br />

um Differenzen unter Frauen in den 1990er-Iahren<br />

<strong>und</strong> die postfeministische Debatte um Konstruktivismus<br />

<strong>und</strong> Poststrukturalismus in der Zeit um die<br />

Jahrtausendwende herum. Auf der anderen Seite entsteht<br />

ein Spannungsverhältnis zwischen politischer<br />

Aktivität <strong>und</strong> Wissenschaft, da politische Akteure<br />

<strong>und</strong> Akteurinnen im Zuge der Umsetzung frauenpolitischer<br />

Anliegen wie Professionalisierung <strong>und</strong> Gender-Mainstreaming<br />

in Wirtschaft <strong>und</strong> Politik gerade


354 6 Kulturgeographie<br />

Tabelle 6.1<br />

Ausdifferenzierung feministischer Theoriebildung<br />

Phase I: Schwerpunkt „Geschlechterdifferenz“<br />

Ende der 1960er- bis Mitte der 1980er-Jahre<br />

Gleichheitsorientierter<br />

Feminismus<br />

symbolischer<br />

Feminis-<br />

mus<br />

liberaler sozialisti- radikaler<br />

Feminis- scher Feminismus<br />

Feminis- mus<br />

mus<br />

Differenzorientierter<br />

Feminismus<br />

kultureller<br />

Feminismus<br />

Phase II „Schwerpunkt: Differenzen unter Frauen“<br />

Ende der 1980er- bis 1990er-Jahre<br />

Phase III: Schwerpunkt „Vielfältige sich überlagernde<br />

Differenzen“<br />

seit Anfang der 1990er-Jahre<br />

Antiessenzialismus<br />

Poststrukturalistischer<br />

Feminismus<br />

Multikulturalismus<br />

Postmoderner<br />

Feminismus<br />

(Quelle; Aufhauser 2005, in Anlehnung an <strong>und</strong> in Ergänzung<br />

zu Fraser 2001)<br />

in essentialistischen Konzepten besondere Wirksamkeit<br />

sehen (Tabelle 6.1).<br />

Ein gr<strong>und</strong>sätzliches Problem <strong>und</strong> damit vorwiegender<br />

Kritikpunkt am Feminismus ist, dass Feministinnen<br />

trotz Kenntnis der Differenzen innerhalb der<br />

Genus-Gruppen „Frauen“ <strong>und</strong> „Männer“ nicht umhin<br />

kommen, für eine politische Debatte von Differenzen<br />

<strong>und</strong> Ungleichheitslagen zu homogenisieren.<br />

Damit jedoch werden verschiedene Erfahrungen, Lebenskontexte<br />

<strong>und</strong> Lebensstile vereinheitlichet. Paradoxerweise<br />

verlangt eine feministische Theorie die<br />

Analyse des „Femininen“ <strong>und</strong> reproduziert somit<br />

das, was sie beseitigen will. Damit befindet sich feministisches<br />

Denken in einem Spannungsverhältnis zwischen<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Alltag <strong>und</strong> fordert die Herstellung<br />

von Gemeinsamkeit zwischen Ungleichen,<br />

um politisch schlagkräftig zu bleiben.<br />

Mit dieser Problematik befassen sich seit den<br />

1980er-lahren die Gender Studies. Sie gehen nicht<br />

von antagonistischen biologischen Genus-Gruppen<br />

aus, sondern beschäftigen sich mit der sozialen Konstruktion<br />

von Geschlechtern <strong>und</strong> der Frage, welche<br />

Prozesse dazu beitragen, dass man größtenteils nur<br />

zwei Geschlechter wahrnimmt. Dabei liegt das Forschungsinteresse<br />

der Gender Studies nicht allein<br />

auf der Untersuchung der kulturellen Varianten,<br />

die dazu führen, dass wir von einer Gruppe „Frauen“<br />

oder „Männer“ sprechen, sondern auch auf der Analyse<br />

weit verbreiteter Weiblichkeits- <strong>und</strong> Männlichkeitsbilder,<br />

die den Schein einer Genus-Gruppe<br />

„Frauen“ beziehungsweise „Männer“ suggerieren.<br />

Eine Diskussion <strong>und</strong> Auflösung der Festschreibung<br />

dieser homogenisierten Genus-Gruppen <strong>und</strong> der traditionellen<br />

Bilder von „Weiblichkeit“ <strong>und</strong> „Männlichkeit“<br />

gibt die Möglichkeit, diese immer wieder<br />

(individuell) zu verhandeln <strong>und</strong> bindet auch andere<br />

Varianten der Geschlechtlichkeit mit ein, die bei einer<br />

feministischen Sichtweise unsichtbar bleiben.<br />

Im Laufe der letzten Jahrzehnte veränderten die<br />

„Gender-Geographien“ gegenüber der Feministischen<br />

Geographie ihren Blickwinkel <strong>und</strong> interessieren<br />

sich für die alltäglichen Zwänge <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

individueller Lebensmuster. Im Mittelpunkt steht<br />

die Frage, wie Subjekte unter den vorhandenen strukturellen,<br />

sozialen, politischen, ökonomischen <strong>und</strong><br />

räumlichen Bedingungen die Welt auf sich beziehen<br />

können. Bei diesem Weltbezug geht es um die Frage,<br />

ob Frauen einen anderen Zugriff auf Ressourcen haben<br />

als Männer <strong>und</strong> somit für sie der Zugriff auf die<br />

Welt einerseits begrenzter ist <strong>und</strong> sich ihnen andererseits<br />

auch anders darstellt. Welche Bedeutung besitzt<br />

die eigene Körperlichkeit im Verhältnis zu anderen<br />

Körpern <strong>und</strong> welche Folgen ergeben sich daraus?<br />

Gibt es eine geschlechtsspezifische Aneignung von<br />

Raum <strong>und</strong> wenn ja, welchen Prozessen unterliegt<br />

diese?<br />

Daneben zielen postmoderne Diskurse wieder<br />

stärker auf eine kulturell markierte Identitätspolitik<br />

ab, die in einem Multikulturalismus <strong>und</strong> der Verbesserung<br />

der Anerkennung jener Kulturen aufgeht, die<br />

bisher vernachlässigt werden. Dieser Ansatz gerät immer<br />

wieder in ein kritisches Blickfeld, wenn man die<br />

Frage stellt, welche Differenzen sollten innerhalb<br />

einer Demokratie gefördert, welche als Nährboden<br />

für Diskriminierung abgeschafft werden? Welche Differenzen<br />

sind per se Differenzen <strong>und</strong> welche die Folge<br />

von klischeehaften (wenn auch multikulturellen) Zuschreibungsprozessen?<br />

Nancy Fraser (1997) sieht die<br />

Gefahren, die hinter einer postmodernen Identitätspolitik<br />

stehen <strong>und</strong> plädiert für eine Verbindung aus<br />

sozialistischem Feminismus, der Anerkennung durch<br />

Umverteilung fordert, <strong>und</strong> einem feministischen<br />

Dekonstruktivismus, der fähig ist, die alltägliche<br />

(Re-)Produktion der Geschlechterkonstruktion zu<br />

dechiffrieren.<br />

Für Länder außerhalb Europas <strong>und</strong> den USA wie<br />

zum Beispiel Indien gewinnen auf Gr<strong>und</strong> der kolonialen<br />

Geschichte spezifische theoretische Ansätze<br />

wie der Postkolonialismus an Bedeutung. Vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong>, dass Kolonialisierung ein gewaltförmiger<br />

Kulturkontakt ist, wobei eine Kultur eine<br />

andere nach ihrem Bilde umformt <strong>und</strong> verändert,<br />

zerstört sie auch die Beziehung von Subjekt, Kultur


Kultur <strong>und</strong> Identität 355<br />

<strong>und</strong> Identität. Hinzu kommt die eurozentrische Definition<br />

von dem, was europäisch-westlich, orientalisch-östlich,<br />

entwickelt <strong>und</strong> nicht entwickelt ist.<br />

Postkoloniale Ansätze setzen sich mit dem Selbstfindungsprozess<br />

von Individuen auseinander <strong>und</strong> verdeutlichen<br />

einerseits die kolonialen Zuschreibungen,<br />

um sich selbst diesen zu entziehen, andererseits untersuchen<br />

sie auch die.Einflüsse des Kolonialismus in<br />

den europäischen Kolonialländern, um zeigen zu<br />

können, wie stark Kolonialismus eine Basis des<br />

Selbstverständnisses der Europäer ist.<br />

In diesem Sinne kritisiert der Postkolonialismus,<br />

dass die Frauen- <strong>und</strong> Geschlechterforschung zwar<br />

das Machtverhältnis zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen<br />

beleuchtet, jedoch in entwicklungspolitischen Zusammenhängen<br />

das Verhältnis zwischen Frauen<br />

<strong>und</strong> der Macht entwicklungspolitischer (westlicher)<br />

Ideen übersieht. Postkoloniale Kritik weist darauf<br />

hin, dass westliche feministische Denkerinnen dazu<br />

neigen die Geschlechterarrangements des Südens<br />

linder Western eyes zu betrachten (Mohanty 2002),<br />

wodurch Analysekategorien aus den persönlichen<br />

<strong>und</strong> kollektiv reflektierten Unterdrückungserfahrungen<br />

westlicher Frauen abgeleitet werden. Dieser<br />

elhnozentrische Universalismus konstruiere durch<br />

Viktimisierung <strong>und</strong> Homogenisierung eine singuläre<br />

„Dritte-Welt-Frau“, wodurch vielseitige historische,<br />

soziale sowie politische Heterogenitäten ausgeschlossen<br />

werden.<br />

Neben den Ansätzen des feministischen Postkolonialismus<br />

kritisieren vor allem schwarze Frauen in<br />

Großbritannien <strong>und</strong> den USA, dass der Dekonstruktivismus<br />

zur „Entkörperung“ <strong>und</strong> Geschlechterforschung<br />

zu Gunsten der Konzentration auf die Lebenslagen<br />

bürgerlich weißer Mittelschichtsfrauen führt.<br />

Schwarze Feministinnen argumentieren, dass die<br />

Lebenserfahrungen von schwarzen Frauen aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Hautfarbe innerhalb der feministischen Theorien<br />

ignoriert werden <strong>und</strong> führen aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

den Begriff Rassismus konsequent in die Debatte ein.<br />

In Deutschland gewannen diese Ansätze spätestens<br />

seit den 1990er-Jahren an Bedeutung, als die Integrationsprobleme<br />

von Migrantinnen <strong>und</strong> Migranten<br />

nicht mehr zu ignorieren waren.<br />

I Geographie der Sexualität<br />

Zu den Formen von Identität, welche die Aufmerksamkeit<br />

der Kulturgeographie im Sinne der new culfural<br />

geography auf sich zogen, gehört auch die Sexualität.<br />

Sie ist definiert als Gesamtheit von in der kulturell<br />

geprägten normativen Vorstellungswelt miteinander<br />

verb<strong>und</strong>enen <strong>und</strong> auf normierte sexuelle<br />

Handlungen <strong>und</strong> Begierden bezogenen Praktiken<br />

<strong>und</strong> Identitäten. Zu den frühesten <strong>und</strong> eingängigsten<br />

Beispielen geographischer Studien zur Sexualität zählt<br />

die Untersuchung der räumlichen Verbreitung der<br />

Prostitution. Die damaligen Forschungen in Kalifornien<br />

ergaben, dass Prostitution an unterschiedlichen<br />

Orten stattfindet, je nach K<strong>und</strong>enstruktur <strong>und</strong> vorhandenen<br />

Überwachungssystemen. Prostituierte mit<br />

einer finanziell besser gestellten K<strong>und</strong>schaft arbeiten<br />

in Privathäusern, Hotels <strong>und</strong> nicht öffentlichen Bereichen<br />

der Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht, während Prostituierte<br />

mit einer einfacheren Klientel eher an öffentlichen<br />

Orten zu finden sind oder ihre Freier mit zu sich<br />

nach Hause nehmen. Oftmals gehen sie mit ihren<br />

K<strong>und</strong>en auch in Hotels, die in ihrem Arbeitsgebiet<br />

gelegen sind (Abbildung 6.28).<br />

Erwartungsgemäß sind Prostituierte mit wenig<br />

zahlungskräftiger K<strong>und</strong>schaft durch die Straßengeb<strong>und</strong>enheit<br />

ihrer Tätigkeit häufiger Ziel polizeilicher<br />

<strong>und</strong> anderer öffentlicher Kontrollen. Francisco Klauser<br />

hat dazu für die Stadt Olten in der Schweiz empirisch<br />

untersucht, welche Bedeutung die Videoüberwachung<br />

solcher Zonen für die Prostituierten, die<br />

Anrainer <strong>und</strong> die Freier hat.<br />

Prostituierte mit wohlhabender Klientel dagegen<br />

treten kaum öffentlich in Erscheinung, <strong>und</strong> wenn<br />

dies doch der Fall ist, geschieht es weniger auffällig.<br />

Ebenso eindeutig sind die geographischen Unterschiede:<br />

Die meisten Städte besitzen Rotlichtviertel,<br />

wie es die 42. Straße in New York war, oder die Reeperbahn<br />

in Hamburg bis heute ist, die von den ärmeren<br />

Bevölkerungsschichten aufgesucht werden <strong>und</strong><br />

weithin bekannt sind. Prostituierte mit besser verdienender<br />

K<strong>und</strong>schaft jedoch haben kein räumlich umgrenztes<br />

Arbeitsgebiet, wie auch während des von<br />

großem Medieninteresse begleiteten Prozesses gegen<br />

Heidi Fleiss deutlich wurde, die angeblich einige der<br />

berühmtesten Hollywood-Stars mit Prostituierten<br />

versorgt hatte. Obwohl Heidi Fleiss Aktivitäten der<br />

Polizei nicht entgingen, gelangten nur sehr wenige<br />

Namen von Prostituierten <strong>und</strong> Freiern an die Öffentlichkeit.<br />

Dieses Beispiel zeigt ebenso wie die vorangegangenen<br />

Ausführungen, dass sexuelle Identität eng<br />

mit anderen Identitäten wie Schichtzugehörigkeit,<br />

Geschlecht <strong>und</strong> ethnischer Herkunft verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Eine größere Rolle spielt derzeit in der Geographie<br />

der Sexualität die Untersuchung der räumlichen Verbreitung<br />

beziehungsweise Einschränkung von Homosexualität<br />

<strong>und</strong> der Umgang mit Restriktionen<br />

von Lesben, Schwulen, Bisexuellen <strong>und</strong> Transgendern<br />

(alle Gruppen unter dem englischen Akronym<br />

LGBT - für Lesbian, Gay, Bisexual, and Transgender


356 6 Kulturgeographie<br />

1 gehen<br />

I<br />

2 sich unterhalten<br />

3 werben<br />

4 verhandeln<br />

5 telefonieren<br />

6 den K<strong>und</strong>en bedienen<br />

7 Kaffeepause<br />

8 mit dem Zuhälter<br />

verhandeln<br />

Weiße Prostituierte<br />

Schwarze Prostituierte<br />

Zuhälter<br />

Parkplatz<br />

(D<br />

<<br />

D -----<br />

C<br />

0> Restaurant<br />

Kneipe<br />

Lokal<br />

@ ®<br />

West McArthur Boulevard<br />

y<br />

4<br />

Lockvogel<br />

® ® ®i ® ® ®<br />

® Motel ® e<br />

6.28 Karte der Prostitution Die Karte gibt die nächtlichen Aktivitäten von Prostituierten, Zuhältern <strong>und</strong> Freiern am „Meatrack“<br />

wieder, einem Zentrum der Straßenprostitution in Oakland, Kalifornien. Die Prostituierten aus der Arbeiterklasse bieten sich auf<br />

der Straße an, meist in bekannten Rotlichtvierteln. Entweder werben sie selbst oder die Zuhälter von Angesicht zu Angesicht<br />

um K<strong>und</strong>en. Demgegenüber finden die Kontakte zwischen Prostituierten aus höheren Schichten <strong>und</strong> ihren Freiern an räumlich<br />

verstreuten Schauplätzen statt <strong>und</strong> werden meist durch Dritte vermittelt. (Quelle: Symanski, R. The Immoral Landscape: Female<br />

Prostitution in Western Societies. Toronto, Butterworth-Heinemann Ltd. 1981. S. 19.)<br />

people - zusammengefasst). Dabei haben sich insbesondere<br />

zwei Forschungsbereiche herauskristallisiert:<br />

das Konsumverhalten <strong>und</strong> die Bedeutung des Körpers<br />

als Ausdruck von Sexualität <strong>und</strong> geschlechtlicher<br />

Identität sowie das Konsumverhalten <strong>und</strong> das politische<br />

Handeln Homosexueller.<br />

Die offene Demonstration sexueller Vorlieben<br />

beim Einkauf ist ein Phänomen, für das in den<br />

USA der Begriff pink spending eingeführt wurde.<br />

Pink bezieht sich hier übrigens auf den rosa Winkel,<br />

den die Homosexuellen in den Konzentrationslagern<br />

des Dritten Reiches zur Kennzeichnung auf ihrer<br />

Kleidung tragen mussten. Durch die Akzeptanz von<br />

Geschäften mit spürbar schwulem Anstrich seitens<br />

der LGBT- aber auch der heterosexuellen Konsumenten<br />

entstanden von Schwulen geprägte Lebensräume<br />

wie Einkaufs- <strong>und</strong> Wohnviertel. Ihre Herausbildung<br />

führte in der westlichen Welt zu einer Zunahme des<br />

mittlerweile beträchtlichen politischen Einflusses der<br />

schwulen Bevölkerung auf städtischer, regionaler <strong>und</strong><br />

sogar nationaler Ebene. Die in den größeren europäischen<br />

<strong>und</strong> amerikanischen Städten jährlich zum<br />

Christopher Street Day stattfmdenden gay-pride-?äraden<br />

zeugen von der demographischen <strong>und</strong> politischen<br />

Bedeutung der Homosexuellen. Zudem sind<br />

sie Ausdruck des Aufbegehrens der schwulen <strong>und</strong> lesbischen<br />

Bevölkerung gegen das dominierende heterosexuelle<br />

Weltbild <strong>und</strong> des Anspruchs dieser Gruppen,<br />

die sich in Großstädten bietenden Räume mit der<br />

gleichen Selbstverständlichkeit wie die Heterosexuellen<br />

zu besetzen (Abbildung 6.29).<br />

Bei der mit der Globalisierung einhergehenden<br />

Produkt- <strong>und</strong> Konsumbezogenheit der heutigen<br />

Welt ist es nicht verw<strong>und</strong>erlich, dass Homosexuelle<br />

einen eigenen Markt <strong>und</strong> damit eine wichtige Zielgruppe<br />

für Werber, Einzelhändler, Nachtclubs <strong>und</strong><br />

Restaurants darstellen. Da auf die Kernfamilie zugeschnittene<br />

Urlaubsziele oder romantische Angebote<br />

für heterosexuelle Paare bei Schwulen <strong>und</strong> Lesben naturgemäß<br />

keinen Anklang finden, stehen ihnen in-


Kultur <strong>und</strong> Identität 357<br />

6.29 Schwulenparade in Säo Paulo, Brasilien. Fast zwei<br />

Millionen Schwule, Lesben, Bisexuelle <strong>und</strong> Transgender <strong>und</strong> ihre<br />

Anhänger - viele in üppigen Karnevalskostümen <strong>und</strong> mit wehenden<br />

Regenbogenflaggen - beteiligten sich an der Parade in<br />

der größten Stadt Brasiliens im Mai 2005 um sich selbst zu<br />

feiern <strong>und</strong> die Legalisierung von eingetragenen Lebenspartnerschaften<br />

zwischen Homosexuellen zu fordern. Auch die<br />

Schwulenparade in San Francisco zieht für gewöhnlich Zehntausende<br />

Menschen an, <strong>und</strong> anlässlich der Feier des Welt-<br />

schwulentages 2004 in Berlin wurden zwischen 200 000 <strong>und</strong><br />

500000 Teilnehmer gezählt.<br />

zwischen alternative, gezielt vermarktete Reiseziele<br />

zur Verfügung. So preisen Reiseführer für Schwule<br />

Amsterdam, San Francisco <strong>und</strong> Rio de Janeiro als<br />

„schwule Hochburgen“ an.<br />

Der zweite Untersuchungsansatz befasst sich damit,<br />

wie Homosexualität im Gegensatz zur Heterosexualität<br />

repräsentiert <strong>und</strong> gelebt wird. Dabei werden<br />

die Rolle des Körpers <strong>und</strong> die Art <strong>und</strong> Weise untersucht,<br />

wie mittels Kleidung, Haltung, Körpersprache<br />

<strong>und</strong> Körperpflege sexuelle Identität ausgedrückt wird.<br />

Die Bedeutung des Körpers wurde auch untersucht,<br />

um soziale <strong>und</strong> kulturelle Praktiken zu dekodieren,<br />

die andere Arten von sozialer Identität - wie Geschlecht<br />

<strong>und</strong> Klasse - ausdrücken. Das Repräsentieren<br />

von Sexualität steht jedoch im Zentrum der Forschungen.<br />

Die zentrale theoretische Forschungsannahme ist,<br />

dass sexuelle Identitäten erlernt <strong>und</strong> ausgedrückt<br />

werden durch als selbstverständlich übernommene<br />

Praktiken, die von den meisten Menschen als „normal“<br />

<strong>und</strong> „natürlich“ angesehen werden. Ausgehend<br />

vom Geschlecht als Ansatzpunkt <strong>und</strong> Schlüsselmerkmal<br />

der menschlichen Identität, das uns als<br />

sexuelle Wesen kennzeichnet <strong>und</strong> ausmacht, behaupten<br />

Forscher, dass der Mensch nicht automatisch<br />

(aufgr<strong>und</strong> einer angeborenen Reihe von physischen<br />

Merkmalen) ein Geschlecht besitzt, sondern dass es<br />

von uns erst „gemacht“ wird, also etwas ist, das<br />

wir durch die Art <strong>und</strong> Weise, wie wir unseren Körper<br />

nach außen präsentieren, erst erzeugen. Wir mögen<br />

rein biologisch als weibliche Wesen geboren sein,<br />

aber wir lernen erst mit der Zeit, wie Frauen zu<br />

handeln. Der homosexuelle Skinhead oder die geschminkte<br />

Lesbe sind Beispiele dafür, dass wir Sexualität<br />

mittels geschlechtsbezogener Aktivitäten ausdrücken.<br />

In der allgemeinen Auffassung ist ein<br />

Skinhead eine hypermaskuline, heterosexuelle männliche<br />

Person. Aber der homosexuelle Skinhead erschwert<br />

diese Definition indem er die Idee, dass<br />

alle hypermaskulinen Männer heterosexuell sind,<br />

infrage stellt.<br />

Geographische Forschungen über die Sexualität<br />

<strong>und</strong> den Körper haben ergeben, dass Raum bei der<br />

Performanz von Identität die wichtigste Rolle spielt.<br />

Wo homo- oder heterosexuelle Identitäten ausgedrückt<br />

werden können, ist es von zentraler Bedeutung,<br />

wer welche Räume besetzt, wie diese in Besitz<br />

genommen werden <strong>und</strong> sogar welche sexuelle Identität<br />

jemand zum Ausdruck bringt, wenn er diesen<br />

oder jenen Raum besetzt. Aber Fragen von Sexualität<br />

<strong>und</strong> Raum beziehen sich nicht nur auf das Repräsentieren<br />

sexueller Identität, sondern beeinflussen auch<br />

das Entstehen neuer politischer Kulturen, die praktiziert<br />

werden, um die Rechte von Schwulen, Lesben<br />

<strong>und</strong> Transgendern in nationalen <strong>und</strong> internationalen<br />

Räumen zu schützen.<br />

In diesem Sinne sind die alltäglichen Lebens-, Arbeits-<br />

<strong>und</strong> Freizeiträume durch eine heterosexuelle<br />

Hegemonie bestimmt, die sich sowohl in allen sozialen<br />

Beziehungen (Partnerschaft, Familie, Fre<strong>und</strong>e<br />

<strong>und</strong> so weiter) als auch in der gebauten Umwelt<br />

(Shopping Center, Straßen, Treffpunkte <strong>und</strong> so weiter)<br />

widerspiegelt. Die heterosexuelle Aufladung von<br />

Räumen <strong>und</strong> die dadurch entstehenden Benachteiligungen<br />

für Schwule <strong>und</strong> Lesben sind Ausgangspunkt<br />

der queer geographies. Sie zeigen mit dem Begriff der<br />

Heteronormativität (heterosexuelle Aufladung von<br />

Räumen, die als Norm gilt), dass Homosexualität<br />

nur in spezifischen <strong>und</strong> dafür ausgewiesenen Plätzen


i • V ^6<br />

358 6 Kulturgeographie<br />

ji, Mj ,<br />

TP"<br />

K-<br />

H.<br />

möglich ist. Die feministische Geographin Gill Valentine<br />

(1993) betont in Bezug auf Judith Butler, dass die<br />

Heteronormativität auch räumliche Handlungsfolgen<br />

aufweist. Denn die stetige Wiederholung der Beziehungen<br />

zwischen den Menschen konstruiert eben genau<br />

diese der sozialen Beziehung entsprechenden<br />

räumlichen Kontexte; andere Performanzen würden<br />

andere räumliche Handlungsfolgen bedeuten.<br />

Valentine kann durch die Analyse der Erfahrungsberichte<br />

von lesbischen Frauen zeigen, dass die Heteronormativität<br />

alltägliche Ausschlussprozesse in<br />

räumlicher Hinsicht initialisiert, sodass sich lesbische<br />

Frauen oft deplaziert (out uf place) fühlen. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong> verleugnen sie ihre Sexualität, wodurch jedoch<br />

die Lebenskonzepte nicht einfacher realisierbar, sondern<br />

unsichtbar werden <strong>und</strong> dies aufs Neue die Heterosexualität<br />

als normative Form der Sexualität stabilisiert.<br />

Das heißt nicht, dass Lesben <strong>und</strong> Schwule<br />

außerhalb des „normalen“ Lebens in Isolation leben,<br />

aber dass sie in heteronormierten Räumen als „anders“<br />

wahrgenommen werden <strong>und</strong> sich damit nicht<br />

zugehörig <strong>und</strong> deplatziert fühlen.<br />

Die weltweit steigende Aufmerksamkeit für Menschenrechtsfragen<br />

hat dazu geführt, dass inzwischen<br />

auch die sexuellen Rechte in den Blickpunkt des Interesses<br />

gerückt sind. Beispielsweise unterhält die Abteilung<br />

Fortpflanzungsmedizin <strong>und</strong> -forschung der<br />

Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) eine Webseite<br />

zum Thema sexuelle Ges<strong>und</strong>heit mit zahlreichen Begriffsdefmitionen<br />

<strong>und</strong> liefert damit eine weltweite<br />

Gr<strong>und</strong>lage für die Diskussion über Fragen der sexuellen<br />

Ges<strong>und</strong>heit. In diesen Definitionen findet sich<br />

auch das Recht eines jeden Menschen, sich frei von<br />

Zwang, Diskriminierung <strong>und</strong> Gewalt, Sexualpartner<br />

zu wählen, Sexualk<strong>und</strong>eunterricht zu erhalten <strong>und</strong><br />

ein befriedigendes, sicheres <strong>und</strong> lustvolles Sexualleben<br />

zu führen. Auch wenn diese Aussagen provisorischen<br />

Charakter haben <strong>und</strong> nicht die offizielle Politik<br />

der WHO widerspiegeln, zeigen sie doch die Veränderungen<br />

im Umgang mit Sexualität, die sich in den<br />

letzten Jahren vollzogen haben <strong>und</strong> das Bewusstsein,<br />

dass sexuelle Rechte zu den internationale anerkannten<br />

Menschenrechten gehören. „Rechtsdiskurse“ bezüglich<br />

Fragen der Sexualität nehmen weltweit auch<br />

in anderen Bereichen zu. Zum Beispiel enthält die<br />

1996 eingeführte neue Verfassung von Südafrika<br />

das sogenannte Bill of Rights, einen umfassenden<br />

<strong>und</strong> modernen Menschenrechtskatalog, der ausdrücklich<br />

den Schutz von Schwulen, Lesben, Bisexuellen<br />

<strong>und</strong> Transgendern vor Diskriminierung garantiert.<br />

Paragraph 9, Absatz 3 legt darin fest, dass „durch<br />

die Verfassung niemand in direkter oder indirekter<br />

Weise aufgr<strong>und</strong> seiner Rasse, seines sozialen <strong>und</strong> biologischen<br />

Geschlechts, einer bestehenden Schwangerschaft,<br />

seines Familienstandes, seiner ethnischen oder<br />

sozialen Herkunft, seiner Hautfarbe, seiner sexuellen<br />

Ausrichtung, seines Alters, einer Behinderung, seiner<br />

Religion, seiner Werte <strong>und</strong> Normen, seines Glaubens,<br />

seiner Kultur, seiner Sprache <strong>und</strong> seiner Herkunft<br />

diskriminiert werden darf'. Die südafrikanische Gesetzesregelung<br />

zum Schutz vor Diskriminierung aufgr<strong>und</strong><br />

der sexuellen Ausrichtung ist die erste dieser<br />

Art <strong>und</strong> in Ecuador, Fidschi <strong>und</strong> Portugal wurden<br />

ähnliche Festlegungen zur Verfassung hinzugefügt.<br />

Bis jetzt steht noch nicht fest, ob andere Länder diesem<br />

Beispiel folgen <strong>und</strong> den Schutz sexueller Rechte<br />

in ihren Verfassungen verankern werden <strong>und</strong> ob sich<br />

dieser Schutz, in jenen Ländern, die ihn bereits in der<br />

Gesetzgebung eingeführt haben, in der Praxis bewähren<br />

wird. Andererseits gibt es noch immer Staaten, in<br />

denen Homosexualität streng bestraft wird.<br />

Ein weiterer Untersuchungsansatz befasst sich mit<br />

dem politischen Aktivismus der Homosexuellen in<br />

Verbindung mit AIDS <strong>und</strong> den sogenannten queer<br />

tactics, angewandt von Gruppen wie ACTUP (AIDS<br />

Coalition to Unleash Power), GMFA (Gay Men Fighting<br />

AIDS) <strong>und</strong> Queer Nation in den USA. Die Mitglieder<br />

dieser Gruppen greifen auf direkte Formen<br />

politischen Handelns - weniger neutral bezeichnet<br />

als „Kulturterrorismus“ - zurück, um die Bandbreite<br />

öffentlich möglicher Handlungsweisen neu festzulegen.<br />

Sie treten mit radikalen Aktionen an die Öffentlichkeit,<br />

durch welche sie die selbstgefällige Haltung<br />

der öffentlichen Vermittler von Meinungen, Ideen<br />

<strong>und</strong> Fakten sowie die Einstellungen ihrer konservativen<br />

Gegner zu erschüttern suchen. ACTUP etwa enthüllte<br />

die sexuellen Vorlieben profilierter Persönlichkeiten<br />

des öffentlichen Lebens, während die Gruppe<br />

Queer Nation strikte sexuelle Abgrenzungen wie<br />

„schwul“ kontra „heterosexuell“ spielerisch in Frage<br />

stellt - unter Hinweis auf den von ihr vertretenen<br />

Standpunkt, dass solche kategorischen Unterscheidungen<br />

irreführend seien. Zu den von Queer Nation<br />

angewandten schwulen Taktiken gehören das Küssen,<br />

Händchenhalten <strong>und</strong> Tragen von Frauenkleidung an<br />

alltäglichen Orten wie Fußgängerzonen <strong>und</strong> Einkaufszentren.<br />

All diese sexuell motivierten politischen<br />

Aktionen zielen eindeutig darauf ab, die konventionellen<br />

Vorstellungen davon, was unter öffentlich<br />

<strong>und</strong> privat akzeptablem Handeln zu verstehen ist,<br />

fraglich erscheinen zu lassen.


Kultur <strong>und</strong> Identität 359<br />

Geschlecht, soziale Schicht<br />

, <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit______<br />

Geschlecht im Sinne von gender, der sozialen Geschlechterrolle<br />

(im Unterschied zu sex, dem angeborenen<br />

Geschlecht), ist eine Form von Identität, der in<br />

den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in der Kulturgeographie<br />

viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde.<br />

Die Kategorie Geschlecht (gender) reflektiert die sozialen<br />

Unterschiede zwischen Mann <strong>und</strong> Frau. Wie<br />

andere Formen der Identität impliziert auch Geschlecht<br />

ein gesellschaftlich geschaffenes Machtgefälle<br />

zwischen verschiedenen Gruppen. Im Falle des Geschlechts<br />

besitzen Männer mehr Macht als Frauen,<br />

wobei dieses Ungleichgewicht nicht biologisch bedingt<br />

ist, sondern gesellschaftliche <strong>und</strong> kulturelle<br />

Wurzeln hat. Wie bei anderen Formen der Identität<br />

ist auch hier die soziale Position ein entscheidender<br />

Faktor; sie kann die ungleiche Machtverteilung innerhalb<br />

einer Gruppe sowie zwischen den Gruppen noch<br />

verstärken. Außerdem unterscheiden sich die Auswirkungen<br />

dieses Machtgefälles weltweit von Region<br />

zu Region.<br />

Obwohl beispielsweise die gesellschaftlichen Unterschiede<br />

zwischen den Geschlechtern das soziale Leben<br />

von Männern <strong>und</strong> Frauen im Nahen Osten <strong>und</strong><br />

anderswo maßgeblich bestimmen, gibt es dort keine<br />

alleingültige islamische, christliche oder jüdische<br />

Vorstellung von „Geschlecht“. Viele von uns haben<br />

Klischeevorstellungen über das stark eingeschränkte<br />

Leben der Frauen im Nahen Osten infolge der Wirksamkeit<br />

strenger islamischer Traditionen. Man sollte<br />

sich immer wieder vor Augen halten, dass dies lediglich<br />

Stereotype sind, die keineswegs die große Bandbreite<br />

der Beziehungen zwischen Männern <strong>und</strong><br />

Frauen im Nahen Osten <strong>und</strong> in Nordafrika widerspiegeln,<br />

die jenseits von Gesellschaftsklasse, Generation,<br />

Bildungsstand, Fierkunftsort <strong>und</strong> so weiter besteht.<br />

Maßgeblich für die gesellschaftlichen Verhältnisse<br />

im Nahen Osten, in Nordafrika <strong>und</strong> anderen<br />

Teilen der Erde ist die dort vertretene ideologische<br />

These, dass sich die Frauen den Männern unterzuordnen<br />

haben. Diese Sichtweise ist in den Gesellschaften<br />

des Nahen Ostens <strong>und</strong> Nordafrikas sowohl unter<br />

Männern als auch unter Frauen weit verbreitet. Interessanterweise<br />

scheint es so zu sein, dass Männer die<br />

Unterwerfung der Frauen als natürlichen Vorgang<br />

betrachten, der quasi durch die Biologie vorgegeben<br />

ist. Im Gegensatz dazu betrachten die meisten Frauen<br />

ihre Unterordnung als soziales Produkt der Gesellschaft,<br />

in der sie leben <strong>und</strong> arbeiten, <strong>und</strong> deshalb<br />

als etwas, das ausgehandelt <strong>und</strong> beeinflusst werden<br />

kann. Das differenzierte Geschlechterverhältnis im<br />

Nahen Osten <strong>und</strong> in Nordafrika gründet sich größtenteils<br />

auf dieselben Gr<strong>und</strong>auffassungen über Männer<br />

<strong>und</strong> Frauen, die auch die Geschlechtersysteme in<br />

den westlichen Gesellschaften prägen.<br />

Das Geschlechterverhältnis wird außerdem durch<br />

andere Identitätsmerkmale, wie zum Beispiel die gesellschaftliche<br />

Stellung, verstärkt. In Südasien sind<br />

beispielsweise Frauen aus den armen Bevölkerungsschichten<br />

vom größten Leid betroffen. Die südasiatischen<br />

Gesellschaften sind sehr patriarchalisch, auch<br />

wenn die Art des Patriarchats je nach Region <strong>und</strong> Gesellschaftsschicht<br />

variiert. Die südasiatischen Frauen<br />

der armen Bevölkerungsschichten müssen nicht<br />

nur Mutterschaft <strong>und</strong> FJausarbeit bewältigen, sondern<br />

werden auch in Berufen im informellen Sektor<br />

ausgebeutet, wo sie zahlreiche Überst<strong>und</strong>en leisten<br />

müssen. In vielen armen Gemeinden werden 90 Prozent<br />

der gesamten Produktion im informellen Sektor<br />

erbracht <strong>und</strong> mehr als die Hälfte davon von Frauen<br />

erwirtschaftet (Abbildung 6.30). Außerdem haben<br />

Frauen eingeschränkte Eigentumsrechte, sie können<br />

sich in der Öffentlichkeit nicht frei bewegen <strong>und</strong> es<br />

wird ihnen nur ein sehr begrenzter Zugang zu Bildung<br />

<strong>und</strong> formeller Erwerbsarbeit gestattet. Die Unterwerfung<br />

der Frauen durch die Männer ist tief verwurzelt<br />

in der südasiatischen Kultur <strong>und</strong> zeigt sich<br />

sehr deutlich in den Traditionen des Familienlebens,<br />

wie beispielsweise in dem Brauch, den Töchtern bei<br />

der Hochzeit eine Mitgift mitzugeben. Die Bevorzugung<br />

von männlichen Nachkommen führte dazu,<br />

dass die illegale Abtreibung weiblicher Föten <strong>und</strong><br />

das Töten neugeborener Mädchen noch immer verbreitet<br />

sind. In den Ehen werden viele Frauen aus der<br />

armen Bevölkerung von ihren Männern gedemütigt<br />

<strong>und</strong> misshandelt. Viel gravierender ist jedoch das<br />

„Brautverbrennen“ - über das für gewöhnlich nur berichtet<br />

wird, wenn es Familien aus der Mittelschicht<br />

betrifft - bei dem der Ehemann oder die Schwiegermutter<br />

den Unfalltod - oft infolge eines angeblichen<br />

Küchenbrandes - oder den Selbstmord der Braut Vortäuschen,<br />

wenn deren Eltern mit der Zahlung der<br />

Mitgift in Verzug geraten waren. In Indien sterben<br />

auf diese Weise jedes Jahr mehrere Tausend Frauen,<br />

wobei die Dunkelziffer viel höher ist.<br />

Die Lage der Frauen in Südasien <strong>und</strong> anderen Regionen<br />

ist jedoch nicht völlig aussichtslos; eine der<br />

wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahre sind<br />

Selbsthilfebewegungen. Ein Beispiel ist der Verband<br />

der selbstständigen Frauen (Self-Employed Women’s<br />

Association, SEWA) in Indien, der berufstätige<br />

Frauen aus armen Bevölkerungsschichten aktiv unterstützt<br />

<strong>und</strong> wesentlich das Selbstvertrauen <strong>und</strong>


360 6 Kulturgeographie<br />

6.30 Indische Frauen im informellen<br />

Sektor Viele Frauen in Südasien sind<br />

selbstständige Verkäuferinnen auf den<br />

täglich stattfindenden Märkten, während<br />

andere Heimarbeit verrichten <strong>und</strong><br />

Weben, Stoffe färben <strong>und</strong> besticken<br />

oder Kleidungsstücke nähen. Fast alle<br />

Arbeiter im informellen Sektor haben<br />

keine Kranken- oder Arbeitslosenversicherung.<br />

die Eigenständigkeit der Frauen stärkt. In diesem<br />

Kontext steht auch die Arbeit von Muhammad Yunus<br />

(Abbildung 6.31). Seine Idee kleine Kredite von meist<br />

nur wenigen 100 Euro durch die Grameen Bank an<br />

Frauen zu vergeben, ermöglichte vielen Frauen in Indien<br />

einer selbstständigen Berufstätigkeit nachzugehen<br />

<strong>und</strong> damit das Einkommen für ihre ganze Familie<br />

zu sichern. Meist handelt es sich nur um den Kauf<br />

einer Nähmaschine oder eines Webstuhls, um die finanzielle<br />

Absicherung der Familien zu gewährleisten.<br />

Für diese Idee der Mikrofinanzierung erhielt Muhammad<br />

Yunus 2006 den Friedensnobelpreis.<br />

Nigeria zum Beispiel, das teilweise zu der im zentralen<br />

Afrika gelegenen Sahelzone gehört, litt etliche<br />

Jahre lang unter einer schweren Dürre. Die am<br />

schlimmsten betroffene Landbevölkerung war aufgr<strong>und</strong><br />

des Wassermangels nicht in der Lage, sich ausreichend<br />

zu ernähren. Die Folge war eine Hungersnot<br />

in weiten Teilen der ländlichen Regionen, zu denen<br />

auch das Hausaland im Norden Nigerias zählt (Abbil-<br />

düng 6.32). Dort sind, bedingt durch die Besonderheiten<br />

des lokalen Geschlechter- <strong>und</strong> Klassensystems,<br />

arme Frauen im Vergleich zu gleichermaßen unvermögenden<br />

Männern besonders stark von Fehl- <strong>und</strong><br />

Unterernährung - <strong>und</strong> damit auch vom Hungertod<br />

- betroffen. Aufgr<strong>und</strong> des im Hausaland bestehenden<br />

Geschlechtersystems gelangen Männer leichter an<br />

Nahrung als Frauen (Schroeder 1987). Das Klassensystem<br />

bewirkt, dass Frauen aus Bauern- oder Arbeiterfamilien<br />

seltener als sozial gleichgestellte Männer<br />

oder ihre Geschlechtsgenossinnen aus der städtischen<br />

oder ländlichen Aristokratie die nötigen finanziellen<br />

Mittel aufbringen können, um sich Nahrung zu kaufen.<br />

Im Hausaland wie auch anderswo sind vor allem<br />

diejenigen Opfer der Dürre, die nicht in der Lage<br />

sind, Vorsorge für solche Ereignisse zu treffen, ihre<br />

Auswirkungen zu minimieren <strong>und</strong> nach der Dürre<br />

Vorsorgestrategien für kommende Dürreperioden<br />

zu entwickeln. Eine geschlechtsspezifische Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

liegt dann vor, wenn (wie bei den Hausa) die<br />

derzeitigen Geschlechterbeziehungen es den Frauen<br />

erschweren, ebenso gut mit einer Dürresituation fertig<br />

zu werden wie die Männer (Exkurs „Geographie<br />

des Hungers <strong>und</strong> das Konzept der Verw<strong>und</strong>barkeit“).<br />

In traditionellen moslemischen Haushalten zum Beispiel<br />

isst der Mann vor der Frau <strong>und</strong> den Kindern, die<br />

sich dann mit den Resten zufrieden geben müssen. In<br />

Zeiten anhaltender Dürre <strong>und</strong> Nahrungsmittelknappheit<br />

geschieht es häufig, dass, nachdem der<br />

Mann seine Mahlzeit beendet hat, für die Familie<br />

kein Essen mehr übrig ist.<br />

Im Falle der Hausa führen etliche andere Faktoren<br />

zu einer geschlechtsspezifischen Vulnerabilität (Verw<strong>und</strong>barkeit)<br />

bei Dürre. Wie aus Tabelle 6.2 her\'or-


Kultur <strong>und</strong> Identität 361<br />

Agades®<br />

Kulturgebiet<br />

der Hausa<br />

Niger<br />

6.32 Hausaland im nördlichen Nigeria <strong>und</strong> südlichen Niger Wie diese Karte zeigt, erstreckt sich das Hausaland beiderseits<br />

der Staatsgrenze zwischen Nigeria <strong>und</strong> Niger. In den politischen Standardkarten ist das Hausaland nicht verzeichnet, da es seit<br />

seiner Teilung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen Inbesitznahme durch Franzosen <strong>und</strong> Engländer zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kein<br />

eigenständiges politisches Gebilde mehr ist. Auf beiden Seiten der Grenze nutzen die Hausa die sandigen Böden der Sahelwüste<br />

zum Anbau von Hirse <strong>und</strong> Sorghum. (Quelle: Karte mit Genehmigung des Verlags entnommen aus Miles, W. Hausaland. Ithaca,<br />

Cornell University Press. 1994.)<br />

geht, zählen hierzu die schlechtere Bezahlung aller<br />

von Frauen verrichteten Arbeiten, die eingeschränkten<br />

Bildungsmöglichkeiten für Frauen, deren weitgehender<br />

Ausschluss aus dem öffentlichen Leben, das<br />

Angewiesensein der Frauen auf Kinderarbeit <strong>und</strong><br />

das Fehlen von Arbeitsmöglichkeiten außerhalb der<br />

privaten Sphäre. Allerdings werden die islamischen<br />

Rechtsvorschriften bei den Fiausa je nach geographischer<br />

Herkunft <strong>und</strong> sozialer Position der Frauen unterschiedlich<br />

streng ausgelegt. Die in Tabelle 6.2 aufgeführten<br />

Faktoren sind zwar für die Beziehungen<br />

zwischen den Geschlechtern von Bedeutung, auf<br />

die unterschiedlichen sozialen Klassen treffen sie jedoch<br />

nicht in gleichem Umfang zu.<br />

Das Machtgefälle zwischen den sozialen Schichten<br />

hat zur Folge, dass nicht alle moslemischen Hausa-<br />

Frauen gegenüber den existenzbedrohenden Auswirkungen<br />

einer Dürre dieselbe Verw<strong>und</strong>barkeit besitzen.<br />

Tabelle 6.3 gibt einen kurzen Überblick über<br />

die Faktoren, welche die Lage moslemischer Bauersfrauen<br />

im Falle einer Dürre ungleich mehr erschweren<br />

als die Situation ihrer ebenfalls moslemischen<br />

Geschlechtsgenossinnen in den herrschenden<br />

Schichten. Tatsächlich gelingt es vielen Frauen aus<br />

der Oberschicht, eine Dürre relativ unbeschadet zu<br />

überstehen, da ihr Ehemann oder sie selbst Zugang<br />

zu wirtschaftlichen Ressourcen haben. Solche die<br />

Not lindernden Faktoren stehen Bäuerinnen oder anderen<br />

mittellosen Frauen nur sehr eingeschränkt oder<br />

gar nicht zur Verfügung.


362 6 Kulturgeographie<br />

A<br />

P<br />

Tabelle 6.2:<br />

Die Verw<strong>und</strong>barkeit von Frauen erhöhende<br />

Faktoren in Dürrezeiten (verglichen mit Männern)<br />

die Z ugehörigkeit zu ein er G ru p p e festlegt <strong>und</strong> auf<br />

tatsächlichen o d er em p fu n d e n en G em einsam keiten<br />

starker Effekt<br />

geringe Entlohnung aller von Frauen verrichteten Arbeiten<br />

geringere Besitzanteile an Produktionsmitteln <strong>und</strong> geringere<br />

Kontrolle über diese<br />

eingeschränkte Bildungsmöglichkeiten<br />

Wettbev\/erbsnachteile<br />

mittlerer Effekt<br />

saisonale Effekte<br />

räumliche eingeschränkte Möglichkeiten, die eigene<br />

Arbeitskraft anzubieten<br />

Abhängigkeit von Kinderarbeit<br />

Verlust von elterlichen Rechten durch Scheidung<br />

Mangel von Arbeitsmöglichkeiten in öffentlichen Bereichen<br />

Benachteiligung im Erbrecht<br />

Scheidung<br />

Nichtberücksichtigung bei staatlichen Programmen<br />

w ie S prache o d er Religion basiert. In der Geographie<br />

liegt der Fokus a u f der w echselseitigen Beeinflussung<br />

von E th n izität u n d R aum sow ie a u f dem sozialräum ­<br />

lichen H an d eln b estim m ter eth n isch er M inderheiten<br />

im V ergleich zu dem rau m b ezo g en en H andeln der<br />

d o m in ieren d e n B evölkerungsgruppe. Ein wichtiger<br />

B egriff in diesem Z u sam m en h ang ist Territorialität,<br />

d e n n T errito rien im S inne v o n sozialer K onstruktion<br />

w erden in d er K ulturgeographie als eine der G r<strong>und</strong>lagen<br />

fü r d en Z u sam m en h a lt einer E thnie angesehen<br />

(K apitel 10). K ulturelle G ru p p e n —E thnien oder auch<br />

an d ere - k ö n n e n zum Beispiel abgetren n t von der<br />

übrig en B evölkerung in G hettos o d er ethnischen Enklaven<br />

leben (K apitel 12).<br />

geringe oder unbekannte Effekte<br />

bei Heirat Umzug in das Haus des Ehemanns<br />

D es W eiteren k ö n n en solche kulturellen Gruppen<br />

die sie u m g eb en d en räu m lich en B edingungen nut­<br />

Quelle: Schroeder, R.A. Gender Vulnerability to Drought: A Case<br />

Stuy o f the Hausa Social Environment. In: National Hazards<br />

Research Applications Information Center Working Paper 58.<br />

Boulder, Colorado, University of Colorado. 1987.<br />

zen, u m ihre subjektive W eitsicht u n d ihre Auffassung<br />

von d em Platz k u n d z u tu n , den sie in dieser<br />

W elt ein n eh m en . In G ro ß städ te n geschieht dies meist<br />

a u f d er Straße. Bereits v o r zwei fah rh u n d erten gingen<br />

in den V ereinigten S taaten E inw anderer au f die Stra­<br />

Tabelle 6.3:<br />

Die Verw<strong>und</strong>barkeit von Bauersfrauen erhöhende<br />

Faktoren (verglichen mit Frauen herrschender Klassen)<br />

starker Effekt<br />

Beitrag zur Existenzsicherung der Familie<br />

Verluste durch Verkauf persönlicher Habe in Notzeiten<br />

Mangel an Kapital für Investitionen<br />

höhere Verw<strong>und</strong>barkeit gegenüber saisonalen Effekten<br />

geringere Mitgift<br />

ße, u m ih re V orstellungen bezüglich des Lebens in<br />

ih rer W ah lh eim at zu v erbreiten. Bei den ethnisch<br />

m o tiv ierten S traßen u m zü g en des 19. lahrh<strong>und</strong>erts<br />

- die Iren versam m elten sich am St. Patrick’s Day,<br />

die Italiener h ielten ih ren U m zug am Columhus<br />

Day ab, dem lahrestag d er E ntdeckung Amerikas<br />

d u rch K olum bus - k am en im m er auch die innerhalb<br />

d er sozialen Schichten, K u ltu ren u n d G enerationen<br />

U ^<br />

mittlerer Effekt<br />

geringerer gegenseitiger Schutz durch vielfältige familiäre<br />

Beziehungen<br />

stärkere Bindung an häusliche Verantwortlichkeiten<br />

geringere Verfügbarkeit von Kinderarbeit<br />

geringer oder unbekannter Effekt/geringe Verfügbarkeit<br />

von Daten<br />

mangelnde Möglichkeiten des Schulbesuchs<br />

frühe Verheiratung von Töchtern<br />

eingeschränkte Kapitalbildung infolge enger finanzieller<br />

Rahmenbedingungen<br />

b esteh enden S p an n u n g en zu m A usdruck.<br />

Es sin d n ich t n u r die S traßen, so n d ern auch zahlreiche<br />

an d ere städtische R äum e, die für die Entsteh<br />

u n g o d er U m fo rm u n g ethnischer Identität ausschlaggebend<br />

sind - sei es fü r einige wenige St<strong>und</strong>en<br />

o d er für m ehrere G en eratio n en . Z u m Beispiel sind<br />

eth n isch e R estaurants oft T reffpunkte für Personen<br />

o d er G ru p p en m it einem gem einsam en H erkunftsort<br />

u n d einer gem einsam en lokalen K üche. Die M enschen<br />

genießen d o rt traditionelle Speisen, stärken<br />

Quelle: Schroeder, R.A. Gender Vulnerability to Drought: A Case<br />

Stuy o f the Hausa Social Environment. In: National Hazards<br />

Research Applications Information Center Working Paper 58.<br />

Boulder, Colorado, University of Colorado. 1987.<br />

u n d pflegen ihre V erb in d u n g en zu anderen Orten.<br />

Es gibt sogar W ebseiten u n d T agebücher von Ausw<br />

an d erern im In tern et, a u f d enen Em igranten in<br />

ein er ähnlichen S ituation m itein an d er kom m unizieren<br />

k ö n n en . In diesen virtu ellen R äum en w ird durch<br />

Ethnizität <strong>und</strong> sozialräumliches<br />

Handeln<br />

den A ustausch von G edanken u n d Ideen unter<br />

G leichgesinnten ethnische Id en tität erzeugt <strong>und</strong> erneuert.<br />

M aria Price, C o u rtn e y W h itw o rth <strong>und</strong> andere<br />

i<br />

I<br />

Ein w eiterer geographisch relevanter A spekt k u ltu re l­<br />

ler Id en tität ist die E th n iz itä t. D ieser Begriff bezeich­<br />

G eographen h ab en u n te rsu c h t, wie Auswanderer<br />

aus L ateinam erika in W ash in g to n D. C. tem poräre,<br />

net ein gesellschaftlich geschaffenes Regelsystem , das<br />

jed o ch sehr dynam ische ethnische R äum e geschaffen


Kultur <strong>und</strong> Identität 363<br />

Geographie des Hungers <strong>und</strong> das Konzept der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

Hungersnöte werden in den Medien meist als plötzliche Ereignisse<br />

dargestellt, deren Ursachen im Bereich von Naturkatastrophen<br />

(Dürren, Überschwemmungen) oder aber in politischen<br />

Ereignissen (Kriege, Handelsblockaden) zu suchen<br />

sind. In der geographischen Forschung, wie in Studien zur<br />

„Geographie des Hungers“ <strong>und</strong> zur „Verw<strong>und</strong>barkeit“ von Gesellschaften<br />

(Watts & Bohle 1993), werden hingegen stärker<br />

Vorstellungen von längerfristigen Krisenprozessen entwickelt<br />

sowie die politischen, ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Ursachen<br />

immer wiederkehrender Hungerkrisen in bestimmten Staaten<br />

in den Blick genommen.<br />

Vereinfacht lassen sich drei Konzepte von Hungerkrisen<br />

unterscheiden (Krings 1997):<br />

Ein erstes Konzept begreift Hungerkrisen als eine phasen-<br />

hafte Destabilisierung von Nahrungssystemen. Bei labiler physisch-geographischer<br />

Ressourcenausstattung <strong>und</strong> unsicherer<br />

politisch-ökonomischer Situation sind viele Menschen chronisch<br />

fehl- oder unterernährt <strong>und</strong> es genügen bereits geringfügige<br />

äußere Störungen, zum Beispiel ein Trockenjahr, um<br />

eine krisenhafte Entwicklung aufzuschaukeln. Der Höhepunkt<br />

einer solchen krisenhaften Destabilisierung ist dann die Hungerkatastrophe.<br />

Nach einer Zeit der Stabilisierung kommt es<br />

nicht selten - auf einem höheren Niveau von Gr<strong>und</strong>anfälligkeit<br />

- zu einer erneuten Krise.<br />

Ein zweites Konzept von Hungerkrisen, das sogenannte<br />

Verkettungsmodell, konzentriert sich auf die krisenhafte Verkettung<br />

von destabilisierenden Ereignissen, wie zum Beispiel<br />

Bürgerkrieg in Verbindung mit einer Dürre <strong>und</strong> Heuschreckenplage,<br />

mangelnder Nahrungsvorratshaltung, steigenden Getreidepreisen<br />

<strong>und</strong> Unterschlagung von Nahrungsmittelhilfe<br />

durch die Administration. Auch hier entsteht eine Hungerkatastrophe<br />

aus einem sich selbst verstärkenden Prozess.<br />

Das dritte Konzept lässt sich als „Abfederungsmodell“ beschreiben.<br />

Es richtet das Augenmerk zunächst auf die umgekehrte<br />

Frage, warum <strong>und</strong> wie Hungersnöte aus eigener Kraft<br />

bewältigt werden können; das heißt, es werden autonome Bewältigungsstrategien<br />

der von Hungersnöten bedrohten Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> die endogenen Sicherungs- <strong>und</strong> Überlebensstrategien<br />

analysiert, mit welchen Bedrohungen üblichenweise abgewendet<br />

oder gemindert werden können. Zunehmende Krisenanfälligkeitwird<br />

dann mit externen Eingriffen (zum Beispiel<br />

Marktintegration, „falsche“ Entwicklungshilfe etwa durch Gratisverteilung<br />

von Lebensmitteln) erklärt, welche die ursprünglichen<br />

Sicherungsmechanismen erodieren oder zerstören.<br />

Vor allem die geographische Entwicklungsländerforschung<br />

zu diesem Thema hat inzwischen deutlich gemacht, dass Arme<br />

keine homogene Gruppe bilden <strong>und</strong> dass nicht unbedingt die<br />

materiell Ärmsten den größten Hungerrisiken ausgesetzt sind.<br />

Diese Tatsache wird im Konzept der Verw<strong>und</strong>barkeit thematisiert,<br />

welches gruppenspezifische, geographische <strong>und</strong><br />

zeitliche Differenzierungen berücksichtigt.<br />

Chambers (1989) beschreibt drei gr<strong>und</strong>legende Dimensionen<br />

von Verw<strong>und</strong>barkeit:<br />

• das Risiko, einer Stresssituation, zum Beispiel einer Dürre<br />

ausgesetzt zu werden (Risikoträchtigkeit)<br />

• das Risiko, einem Stressereignis keine geeigneten Bewältigungsstrategien<br />

entgegensetzen zu können<br />

• das Risiko, dass Stress gravierende negative Folgewirkungen<br />

für die betroffenen Regionen mit sich bringt <strong>und</strong> die Gesellschaften<br />

sich nur schwer davon erholen (Folgeschäden<br />

<strong>und</strong> Erholung)<br />

Diese Komponenten von Verw<strong>und</strong>barkeit werden in drei analytischen<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Konzepten<br />

näher untersucht. Die Humanökologie geht den Gesell-<br />

schaft-Umwelt-Beziehungen nach, zum Beispiel wie eine Gesellschaft<br />

ein spezifisches physisches Ressourcenpotenzial<br />

für die Nahrungsproduktion nutzt, wie sie mit ökologischen<br />

Gefahren umgeht <strong>und</strong> welche Auswirkungen das Ressourcenmanagement<br />

auf die Umwelt hat. Die verfügungsrechtlichen<br />

Ansätze thematisieren die Folgen fehlender Verfügungsrechte<br />

zum Beispiel zur eigenen Nahrungserzeugung, aber auch zur<br />

Teilhabe an innerdörflichen oder verwandtschaftlichen Netzwerken<br />

der gegenseitigen Hilfe in Krisenzeiten. Das Konzept<br />

der politischen Ökonomie legt den Fokus auf die Frage, ob<br />

Verfügungsrechte in der politisch-ökonomischen Makrostruktur<br />

einer Gesellschaft oder eines Staates verankert sind, das<br />

heißt hier geht es um die ökonomischen Machtstrukturen. In<br />

dieser verflochtenen Sicht einer „Politischen Ökologie“<br />

(Krings 1999) werden physisch-geographische, ökonomische<br />

<strong>und</strong> politische Faktoren so aufeinander bezogen, dass eine Integration<br />

der politischen <strong>und</strong> historisch-gesellschaftlichen<br />

Faktoren in Analysen zu Umweltveränderungen erfolgt. Ein<br />

solches Konzept vermag beispielsweise das Phänomen Hungerkrisen<br />

umfassender <strong>und</strong> adäquater zu erklären als die gängigen<br />

Ansätze; es stellt sozusagen das Paradigma eines inte-<br />

grativen geographischen Forschungsansatzes dar.<br />

H. Gebhardt<br />

haben, indem sie F u ßballm eisterschaften speziell für<br />

<strong>und</strong> m it lateinam erikanischen E m ig ran ten d u rch g e­<br />

führt haben. D ie F orscher schreiben dazu: „D ie M ei-<br />

stei schäften erzeugen einen fam iliären, u n te rh a ltsamen,<br />

praktischen, preisw erten, länderü b erg reifen d en<br />

<strong>und</strong> flüchtigen k u ltu rellen R aum , in d em die E m i­<br />

granten sich versam m eln, u m ih re gem einsam e Id en ­<br />

tität <strong>und</strong> Z ugehörigkeit zu bekräftigen“. Sie w eisen<br />

auch d arau f hin, dass es n ich t n u r das Fußballfeld<br />

selbst ist, das einen d y nam ischen eth n isch en R aum<br />

erzeugt, so n d e rn dass es vielm ehr die sozialen N etzw<br />

erke sind, die dazu fü h ren , dass diese F ußballm eisterschaften<br />

eine A rt „Z w ischen“-R au m erzeugen, der<br />

den m o m e n ta n e n L ebensraum W ash in g to n m it dem<br />

erin n e rten F lerkunftsort, d er H eim at, v erbindet.<br />

Ä hnlich den In tern etseiten , die g etren n t v o n ein an d er<br />

lebende E m igranten d u rch den gedanklichen A ustau<br />

sch ü b er die H eim at u n d die F reu d en u n d Sorgen


364 6 Kulturgeographie<br />

i !<br />

i i<br />

f !<br />

eines Lebens in der F rem de m itein an d er verbinden,<br />

schaffen die sozialen N etzw erke einen grenz- u n d länd<br />

erübergreifenden R aum eth n isch er Identität.<br />

W äh ren d des H ö h ep u n k ts d er Z u w an d eru n g im<br />

späten 19. Ja h rh u n d e rt w u rd en die Iren sow ie die italienischen,<br />

griechischen, polnischen u n d slaw ischen<br />

Im m ig ran ten von d er G esellschaft des G astlandes<br />

g rößtenteils gem ieden u n d diffam iert. Sie m ussten<br />

m it schlecht bezahlten A rbeiten u n d elenden W o h n -<br />

q u artieren vorlieb n eh m en ; in Z eitungen u n d a n d e­<br />

ren D ruckerzeugnissen w u rd en sie öffentlich v ersp o t­<br />

tet. Diese G ru p p en gingen a u f die Straße, u m die öffentlichen<br />

Flächen ih rer Stadt m it einer n euen B edeutu<br />

n g zu belegen, u n d sei es auch n u r für einen Tag.<br />

Befreit von ih rer 10- bis 15-stündigen täglichen A r­<br />

beitslast n u tzten T eiln eh m er u n d Z uschauer die U m ­<br />

züge zur P ropagierung einer alternativen W irklichkeit<br />

voller Stolz u n d F eststim m ung. Die A kteure erlangten<br />

dabei eine M acht u n d einen G rad an A u tonom ie, die<br />

ih n en im A rbeitsleben versagt blieben. D urch ih ren<br />

festlichen u n d au ßergew öhnlichen C h arak ter tru g en<br />

die U m züge des 19. Ja h rh u n d e rts v o rü b erg eh en d<br />

dazu bei, die W elt, in d er sie stattfan d en , zu v erän ­<br />

dern.<br />

A uf die S traßenum züge der heutigen Z eit trifft dies<br />

im m er n o ch zu. D er in d en V ereinigten Staaten am<br />

St. P atrick’s D ay v eranstaltete U m zug ist n ach wie<br />

v o r ein stark politisch befrachtetes Ereignis, gleich<br />

ob er in B oston, N ew Y ork o d er andersw o, w o nicht<br />

traditio n ellen irischen G ru p p e n die T eilnahm e v erw<br />

eh rt bleibt, abgehalten w ird. In d en 1990er-Jahren<br />

galt dies für irischstäm m ige Schw ule u n d Lesben. M it<br />

ih ren individuellen A uslegungen des irischen N atio ­<br />

n alcharakters stießen sie bei den k o n v entionelleren<br />

In terp rete n dieses K onzepts a u f A blehnung. A n dieser<br />

K o n fro n tatio n von E thnizität u n d Sexualität w ird zu ­<br />

dem deutlich, wie schw ierig es ist, kulturelle Id en tität<br />

in getren n te K ategorien aufzuspalten. Die kom plexen<br />

K o m b in atio n en von E thnie, Schicht, G eschlecht u n d<br />

sexueller P räferenz m ü n d e n je nach O rt u n d d er zu ­<br />

g ru n d e liegenden histo risch en E ntw icklung in einzigartige<br />

u n d m itu n te r w irkungsvolle A usdrucksform en.<br />

Ethnie <strong>und</strong> lokale Umgebung<br />

D a d er d eutsche Begriff Rasse {race) räum lich (geographisch-geopolitisch)<br />

u n d sozial alle F rem den<br />

d u rch die äußerliche G estalt von den Eigenen u n te r­<br />

scheidet u n d d u rch seine h istorischen Z u sam m en ­<br />

hänge einen starken rassistisch-ideologischen C h a­<br />

rakter besitzt, w ird d er Begriff d u rch den n u r desk rip ­<br />

tiven Begriff d er E th n ie ersetzt. G em eint ist d am it<br />

eine G ru p p e von P erso n en , die derselben Sprachgem<br />

einschaft, K ultu r o d er R eligion angehören. Mit<br />

dem Begriff d er E thnie u m g eht m an d en geschichtlich<br />

belasteten Begriff d er Rasse, d en n hierbei kom m t es<br />

zu einer ungleichen E inteilung in G esellschaftsklassen,<br />

da ausnahm slos W eiße die N o rm darstellen.<br />

Biologisch gesehen existieren bei den M enschen<br />

gar keine Rassen. M an denke jed o ch n u r an solche<br />

rassischen u n d räu m lich en K ategorisierungen wie<br />

„die C h in esen “ o d er chinatown. D ie in der westlichen<br />

W elt w eit verbreitete V orstellung, die C hinesen seien<br />

eine eigene rassische K ategorie, fü h rte zu der Entsteh<br />

u n g u n d zum F o rtb estand von chinatowns (Abbild<br />

u n g 6.33) als Teil d er Stadtlandschaft: vieler n ordam<br />

erikanischer M etro p o len . Sichtbare körperliche<br />

M erkm ale wie H aare, H au tfarb e u n d K örperbau bew<br />

irkten in diesem u n d in an d eren Fällen, dass Ethnie<br />

w eith in als etwas U n tersch eid en d es w ahrgenom m en<br />

w u rd e (u n d w ird) - ein häufig auch au f die räum liche<br />

E bene ü b ertragenes K onzept.<br />

G em äß d er ü blichen Sichtw eise bilden W ohnviertel<br />

den räu m lich en R ah m en für gem einschaftliche,<br />

m e h r o d er w eniger frei gew ählte Zusam m enschlüsse<br />

von M enschen m it äh n lich er H autfarbe. In neuerer<br />

Z eit w urde dieser A nsatz in d er K ulturgeographie jed<br />

o ch verw orfen. W ohnviertel sind n u n definiert als<br />

R äum e, die das Identitätsbew usstsein d er dom inieren<br />

d en G esellschaftsgruppe bekräftigen. So waren<br />

etw a die chinatowns im 19. Jahrh u n d e rt für die weiße<br />

am erikanische B evölkerung der physische A usdruck<br />

d er E igenschaften, w elche die C hinesen von den W eiß<br />

en tre n n ten . D azu zählten ih r A ussehen, ihre Essgew<br />

o h n h eiten , ihre R eligion, ih r O p ium konsum , ihr<br />

G lücksspiel u n d an d ere „seltsam e“ B räuche. Die lokale<br />

U m g eb u n g (chinatown) offenbarte <strong>und</strong> zem entierte<br />

die U nterschiede zw ischen den beiden gesellschaftlichen<br />

G ru p p en . D arü b er hin au s fungiert der<br />

lokale R aum auch w eiterh in als M echanism us der Erzeugung<br />

u n d B ew ahrung örtlich er System e ethnischer<br />

D ifferenzierung sow ie als In stru m en t der geographischen<br />

Segregation u nterschiedlicher Etnien.<br />

D ie homelands in S üdafrika sind ein gutes Beispiel<br />

für eine solche In terak tio n zw ischen lokaler Umgeb<br />

u n g u n d E thnie, w enn auch in einem wesentlich<br />

grö ß eren M aßstab.<br />

E thnitisierte R äum e w ie die chinatowns oder die<br />

homelands w erden d u rch u n h in terfrag te V orstellungen<br />

u n d P raktiken generiert, bei denen whiteness<br />

(„das W eiß sein “ ) als S elbstverständlichkeit angenom ­<br />

m en w ird. Whiteness w ird als N o rm zu stand angesehen,<br />

m it dem alle an d eren äu ß eren U nterschiede verglichen<br />

w erden. G eographen wie O w en Dwyer, John<br />

Paul Jones III. u n d an d ere h aben gezeigt, dass „Weiß-


Globalisierung <strong>und</strong> kultureller Wandel 365<br />

" 1<br />

6.33 Chinatown in San Fransisco<br />

Chinatown wird beschrieben als Ort, der<br />

aus freien Stücken von chinesischen<br />

Einwanderern gewählt wird. Es kann<br />

jedoch ebenso als Ort der Ausgrenzung<br />

<strong>und</strong> des Rassismus gesehen werden, der<br />

von der herrschenden Gesellschaft<br />

geschaffen wurde, die es vorzieht, Menschen<br />

anderer Herkunft aus der breiteren<br />

Gesellschaft auszugrenzen.<br />

sein“ eine U nterscheidungskategorie ist, die von<br />

sichtbaren u n d n ich t von biologischen M erkm alen<br />

abhängt, <strong>und</strong> im m er in A bhängigkeit zu an d eren K a­<br />

tegorien konstru iert w ird. A ktuell h ab en G eistes- u n d<br />

Sozialwissenschaftler d am it begonnen, whiteness zu<br />

„denaturalisieren“, in d em sie u n tersu chen , w ie whiteness<br />

als soziale K ategorie zu verschiedenen Z eiten<br />

<strong>und</strong> an unterschiedlichen O rten k o n stru ie rt w urde,<br />

<strong>und</strong> sich dam it beschäftigen, wie das K o n stru k t an<br />

besonderen O rten (K lassen-, S itzungszim m er, au f<br />

der Straße u n d so w eiter) fu n k tio n iert. E rst w en n<br />

wir anfangen, die S elbstverständlichkeit von whiteness<br />

<strong>und</strong> die Räum e, die dieses K o n stru k t erm öglichen, in ­<br />

frage zu stellen, k ö n n en w ir w irklich beginnen, rassistische<br />

A nsichten u n d H an d lu n g en ein für allem al aus<br />

der W elt zu schaffen.<br />

Globalisierung<br />

<strong>und</strong> kultureller Wandel<br />

Die A useinandersetzung m it der K ulturgeographie in<br />

diesem Kapitel w irft eine zentrale Frage auf: Inw iefern<br />

führt die G lobalisierung zu k u lturellen V erä n d e ru n ­<br />

gen? Die G lobalisierung hat a u f verschiedene k u ltu ­<br />

relle Gesellschaften unterschied liche A usw irkungen<br />

<strong>und</strong> verschiedene K ulturen reagieren unterschiedlich<br />

auf diese V eränderungen. D a d er W andel aber seit geraum<br />

er Zeit sehr viele B ereiche erfasst, ist zu fragen,<br />

wie sich die G lobalisierung a u f die kulturelle V ielfalt<br />

insgesamt ausw irkt.<br />

W er schon einm al G ro ß städ te in verschiedenen<br />

R egionen der E rde b esu ch t o der auch n u r a u f die<br />

Schauplätze von Film en u n d F ern seh rep o rtag en so ­<br />

wie a u f den H in te rg ru n d von Z eitschriftenfotos geachtet<br />

hat, der w ird die vielen v ertrau ten A spekte<br />

des h eutigen L ebens in U m geb u n g en b em erk t haben,<br />

die u n s bis v o r k u rzem n o ch sehr frem d erschienen.<br />

Flughäfen, B üros u n d von in tern atio n alen K etten b e­<br />

triebene H otels gleichen sich inzw ischen sehr. Die<br />

Ä hnlichkeiten in A rchitektu r u n d In n en e in rich tu n g<br />

w erden d u rch die nahezu allgem ein gültige K leidero<br />

rd n u n g , d er sich die an diesen O rten anzutreffenden<br />

M enschen unterw erfen , n o ch verstärkt. Fast überall<br />

a u f d er W elt ist es für M ä n n er üblich gew orden,<br />

im B üro G eschäftsanzüge zu tragen. Jeans, T -S hirts<br />

u n d T u rn sch u h e sind dagegen zur U n ifo rm ju n g er<br />

Leute u n d d er A rb eitn eh m er m it niedrigerem E in ­<br />

k o m m e n m u tiert. A u f den S traßen d er m eisten G ro ß ­<br />

städte d er E rde fahren die gleichen A utos (bei d en en<br />

lediglich die M o d ellbezeichnungen variieren k ö n ­<br />

n en ), die örtlich en R adiosender spielen die gleiche<br />

M usik, u n d oft laufen w eltw eit in d en K inos die gleichen<br />

Film e (wie Titanic, South Park o der Pokémon:<br />

Der Film). A uch die F ern seh p ro g ram m e d er einzelnen<br />

L änder w eisen viele G em einsam keiten auf. N ich t<br />

n u r die a u f M TV gezeigten M usikvideos sin d überall<br />

zu sehen, so n d ern auch die C N N -N ach rich ten , große<br />

in tern atio n ale Sportereignisse, Serien wie Baywatch<br />

u n d C om edy Serien wie M r. Bcan o d er Die<br />

Simpsons. In G eschäften u n d R estaurants trifft m an<br />

im m er w ieder a u f die gleichen M ark en n am en :<br />

C oca-C ola, P errier, C arlsberg, N estlé, N ike, Seiko,<br />

Sony, IBM , N in te n d o u n d M icrosoft, u m n u r einige


366 6 Kulturgeographie<br />

zu n en n en. C hinesisches Essen, H o t Dogs u n d Pizza<br />

gibt es an jeder Ecke, u n d auch klassische M usik,<br />

Rock u n d Jazz sind universell verbreitet.<br />

Amerikanisierung <strong>und</strong><br />

I Globalisierung_______<br />

- 1<br />

G erade diese G em einsam keiten erzeugen ein G efühl<br />

d er V ertrau th eit u n te r den B ew ohnern der in<br />

K apitel 2 b eschriebenen „beschleunigten“ W elt.<br />

A us d em Blickw inkel des kultu rellen N ationalism us<br />

besteh t der kleinste gem einsam e N en n e r dieser V ertra<br />

u th e it oft aus d er F ast-F ood- u n d M assen u n terh altu<br />

n g sk u ltu r U S -am erikanischer Provenienz. P o p u lärw<br />

issenschaftlichen B eobachtern zufolge unterliegen<br />

K ultu ren w eltw eit einem Prozess d er A m erikanisieru<br />

n g o d er „M cD onaldisierung“, d er die A nfänge<br />

einer a u f m ateriellem K onsum b asierenden E inheitsk<br />

u ltu r m it globaler V erb reitu n g u n d der englischen<br />

S prache als A usdrucksm ittel in sich trägt (A bbildung<br />

6.34).<br />

D iese E inschätzung ist sicherlich n icht aus d er Luft<br />

gegriffen, w ie allein die Z ahl der E rd b ew o h n er b e­<br />

w eist, die Sesamstraße sehen, C oca-C ola trin k en<br />

u n d bei M cD o n ald ’s o d er ähnlichen Fast-F ood-K etten<br />

essen (A bbildung 6.34). U nterdessen öffnen sich<br />

im m er m eh r lokale U n tern e h m er d er am erik an i­<br />

schen K ultur. So b erich tet etw a d er R eiseschriftsteller<br />

Pico lyer, dass er bei einem Schnellim biss in K anton<br />

(C hina) a u f G erichte n am ens „Yes, Sir, C heese M y<br />

Baby“ u n d „Ike an d T in a T u rn e r“ gestoßen sei.<br />

G anz offensichtlich w erden am erikanische P ro d u k te<br />

nich t n u r w egen ihres W ertes an sich, so n d e rn in gleichem<br />

M aße auch w egen d er ih n en in n ew o h n en d en<br />

Sym bolik als Teil einer b estim m ten Lebensw eise k o n ­<br />

sum iert. Viele M enschen assoziieren H am b u rg er von<br />

M cD o n ald ’s, C oca-C ola, H ollyw ood-Film e, R ockm<br />

usik sow ie die N ike- u n d Levis-Logos m it dem Klischee<br />

eines Lebensstils, d er von Luxus, Jugend, Fitness,<br />

S chönheit u n d F reiheit geprägt ist.<br />

In den USA hergestellte u n d vertriebene P ro d u k te<br />

w erden oft abgew andelt, ehe sie den W eg zu an d eren<br />

A bsatzm ärkten antreten , wie beispielsw eise die P ro ­<br />

d u k te d er F irm a „R evlon“, einer in den USA ansässigen<br />

ö ffentlich-rechtlichen in tern atio n alen K ö rp erschaft<br />

u n d eines M ark tfü h rers bei der M assen p ro ­<br />

d u k tio n von K osm etika, H autp fleg ep ro d u k ten u n d<br />

P arfüm . A u ß er in den USA p ro d u zie rt u n d verkauft<br />

die F irm a auch in A sien, A frika, S üdam erika u n d<br />

E u ro p a u n d passt sow ohl P ro d u k te als auch V erm<br />

arktungsstrategien den B esonderheiten des jew eiligen<br />

A bsatzm arktes an. Z u m Beispiel b ietet „M odi<br />

6.34 McDonald’s in Peking<br />

R evlon“ , ein Joint V en tu re von Revlon <strong>und</strong> der indischen<br />

F irm a M odi M u n d ip h a rm a, in Indien dekorative<br />

K osm etik für K u n d in n en aus höheren Einkom ­<br />

m ensschichten an, die a u f die einheim ischen H auttö<br />

n e abgestim m t ist. D as U n tern e h m en ist außero<br />

rd en tlich erfolgreich; 80 P rozent d er Umsätze auf<br />

dem indischen K osm etikm arkt w erden von „Modi<br />

R evlon“ erw irtschaftet.<br />

D er w irtschaftliche Erfolg der U S-am erikanischen<br />

U n terh altu n g sin d u strie h at den E indruck verstärkt,<br />

dass derzeit eine globale K ultu r im E ntstehen begriffen<br />

ist, die a u f d er A m erikanisierung d er W elt beruht.<br />

Im Jahre 1996 w ar die U nterhaltungsindustrie mit<br />

einem A u ß en h an d elsü b ersch u ss von 23 Milliarden<br />

D ollar im H inblick a u f die A uslandserträge eine<br />

d er ergiebigsten E innah m eq u ellen der Vereinigten<br />

Staaten. A uch bei an d eren U S-am erikanischen<br />

K ulturerzeugnissen ü b ertrafen die E xporte die Imp<br />

o rte rein m e n g en m äßig bei w eitem . M ehr als die<br />

H älfte aller übersetzten B ücher (ü b er 20 000 Titel)<br />

w aren 1995 u rsp rü n g lich in englischer Sprache verfasst<br />

w o rd en . V on den in tern atio n al fließenden Komm<br />

u n ik atio n s- u n d In fo rm atio n sströ m en , angefangen<br />

bei P o stsen d u n g en u n d T elefonanrufen bis hin zu<br />

den B erichten d er P resseagenturen, zu Fernsehshows,


Globalisierung <strong>und</strong> kultureller Wandel 367<br />

R adiosendungen u n d Film en, n im m t ein u n v erh ä ltnism<br />

äßig großer A nteil seinen A usgang in d en V ereinigten<br />

Staaten.<br />

Jedoch fü h ren in d er S u m m e w eder d er verbreitete<br />

Konsum U S-am erikanischer o d er den am erik an i­<br />

schen Erzeugnissen n ach em p fu n d e n er P ro d u k te<br />

noch die w eltw eite V ertrau th e it d er M en sch en m it<br />

globalen M edien u n d in tern atio n alen M a rk en n am en<br />

zu der H erausbildung ein er einheitlichen globalen<br />

Kultur. V ielm ehr b ringen die G lo balisierungsprozesse<br />

die B ew ohner d er „beschleunigten“ w ie auch<br />

der „traditionellen“ W elt m it einem gem einsam en<br />

Repertoire an P ro d u k ten, S ym bolen, M ythen, E rin ­<br />

nerungen, Ereignissen, K ultfiguren, L andschaften<br />

<strong>und</strong> T raditionen in B erührung. In T okio o d er T ucson,<br />

T urin o der T im b u k tu m ögen die M enschen<br />

mit diesen v erb in d en d en E lem enten völlig v ertrau t<br />

sein - dies bedeutet jed o ch n ich t notw endigerw eise,<br />

dass sie sie au f die gleiche A rt b en u tzen o d er identisch<br />

auf sie reagieren. F erner sollte m an sich v o r A ugen<br />

halten, dass kulturelle E inflüsse aus allen R ichtungen<br />

kom m en, n icht n u r aus d en V ereinigten Staaten. D ie<br />

USA w erden überdies auch von au ß en beeinflusst -<br />

man denke n u r an europäische M ode in am erik an i­<br />

schen G eschäften, an chinesische, indische, italienische,<br />

m exikanische u n d thailändische R estaurants<br />

in am erikanischen K lein- u n d G ro ß städ te n sow ie<br />

an am erikanische u n d europäische Läden, die K u n sthandw<br />

erk aus den L ändern d er P eripherie verkaufen<br />

oder an kulturelle Einflüsse (E xkurs 6.1 „G eographie<br />

in Beispielen - D ie H ip -H o p -K u ltu r“ ).<br />

, Eine globale Kultur?<br />

Die Frage „G ibt es eine globale K ultur?“ ist d ah er zu<br />

verneinen beziehungsw eise es bestehen keine e in d eu ­<br />

tigen A nzeichen dafür. W e n n auch eine w eltw eit<br />

wach.sende V ertrau th eit m it einem gem einsam en Bestand<br />

an P rodukten, S ym bolen u n d E reignissen (von<br />

denen etliche ihren U rsp ru n g in der U S -am erik an i­<br />

schen Fast-Food- u n d M a ssen u n terh altu n g sk u ltu r<br />

haben) zu beobachten ist, so w erden diese G em ein ­<br />

samkeiten doch an jedem O rt in einen anderen K o n ­<br />

text eingeb<strong>und</strong>en. Sie bilden d em n ach keine e in ­<br />

heitliche globale K ultur. D ie lokale E bene interagiert<br />

mit der globalen Ebene. D araus ergeben sich eigene,<br />

hybride K ulturen. Bisweilen geht die lokale, tra d itio ­<br />

nelle K ultur in d er globalen K ultur auf, w äh ren d<br />

anderswo das G egenteil der Fall ist. D ies zeigt a n ­<br />

schaulich das Beispiel der zwei Suqs (Basare in gerader,<br />

langgestreckter F orm ) in der m ittelalterlichen<br />

nordafrikanischen Stadt T unis. Beide Suqs beg in n en<br />

an d er g roßen Z aytuna-M oschee, die seit je h er den<br />

M ittelp u n k t d er A ltstadt bildet u n d befin d en sich<br />

in d er N ähe von E infallstoren, die aus dem m ittelalterlichen<br />

S tad tzen tru m in die w äh ren d d er fran zö sischen<br />

K olonialzeit erb au te N eu stad t fü h ren . D er<br />

ältere Suq verläuft von d er M oschee bis zu d em T o r­<br />

bogen, der den m ittelalterlichen S tadtkern m it d er<br />

v o n den F ranzosen errich teten N eu stad t, dem D o m i­<br />

zil d er m eisten T o u risten, v erbindet. D er zw eite Suq<br />

liegt rechtw inklig zu dem ersten u n d en d et an einem<br />

w eiteren T o r d er ehem als u m m a u e rte n Stadt. D er<br />

ältere Suk spezialisiert sich h eu te a u f tunesisches<br />

K unsth an d w erk , trad itio n elle W aren u n d so w eiter.<br />

Seine exotische A rchitektu r u n d seine vielfarbigen<br />

Säulengänge h ab en sich bis in die G egenw art erh alten.<br />

D ie klagenden T ö n e d er seit alters h er gespielten<br />

N asenflöte u n d die K länge d er arabischen M usik b ilden<br />

den H in te rg ru n d , v o r dem die euro p äisch en<br />

T o u risten, gekleidet in Shorts u n d T -S hirts, in Z w eier-<br />

o d er D reierg ru p p en flanieren u n d im m er w ieder<br />

stehen bleiben, u m zu schauen u n d zu kaufen. D er<br />

frü h e r w eniger b ed eu ten d e zw eite Suk ist h eu te ein<br />

k u n te rb u n tes W irrw arr voller M enschen u n d Leben.<br />

In ih m drän g en sich teilw eise verschleierte F rauen<br />

u n d jü n g ere tunesische M äd ch en in B lusen u n d<br />

R öcken, M ä n n er in knielangen tu n ik a- o d er to g a­<br />

artigen G ew ändern o d er in d en verschiedensten<br />

H osen u n d H em d e n - u n d K inder, K inder überall.<br />

W enige A usländer sind zu sehen. D er M ark tlärm<br />

v erm ischt sich m it p lärren d em Rock ‘n ‘ Roll. In<br />

den E inkaufsw agen, die am R and stehen, tü rm e n<br />

sich T ran sisto rrad io s, A rm b an d u h ren , Blue Jeans<br />

(einige davon prew ashed), Schals aus V iskose, Lux<br />

G esichtsseifen u n d W aschm ittelk arto n s m it O m o<br />

(A bu-L ughod 1991).<br />

Ein anderes Beispiel für das Fehlen einer h o m o ­<br />

genen globalen K u ltu r ist die Weltmusik (world<br />

m usk), ein m usikalisches G enre, das h auptsächlich<br />

als R eaktion a u f das ü b erraschen d e A u fk o m m en<br />

n ich t englischsprachiger M usik in den USA u n d<br />

G ro ß b rita n n ie n in den 1980er-Jahren en tstand. Die<br />

B ezeichnung, die v o r allem von den M edien u n d<br />

M usikläden v erw endet w ird, fasst so u n terschiedliche<br />

Stile wie den tuw in isch en K ehlgesang o d er die tra d i­<br />

tionelle G esangskunst d er G riots aus M ali zu sam ­<br />

m en. Beim K ehlgesang, d er seinen U rsp ru n g im<br />

südlichen Teil des asiatischen R usslands hat, w erden<br />

die T ö n e in d er K ehle erzeugt, w obei zwei bis vier<br />

T ö n e gleichzeitig erzeugt w erden k ö n n en . G riots<br />

sind trad itio n elle Sänger in W estafrika, die frü h e r<br />

auch B erater d er K önige w aren u n d heute B ew ahrer<br />

der G eschichte, o ralen L iteratur u n d M usik ih rer<br />

V ölker sind.


368 6 Kulturgeographie<br />

i t<br />

▲<br />

6.35 Weltmusik Bands wie Gogol Bordello kombinieren Punk mit traditioneller Zigeunermusik zu einem neuen Stil, bei dem<br />

beide Richtungen zwar nicht harmonisch, aber dafür chaotisch Zusammenkommen. Gorgol Bordello wollen eine „unbeständige<br />

Mischung“ produzieren <strong>und</strong> damit zeigen, dass Kultur ein lebendiges Gebilde ist, dem wir ständig ausgesetzt sind <strong>und</strong> das uns<br />

herausfordert. Die Band sieht ihre Musik nicht als Verkörperung von Multikulturalismus, sondern vielmehr als Herausforderung<br />

an die Hörer, die zeitgenössische alternative Weltmusik als „multi contra culti“ zu verstehen <strong>und</strong> als Hinweis darauf, dass die<br />

Globalisierung nicht ohne Konflikte verläuft.<br />

\ ‘ i<br />

I I i<br />

I ' i<br />

II<br />

; I<br />

I<br />

Es b estehen verschiedene A nsichten ü b er die A usw<br />

irk u n g en der G lobalisierung a u f die traditionelle indigene<br />

M usik. M anche glauben, dass Letztere d u rch<br />

den E ingang in die w estliche M usik in d u strie eine w eitere<br />

V erb reitu n g u n d einen h ö h eren B ekanntheitsu<br />

n d B eliebtheitsgrad erreich t hat. Lokale T raditio n en<br />

u n d B räuche h aben sich m it p o p u lären w esteu ro p äischen<br />

M usikstilen v erb u n d e n u n d eine hybride M u ­<br />

sikrichtung geschaffen. A ndere b efü rch ten , dass d er<br />

Einfluss der w estlichen M usik in d u strie u n d ih rer<br />

G enres die indigene M usik sow eit v erändert hat,<br />

dass diese ihre A u th en tizität bereits verloren hat<br />

u n d die M usik w eltw eit im m er h o m o g ener w ird. V ertreter<br />

beider A nsichten glauben, tro tz ihres b ed e u te n ­<br />

den M einungsunterschieds, dass die W eltm usik die<br />

kulturelle Vielfalt angeregt hat, u n d h aben die H offnung,<br />

dass nichtw estliche K ünstler dem T re n d d er<br />

w estlichen M u sik in d u strie u n d der T en d en z zu r V erein<br />

heitlichung d er M usik w iderstehen, aber gleichzeitig<br />

auch die positiven Seiten d er w estlichen M usikin<br />

d u strie nutzen , da sie die V erb reitu n g indigener<br />

M usik w esentlich b efö rd ert (A bbildung 6.35).<br />

Fazit<br />

K u ltu r ist ein vielschichtiges u n d in der Geographie<br />

überau s w ichtiges K onzept. Es gibt eine ganze Reihe<br />

von A nsätzen, die sich m it d er Frage beschäftigen, was<br />

K ultur eigentlich ist. Ein W eg zum V erständnis von<br />

K ultur ist die B etrach tu n g ih rer E lem ente <strong>und</strong> C harakteristika,<br />

von einzelnen M erkm alen bis hin zu<br />

kom p lex en System en. D ie K ulturgeographie ist sich<br />

d er K om plexität von K ultu r bew usst u n d betont deshalb,<br />

dass auch R aum , O rt u n d U m w elt in ihrem Zusa<br />

m m e n h an g eine Rolle spielen u n d dass zwischen<br />

K u ltu ren u n d ih rer U m w elt ein ökologisches Beziehungsgefüge<br />

besteht. Die K ulturgeographie hebt<br />

sich von an d eren geographischen U ntersuchungsansätzen<br />

ab, da sie einzigartige Einblicke erm öglicht, die<br />

zeigen, w ie K u lturen die W elten form en, in denen wir<br />

leben, w äh ren d die von uns b ew ohnten W elten zugleich<br />

die K u lturen beeinflussen.<br />

Zw ei d er am w eitesten v erbreiteten Einflussgrößen<br />

k u ltu reller Id en tität sind R eligion u n d Sprache. Trotz<br />

d er starken V erw eltlichungstendenzen in den Industriestaaten<br />

ist Religion nach wie vor eine bedeutende<br />

Id en tität stiftende K raft. D aher w ird sie bis heute als<br />

M ittel eingesetzt, u m a u f die Folgen der Globalisieru<br />

n g in untersch ied lich ster W eise Einfluss zu neh-


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 369<br />

men. G lobalisierung h at die V erb reitu n g d er W eltreligionen<br />

stark v erän d ert u n d zu einer gegenseitigen<br />

Beeinflussung d er R eligionen geführt. A m b e m e r­<br />

kenswertesten ist vielleicht, dass heute in w estlichen<br />

Industriestaaten Ü b ertritte zu R eligionen d er ö k o n o ­<br />

mischen Peripherie stattfm den.<br />

W ährend die Z ahl d er w eltw eit existierenden S p rachen<br />

durch die G lobalisierung zu sinken d ro h t, setzen<br />

sich einige Staaten u n d R egionen gegen diesen V erlust<br />

an kultureller Id en tität zur W e h r u n d ergreifen M a ß ­<br />

nahm en zum Schutz von R egionalsprachen. Seit dem<br />

Beginn gro ß räu m ig er V erflechtungen vor 500 Jahren<br />

sind viele R egionalsprachen allm ählich v erschw u n ­<br />

den. Die ü b erlebenden Sprachen existieren n ich t<br />

mehr nebeneinander, so n d e rn m itein ander, u n d da<br />

sie in engem K ontakt stehen, v erändern sie sich rasch.<br />

In jüngster Zeit h at es jedoch den A nschein, dass<br />

manche R egierungen S chritte u n te rn e h m en , um<br />

Amts- u n d R egionalsprachen gegen die feindlichen<br />

Einflüsse der G lobalisierung zu schützen. B edroht<br />

sind allerdings n ich t n u r Sprachen u n d R eligionen,<br />

sondern auch andere k u lturelle A u sdrucksform en<br />

wie K unst o der Film .<br />

Ferner u n te rsu c h t die K ulturgeographie, w ie k u l­<br />

turelle B räuche u n d V orstellungsw elten die A npassung<br />

m enschlicher G em einschaften an die n atü rlich e<br />

Umgebung beeinflussen. D ie K ulturökologie e r­<br />

forscht, inw iefern die V erfügbarkeit von R essourcen<br />

<strong>und</strong> die technologische E ntw icklung sow ie W erte<strong>und</strong><br />

G laubenssystem e die H an d lu n g en kultu reller<br />

G em einschaften in ih rer F u n k tio n als aktiv v erä n ­<br />

dernde K raft u n d als A npassungsgrößen beeinflussen.<br />

In letzter Zeit hat sich die G eographie d er Rolle der<br />

Politik <strong>und</strong> d er in tern atio n alen W irtschaft zugewandt,<br />

um daraus E rkenntnisse ü ber die B eziehung<br />

zwischen den A npassungsstrategien ein er G ru p p e<br />

<strong>und</strong> der physischen U m w elt zu gew innen. D ieser<br />

Ansatz w ird als Politische Ö kologie bezeichnet.<br />

In verschiedenen T eilen d er W elt sind G em ein ­<br />

schaften dazu übergegangen, kulturelle Id en titäten<br />

wie G eschlecht, E thnizität u n d sexuelle O rien tieru n g<br />

als Puffer gegen die A usw irkungen der G lobalisierung<br />

auf ihr Leben zu n u tzen . W enn m an die Eolgen der<br />

G lobalisierung a u f d er lokalen Ebene u n tersu ch t,<br />

zeigt sich, dass m anch en G ru p p en m ehr V or- o d er<br />

Nachteile erw achsen als anderen . Diese D iskrepanzen<br />

<strong>und</strong> die B andbreite d er R eaktionen a u f die G lobalisierung<br />

deuten d a ra u f h in , dass die M öglichkeit, eine<br />

m onolithische globale K ultu r k ö n n e alle lokalen<br />

Unterschiede auslöschen, nich t allzu w ahrscheinlich<br />

ist.<br />

Letzten E ndes bleibt festzuhalten, dass die G lobalisierung<br />

die W elt unzw eifelhaft v erän d ert u n d v erschiedene<br />

k u lturelle G ru p p en enger m itein a n d er v erbin<br />

d et, als diese es jem als zuvor gew esen sind, aber<br />

dass es ebenfalls kein en ü berzeugenden Beweis d afü r<br />

gibt, dass die G lobalisierung zu einer H o m o g en i­<br />

sierung d er K u ltu ren fü h rt. G lobalisierung ist kein<br />

einheitlicher Prozess, so n d e rn läuft je n ach O rt<br />

u n d R egion unterschiedlich ab, w eil die d o rt lebenden<br />

M enschen sie ganz verschieden erfahren u n d sehr<br />

unterschiedlich a u f den Prozess d er G lobalisierung<br />

reagieren.<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Abu-Lughod, J. Going Beyond Global Babble. In: King, A. D.<br />

(Hrsg.) Culture, Globalization, and the World-System. Basingstoke,<br />

England (Macmillan) 1991<br />

Anderson, K. Cultural Geography. Melbourne (Longman) 1999.<br />

Anderson, K. Vancouver’s Chinatown. In: Racial Discourse in Canada,<br />

1875- 1980. Montreal (McGill-Queens University<br />

Press) 1991.<br />

Aufhauser, E. Vom Widerstand gegen die Differenz zum Plädoyer<br />

für eine Geographie der Differenzen. Zur Verortung der post-<br />

strukturalistischen Wende in der feministischen Geographie.<br />

In: Strüver, A. (Hrsg.) Macht Körper Wissen Raum? Ansätze<br />

für eine Geographie der Differenzen. Beiträge zur Bevölke-<br />

rungs- <strong>und</strong> Sozialgeographie 9, Wien (2005) S. 9-32.<br />

Bebbington, A. Movements, Modernizations, and Markets: Indigenous<br />

Organizations and Agrarian Struggles in Ecuador. In:<br />

Peet, R.; M. Watts (Hrsg.) Liberation Ecologies. In: Environment,<br />

Development, Social Movements. London (Routledge)<br />

1996.<br />

Bentahila, A.; Davies, E. E. Language Mix in Rai Music: Localisation<br />

or Globalisation? In: Language and Communication 22(2)<br />

(2002) S. 187-207.<br />

Binnie, J. Trading Places: Consumtion, Sexuality and the production<br />

o f Queer Space. In: Bell, David & Gill Valentine (Hrsg.):<br />

Mapping Desires (1995) S. 182-199.<br />

Bobek, H. Die Hauptstufen der Gesellschafts- <strong>und</strong> Wirtschaftsentfaltung<br />

in geographischer Sicht. In: Die Erde 90 (1959)<br />

S. 259-298.<br />

Bobek, H. Gedanken über das logische System der Geographie.<br />

In: Mitteilungen der Österreichischen Geographischen Gesellschaft<br />

99 (1957) S. 122-145.<br />

Bonnett, A. Construction o f „Race", Place and Discipline: Geographies<br />

o f „Radical" Identity and Racism. In: Ethnic and Radical<br />

Studies 19 (1996) S. 864-883.<br />

Cosgrove, D.; Daniels S. (Hrsg.) The Iconography o f Landscape:<br />

Essays on the Symbolic Representation, Design and Use o f<br />

Past Environments. Cambridge (Cambridge University Press)<br />

1988.<br />

Crang, M. Cultural Geography. London (Routledge) 1998.<br />

Crawford, M. The World in a Shopping Mall. In: Sorkin, M. (Hrsg.)<br />

Variations on a Theme Park. In: The New American City and<br />

the End o f Public Space. New York (The Noonday Press)<br />

1992 S. 3-30.


370 6 Kulturgeographie<br />

Cronon, W. Changes in the Land. In: Indians, Colonists, and the<br />

Ecology o f New England. New York (Hill and Wang) 1983.<br />

Culture Wars In: Economist 348 (1998) S. 97-99<br />

Davis, S. Parades and Power. In: Street Theatre in Nineteenth<br />

Century Philadelphia. Philadelphia (Temple University Press)<br />

1986.<br />

Duncan, J. C.; Johnson, N. C.; Schein, R. H. (Hrsg.) A Companion<br />

to Cultural Geography. Oxford (Blackwell) 2004.<br />

Duncan, j.; Ley, D. (Hrsg.) Place/Culture/Representation. London<br />

(Routledge) 1992.<br />

Dwyer, O.J.; Jones, J.P. Ill White Socio-Spatial Epistemology In:<br />

Social and Cultural Geography 1(2) (2000) 209-222.<br />

Ehlers E. Kulturkreise - Kulturerdteile - Clash o f Civilizations.<br />

Plädoyer für eine gegenwartsbezogene Kulturgeographie.<br />

In: Geographische R<strong>und</strong>schau 40 (1996) S. 338 —344.<br />

Elger, Ralf (Hrsg.) Kleines Islam-Lexikon. München (Beck) 2006.<br />

Ende, W.; Steinbach, U. Der Islam in der Gegenwart. München<br />

(Beck) 2005.<br />

Engelmann, J. Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies-<br />

Reader. Frankfurt/New York (Campus Verlag) 1999.<br />

Forman, M.; Neal, M. A. (Hrsg.) That's the Joint! The Hip Hop Studies<br />

Reader. New York (Routledge) 2004.<br />

Fraser, Nancy Justice Interruptus: Critical Reflections on the<br />

„Postsocialist“ Condition. New York (Routledge) 1997.<br />

Giddens, A. Konsequenzen der Moderne. Frankfurt am Main<br />

(Suhrkamp) 1997.<br />

Hark, S. Queer Studies. In: von Braun, Christina & Stephan, I.<br />

(Hrsg.) Gendei^Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien.<br />

Köln (Böhlau) 2004 S. 285-303.<br />

Hartke, W. Geographie. Wiesbaden (Steiner) 1960.<br />

Hartke, W.; Ruppert, K. Zum Standort der Sozialgeographie. Kallmünz<br />

1960.<br />

Hebdige, D. Subculture. In: The Meaning o f Style. London (Routledge)<br />

1989.<br />

Hiro, H. Holy Wars. In: The Rise o f Islamic F<strong>und</strong>amentalism. New<br />

York (Routledge) 1989.<br />

Hubrath, M. (Hrsg.) Geschlechterräume. Konstruktionen von<br />

„gender“ in Geschichte, Literatur <strong>und</strong> Alltag. Wien (Böhlau)<br />

2001.<br />

International Labor Office Women ans men in the Informal Economy:<br />

A Statistical Picture. Genua (International Labor Office)<br />

2002.<br />

lyer, P. Video Nights in Kathmandu: Reports from the Not-So-Far<br />

East. London (Black Swan) 1989.<br />

Jagose, A. Queer Theory. Eine Einführung. Berlin (Querverlag)<br />

2001.<br />

Katz, C.; Monk,J. Full Circles. In: Geographies ofWomen overthe<br />

Life Course. London (Routledge) 1993.<br />

Kerner, I.: Empowerment durch Geschlechterplanung. Postkoloniale<br />

Kritik am Genderansatz. In: Malestreaming Gender? Geschlechterverhältnisse<br />

in der Entwicklungspolitik. Sonderheft<br />

der ASA <strong>und</strong> iz3w (2000) S. 10-14.<br />

Klauser, F. R. Die Videoüberwachung öffentlicher Räume. Zur Ambivalenz<br />

eines Instruments sozialer Kontrolle. Frankfurt (Campus)<br />

2006.<br />

Knapp, G.-A.; Wetterer, A. (Hrsg.): Achsen der Differenz. Gesellschaftstheorie<br />

<strong>und</strong> feministische Kritik II. Münster (Verlag<br />

Westpfälisches Dampfboot) 2003.<br />

Kobayashi, A.; Peake, L. Racism Out o f Place: Thoughts on Whiteness<br />

and an Antiracist Geography in the New Millennium. In:<br />

Annals o f the Association o f American Geographers 90(2)<br />

(2000) S. 392-403.<br />

Krekow, S. von; Steiner, J.; Taupitz, M. Das neue HipHop-Lexikon.<br />

Berlin (Schwarzkopf & Schwarzkopf) 2003.<br />

Lexikon der Geographie. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2001.<br />

Laurie, N.; Dwyer, C.; Holloway; S., Smith, F. Geographies of New<br />

Femininities. London (Longman) 1999.<br />

Law, L. Sex, Money and the Uneasy Politics o f Third Space. In:<br />

Pile, S.; Keith, M. Geographies o f Resistance. London (Routledge)<br />

1997.<br />

<strong>Marston</strong>, S. Neighborhood and Politics: Irish Ethnicity in Nineteenth<br />

Century Lowell, Massachusetts. In: Annals o f the Association<br />

o f American Geographers 78 (1988) S. 414-433.<br />

Massey, D. For Space. London (Sage) 2005.<br />

Massey, D. Space, place and gender. Cambridge (Polity Press)<br />

1994.<br />

Meier, V. Der Mann als Mass? Gedanken auf der Suche nach<br />

einer Geographie, wo Frauen mehr Raum hätten. In: Regio<br />

Basiliensis: Basler Zeitschrift für Geographie 30(2-3)<br />

(1989) 73-76.<br />

Meier, V. Jene machtgeladene Beziehung der ,Konversation’...<br />

Poststrukturalistische <strong>und</strong> postkoloniale Geographie. In: Geographica<br />

Helvetica 3 (1998) S. 107-111.<br />

Mohanty, C. „Under western eyes“ Revisited: Feminist Solidarity<br />

through Anticapitalist Struggle. In: Signs: Journal o f Women in<br />

Culture and Society 28(2) (2002) S. 499-536.<br />

Moore, D. Contesting Terrain in Zimbabwe's Eastern Highlands.<br />

Political Ecology, Ethnography, and Peasant Resource Struggles.<br />

In: Economic Geography 69(4) (1993) S. 380-401.<br />

Raju, S.; Kumar; Satish, M.; Corbridge, S. (Hrsg.): Colonial and<br />

Post-Colonial Geographies o f India. New Delhi (Guilford<br />

Press) 2006.<br />

Rocheleau, D. E.; Thomas-Slayter, B. P.; Wangari, E. Feminist Political<br />

Ecology. In: Global Issues and Local Experiences. Lon-<br />

don/New York (Routledge) 1996.<br />

Roy, 0. The Failure o f Political Islam. Cambridge, MA (Harvard<br />

University Press) 1994.<br />

Said, E. Die Welt, der Text <strong>und</strong> der Kritiker. Frankfurt a. M. (S.<br />

Fischer) 1997.<br />

Sa<strong>und</strong>ers, R. Kickin Some Knowledge: Rap and the Construction<br />

o f Identity in the African-American Ghetto. In: The Arizona Anthropologist<br />

10 (1993) S. 21-40.<br />

Schroeder, R. A. Gender Vulnerability to Drought: A Case Study of<br />

the Hausa Social Environment. In: NHRAIC Working Paper 58<br />

(1987). Boulder (University of Colorado).<br />

Symanski, R. The Immoral Landscape. In: Female Prostitution in<br />

Western Societies. Toronto (Butterworths) 1981.<br />

Underwood, D. Qscar Niemeyer and the Architecture of Brazil.<br />

New York (Rizzoli International) 1994.<br />

Valentine, G. (Hetero)sexing Space: Lesbian Perceptions and Experiences<br />

o f Everyday Spaces. In: Environment and Planning<br />

D: Society and Space 11 (1993) 395-413.<br />

Vidal de la Blache, P. Tableau de la Géographie de la France.<br />

Paris (La Table Ronde) 1911.<br />

Werlen, B. Sozialgeographie. Bern/Stuttgart/Wien (Paul Haupt)<br />

2000.<br />

Women and Geography Study Group Feminist Geographies. Explorations<br />

in Diversity and Difference. London (Longman)<br />

1997.


Literatur zu den Exkursen 371<br />

Werlen, B. Sozialgeographie. Bern/Stuttgart/Wien (Paul Haupt)<br />

2000.<br />

Women and Geography Study Group Geography and Gender. In:<br />

An Introduction to Feminist Geography. London (Hutchinson)<br />

1984.<br />

Zimmerer, K. Human Geography and the New Ecology. In; The<br />

Prospect and Promise o f Integration. Annals o f the Association<br />

of American Geographers 84(1) (1994) S. 108-125.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Bourdieu, P. Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen<br />

Urteilskraft. Frankfurl/M 1987.<br />

Bourdieu, P. Physischer, sozialer <strong>und</strong> angeeigneter physischer<br />

Raum. In: Wentz, M. (Hrsg.) Stadt-Räume. Frankfurt/M<br />

1991 S. 25-34<br />

Chambers, R. Vulnerability. Coping and Policy. In: IDS-Bulletin<br />

20 (1989) S. 1-17.<br />

Cosgrove, D. Social Formation and Symbolic Landscape. London<br />

(Croom Helm) 1984.<br />

Oavey D’s Hip-Hop Corner (http://www.daveyd.com/in-<br />

dex.html); loop, D. Rap Attack #3: African Jive bis Global HipHop.<br />

Höfen (Hannibal) 1992; Verlan, S.; Loh, H. 20Jahre Hip<br />

Hop in Deutschland. Höfen (Hannibal) 2000; George, N. XXX<br />

- drei Jahrzehnte HipHop. Freiburg (Orange Press) 2006; Mager,<br />

C. HipHop, Musik <strong>und</strong> die Artikulation von Geographie.<br />

Stuttgart (Steiner) 2007.<br />

Gebhardt, H.; Reuber, P.; Wolkersdorfer, G. Kulturgeographie:<br />

Aktuelle Ansätze <strong>und</strong> Entwicklungen. Heidelberg (Spektrum<br />

Akademischer Verlag) 2003.<br />

Harvey, D. Spaces o f Hope. Edinburgh (Edinburgh University<br />

Press) 2000.<br />

Harvey, D. The Condition o f Postmodernity: An Enquiry into the<br />

Origins o f Cultural Change. Oxford (Basil Blackwell) 1989.<br />

Hasse, J. Mediale Räume. Oldenburg (Selbstverlag des Institutes)<br />

1997.<br />

Jackson, P. Maps o f Meaning: An Introduction to Cultural Geography.<br />

London (Routledge) 1989.<br />

Krings, T. Editoral: Ziele <strong>und</strong> Forschungsfragen der Politischen<br />

Ökologie. In: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 43(3-4)<br />

(1999) S. 129-130.<br />

Krings, T. Hunger <strong>und</strong> Nahrungskrisen - ein neues Feld der wirtschaftsgeographischen<br />

Entwicklungsländerforschung - m it<br />

einer Fallstudie aus Mali/Westfrika. ln: Aufhauser, E.; Wohl-<br />

schlägl, H. (Hrsg.) Aktuelle Strömungen der Wirtschaftsgeographie<br />

im Rahmen der <strong>Humangeographie</strong>. Beiträge zur Be-<br />

völkerungs- <strong>und</strong> Sozialgeographie 6 (1997) S. 26-36.<br />

Mager, Ch. Hip Hop, Musik <strong>und</strong> die Artikulation von Geographie.<br />

Stuttgart (Steiner) 2007.<br />

Mitchell, D. Cultural Geography. A Critical Introduction. Oxford<br />

2000.<br />

Said, E. Kultur <strong>und</strong> Imperialismus: Einbildungskraft <strong>und</strong> Politik im<br />

Zeitalter der Macht. Frankfurt a.M. (S. Fischer) 1994.<br />

Said, E. Orientalismus. Frankfurt a.M. (Ullstein) 1981.<br />

Soja, E. Postmetropolis: Critical Studies o f Cities and Regions.<br />

Oxford (Blackwell Publishers) 2000.<br />

Soja, E. Postmodern Geographies: The Reassertion o f Space in<br />

Critical Social Theory. London (Verso) 1989.<br />

Soja, E. Thirdspace: Journeys to Los Angeles and Other Real-And-<br />

Imagined Places. Cambridge (Blackwell) 1996.<br />

Watts, M.; Bohle, H. G. Hunger, Famine and the Space o f Vulnerability.<br />

In; Geojournal 30(2) (1993) S. 117-125.


7 Interpretationen<br />

von Landschaften,<br />

Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

„D er O rt, w eil er das sinnlich A nschaulichere ist, entfaltet gew öhnlich eine<br />

stärkere assoziative K raft als die Z eit.“ Dieses alte, aber d en n o c h schlagkräftige<br />

Z itat von dem d eu tsch en Soziologen G eorg Sim m el (1908) gibt<br />

einen A n h altsp u n k t, w aru m w ir v o r allem L andschaften, O rte u n d R äum e<br />

zu r O rien tieru n g b en u tzen . So erm ö g lich en S traßen, G ebäude o d er auch<br />

L andschaftsm erkm ale wie Berge u n d T äler eine relativ einfache visuelle<br />

O rien tieru n g d u rch u n b ek a n n te Städte o d er R egionen. N eb en d er M ö g ­<br />

lichkeit zu r O rien tieru n g h aben einige L andschaften, O rte o d er R äum e<br />

au fg ru n d ih rer E inm aligkeit, h isto risch en B esonderheit u n d /o d e r ihres<br />

technischen F o rtsch ritts zu einer b estim m ten Z eit an zusätzlicher B edeutu<br />

n g gew onnen. Solche B edeutungszuschreibungen erfolgen a u f u n te r­<br />

schiedlichen p o litischen u n d gesellschaftlichen E benen - in tern atio n al, n a ­<br />

tional, regional, individuell - u n d sin d niem als starr, so n d e rn dynam isch<br />

u n d v eränderbar.<br />

D afür einige Beispiele: Die D resd n er F rauenkirche w ar in ih rer Bauzeit<br />

von 1726 bis 1743 ein Z eichen von R eichtum u n d p ro testan tisch er M acht<br />

u n d bew ies d u rch ihre ganz aus Sandstein gefertigte K uppel u n d ih rer zu ­<br />

d em b eso n d eren konkaven G lockenform , die dam als einm alig w ar in der<br />

W elt, das Selbstbew usstsein des D resd n er B ürgertum s. Im Z uge d er fast<br />

völligen Z erstö ru n g d er D resd n er F rauenkirche d u rch die alliierten L uftangriffe<br />

v o m 13. u n d 14. F ebruar 1945 w ar die K irche in d er D D R ein<br />

M a h n m al gegen d en K rieg u n d für viele Ü berlebende der L uftangriffe<br />

ein O rt d er T ra u er u m die verlo ren en A ngehörigen, fü r die es oftm als keine<br />

G räber gab. A m 18. M ärz 1991 w u rd e d er W iederaufbau der F rauenkirche<br />

beschlossen, d er 1996 begann u n d 2005 abgeschlossen w urde. N ich t allein<br />

d u rch d en W ied erau fb au , so n d ern d u rch das u n erw artete S p en d en v o lu ­<br />

m en, v o r allem aus G ro ß b rita n n ie n , sow ie d u rch die A nw esenheit von<br />

Q u een E lisabeth II. zu r N euein w eih u n g ist die D resd n er F rauenkirche<br />

h eu te ein W ah rzeich en einer gem einsam en N achkriegsgeschichte u n d gegenseitigen<br />

V erzeihens.<br />

E benso w ie bei d er D resd n er F rau en k irch e v eränderten sich auch die<br />

B edeutungen u n d Z usch reib u n g en des B ran d en b u rg er T o rs a u f d em P a­<br />

riser Platz in Berlin. W u rd e es 1788 bis 1791 als E rin n eru n g an d en Siebenjährigen<br />

K rieg erb au t, w ar es seit seiner E rbauung das w ichtigste W a h r­<br />

zeichen d er S tadt Berlin u n d D eutschlands u n d im m er eng m it beid er G e­<br />

schichte verk n ü p ft. So w ar es zum Beispiel zw ischen 1945 bis 1989 das<br />

Sym bol einer geteilten Stadt u n d eines geteilten Landes u n d ist seit<br />

1989 ein W ah rzeich en für die W iedervereinigung D eutschlands.<br />

A ndere Beispiele wie d er E iffelturm , der als technisches W u n d erw erk<br />

a u f d er W eltausstellung von 1889 anlässlich des 100-jährigen Jubiläum s<br />

der französischen R evolution erb a u t u n d zu einem w eltw eiten Sym bol<br />

F rankreichs gew orden ist, die E u ro p abrü ck en , die zu m Teil den n euen


374 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

r<br />

! ;<br />

Z eitgeist europäischer V erb in d u n g d arstellten (S traß ­<br />

burg, B osporus), zum Teil T re n n u n g en deutlich m a ­<br />

chen (F ran k fu rt/O d er) o d er aber auch zum V erk eh rsp<br />

ro b lem gew orden sind (B ren n erau to b ah n ) o der<br />

auch physisch geographische G egebenheiten wie<br />

das M a tte rh o rn , w elches d u rch seine m ark an te<br />

F o rm u n d seine B esteigungsgeschichte eine d er b e ­<br />

k an n testen u n d m eistbesuchten T o u riste n attra k tio ­<br />

n en ist u n d als W ahrzeichen der Schw eiz der S chokolodenfabrik<br />

T obler als V orlage für die T o b lero n e<br />

dient, m ach en solche B edeutungszuschreibungen<br />

deutlich.<br />

Diese Beispiele zeigen, dass L andschaften, O rte<br />

u n d R äum e keine B edeutungen an sich besitzen, so n ­<br />

d ern diese Sym bolik erst d u rch alltägliche H a n d lu n ­<br />

gen wie zu m Beispiel d u rch E rin n ern an historische<br />

Ereignisse erhalten u n d d am it h andlungsrelevant<br />

w erden. N eben den politischen, w irtschaftlichen<br />

u n d gesellschaftlichen Z u sch reib u n g en erh alten<br />

L andschaften, O rte u n d R äum e zu d em d u rch p e rsö n ­<br />

liche E rlebnisse wie K indheit o d er U rlau b für einzelne<br />

M enschen große B edeutung. B esonders dieser A spekt<br />

d er engen V erb in d u n g zw ischen E rin n ern u n d rä u m ­<br />

lichen G egebenheiten erm ö g lich t auch eine In s tru ­<br />

m entalisieru n g von E m o tio n en , die n ic h t selten für<br />

politische Ziele g en u tzt w ird.<br />

Schlüsselsätze<br />

G eographen v ersuchen herau szu fin d en wie M e n ­<br />

schen die W elt w ah rn eh m en u n d m it B edeutung<br />

versehen. L andschaften w erden k ulturell codiert,<br />

w o d u rch verm ittelt w ird, ob es sich bei einem b e ­<br />

stim m te n R aum u m eine sakrale o der profane,<br />

eine zugängliche o d er v erbotene, eine eher a u f<br />

V ergnügen o d er m e h r a u f A rbeit ausgerichtete<br />

L andschaft h andelt. D am it bildet die L andschaft<br />

gew isserm aßen das A rchiv einer G esellschaft, in<br />

d em sich d eren K u ltu r u n d E rfah ru n g en w id erspiegeln.<br />

L andschaften sind Texte, die von Individ<br />

u en u n d G ru p p en geschrieben u n d gelesen w erden.<br />

Sow ohl die k u lturelle Z ugehörigkeit als auch die<br />

gesellschaftliche Stellung h aben Einfluss darauf,<br />

wie M enschen ihre U m w elt erfahren u n d begreifen,<br />

wie sie selbst d u rc h die U m w elt geprägt w erden<br />

u n d inw iew eit sie diese gestalten.<br />

D ie jüngste Phase d er G lobalisierung fällt zeitlich<br />

m it d em Ü bergang von d er M o d ern e zur P o stm o ­<br />

d ern e zusam m en. D ie geschichtliche P eriode der<br />

L<br />

M o d ern e w ar von w issenschaftlicher Rationalität<br />

u n d vom F ortschrittsglauben geprägt. Die gegenw<br />

ärtige Phase d er P o stm o d e rn e zeichnet sich<br />

d u rch K o n su m o rien tieru n g u n d die Betonung<br />

pluralistischer Sichtw eisen aus.<br />

Handeln, Wissen <strong>und</strong><br />

menschliche Umwelten<br />

A usgehend von d er T atsache, dass O rte u n d M enschen<br />

ü b er ein G eflecht w echselseitiger Beziehungen<br />

m itein a n d er v erb u n d en sind, u n tersu ch en Geograp<br />

h en , wie E inzelpersonen u n d G ru p p en von Individ<br />

u en W issen ü b er ihre U m w elt erw erben <strong>und</strong> wie<br />

dieses W issen d eren E instellungen u n d H andlungen<br />

prägt. W ä h ren d eine G ru p p e v o n G eographen sich<br />

dem G egenstand d er U m w eltw ahrn eh m u n g durch<br />

U n tersu chungen im Z u sam m en h an g m it N aturkatastro<br />

p h en gew idm et hat, beschäftigten sich andere mit<br />

d er Frage, w ie M enschen O rten u n d L andschaften Bed<br />

e u tu n g verleihen. In diesem K apitel sollen die<br />

Schlüsselbegriffe O rt (place), R aum (space) <strong>und</strong> Landschaft<br />

(landscape) erläu tert w erden. F erner geht es um<br />

die Frage, wie M enschen O rte, R äum e <strong>und</strong> Landschaften<br />

erfah ren u n d gestalten u n d wie sie innerhalb<br />

dieser geographischen K ategorien agieren.<br />

G eographen, die sich m it Fragen d er U m w eltw ahrn<br />

e h m u n g (environmental perception) u n d des U m ­<br />

w eltw issens (environmental knowledge) befassen, teilen<br />

diesen U ntersu ch u n g sg eg en stan d m it anderen Sozialw<br />

issenschaftlern, insbesondere m it Psychologen.<br />

M enschliche W a h rn e h m u n g u n d E rkenntnis (cognition)<br />

u n d m enschliches V erhalten (behaviour) sind<br />

seit jeh er zentrale G egenstände der Psychologie.<br />

W as<br />

U m w eltw ah rn eh m u n g u n d H andlungen in<br />

räu m lich en K ontexten d em W esen nach zu geographisch<br />

en T h em en m ach t, ist der Bezug dieser Phänom<br />

ene sow ohl zu r U m w elt als auch zum M enschen,<br />

d er b estreb t ist, seine U m w elt zu begreifen, <strong>und</strong> dessen<br />

H an d eln in diesen K ontext eingeb<strong>und</strong>en ist. Ein<br />

G ro ß teil u n serer H an d lu n g en in räum licher H insicht<br />

ist das E rgebnis d irek ter u n d in d irekter Erfahrungen.<br />

D abei ist d em E rw erb v o n U m w eltw issen ein Filter<br />

vorgeschaltet, der d u rch E igenschaften von Personen<br />

o d er G ru p p en wie E thnie, G eschlecht (gender), Lebenszyklusstufe,<br />

Religion u n d auch d u rch den Ort<br />

b estim m t w ird, an d em je m an d lebt (A bbildung 7.1<br />

u n d 7.2).<br />

K inder besitzen beispielsw eise eigene geographische<br />

V orstellungen u n d Interessen u n d gegenüber Er-


Handeln, Wissen <strong>und</strong> menschliche Umwelten 375<br />

7.1 Unterschiedliche Wahrnehmungen<br />

von Umwelt Ein Indianer<br />

vom Stamm der Algonquin versucht<br />

einen Langholztransporter an der<br />

Durchfahrt zu hindern. Hier prallen<br />

gegensätzliche Wahrnehmungen des<br />

Waldes aufeinander: Während manche<br />

Stammesangehörige ihn als<br />

einen Ort geistiger Erneuerung betrachten,<br />

sehen Holzunternehmen in<br />

ihm eine ausbeutbare Ressource.<br />

w achsenen anders geartete B eziehungen zu ih ren<br />

physischen u n d kultu rellen U m w elten. W elche A rt<br />

von W issen eignen sie sich an, u n d w ie gehen sie<br />

mit diesem W issen um ? W elche Rolle spielen k u ltu ­<br />

relle Einflüsse in diesem Prozess? W as geschieht,<br />

wenn sich die sozialen u n d ö k o n o m isch en B ed in g u n ­<br />

gen oder auch die U m w elt stark w andeln? U m A n t­<br />

worten au f Fragen wie diese zu finden, reiste die G eo ­<br />

graphin C indi Katz in ländliche G ebiete des S udan.<br />

Durch die A rbeit m it einer G ru p p e Z ehnjähriger<br />

wollte sie herausfm den, a u f w elche W eise die K inder<br />

Umweltwissen erw erben.<br />

Bei ihren F o rschungen<br />

konnte sie au ß erd em b eo b ach ten , wie d er W andel<br />

der Landw irtschaft in der R egion n ich t n u r die Beziehungen<br />

der K inder zu ih ren Fam ilien u n d der D o rfgem<br />

einschaft v erändert hat, so n d e rn au ch d eren N a ­<br />

turw ahrnehm ung.<br />

Wie in ähnlichen G em einschaften beliebiger a n d e­<br />

rer peripherer R egionen leisten K inder auch in diesem<br />

sudanesischen D o rf einen w ichtigen B eitrag<br />

zum F am ilienunterhalt, insbesondere d u rch die M itarbeit<br />

beim Pflanzen, Säen u n d E rnten. D a die D o rfbew<br />

ohner strenggläubige M oslem s sind, ist genau geregelt,<br />

was die w eiblichen M itglieder d er L ebensgem<br />

einschaft tu n u n d w o h in sie gehen dürfen. Viele<br />

existenzsichernde T ätigkeiten, die ein V erlassen des<br />

Fam ilienverbands erfo rd erten , w aren in d er R egion<br />

für gew öhnlich den K naben V orbehalten. F ür tra d i­<br />

tionelle Subsistenzgesellschaften gilt generell, dass<br />

die M ithilfe in d er L andw irtschaft m it A u sn ah m e<br />

des Pflanzens u n d E rn ten s vorw iegend eine A ngelegenheit<br />

von Jungen w ar, die m eist auch die V e ra n t­<br />

w ortung für das V ieh trugen. Z u den P flichten vieler<br />

Jungen - u n d teilw eise auch d er M ädchen - gehörte<br />

es au ß erd em , W asser zu h olen u n d F euerholz zu sa m ­<br />

m eln. D agegen w u rd e n Jungen u n d M äd ch en gleich<br />

erm aß en in die n äh ere U m g eb u n g geschickt, u m<br />

S aisonfrüchte zu sam m eln. D ie G renzen zw ischen A r­<br />

beit u n d Spiel w aren oft fließend, beides tru g m a ß ­<br />

geblich zum E rw erb von U m w eltw issen u n d dem<br />

U m g an g m it diesem W issen bei. A uf diese W eise e n t­<br />

w ickelten die K inder ein feines G espür für die G e­<br />

gend, in d er sie lebten.<br />

W as aber geschieht, w en n G lobalisierungsprozesse<br />

die landw irtschaftlichen P ro d u k tio n ssy stem e g ru n d ­<br />

legend v erän d ern , w ie es in dem o b en g en an n ten D o rf<br />

d u rch die E in fü h ru n g des bew ässerten M ark tfru ch -<br />

tanbau s d er Fall war? Im R ahm en eines E ntw icklungsprojektes<br />

d er sudanesischen R egierung w ar<br />

das a u f Selbstversorgung ausgerichtete, a u f T ierh altu<br />

n g u n d dem A n b au von H irse u n d Sesam b asieren ­<br />

de System d ah in g eh end um gestellt w o rd en , dass n u n<br />

bew ässerte M ark tfrü ch te (cash crops) wie B aum w olle<br />

p ro d u zie rt w u rd en . D er M ark tfru ch ta n b au u n d die<br />

d am it v erb u n d en e O rganisation d er B ew ässerung so ­<br />

wie d er E insatz von D ünger, H erb izid en u n d P estizid<br />

en fü h rten dazu, dass E rw achsene u n d K inder länger<br />

u n d h ärte r arb eiten m ussten. E ltern k o n n te n ihre<br />

K inder häufig n ic h t m e h r an den S ch u lstu n d en teiln<br />

eh m en lassen, da viele A rbeiten zu r U nterrich tszeit<br />

erledigt w erden m ussten.<br />

D u rch d en R ückgang des W aldanteils w aren die<br />

K inder gezw ungen, sich zu m S am m eln von F euerholz<br />

häufiger u n d w eiter als sonst vom D o rf zu entfern en .<br />

Bald beg an n en die w o h lh ab enderen F am ilien, H olz<br />

zu kaufen, an statt ih ren K indern oder an d eren Fam i-


376 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

TH E INTEP.XOR’<br />

^oder\<br />

"'O U T S ID E '^<br />

^SheiKh NeK^^o.*<br />

i t r ^<br />

\*


Landschaft - ein vom Menschen geschaffenes System 377<br />

sprechende E rfahrung, etw a im U m gang m it G eräten,<br />

zu verfügen. Die trad itio n ellen B eziehungen in n e r­<br />

halb der D orfgem einsch aft w u rd en d u rch die G lobalisierung<br />

ebenso v erän d ert, w ie die trad itio n ellen<br />

M öglichkeiten, w ichtiges U m w eltw issen zu erw erben,<br />

für diese G en eratio n von K in d ern verloren gegangen<br />

sind.<br />

Landschaft - ein vom Menschen<br />

geschaffenes System<br />

Landschaft ist ein Begriff, u n te r dem jeder etw as a n ­<br />

deres versteht. D er eine m ag dabei an angelegte G ärten<br />

u n d L andschaftsparks im Sinne von L andschaftsarchitektur<br />

d en ken, an d eren k o m m t eine bukolische<br />

Landschaft in den Sinn. W ieder andere verb in d en m it<br />

dem Begriff L andschaft m öglicherw eise A n p flan zungen<br />

im U m feld p rivater o d er öffentlicher G ebäude<br />

oder auch die k ünstlerische D arstellung b estim m ter<br />

Szenerien in d er L andschaftsm alerei.<br />

G eographen b etra ch ten L andschaft heu te als u m ­<br />

fassendes E rgebnis m enschlichen H andelns, sodass<br />

jede L andschaft ein kom plexes A rchiv der G esellschaft<br />

darstellt. L andschaft ist gew isserm aßen eine<br />

Bew eissam m lung u n serer E igenschaften u n d E rfahrungen,<br />

u n serer B em ü h u n g en u n d unserer T riu m p h e<br />

als m enschliche W esen. U m die B edeutung von L andschaft<br />

besser zu versteh en, h ab en G eographen K ategorien<br />

entw ickelt, d en en L andschaften an h a n d d er sie<br />

charakterisierenden E lem ente zugeo rd n et w erden<br />

können.<br />

G eographen u n te rsu c h en L andschaften, d en n sie<br />

spiegeln die m a rk a n ten M erkm ale von b estim m ten<br />

Plätzen u n d R egionen w ider. Sie sprech en, etw a im<br />

Z usam m enhang m it d er K o n zen tratio n von F irm en ­<br />

hochhäusern, auch von „L andschaften d er S tärke“,<br />

„Landschaften d er V erzw eiflung“, wie im Falle von<br />

O bdachlosensiedlungen o d er A rm envierteln, o d er<br />

auch von v e rfallen d e n L an d sc h afte n , die von A b­<br />

w anderung, Z w ecken tfrem dung, Investitionsverlusten<br />

u n d V andalism us geprägt sind.<br />

Ebenso u n te rsu c h t die G eographie sy m b o lisch e<br />

L andschaften, die b estim m te W erte o d er W u n sch ­<br />

vorstellungen rep räsen tieren , w elche diejenigen, die<br />

solche L andschaften erschaffen o d er finanzieren,<br />

einer größeren Ö ffentlichkeit v erm itteln w ollen. E in ­<br />

zelne Bauw erke u n d S tad tstru k tu ren k ö n n en einen so<br />

hohen Sym bolgehalt haben, dass sie S innbilder für<br />

ganze Städte sind wie zum Beispiel d er E iffelturm<br />

für Paris, d er R ote P atz für M oskau u n d d er Z u ck erh<br />

u t fü r Rio de Janeiro.<br />

Landschaft - was ist das?<br />

W ie bereits erläutert, sym bolisieren einige L andschaften<br />

ganze N atio n en u n d K ulturen. Einige relativ alltägliche<br />

L andschaften h ab en einen h o h en S ym bolgehalt,<br />

weil sie ein ganz spezifisches K onzept v erm itteln.<br />

Beispielsweise rep räsen tierte die typische S tadt in<br />

N euen g lan d (A bbildung 7.3) n ic h t n u r einen b e­<br />

stim m te n regionalen Baustil, so n d e rn auch die am e­<br />

rikanische Idee einer K leinstadt m it „vertrauter, fam i­<br />

lienbezogener, gottesfürchtiger, m oralbew usster, a r­<br />

b eitsam er, sp arsam er u n d d em o k ratisch er“ ^ A tm o ­<br />

sphäre. Ein anderes alltägliches Stadtbild ist die<br />

M ain Street im m ittleren Teil der USA. D er A usdruck<br />

„M ain Street, U .S .A .“ steh t in den V ereinigten Staaten<br />

fü r ein Sym bol - eine V orstellung - , abgeleitet von<br />

den kleinen S tädten, die in Illinois o d er Iow a im Zuge<br />

des A usbaus des n atio n alen E isenbahnnetzes aus dem<br />

B oden schossen. D ie m ittlere Teil d er USA ist in v erschiedener<br />

H in sich t in einer „m ittleren “ Lage; Er b e­<br />

findet sich zw ischen d er G renze zu m W esten u n d den<br />

w eltoffenen H afen städ ten des O stens, zw ischen la n d ­<br />

w irtschaftlichen R egionen u n d von d er In d u strie gep<br />

rägten G ro ß städ ten , zw ischen R eichtum u n d A r­<br />

m u t. D arü b er h in au s steht er für eine b estim m te soziale<br />

G em einschaft, die aus gesetzestreuen u n d m a te ­<br />

riell o rien tierten B ürgern besteht, die g ro ß en W ert<br />

a u f p ersönliche F reiheit u n d die E in h altu n g m o ralischer<br />

W ertvorstellungen legen.<br />

Ein anderes Beispiel sin d die L andschaften des<br />

am erikanischen S tadtum lands. D iese riesigen inszen<br />

ierten L andschaften des P ru n k s u n d P rotzes sin d gekennzeich<br />

n et von baulichen G ro ß v o rh ab en , k ü n stlichen<br />

K ulissen u n d u n g eh e m m tem K onsum . M it a n ­<br />

d eren W o rte n sie sind konservative U to p ien p riv atw<br />

irtschaftlich gesteuerter u n d fu nktional au sgerichteter<br />

E ntw icklungen (A bbildung 7.4).<br />

D ie so en tsta n d en en L andschaften, auch „V ulga-<br />

ria“ g enannt, sind von lässiger A nstößigkeit u n d w erden<br />

d o m in iert von d er R eziprozität von G rö ß e u n d<br />

sozialer Ü berlegenheit: „D ie V ulgaria ist h eu te ein<br />

k ran k h after Z u stan d einer am erik an isch en G ro ß ­<br />

stadt, charakterisiert d u rch träge u n d p räten tiö se<br />

Stadtviertel, die von G rö ß e u n d Spektakel g ek en n ­<br />

zeichnet sind. V ulgarias W o h n h ä u se r sind h errsch aftliche<br />

W ohnsitze von 500 bis 1 000 Q u ad ratm ete r u n d<br />

Meining, D.W. Interpretations of Ordinary Landscapes: Geographic<br />

Essays. New York (Oxford University Press) S. 27


378 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

i . ?<br />

H<br />

m ehr, die zw eistöckige E ingangshallen, h o h e R äum e,<br />

G aragen, die Platz für 3 bis 4 A utos b ieten, riesige K ü­<br />

chen u n d B äder, A nkleid erzim m er für H erren u n d<br />

D am en, M ed ienzim m er, F itnesscenter, H o m e O ffices,<br />

die neuesten Sicherheitssystem e u n d vielleicht sogar<br />

eine Suite für das A u -p air-M ädch en haben.<br />

Selbstverständlich sind G eländew agen beliebte Spielzeuge<br />

- m öglichst die g ro ß en wie d er C adillac Escalade<br />

ESV (ü b er 5,5 M eter lang, 3,6 T o n n e n schw er),<br />

der H u m m e r H 2 (fast 5 M eter lang, 4,3 T o n n en<br />

schw er) u n d d er L incoln N avigator (ü b er 5 M eter<br />

lang, 3,7 T o n n en schw er). Bei d er G estaltung d er A u­<br />

ßenfassaden w erden n eo trad itio n elle M otive v erw endet,<br />

solange n u r die S traßenseite eindrucksvoll ist u n d<br />

h o h e G iebeldächer, extravagant gestaltete Fenster so ­<br />

wie architektonische B esonderheiten w ie K uppeln,<br />

7.3 Traditionelle Landschaften Manche alltäglichen Landschaften<br />

besitzen starken Symbolcharakter. Das typische<br />

Dorf Neuenglands <strong>und</strong> das Holzhaus in der Einsamkeit Skandinaviens<br />

gehören in diese Kategorie. Diese symbolischen<br />

Landschaften sind Teil der „Ikonographie der nationalen<br />

Einheit“; sie stiften ein Gefühl von Identität.<br />

E rker u n d T o rein fah rten aufw eist. Die O rtsnam en<br />

sind in neckischem , län d lich em u n d au f ,alt‘ getrim<br />

m te n Stil, d er die P rivilegiertheit der Bewohner<br />

w iderspiegeln soll. O ft besteh en auch grausige Vorlieben<br />

in Bezug a u f die Schreibw eise. Die kom m erziellen<br />

Z u taten von V ulgaria sorgen für einige ihrer spektakulärsten<br />

E lem ente wie großflächige Einhandelsgeschäfte<br />

m it 25 000 Q u ad ratm ete rn a u f einer einzigen<br />

Ebene, luxuriöse E inkaufzentren m it T hem enrestau<br />

ran ts u n d riesigen P arkplätzen. Sogar die Kirchen in<br />

V ulgaria sind groß u n d eindrucksvoll: Gewaltige<br />

K om plexe aus Stahl u n d Glas, in d enen es möglich<br />

ist, allen A ktivitäten des A lltags nachzugehen, von Aero<br />

b icräu m en , B ow lingbahnen u n d Schw im m bädern<br />

m it christlichen T h em en , bis hin zu m ultim edialen<br />

B ibelst<strong>und</strong>en u n d Ju m b o tro n -B ild sch irm en, auf de-


Landschaft - ein vom Menschen geschaffenes System 379<br />

7.4 Vulgaria Größe <strong>und</strong> Pomp sind<br />

die vorherrschenden Merkmale in<br />

den gehobenen Wohngebieten der<br />

Vereinigten Staaten.<br />

nen die T exte von fröhlichen, im Stil von P opsongs<br />

verfassten K irchenliedern erscheinen. Z u d en V ersam<br />

m lungen k o m m e n T au sen d e M enschen u n d ein i­<br />

ge M egakirchen h ab en so riesige P arkplätze, dass Z u ­<br />

bringerbusse eingesetzt w erden m üssen, u m B esucher<br />

abzuholen, die in d en entlegenen Ecken g eparkt h a ­<br />

ben.“^<br />

G eographen wie D on M itchell u n d an d ere h aben<br />

festgestellt, dass alltägliche L a n d sc h afte n In stru m e n ­<br />

te von sozialer u n d kultu reller M acht darstellen, die<br />

politisch-w irtschaftliche S tru k tu ren als existent u n d<br />

unverm eidbar in d en R aum einschreiben. Als sehr b e­<br />

deutungsvolle Z eichenkom plexe erfüllen sie w ichtige<br />

Funktionen der sozialen R egulierung. D ie L andschaften<br />

von „V ulgaria“ p ro p ag ieren die Ideologie des<br />

w ettbew erbsfähigen K onsum s, des m oralisch en M i­<br />

nim alism us u n d die L oslösung von Ideen sozialer G e­<br />

rechtigkeit u n d einer bürg erlich en G esellschaft - eine<br />

eigentüm liche M ischung aus politischem K onservatism<br />

us u n d sozialen L iberalism us ist das M ark en zeichen<br />

des su b u rb an en A m erika.<br />

Das Interesse d er G eographie an L andschaft geht<br />

auf Carl Sauers K onzept d er cultural landscape zu ­<br />

rück, das in K apitel 5 erläu tert ist. Seit Sauer 1925<br />

die U ntersuchung d er K ulturlandschaft als eigentliches<br />

Ziel geographischer F orschung proklam ierte,<br />

wurde das K onzept von nachfolgenden G eo g rap h en ­<br />

generationen im m er w ieder erw eitert.<br />

T ra d itio n elle L a n d sc h afte n sind B ezugsräum e,<br />

die M enschen im Laufe ihres L ebens gem einsam<br />

mit anderen gestalten, L andschaften, die b ew o h n t<br />

<strong>und</strong> verändert w erden, in d en en P ark h äu ser u n d<br />

Sportanlagen ebenso existieren wie von B äum en b e­<br />

schattete V o rortsiedlungen o d er das F lurm o saik eines<br />

* <strong>Knox</strong>, P. L. Vulgaria: The Re-Enchantment of Suburbia, Opolis, 1 (2),<br />

2005, S. 44<br />

A ckerbaugebiets. D iese L andschaften beeinflussen<br />

ihrerseits die W a h rn eh m u n g , die W ertv o rstellu n ­<br />

gen sow ie das H an d eln derer, die d o rt leben u n d<br />

arbeiten.<br />

D as n eu gestaltete R egierungsviertel in B erlin stellt<br />

im G egensatz dazu eine sy m b o lisch e L a n d sc h aft<br />

(Stadtlandschaft) d a r - ebenso wie die neoklassischen<br />

R egierungsgebäude in W ash in g to n D .C . zu sam m en<br />

m it den S traßen, P arkanlagen u n d M o n u m e n te n<br />

d er U S-am erikanischen H a u p tstad t Stärke u n d<br />

M acht, in A nspielung a u f d en S tadtstaat d er griechischen<br />

A ntike, aber auch d en G eist d er D em okratie<br />

v erm itteln sollen. H eu te fin d en sich Bezüge zu dieser<br />

sym bolischen L andschaft n icht n u r in d er L iteratur,<br />

so n d e rn zum Beispiel auch in D isneyland, w o im<br />

Z en tru m des V ergnügungsparks eine dieser fü r die<br />

K u ltu r N o rd am erik as so b ed eu te n d en L andschaften<br />

in v erkleinertem M aß stab nachgebildet w urde. Sym ­<br />

bolische L andschaften rep räsen tieren b estim m te<br />

W erte o d er W unsch v o rstellu n g en , w elche diejenigen<br />

die solche L andschaften erschaffen o d er finanzieren,<br />

einer grö ß eren Ö ffentlichkeit v erm itteln w ollen (A b­<br />

b ild u n g 7.5).<br />

In der G eographie h at m a n erk an n t, dass d er Begriff<br />

L andschaft h ö ch st u n terschiedliche B edeutungseb<br />

en en einschließt - B edeutungen, die von u n te r­<br />

schiedlichen sozialen G ru p p e n zu untersch ied lich en<br />

Z eiten unterschiedlich ausgedrückt u n d verstan d en<br />

w erden. A uf eine k n ap p e F orm el gebracht, k ö n n te<br />

m a n sagen, dass an ein u n d dem selben O rt zahlreiche<br />

K ultu rlan d sch aften gleichzeitig existieren. D iese<br />

L andschaften spiegeln das Leben gew öhnlicher M e n ­<br />

schen ebenso w ider wie das d er M ächtigen, sie reflektieren<br />

sow ohl deren T rä u m e u n d Ideen als auch deren<br />

physische u n d m aterielle Existenz.<br />

A us der H in w en d u n g der L andschaftsforschung<br />

zur individuellen S ubjektivität - im h u m a n is tis c h e n


380 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

A n satz - entstan d en u n te r an d erem U n tersu ch u n g en<br />

zum T hem a U m w eltw ah rn eh m u n g . Sie k o n n te n zeigen,<br />

dass L andschaft von jedem M enschen anders gesehen<br />

w ird. D er h u m anistisch e A nsatz d er G eographie<br />

stellt das In d iv id u u m - insbesondere dessen<br />

W erte, B edeutungssystem e, In ten tio n en u n d ratio ­<br />

nale H andlungsw eisen - in den M ittelp u n k t des In ­<br />

teresses. Ü bertragen a u f das o b en angeführte Beispiel<br />

aus dem Sudan b ed eu tet dies, dass die W elt, wie sie<br />

die K inder w ah rn eh m en , eine an d ere ist als die W elt,<br />

die d eren E ltern w ah rn eh m en , u n d dass M ädchen die<br />

W elt w iederum anders sehen als Jungen, auch w enn<br />

sie derselben Fam ilie angehören, d en n sie w erden a n ­<br />

ders sozialisiert.<br />

In d er trad itio n ellen G eographie w ar die U m w eltw<br />

ah rn eh m u n g eng m it d er G eographie des V erh altens<br />

(behavioral geography) verknüpft. Beide F o r­<br />

schungsbereiche sin d interd iszip lin är angelegt u n d<br />

v erb in d en G eographie, L andschaftsarchitektur, Psychologie,<br />

A rchitektu r u n d andere F achrichtungen.<br />

In an w e n d u n g so rien tierten F orschungen u n d in<br />

d er beruflichen Praxis w u rd e u n tersu ch t, w elche<br />

L andschaften verschiedene In dividuen bevorzugen,<br />

wie M enschen kognitive Bilder der W elt entw ickeln,<br />

u n d wie sich P erso n en in u n terschiedlichen U m g e­<br />

b u n g en zurechtfm den. Jedoch im plizierte die G eo ­<br />

graphie des V erhaltens erstens, dass M enschen a u f<br />

einen äu ß eren Reiz - in diesem Fall a u f einen Reiz<br />

aus der U m w elt - reagieren u n d zw eitens, dass alle<br />

In d iv id u en a u f den gleichen Reiz gleich reagieren.<br />

M it d er E in fü h ru n g h an d lu n g sth eoretischer Theorien<br />

auch in n erh alb der G eographie, tritt dieses Reiz-Re-<br />

aktions-S chem a in den H in te rg ru n d . D enn R aum bild<br />

er - also V orstellungen von O rten u n d Landschaften<br />

- sind subjektive V orstellungen, die w ir uns aufgr<strong>und</strong><br />

von W issen, E rfah ru n g en u n d u n serer Sozialisation<br />

von d er W elt m achen.<br />

D ie F okussierung des h u m anistisch en Ansatzes auf<br />

die individuelle W a h rn e h m u n g bildet ein Gegengew<br />

icht zu d er T endenz, ü b er eine soziale G ruppe<br />

o d er eine G esellschaft in eher verallgem einernden Begriffen<br />

zu sprechen. D en n o ch , so argum entieren Kritiker,<br />

seien die E rklärungsm odelle des hum anistischen<br />

A nsatzes n u r beg ren zt tauglich, da die Sum m e<br />

individueller H an d lu n g en u n d A nschauungen nicht<br />

notw endigerw eise denjenigen einer G ruppe oder Gesellschaft<br />

entsprächen. D as heiß t, dass Individuen<br />

auch u n te r gleichen E inflüssen unterschiedlich handeln<br />

k ö n n en . D am it erfolgt ein Paradigm enw echsel<br />

auch h insichtlich d er v erw endeten Begriffe.<br />

In d er h an d lu n g sth eo retischen G eographie spricht<br />

m an nich t m e h r von Reizen, V erhalten <strong>und</strong> Reagieren,<br />

so n d e rn von E inflüssen räu m lich er Bedingungen<br />

u n d H andeln. In diesem Sinne rich tet eine zum hum<br />

anistischen A nsatz alternative H erangehensw eise<br />

das A ugenm erk sow ohl a u f die B edeutung allgemein<br />

er F aktoren w ie K ultur, soziales G eschlecht (gender)<br />

u n d Status als auch a u f die A rt u n d W eise, in der diese<br />

/<br />

t<br />

7.5 Main Street,<br />

Disneyland Die einzelnen<br />

Bereiche gruppieren sich<br />

in Disneyland um die „Main<br />

Street, U.S.A“, die Nachbildung<br />

einer Kleinstadt<br />

des frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Sie liegt im Eingangsbereich<br />

des Parks,<br />

von wo aus alle anderen<br />

Attraktionen erreicht werden<br />

können. Die Main<br />

Street ist die idealisierte<br />

Form einer Straße ohne<br />

Bezug zu den realen Problemen<br />

amerikanischer<br />

Städte.


Landschaft - ein vom Menschen geschaffenes System 381<br />

Faktoren die individuellen L ebensm öglichkeiten e r­<br />

w eitern o der einengen. Jüngere k u lturgeographische<br />

Ansätze konzeptualisieren die M ensch-U m w elt-B e­<br />

ziehungen als interak tiv u n d n ich t einseitig. D ieser<br />

erst in jü n g ster Z eit entw ickelte L andschaftsbegriff<br />

ist gegenüber dem K onzept C arl Sauers w esentlich<br />

dynam ischer, kom p lex er u n d lehnt (g eo -)d eterm in i-<br />

stische E rklärungen ab. D arü b er h in aus regt dieser<br />

A nsatz dazu an, ü b er d en H o rizo n t der G eographie<br />

hinauszublicken u n d d u rch die E inbeziehung a n th ro ­<br />

pologischer, psychologischer, soziologischer u n d<br />

historischer B etrachtungsw eisen zu einem tieferen<br />

V erständnis der K om plexität von L andschaft zu gelangen.<br />

I Landschaft als Text<br />

E in in diesem Sinne d ynam ischer u n d k o m p lex er A n ­<br />

satz zum V erständnis von L andschaft basiert darauf,<br />

die L an d sc h aft als T ex t zu begreifen. L andschaft<br />

k an n u n serer A uffassung nach von G ru p p en u n d In ­<br />

dividuen ähnlich einem B uch gelesen u n d geschrieb<br />

en w erden. D ieser A nsatz u n terscheid et sich von tra ­<br />

ditionellen V ersuchen, L andschaften a n h a n d ih rer<br />

spezifischen E lem ente zu system atisieren o d er zu k a­<br />

tegorisieren. Die L andschaft-als-T ext-S ichtw eise geht<br />

davon aus, dass L andschaft keine endgültige, m it E tik<br />

etten versehene E rscheinung darstellt, so n d e rn dass<br />

es „S chreiber“ gibt, die eine L andschaft h e rv o rb rin ­<br />

gen <strong>und</strong> ih r B edeutung verleihen, u n d „Leser“, die<br />

E m pfänger d er in L andschaft eingebetteten B otschaften<br />

sind. E iner L andschaft eingeschriebene B otschaf-<br />

7.6 Graffiti als Kennzeichnung von<br />

Territorien Graffiti wird von Straßenbanden<br />

dazu benutzt, um eine eigene Identität zu<br />

etablieren <strong>und</strong> zu unterstreichen. Manche<br />

Graffitis, wie die der Ulster Freedom Fighters,<br />

einer paramilitärischen loyalistischen Organisation<br />

in Nordirland oder an zentralen<br />

Jugendtreffpunkten wie an der Reithalle in<br />

Bern/Schweiz fungieren zudem als einfache<br />

territoriale Marken. Sie helfen „Reviere“ abzustecken,<br />

vor allem in hoch verdichteten<br />

Umgebungen, wo es nur wenige andere<br />

Hinweise hinsichtlich territorialer Ansprüche<br />

gibt.


382 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

i<br />

i<br />

ten k ö n n en als Z eichen von W erten, A nschauungen<br />

u n d B räuchen gelesen w erden, w enngleich n ich t jeder<br />

Leser dieselbe B otschaft aus einer b estim m ten L andschaft<br />

e n tn im m t (ebenso wie die In terp reta tio n einer<br />

Textpassage o d er eines B uchs von Leser zu Leser u n ­<br />

terschiedlich ausfällt) (A bbildung 7.6). K urz gesagt:<br />

L andschaften zeigen u n d verm itteln B edeutungen.<br />

A ufgabe der G eographie ist es, diese B edeutungen<br />

zu erk en n en u n d zu interp retieren. In einem späteren<br />

A bschnitt dieses K apitels, d er sich m it co dierten R äu ­<br />

m en beschäftigt, w ird das „S chreiben“ u n d „Lesen“<br />

von L andschaft a n h a n d zw eier Beispiele, eines E ink<br />

au fzen tru m s u n d der brasilianischen H au p tstad t<br />

Brasilia, au sführlicher them atisiert. Z u n äch st b ed a rf<br />

es jedoch einiger E rläu teru n g en , wie O rte u n d R äum e<br />

d u rch In dividuen sow ie d u rch verschiedene soziale<br />

u n d k u lturelle G ru p p e n B edeutung verliehen b e k o m ­<br />

m en.<br />

Das Gestalten <strong>und</strong><br />

Vermarkten von Orten<br />

O rte sin d sozial k o n stru iert, das heißt, verschiedene<br />

soziale G ru p p e n w eisen ih n en für unterschiedliche<br />

Ziele u n d Zw ecke verschiedene B edeutungen zu.<br />

D ie m eisten M enschen besitzen einen H eim ato rt<br />

o d er eine H eim atregion, m it dem beziehungsw eise<br />

m it d er sie sich au fg ru n d b estim m ter E rin n eru n g en<br />

u n d d er V ertrau th eit m it d er G eschichte u n d S ym bolik<br />

b estim m ter E lem ente der physischen U m w elt b e­<br />

sonders v erb u n d en fühlen. In d iv id u en entw ickeln<br />

diesen O rten gegenüber ein starkes Id en titäts- o der<br />

Z ugehörigkeitsgefühl. D ie Id en tifik atio n m it einem<br />

O rt k an n aber den A usschluss derjenigen M enschen<br />

bed eu ten , die n ich t an diesem O rt leben. U n d sie<br />

k an n zu einer stereotypen W a h rn eh m u n g an d erer<br />

O rte führen. E m otionale O rtsbezogenheit, kulturelle<br />

Id en tität u n d G ru ppenzugehörigkeit entsteh en , w enn<br />

M enschen sich von an d eren , „frem d en “ M enschen<br />

u n d O rten abgrenzen. Das gem einsam e G estalten<br />

eines L ebensraum s d u rch die betro ffen en A kteure,<br />

das „M achen von O rte n “ (placemaking), steht im M ittelp<br />

u n k t von kultu rellen Fragen u n d M ach tv erh ältnissen.<br />

Es n im m t einen zen tralen Platz in den Bezugssystem<br />

en ein, die M enschen entw ickeln u n d in n e r­<br />

halb derer sie die W elt erfah ren u n d ih r B edeutung<br />

zuw eisen.<br />

D es W eiteren fü h rt die V erb u n d en h e it m it einem<br />

b estim m ten O rt beispielsw eise zu d em W unsch, dass<br />

dieser O rt u n v erän d ert bleibt, o d er aber zur In stru ­<br />

m en talisieru n g v o n O rten zu m A usschluss Frem der,<br />

die sich diesen O rt ebenfalls aneignen w ollen. V orstellungen<br />

von O rten , die d u rch M edien in die ganze<br />

W elt getragen w erden, erm öglichen eine V erm arktu<br />

n g von O rten. D am it v erb u n d e n ist die Erfüllung<br />

von S ehnsüchten u n d W ü n sch en , wie sie in m edialen<br />

B ildern u n d W erbeplakaten zu m Beispiel über U r­<br />

laubsregionen tra n sp o rtie rt w erden.<br />

Erfahrung <strong>und</strong> Bedeutung<br />

Die In terd ep e n d en z v o n M enschen u n d O rten wirft<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Fragen h insichtlich der B edeutungen<br />

auf, die M enschen ih ren E rfahrungen beimessen:<br />

W ie w erden In fo rm a tio n en d er äu ß eren U m gebung<br />

verarbeitet? W elche A rten von In fo rm atio n en werden<br />

genutzt? W elche B edeutungen h ab en b estim m te U m ­<br />

gebungen fü r Individuen? W ie beeinflussen diese Bed<br />

eu tu n g en d eren H andlungen? N ich t au f jede dieser<br />

Fragen gibt es erschöpfende A ntw orten. U num stritten<br />

ist jedoch, dass M enschen In form ationen aus<br />

d er U m w elt d u rch neurophysiologische Prozesse gefiltert<br />

u n d d am it selektiv au fn eh m en . Einig ist man<br />

sich auch darin , dass individuelle Persönlichkeitsstru<br />

k tu re n u n d kultu relle P rägungen w eitere Faktoren<br />

sind, die kognitive B ilder beeinflussen - Bilder<br />

o d er V orstellungen von d er W elt, die d u rch Im aginatio<br />

n in E rin n eru n g gerufen w erden können . Kognitive<br />

B ilder sin d das, was M enschen vor d em geistigen<br />

A uge erscheint, w en n sie an einen bestim m ten Ort<br />

o d er eine b estim m te U m g eb u n g denken.<br />

Es g eh ö rt zu d en w esentlichen M erkm alen kognitiver<br />

B ilder, dass sie die reale W elt vereinfachen <strong>und</strong><br />

verzerren. U n tersu chungen d arü b er, wie diese Vereinfachungen<br />

erfolgen, ergaben, dass sich kognitive<br />

B ilder d er Lebensw elt häufig nach bestim m ten<br />

G ru n d elem en ten o rganisieren (A bbildung 7.7). Diese<br />

E lem ente sind:<br />

• P fade: B ahnen, entlang d erer m an selbst <strong>und</strong> andere<br />

sich bew egen, zum Beispiel Straßen, Fußwege,<br />

T ran sitstreck en o d er K anäle<br />

• B eg renzu n g en : B arrieren, die G ebiete voneinand<br />

er tren n e n , zu m Beispiel K üstenlinien, M auern,<br />

E isenbahnlinien<br />

• B ezirke: Areale m it erk e n n b ar charakteristischen<br />

(physischen o d er kultu rellen ) M erkm alen, die<br />

M en sch en geistig „b etreten “ o der „verlassen“,<br />

zu m Beispiel ein G eschäftsviertel o der ein ethnisches<br />

V iertel<br />

• K n o ten : strategische P u n k te u n d K notenpunkte<br />

w ie S traßenecken, V erk eh rsk n o ten oder Plätze,<br />

an d en en m an sich a u f F ah rten orientiert


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 383<br />

Hauptelement<br />

Neben<br />

element<br />

— —<br />

Pfad<br />

AAAA Grenze<br />

• • Knoten<br />

LJ<br />

Bezirk<br />

* AA Landmarke<br />

Mass<br />

Statlor<br />

. City Hospital<br />

7.7 Vorstellungsbild von Boston Kevin Lynch, einer der ersten, der sich wissenschaftlich mit kognitiven Bildern befasste,<br />

zeichnete diese Skizze nach Inten/iews mit Bewohnern von Boston. Er stellte fest, dass die kognitiven Bilder, welche die befragten<br />

Personen von der Stadt besaßen, häufig aus denselben Elementen bestanden. Lynch fertigte detaillierte Kartenskizzen wie die<br />

hier gezeigte an, um damit die Existenz kollektiver mental maps aufzuzeigen. Dabei verwendete er unterschiedlich stark hervorgehobene<br />

Symbole, welche die Häufigkeit der Nennung der jeweiligen Elemente widerspiegeln. (Quelle: Lynch, K. The Image o f the<br />

City. Cambridge, MA, M.I.T. Press, 1960, S. 146.)<br />

• L an d m ark en : physische B ezugspunkte, zu m Beispiel<br />

beso n d ere G eländeform en, G ebäude o der<br />

M onum en te<br />

Individuelle L andschaftsm erkm ale rep räsen tieren oft<br />

nicht n u r ein einziges kognitives E lem ent. In dem<br />

kognitiven Bild, das eine P erson von einer S tadt b e­<br />

sitzt, k ö n n en beispielsw eise eine S chnellstraße sow ohl<br />

als Begrenzung wie auch als Pfad u n d ein B a h n h o f<br />

gleichzeitig als L andm arke u n d K noten em p fu n d e n<br />

werden.<br />

V erzerrungen der R ealität in kognitiven B ildern<br />

resultieren teilw eise aus unvollständigen In fo rm a tio ­<br />

nen. V erlässt m an seinen u n m ittelb aren L ebensbereich,<br />

so gibt es für jeden von u n s eine A nzahl w eiterer<br />

R äum e, die w ir in allen E inzelheiten k en n en .<br />

Doch hat sich d u rch die globale K o m m u n ik atio n (In ­<br />

ternet, TV ) u n d die globale V ern etzu n g (L uftverkehr)<br />

unsere V orstellung u n d K enntnis d er verschiedenen<br />

Welten im g ro ß en M aßstab v erändert. W ir glauben<br />

heute m ehr ü b er die W elten zu w issen. D iese W elten<br />

m üssen o h n e stärkere, d irek t stim u lieren d e E in d rü ­<br />

cke im aginiert o d er bew usst g em acht w erden. D abei<br />

verlassen w ir uns a u f fragm entarische u n d einseitige<br />

In fo rm atio n en , die w ir von an d e ren P ersonen sow ie<br />

aus B üchern, Z eitschriften, dem F ernsehen o d er dem<br />

In tern et beziehen. D ie V erzerru n g d er R ealität in kognitiven<br />

B ildern r ü h rt teilw eise auch von u n serer eigenen<br />

V o rein g en o m m en h eit her. W as w ir von O rten in<br />

E rin n eru n g behalten, was w ir m ögen o der n icht m ö ­<br />

gen, w as w ir fü r w ichtig erachten u n d w elche B edeutu<br />

n g en w ir v erschiedenen A spekten u n serer U m w elt<br />

zuschreiben - all dies h än g t von u n serer P ersö n lichkeit<br />

u n d den k u ltu rellen E inflüssen ab, die u n s p rä ­<br />

gen.<br />

Menschen <strong>und</strong> Orte<br />

D er M ensch beeinflusst u n d v erän d ert, je nach den<br />

v o rh errsch en d en gesellschaftlichen u n d sozialen<br />

W ertvorstellungen, seine U m w elt im Laufe der


384 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

m<br />

Z eit, u m seine G ru n d b edürfn isse zu befriedigen. Z u ­<br />

gleich passt er sich aber au ch allm ählich an seine U m ­<br />

w elt an, in d em er die jeweilige A rt sich zu kleiden, zu<br />

sprechen, sich zu b e n e h m e n u n d so w eiter ü b e r­<br />

n im m t. D as bedeutet, dass M enschen O rte u n d R äum<br />

e fo rtw äh ren d neu gestalten u n d form en, w äh ren d<br />

O rte ihrerseits dem W andel unterliegen u n d Einfluss<br />

a u f ihre B ew ohner ausüben.<br />

In der m enschlichen W a h rn e h m u n g sind O rte so ­<br />

w ohl B edeutungszentren als auch äu ß erer B ezugsrahm<br />

en für H an d lu n g en . Sie w erden je nach d er In n e n ­<br />

o d er A ußensicht d u rch B ew ohner (Insider) u n d<br />

N ich tb ew o h n er (O utsider) in ganz untersch ied lich er<br />

W eise k o n stru ie rt u n d w ah rg en o m m en . W ähren d In ­<br />

sider eine em o tio n ale B ezogenheit zu b estim m ten<br />

O rten entw ickeln, n ehm en O u tsid er dieselben O rte<br />

als etw as „A nderes“ w ahr. So h at beispielsw eise ein<br />

W ohnviertel für Insider einen b estim m ten F u n d u s<br />

an B edeutungen, u n d es ist zugleich ein R aum , in<br />

dem sich H äuser, S traßen u n d Individuen befinden<br />

u n d der von O u sid ern aus einer an d eren , „dezentrierte<br />

n “ Perspektive gesehen w erden kann.<br />

Ein b ed euten d er A spekt bei d er sozialen K o n stru k ­<br />

tio n von O rten ist d er ex isten zielle Im p e ra tiv , ein<br />

P rinzip, nach d em M enschen ih r Leben gestalten<br />

u n d sich in B eziehung zu r m ateriellen W elt setzen.<br />

D aru n te r w ird das m enschliche G ru n d b ed ü rfn is b e ­<br />

ziehungsw eise die Fähigkeit v erstanden, eine F orm<br />

d er geistigen o d er seelischen E inheit m it d er uns u m ­<br />

gebenden W elt zu erreichen. Die subjektive R ep ro ­<br />

d u k tio n von O rten u n d R äum en fü h rt dazu, dass<br />

M enschen ein starkes Id en titäts- o d er Z u gehörigkeitsgefühl<br />

zu b estim m ten O rten entw ickeln - ein<br />

P h än o m en , das u n te r d er B ezeichnung „W ohnsitz“<br />

b ek a n n t ist. U nsere Fähigkeit, uns im m er w ieder<br />

n eu „ein zurich ten“, gestattet es uns, Plätze m it Bed<br />

eu tu n g aufzuladen. Dies geschieht m ithilfe von E r­<br />

fahrungen, die d u rch alltägliche H an d lu n g en vertieft<br />

u n d erw eitert w erden.<br />

Die soziale K o n stru k tio n von O rten u n d R äum en<br />

d u rch Insider k an n n ich t unabhängig von den h e rrsch<br />

en d en sozialen N o rm e n u n d W ertvorstellungen<br />

geschehen. Sow ohl T errito rialität als auch das K onzept<br />

des „W ohnsitzes“ w erden von gem einsam en gesellschaftlichen<br />

V orstellungen von sozialer D istanz,<br />

V erhaltensregeln, F orm en der sozialen O rganisation<br />

u n d so w eiter geprägt u n d bestim m t. Es besteht<br />

eine w echselseitige B eziehung zw ischen den sozialen<br />

S tru k tu ren u n d den täglichen P raktiken, m it denen<br />

Insider O rte u n d R äum e subjektiv aufladen. Das<br />

heißt, w ir m achen O rte u n d die O rte m achen uns.<br />

W ie schon in K apitel 1 erläutert, ist in diesem Z u sam ­<br />

m en h an g das L eb en sw elt-K o n zep t von zentraler Bedeutu<br />

n g . Es bezieht sich a u f die Selbstverständlichkeit<br />

d er S tru k tu ren u n d K ontexte des A lltagslebens, die es<br />

M enschen erm öglicht, den Alltag zu bew ältigen, ohne<br />

ih n ständig zu einem G egenstand bew usster Aufm<br />

erk sam k eit zu m achen. D ie E rfahrung täglicher<br />

R outine in g ew ohnten U m gebungen erzeugt einen<br />

B estand an kollektiven B edeutungen. Eine ähnliche<br />

L ebensw eise von M enschen - dies betrifft die Art<br />

zu sprechen, sich zu kleiden, die U m w elt zu erleben,<br />

die G estik o der auch den H u m o r - fü h rt oft dazu,<br />

dass In dividuen eine gleichartige kulturelle Identität<br />

entw ickeln u n d O rte a u f eine ähnliche W eise w ahrn<br />

ehm en beziehungsw eise ih n en einen analogen Symbolgehalt<br />

zuschreiben. W e n n dies geschieht, spricht<br />

m an von einer kollektiven u n d bew ussten „Gefühlsstru<br />

k tu r“. D am it ist d er soziokulturelle Referenzrahm<br />

en gem eint, d er sich aus den E rfahrungen <strong>und</strong> Erin<br />

n eru n g en ergibt, die M enschen m it einem O rt verb<br />

in d en .<br />

In den letzten Jah rzeh n ten u nterlagen M enschen<br />

u n d O rte einem W andel von n o ch nie gekanntem<br />

A usm aß u n d außerg ew ö h n lich er Schnelligkeit. Wie<br />

in K apitel 2 erläutert, ist die D atenübertragung im<br />

Z uge der G lobalisierung im m er schneller u n d dichter<br />

gew orden u n d die O rte w erd en sich im m er ähnlicher.<br />

D iese „beschleunigte“ W elt ist eine W elt der ruhelosen<br />

L andschaften, in d er O rte, je m e h r sie sich veränd<br />

ern , sich im m er äh n lich er w erden u n d es zunehm<br />

e n d schw ieriger w ird, d en individuellen Charakter<br />

eines O rts zu b ew ahren o d er ein öffentliches Sozialleben<br />

aufrech tzu erh alten . Als Folge dessen ist die Erfah<br />

ru n g von eindrucksvollen, spektakulären <strong>und</strong> u n ­<br />

verw echselbaren O rten , physischen U m w eltbedingungen<br />

u n d L andschaften ein b edeutendes Element<br />

d er K o n su m k u ltu r gew orden. Als R eaktion auf diese<br />

V erän d e ru n g h aben S tadtplaner T hem enparks, Einkaufszentren,<br />

Festivalorte geschaffen sowie historische<br />

Stadtteile, trad itio n elle D örfer u n d Stadtviertel<br />

saniert. D ie M ehrzahl d er S tadtplaner ist jedoch angetreten,<br />

u m u n terschiedliche Szenarien zu kreieren -<br />

u n d je g rö ß er u n d spektakulärer ihre Projekte, umso<br />

äh n lich er sehen sich die Ergebnisse. Dies hat dazu gefü<br />

h rt, dass die „A u th en tizität“ von O rten untergraben<br />

w ird u n d v o r allem städtische R äum e zunehm end<br />

einen k ü nstlichen u n d unspezifischen C harakter aufw<br />

eisen.<br />

Vorstellungsbilder <strong>und</strong> Handeln<br />

K ognitive B ilder (Images) w erden teilweise aus H andlu<br />

n g sm u stern zusam m engefügt, U m gebungen durch<br />

E rfah ru n g „e rlern t“. U m g ek eh rt w irken einm al er-


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 385<br />

zeugte kognitive V orstellungsbilder w iederum a u f die<br />

alltäglichen H andlu n g e n zurück. Im V erlau f dieses<br />

rückgekoppelten Prozesses v erändern sich kognitive<br />

Bilder fo rtw ährend. Jeder von uns erzeugt - u n d<br />

stützt sich a u f - verschiedene A rten von kognitiven<br />

Bildern, je nach Situation, in d er w ir uns gerade b e­<br />

finden.<br />

E lem ente w ie Bezirke, K noten u n d L an d m ark en<br />

spielen eine w ichtige Rolle h insichtlich der verschie­<br />

denen A rten kognitiver R aum bilder, die zur O rien tierung<br />

herangezogen w erden u n d an h a n d d erer w ir uns<br />

innerhalb eines O rtes o d er einer Region zurechtfm -<br />

den. Je m e h r solcher E lem ente in einer U m g eb u n g<br />

existieren - u n d je p räg n anter diese sind - , desto besser<br />

lesbar ist eine U m g eb u n g u n d desto sicherer<br />

orientiert u n d bew egt m a n sich darin. A llgem ein<br />

gilt; Je m e h r In fo rm a tio n en aus erster H an d eine P erson<br />

ü ber ihre U m g eb u n g besitzt u n d je besser diese<br />

Person es versteht, sek<strong>und</strong>äre In fo rm atio n sq u ellen zu<br />

nutzen, desto detaillierter u n d u m fassender sind kognitive<br />

Bilder.<br />

Die B edeutung k o g n itiv e r BU der geht ü b er deren<br />

Funktion als O rien tieru n g sg ru n d lag e u n d N avigationshilfe<br />

hinaus. Je enger u n d räu m lich begrenzter<br />

beispielsweise die kognitiven Bilder einer P erson<br />

sind, desto w eniger w ird sich diese P erson aus ih rer<br />

vertrauten U m g eb u n g hinausw agen. Die H an d lu n g e n<br />

dieser P erson w erden d u rch deren eigene kognitive<br />

V orstellungsw elt im Sinne ein er A rt selbsterfüllender<br />

Prophezeiung eingeengt. A uch h insichtlich spezifischer<br />

A spekte von H an d lu n g en sind Bilder, die<br />

sich M enschen von O rten m ach en , von B edeutung.<br />

So haben U n tersu chungen des E inkaufsverhaltens<br />

in Städten gezeigt, dass K u n d en nich t n o tw en d ig erweise<br />

G eschäfte aufsuchen, die am n ächsten gelegen<br />

oder am preisw ertesten sind. D erlei E ntscheidungen<br />

werden ebenfalls von den in V orstellungsbildern v erankerten<br />

K onfiguratio nen d er V erkehrsw ege, P ark ­<br />

m öglichkeiten u n d F u ßgängerström e im U m feld<br />

eines Ladens beeinflusst. Bei d er P lan u n g von E in ­<br />

kaufszentren w erden diese subjektiven E influssgrößen<br />

berücksichtigt, sodass E inrich tu n g en dieser A rt<br />

über ein entsp rech en d es A ngebot an g ebührenfreien<br />

Parkplätzen sow ie ü b er eine g rößere Z ahl an E in- u n d<br />

A usfahrten verfügen als vielleicht notw endig.<br />

D arüber h in aus w ird das E inkaufsverhalten so wie<br />

viele andere H an d lu n g en von W ertvorstellungen u n d<br />

G efühlen beeinflusst. Ein S tadtbezirk w ird beispielsweise<br />

als attrak tiv o d er ab sto ß en d , aufreibend o der<br />

entspannend, A ngst einflö ß en d o d er sicher - oder,<br />

was w ahrscheinlicher ist, in ein er spezifischen G e­<br />

fühlskom bination w ah rg en o m m en . W ie an d ere kognitive<br />

Bilder en tsteh en solche V orstellungen d u rch<br />

direkte E rfahrung u n d in direkte In fo rm a tio n en , die<br />

d u rch persönliche u n d k ulturell geprägte W a h rn e h ­<br />

m ungsw eisen selektiert w erden. D erartige B ilder<br />

ü b en häufig g roßen Einfluss a u f m enschliche H a n d ­<br />

lungen aus. E iner d er stärksten Einflüsse a u f das E in ­<br />

kaufsverhalten, u m dieses Beispiel n ochm als au fzu ­<br />

greifen, resultiert aus den V orstellungsbildern von<br />

der U m gebung eines Ladens. A uch dieser A spekt<br />

ist den P lanern von E inkaufszentren sehr w ohl b e ­<br />

k an n t. Folglich w erden bei solchen P rojekten große<br />

S u m m en investiert, u m eine v erkaufsfördernde A t­<br />

m o sp h äre u n d ein en tsp rech en d es Im age zu schaffen.<br />

D ie individuellen H an d lu n g en w äh ren d des E in ­<br />

kaufs sind n u r ein Beispiel für d en Einfluss rä u m licher<br />

V orstellungsbilder a u f alltägliche H an d lu n g en,<br />

w eitere k ö n n te n für jeden an d eren h u m a n g eo g rap h i­<br />

schen A spekt u n d jede beliebige M aßstabsebene a n ­<br />

g eführt w erden. So w ar die B esiedlung N o rd am erik as<br />

in h o h em M aße von d en sich w an d eln d en B ildern der<br />

Plains u n d des W estens beeinflusst, die m an zu Beginn<br />

des 19. Jah rh u n d e rts als w üstenhaft u n d abw eisend<br />

ansah - ein Bild, das ältere A tlanten n o ch v erstärkten.<br />

Als die E isenbahngesellschaften fü r die<br />

G rü n d u n g von Siedlungen in diesen R egionen w arben,<br />

setzten sie a u f die V erän d eru n g dieses V orstellungsbildes,<br />

indem sie die L andstriche in A nzeigenk<br />

am p ag n en als fru c h tb ar u n d einladend darstellten.<br />

T atsächlich w irken sich die m it verschiedenen Region<br />

en u n d L okalitäten assoziierten Bilder auch a u f die<br />

gegenw ärtigen (u n d zu künftigen) S ied lu n g sstru k tu ­<br />

ren aus. So lassen sich M enschen beispielsw eise in ih ­<br />

ren E n tscheidungen bezüglich d er M igration von<br />

einem in ein anderes G ebiet von kognitiven B ildern<br />

leiten. Die A bbildung 7.8 zeigt eine zu sam m engesetzte<br />

K arte der subjektiv w ah rg en o m m en en A ttraktivität<br />

U S-am erikanischer Städte u n d B <strong>und</strong>esstaaten, basieren<br />

d au f d er E inschätzung einer G ru p p e von S tudieren<br />

d e n des V irginia T ech hinsich tlich der L ebensqualität<br />

von O rten u n d R egionen in d en USA.<br />

Ein anderes Beispiel für den Einfluss kognitiver<br />

B ilder au f H an d lu n g en ist die A rt u n d W eise, in<br />

der M enschen a u f N atu rk a tastro p h e n w ie Ü b erschw<br />

em m ungen, D ü rrep erio d en , E rdbeben, U n w etter<br />

o d er E rd ru tsch e reagieren u n d die d am it v e rb u n ­<br />

d en en Risiken u n d U nw ägbarkeiten bew ältigen.<br />

M anche neigen dazu, das U n v o rh erseh b are in etw as<br />

V oraussagbares zu verw andeln, in d em sie sich a u f<br />

G esetzm äßigkeiten berufen, die jed er G r<strong>und</strong>lage e n t­<br />

beh ren (zum Beispiel B auernregeln über das W etter).<br />

A ndere dagegen bestreiten jegliche V orhersagbarkeit<br />

u n d verfallen in eine fatalistische H altung. W ähren d<br />

die einen das A usm aß u n d die Stärke einer N a tu rk a ­<br />

ta stro p h e ü berbew erten, neigen an d ere dazu, diese zu


386 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

7.8 Karte der subjektiven Einschätzung von Städten in den USA Die Karte, 1996 erstellt nach Angaben von Architekturstudenten<br />

des Virginia Tech, illustriert die kollektive Einschätzung von Städten als Arbeits- <strong>und</strong> Wohnorte in den Vereinigten Staaten.<br />

Die generalisierte Isolinienkarte basiert auf den Bewertungen der 150 größten Städte des Landes. Je höher die Einstufung,<br />

desto stärker wird eine Stadt als Arbeits- <strong>und</strong> Wohnort bevorzugt.<br />

unterschätzen. D ie T atsache solcher u n tersch ied licher<br />

B eurteilungen fü h rt zu einer w eiteren w ichtigen<br />

H an d lu n g sd im en sio n : d er R isikobereitschaft von<br />

M enschen. Die A bbildung 7.9 illustriert an h a n d<br />

von D iagram m en die W a h rn e h m u n g von Individuen<br />

m it u n tersch ied lich er R isikobereitschaft. W äh ren d<br />

d er R isikofreudige G ew inne o d er positive Folgen<br />

übersch ätzt u n d V erluste o d er negative A u sw irkungen<br />

h eru n tersp ielt, b ew ertet die m ittellose P erson<br />

beides zu h och. D er V orsichtige überschätzt die V erluste<br />

u n d setzt die G ew inne zu niedrig an. In d er Realität<br />

h än g t das M aß an R isikobereitschaft von der jew<br />

eiligen S ituation ab, in der sich eine P erson befindet,<br />

sodass sich individuelle E ntsch eid u n g en an h a n d von<br />

M odellen, die a u f „ratio n alen “ H an d lu n g en basieren,<br />

k au m V orhersagen lassen.<br />

A us d er T atsache, dass O rten em o tio n ale u n d sym ­<br />

bolische E igenschaften zugeschrieben w erden, ergibt<br />

sich ein w eiterer w ichtiger A spekt des m o difizierenden<br />

Einflusses kognitiver V orstellungsbilder a u f<br />

H andlu n g en : Aus den G ew o h n h eiten des A lltagslebens<br />

u n d d en kum u lativ en Effekten kultu reller E inflüsse<br />

sow ie spezifischer persö n lich er E rfahrungen<br />

entw ickeln M enschen starke G efühlsbindungen gegen<br />

ü b er O rten . Solche em o tio n alen Bezüge <strong>und</strong> B ind<br />

u n g en bestehen a u f untersch ied lich en räu m lich en<br />

M aßstabsebenen. Sie beziehen sich gleichzeitig a u f<br />

das eigene Z uhause, das Stadtviertel, den O rt, an<br />

d em m an lebt, bis h in zu d er N ation, d er m an angeh<br />

ö rt. Die N eigung, solche B indungen aufzubauen,<br />

w u rd e als T o p o p h ilie bezeichnet. T o p o p h ilie bedeute<br />

t w örtlich „Liebe zu einem O rt“. G eographen verw<br />

en d en den Begriff, u m die G esam theit d er Em otion<br />

en u n d Sinngehalte auszu d rü ck en , die Individuen<br />

m it O rten v erb in d en , w elche fü r sie - aus welchem<br />

G ru n d auch im m er - b eso n d ere persönliche Bedeutu<br />

n g erlangt haben. D araus ergibt sich, dass die meisten<br />

M enschen einen H e im a to rt o d er eine H eim atregion<br />

besitzen, m it d em o d er d er sie sich besonders<br />

v erb u n d e n fühlen u n d d em gegenüber sie ein starkes<br />

Id en titäts- o d er Z ugehörigkeitsgefühl entwickeln.<br />

L Emotionale Ortsbezogenheit<br />

B indungen zw ischen M en sch en u n d O rten erm öglichen<br />

die H erau sb ild u n g eines kollektiven F<strong>und</strong>us von<br />

B edeutungen, die einerseits aus gelebten Alltagserfahru<br />

n g en , andererseits aus V orstellungen <strong>und</strong> W ünschen<br />

ü b er einen O rt resultieren, jed er w ird so vertra<br />

u t m it d em V okabular, den R edem ustern, Gesten<br />

u n d S tim m u n g en des an d eren . Dies alles fließt häufig<br />

in die H altu n g en u n d G efühle ein, die M enschen geg<br />

en ü b er sich selbst u n d d em O rt, an dem sie leben,<br />

ein n eh m en u n d em p fin d en , u n d fü h rt schließlich zu<br />

einer starken em o tio n alen O rtsbezogenheit. Der Begriff<br />

e m o tio n a le O rtsb e z o g e n h e it (sense of place) bezeichnet<br />

die S um m e m en sch lich er E m pfindungen, zu


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 387<br />

7.9 Individuelle Nutzenfunktionen <strong>und</strong> Risikobereitschaften Vorsichtige Personen neigen dazu, die Folgen eines Verlusts<br />

oder Nachteils zu überschätzen <strong>und</strong> die Konsequenzen aus einem Gewinn oder Vorteil zu niedrig zu bewerten. Für den risikofreudigen<br />

Typ gilt genau das Gegenteil. Viele Menschen sind weder übertrieben vorsichtig noch ausgesprochen unbesonnen, ihre Nutzenfunktion<br />

liegt irgendwo zwischen diesen beiden Extremen. Die Risikobereitschaft eines Menschen kann unter anderem auch<br />

von dessen materieller Situation abhängen. Personen mit geringem Besitz neigen dazu, sowohl große Gewinne oder Vorteile als<br />

auch große Verluste oder Nachteile über zu bewerten. Vermögende Personen tendieren in beiden Fällen zur Unterschätzung.<br />

(Quelle: Golledge, R.G.; Stimpson, R.J. Analytical Behaviour Geography. Beckenham, Groom Helm, 1987, S. 48.)<br />

einem b estim m ten O rt, w obei die G efühle a u f p e r­<br />

sönlichen E rfahrungen, E rin n eru n g en u n d sy m b o l­<br />

haften B edeutungen basieren, die m it diesem O rt v erb<strong>und</strong>en<br />

sind. D er Begriff k an n sich jedoch ebenso d a­<br />

rauf beziehen, wie d er C h arak ter eines O rtes, dessen<br />

spezifische physische M erkm ale u n d /o d e r die seiner<br />

Bewohner, von A u ß en steh enden (outsiders) w ah rg e­<br />

nom m en w erden.<br />

Für Insider entw ickelt sich em o tio n ale O rtsbezogenheit<br />

d u rch die allen gem einsam e A rt, sich zu kleiden,<br />

zu sprechen, sich zu b en ehm en u n d so w eiter.<br />

Eine em otionale B indung en tsteh t ebenfalls d u rch<br />

die V ertrautheit m it d er G eschichte u n d Sym bolik<br />

bestim m ter E lem ente d er physischen U m gebung. D a­<br />

bei kann es sich u m den G eb u rtso rt einer b ek an n ten<br />

Persönlichkeit, den Schauplatz eines w ichtigen E r­<br />

eignisses oder andere, das Z u sam m en g eh ö rig k eitsgefühl<br />

steigernde E rscheinungen han d eln . G elegentlich<br />

w ird em o tio n ale O rtsbezogenheit d u rch sy m b o l­<br />

trächtige M o n u m e n te o d er S tandbilder gezielt v erstärkt,<br />

m eist ergibt sich diese jedoch zw anglos aus<br />

d er V ertrau th eit d er M enschen m it ihresgleichen<br />

u n d ih rer U m gebung. A u fgr<strong>und</strong> d er daraus folgenden<br />

em o tio n alen O rtsbezogenheit fühlen sich M enschen<br />

heim isch u n d „am richtigen O rt“ . In einer litera rischen<br />

S childerung des L o n d o n er Stadtviertels Ladb<br />

ro k e G rove, in d em d er A u to r d er folgenden Schild<br />

eru n g eine Z eitlang gelebt hat, w ird das b esondere<br />

Flair dieses V iertels beschrieben:<br />

„W ie viele an d ere v erarm te u n d h eru n te rg e k o m ­<br />

m ene G roßstadtviertel besitzt es an sonnigen T agen<br />

etw as M alerisches, am erikanische T o u risten schlen ­<br />

d ern ü b er d en S traß en m ark t in der P ortobello<br />

R oad u n d knip sen E rinnerungsfotos. D och bei tr ü ­<br />

b em W etter b em erk t m an den U n rat, die b lättern d en<br />

Farben, zerrissenen M asch en d raht u n d den schw a-


388 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

eben D uft von R äucherstäbchen, d er m it den u n a n ­<br />

genehm süßlichen G erüchen n ach feuchtem M o d er<br />

u n d faulendem P u tz w etteifert. W en n es in dieser G e­<br />

gend ü b erh a u p t Z eichen eines gew issen W ohlstands<br />

gibt, d a n n ist es das typisch städtische K lein u n tern eh ­<br />

m e rtu m der A n tiq u itäten läd en u n d B uden, die letztlich<br />

jedoch nichts p ro d u zieren. B ürgeraktionen h in ­<br />

terlassen da u n d d o rt arm selige S puren: Ein G raffiti<br />

,Free S hop’ ziert eine verriegelte Baracke, u m rin g t<br />

von w eggew orfenen S chuhen u n d Bergen zerschlissener,<br />

ü b erein an d er gestapelter Sofas. U n ter den B rückenbögen<br />

der H ighw ays ein n o td ü rftig angelegter<br />

Spielplatz, a u f B etonpfeilern riesenhafte, m it K reide<br />

u n d w eißer T ü n ch e gem alte G esichter u n d S prüche<br />

wie ,Schlagt die Schw eine zu sam m en ’ u n d ,E ngland<br />

den W eiß e n ’. D ie S traßen sind bevölkert von einer<br />

M ischung untersch ied lich ster T ypen: D a sind zwei<br />

N o n n en in gestärkten G ew ändern, ein Sikh m it<br />

schm uddeligem T u rb an , eine B ande w estindischer<br />

Jugendlicher, alle n u r H au t u n d K nochen, M ädchen<br />

in m aro k k an isch en Schafw olljacken, überzeugte M a-<br />

k ro b io tik er m it d u rch schein enden , perg am en tartig en<br />

G esichtern, dazw ischen S traßenköter, A usträger in<br />

blau er A rbeitskluft u n d junge M ü tter in Strickjacken<br />

m it K inderw agen aus zw eiter H an d (R aban, J. Soft<br />

City. L ondon, F ontana, 1975. S. 1 6 9 - 1 7 0 ).“<br />

Ein an d erer A u to r m it G espür für den b esonderen<br />

C h arakter v o n O rten beschreibt den W eg von seinem<br />

A p artm en t im N ew Y orker Stadtteil G reenw ich Vil-<br />

lage zu einem In n en stadtlo k al an d er East Side, w o<br />

dieser regelm äßig eine M ahlzeit ein n im m t:<br />

„U m von m ein em H aus zu dem französischen Resta<br />

u ra n t zu k o m m en , m uss ich gleich östlich des W a­<br />

sh in g to n Square eine G egend d u rch q u e re n , in der m it<br />

D rogen gehandelt w ird. V or zehn Jahren verkauften<br />

d o rt Junkies den Stoff an ihresgleichen. A m M orgen<br />

lagen M ä n n er im D rogenrausch a u f d en P arkbänken<br />

u n d in H auseingängen. Sie schliefen regungslos, b e­<br />

tä u b t von den D rogen, m an ch e h atten Z eitungspapier<br />

a u f dem Pflaster ausgelegt, das sie als M atratze b e­<br />

n u tzten . D ie trü b en H ero in sü ch tig en von dam als<br />

sind verschw <strong>und</strong>en, v erd rän g t von den K o k ain h ändlern.<br />

D ie K okaindealer h alten keine S ek<strong>und</strong>e still, m it<br />

ruckartigen A rm bew egungen gehen sie in einem fort<br />

a u f u n d ab. Sie scheinen wie elektrisiert, u n d in ihrer<br />

N ervosität w irken sie viel b ed ro h lich er als die alten<br />

b erausch ten M änner.<br />

Das letzte Stück m eines W egs fü h rt d u rch M u rray<br />

Hill. H ier sind die S tadthäuser aus sch m u tzfarb en em<br />

K alkstein o d er S andstein gebaut, die Eingänge zu den<br />

W o h n u n g e n dezent. Die B ew ohner v o n M u rray Hill<br />

erk ennt m an an d er einheitlichen A rt, w ie sie sich<br />

kleiden: Die ältlichen D am en in schw arzen S eidenkleidern,<br />

die ebenso ältlichen H erren m it sportlichen,<br />

b leistiftd ü n n en B ärten u n d feinen M alakkastöcken,<br />

sichtlich seit Jah rzeh n ten in G ebrauch. M urray Hill<br />

ist ein V iertel d er alteingesessenen N ew Y orker O berschicht.<br />

[...] U nw eit d er M o rg an L ibrary befindet sich<br />

B. A ltm a n n ’s, ein G eschäft von riesigen A usm aßen,<br />

das m ittlerw eile leer steht. F rü h e r h atte es gewöhnlich<br />

am A bend geöffnet, d am it die L eute nach der Arbeit<br />

d o rt einkaufen k o n n ten . O ft sah m an d o rt Frauen aus<br />

dem n ah e gelegenen G ram ercy Park b eim Einkäufen<br />

von W eißw äsche. Sie tru g en gepflegte kalbslederne<br />

H an d taschen , in d en en die A nzeigen von Sonderangeboten<br />

v erstaut w aren, die sie aus der Zeitung<br />

ausgeschnitten h atten . D ie F rauen arbeiteten hart<br />

u n d w aren sehr sparsam (Sennett, R. The Consciousness<br />

ofthe Eye. N ew Y ork, K nopf, 1990. S. 123-124).“<br />

F ür A ußen steh en d e su m m ieren sich solche Details<br />

n u r d an n zu einer em o tio n alen O rtsbezogenheit,<br />

w en n diese so p räg n an t sind, dass sie in denjenigen,<br />

die keine eigene A nsch au u n g von den örtlichen Gegebenheiten<br />

haben, eine allgem eine V orstellung her-<br />

vorru fen . F ür die M eh rh eit d er O u tsid er sind die visuellen<br />

u n d akustischen E indrücke von Ladbroke<br />

G rove m öglicherw eise n icht stark genug, um eine<br />

kräftige em otio n ale O rtsbezogenheit entstehen zu lassen.<br />

D agegen ist der N ew Y orker Stadtteil M anhattan<br />

eine U m gebung, die auch A u ß en steh en d en ein starkes<br />

G efühl v erm ittelt. D ie Skyline, die belebten Straßen<br />

u n d unverw echselbaren G eschäftsviertel, die in<br />

ih rer G esam theit ein Sym bol für das H erz der US-<br />

am erik an isch en G eschäftsw elt sind u n d darüber ein<br />

G efühl d er V ertrau th eit v erm itteln. A uch der m o n u ­<br />

m entale S tadtkern von W ash in g to n D. C. wurde<br />

schon in seiner P lanung d a ra u f ausgelegt eine starke<br />

em o tio n ale O rtsbezogenheit zu erzeugen.<br />

I<br />

Instrumentalisierung <strong>und</strong><br />

Kommerzialisierung von Heimat<br />

Eine beso n d ere F orm em o tio n aler O rtsbezogenheit<br />

ist H eim at. D er B egriff H eim at g ehört neben Rasse,<br />

V olk u n d L ebensraum zu d en Begriffen, die in alltäglichen<br />

u n d auch w issenschaftlichen deutschsprachigen<br />

K ontexten oftm als im Z uge politischer Ideologien<br />

in stru m en talisiert w u rd en, d ah er m it ausschließenden<br />

A ssoziationen belegt sind <strong>und</strong> aus diesem G r<strong>und</strong><br />

auch in d er aktuellen geographischen W issenschaft<br />

m eist abgelehnt w erden. W ir w ollen uns m it dem Begriff<br />

H eim at gerade au fg ru n d d er M öglichkeit zur Instru<br />

m en talisieru n g beschäftigen, u m die d ahinter verb<br />

o rg en en Z u sch reib u n g en u n d V orstellungen zu beleuchten<br />

u n d d am it zu dechiffrieren.


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 389<br />

Die oben angeführten Z itate zeigen, dass H eim at<br />

nicht allein eine gefühlte V erb u n d en h e it von In d iv i­<br />

duum <strong>und</strong> einem b estim m ten O rt ist, so n d e rn ebenso<br />

ein dehnbarer u n d d am it füllbarer Begriff, w o rin auch<br />

ein D ilem m a dieser O rtsbezogenheit liegt. H eim atg e­<br />

fühle <strong>und</strong> die d am it v erb u n d e n en W ü n sch e an U n ­<br />

veränderlichkeit u n d B eständigkeit - sei es d er m a te ­<br />

riellen S tru k tu ren o der auch d er sozialen B eziehungen<br />

- bieten ein relativ großes Potenzial, regionalistische<br />

<strong>und</strong> nationalistische Ziele zu rechtfertigen. N e­<br />

ben der em otionalen O rtsbezogenheit d u rch den Begriff<br />

H eim at lösen auch an d ere relativ diffuse Begriffe<br />

wie Volk <strong>und</strong> V aterland E m o tio n en aus, die leicht zu<br />

m obilisieren sind. Som it w erden u npolitische Begriffe<br />

politisch instrum entalisiert. N ach H u b er (1999) liegt<br />

der G r<strong>und</strong> der einfachen M an ip u lierb ark eit genau<br />

darin, dass H eim at ein u n p o litisch er B egriff u n d so ­<br />

m it „allen P arolen kritiklos ausgeliefert ist“.<br />

R egionalistischen u n d n ationalistischen K räften ist<br />

es möglich über Begriffe wie H eim at, V aterland u n d<br />

Volk die Angst eines V erlusts von regionstypischen<br />

M erkm alen zu v erm itteln. D as F rem de b ek o m m t so ­<br />

mit autom atisch die F u n k tio n des B edro h enden u n d<br />

man unterstellt diesem eine A ndersartigkeit, die m it<br />

den einheim ischen G egebenheiten als n ich t v ereinbar<br />

gilt. M ultikultur w ird d ad u rc h nich t als P otenzial zur<br />

Erw eiterung des eigenen Lebensstils, so n d e rn als Bedrohung<br />

desselben in terp retiert. D ie E n tsteh u n g<br />

eines W ir-G efühls ü ber die Z ugehörigkeit zu einem<br />

bestim m ten O rt o d er T e rrito riu m u n d die folgende<br />

Abgrenzung des N ichtzugehörigen fü h rt zum A usschluss<br />

anderer, lenes W ir-G efühl w ird zu m Beispiel<br />

an A lltagsm erkm alen w ie K leidung, E rn äh ru n g sw eise,<br />

Dialekt u n d /o d e r Religion festgem acht. D iese k u l­<br />

turellen D ifferenzierungen w erden in den R ang von<br />

etwas G egebenen erh o b en u n d als n atü rlich deklariert.<br />

Neben der politischen In stru m en talisieru n g tritt in<br />

der Spätm oderne im m er m e h r die K om m erzialisierung<br />

der H eim at in den V o rd erg ru n d . N ach H u b er<br />

(1999) ist der G ru n d , w aru m H eim at so gut absetzbar<br />

ist, in der Suche nach einer heilen W elt beg rü n d et.<br />

Speziell ist dies die Suche n ach einer Id en tität. Er<br />

weist in verschiedenen B eispielen d a ra u fh in , w ie H eimat<br />

kom m erzialisiert w ird. So w erden E delw eiß u n d<br />

.Ähnliches au f K leidung gedruckt, H eim atro m a n e fin ­<br />

den reißenden Absatz, H eim at-, D orf- u n d R egionalm<br />

useen haben sich in den letzten 30 la h re n m e h r als<br />

verdoppelt.<br />

Z unächst scheint es n ich t o p p o rtu n diese K o m ­<br />

m erzialisierung von H eim at als etw as Politisches zu<br />

betrachten. W enn m an jed o ch d er T hese von D em i-<br />

rovic (1992) folgt, n ach d er es d u rch die K o m m erzialisierung<br />

der H eim at im F ernsehen m ittels H eim atserien<br />

u n d V olksm usiksendungen zu r P ro pagierung<br />

eines einheitlichen V olkes k o m m t, scheint d er Z u ­<br />

sam m en h an g w eniger unpolitisch. Seiner M ein u n g<br />

n ach w ird d u rch en tsp rech ende S endungen ein gem<br />

ein sam er M usik- u n d G eschm acksstil k o n stru ie rt<br />

u n d die Illusion vorgetäuscht, dass diese K u ltu r<br />

auch von den an d e ren M itgliedern der G em einschaft<br />

v ertreten w ird. Er schließt regionalistische u n d n a tio ­<br />

nalistische Folgen davon in dem o k ratisch en G esellschaften<br />

n icht aus.<br />

I Regionalismus <strong>und</strong> Separatismus<br />

R egionalistische u n d separatistische B ew egungen u n ­<br />

terscheiden sich, obw ohl auch sie als soziale Bew e­<br />

gungen bezeichnet w erden, von an d eren sozialen Bew<br />

egungen, wie zu m Beispiel d er Frauenbew egung,<br />

d u rch eine K o n stru k tio n des G leich- u n d A nderssein<br />

zum einen u n d teilw eise d u rch eine radikale D u rc h ­<br />

setzungsform zum anderen. R egionalistische u n d separatistische<br />

B ew egungen sin d A usdruck einer ganz<br />

spezifischen G esellschafts-R aum -K om binatorik u n d<br />

unterliegen d er V orstellung, dass eine U n zu fried en ­<br />

heit ü ber soziale V erhältnisse d u rch eine räu m lich e<br />

V erän d eru n g en , zu m Beispiel d u rch eine neue G re n z­<br />

ziehungen o d er A bgabe ad m in istrativ er R echte, zu lö ­<br />

sen sei.<br />

R e g io n a lism u s als F o rd eru n g nach E inteilung des<br />

Staatengebietes in kleinere R egionen u n d die Ü bergabe<br />

von B efugnissen an die R egionalregierungen u n d<br />

S ep a ra tism u s als F o rd eru n g nach L oslösung vom<br />

N atio n alstaat sind F o rm en alltäglichen G eographie-<br />

M achens, bei d en en stereotype A ussagen ü b er soziale<br />

u n d persönliche E igenschaften von P ersonen g etroffen<br />

w erden, die in einer b estim m ten R egion w o h n en .<br />

D ie räum liche K o m p o n en te dieser Z u sch reib u n g<br />

(H erk u n ft einer P erson) erhält dabei den V o rran g gegen<br />

ü b er sozialen E igenschaften (C harakter, L eistungen),<br />

das heiß t, dass M enschen, die in einer R egion<br />

w o h n en , k o nzeptionell hom o g en isiert w erden. Diese<br />

H o m o g en isieru n g nach in n en w irkt identitätsstiften d<br />

u n d grenzt „a n d ere“ als frem d aus. D am it ein h er geht<br />

n icht allein die W a h rn e h m u n g von A nderssein, so n ­<br />

d ern auch dessen A blehnung, da es als B edro h u n g<br />

em p fu n d en w ird. D ie Z ugehörigkeit legitim iert sich<br />

d em n ach ü b er das ansch ein en d e V erschw inden sozialer<br />

U nterschiede u n d kann n u r d u rch Isolation<br />

von au ß en au frech t gehalten w erden.<br />

G eographen beschäftigen sich m it d er Frage, wie<br />

derartige Bew egungen entsteh en , a u f d er Basis v erschiedener<br />

F o rschungsparadigm en, die sich sch o n


390 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

in d er V erw endung d er F orschungsbegriffe R egionalbew<br />

usstsein, regionale, raum bezogene u n d /o d e r k u l­<br />

turelle Id en tität w iderspiegeln. W ir v ertreten die M einung,<br />

dass R egionalism us u n d Separatism us u n te r<br />

den K onsequenzen d er M o d ern e zu beleuchten<br />

sind. D ie M o d ern e v e rtritt als Folge der A ufklärung<br />

das P ostu lat einer d u rch das In d iv id u u m selbst b e ­<br />

stim m te n sow ie ein er von den S ubjekten k o n stru ie r­<br />

ten W elt. D am it ist die W elt n ic h t m e h r d u rch Religion<br />

u n d /o d e r Schicksal v o rb estim m t, so n d ern die<br />

Folge eines alltäglichen A ushandlungsprozesses der<br />

Individuen. Diese Sichtw eise erm öglicht die H erstellung<br />

eigener Lebensziele, die E rfüllung p ersönlicher<br />

W ünsche, die M öglichkeit eigene E ntscheidungen<br />

zu treffen u n d individuelle L ebensw irklichkeit zu realisieren.<br />

D iese E n tankeru n g von vorgegebenen Leb<br />

en sm u stern bietet n eben d er Individualisierung<br />

u n d P luralisierung, aber auch die M öglichkeit des<br />

Scheiter ns u n d erh ö h t die W ahrscheinlichkeit, „falsche“<br />

E n tscheidungen zu treffen. D am it erleben ein i­<br />

ge die B edingungen d er M o d ern e w eniger als B ereich<br />

eru n g als vielm ehr als V erlust u n d sehnen sich nach<br />

trad itio n ellen Lebensw eisen, Ü berschaubarkeit von<br />

M öglichkeiten u n d einem A usgleich von Id en titätsdefiziten.<br />

Als Basis d er n eu en identitätsstiften d en<br />

M erkm ale d ienen räum liche E inheiten in F orm einer<br />

R egion o d er eines T errito riu m s, w o m it räum liche<br />

H erk u n ft zu m gru n d leg en d en E in- u n d A usschlussp<br />

rin zip d eklariert w ird (W erlen 1993, 1995).<br />

In E rin n eru n g an die verschiedenen Beispiele am<br />

A nfang des K apitels u n d d er Feststellung, dass L andschaften,<br />

O rte u n d R äum e (R egionen, T errito rien )<br />

n ich t per se eine B edeutung besitzen, so n d ern diese<br />

erst d u rch alltägliches H an d eln k o n stru ie rt u n d zugeschrieben<br />

w erden, stellen regionalistische wie auch<br />

separatistische A rg u m en tatio n en eine zentrales Beispiel<br />

für die G leichsetzung von G egenstand u n d Begriff<br />

dar, w o d u rch die sym bolisch zugeschriebene Bed<br />

eu tu n g fü r eine m aterielle u n d d am it n atü rlich e G e­<br />

gebenheit gehalten w ird.<br />

gendeine W eise an form elle o d er inform elle territoriale<br />

E inheiten u n d G renzen geb u n d en sind. D en bek<br />

anntesten u n d an schaulichsten A nsp ru ch auf ein<br />

spezifisches A real erh eben Staaten d u rch den N ationalstaat,<br />

aber auch U n tern e h m en , V ereine oder Verb<br />

än d e erh eb en oftm als A n sp rü ch e au f ein bestim m tes<br />

T errito riu m . D as T e rrito riu m ist dem n ach kein von<br />

v o rn eh erein abgegrenztes A real an sich, sondern ein<br />

K onzept, w elches a u f verschiedenen M aßstabsebenen<br />

A n w en d u n g findet. G renzen, die das jeweils angeeignete<br />

T e rrito riu m begrenzen, k ö n n en sichtbar, aber<br />

auch sym bolisch sein u n d w erd en erst d u rch alltägliche<br />

H an d lu n g en p ro d u zie rt u n d aufrechterhalten.<br />

T errito rialität ist in diesem Z u sam m en h ang eine Strategie<br />

beziehungsw eise ein A nspruch, ein bestim m tes<br />

geographisches A real zu k o n tro llieren u n d M acht<br />

ü b er an d ere M enschen, R essourcen o der Beziehungen<br />

auszuüben. T errito rialität beinhaltet daneben<br />

auch das B estreben, sozial b eg rü n d ete Bedürfnisse<br />

n ach Id en tität u n d /o d e r V erteidigung zu befriedigen.<br />

T errito rialität um fasst eine V ielzahl von P hänom enen<br />

u n d spielt eine Rolle beispielsw eise im Z usam m enh<br />

an g m it p rivaten E igentum srechten, Absatzgebieten<br />

von U n tern e h m en , W eidegebieten ethnischer oder<br />

k u ltu reller G ru p p en , Z u ständigkeiten lokaler, regionaler<br />

u n d n atio n aler B ehörden o d er den Reichweiten<br />

tran sn a tio n a le r K onzerne o d er supran atio n aler Organ<br />

isationen.<br />

T errito rialität stellt so m it ein M ittel zur Erfüllung<br />

sozialer u n d k u ltu reller E rfordernisse dar, welches<br />

soziale In terak tio n regelt,<br />

K ontrolle ü b er P ersonen u n d R essourcen erm öglicht<br />

sow ie<br />

• eine B ezugseinheit zu r Id entitätsbildung <strong>und</strong><br />

G ruppen zu g eh ö rig k eit bildet.<br />

T errito rialität erfüllt diese F u n k tio n en u n te r anderem<br />

au fg ru n d d er T atsache, dass K lassifizierungen, K om ­<br />

m u n ik a tio n u n d die D u rchsetzu n g bestim m ter Regeln,<br />

N o rm e n u n d W erte sow ie S anktionen durch<br />

diese erleichtert w erden. M enschen u n d /o d er Resso<br />

u rcen lassen sich w esentlich einfacher anhand<br />

räu m lich er M erkm ale klassifizieren als nach person<br />

en g e b u n d en e n o d er sozialen K riterien. T erritorien<br />

k ö n n e n m ithilfe einfacher Sym bole o der Z eichen ausgew<br />

iesen w erden, die für b estim m te A bgrenzungen<br />

stehen. Dies w ied eru m m a ch t das T erritorium zu<br />

einem w irkungsvollen E ntscheidungskriterium bezüglich<br />

d er Frage, ob P ersonen dem G ültigkeitsbereich<br />

eines b estim m ten G esetzes- o der Regelwerks<br />

u n tersteh en.<br />

M ach t u n d Einfluss erh alten d u rch T erritorialität<br />

eine greifbare D im ension, dabei w ird m an n u r allzu


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 391<br />

leicht von den persö n lich en M achtbeziehungen <strong>und</strong><br />

A bhängigkeiten in n erh alb von G esellschaften abgelenkt.<br />

M it an d eren W orten: Regeln u n d G esetze w erden<br />

eher m it R äum en u n d T errito rien als m it b e­<br />

stim m ten In dividuen o d er G esellschaften in V erb in ­<br />

dung gebracht. D u rch T errito rialität ist au ß e rd em<br />

gew ährleistet, dass M enschen B ezugssystem e en tw i­<br />

ckeln <strong>und</strong> erhalten k ö n n en , in n erh alb d erer sie die<br />

W elt erfahren u n d ih r B edeutung zuw eisen. Feste<br />

G renzen m achen es beispielsw eise leichter, zw ischen<br />

„uns hier“ u n d „denen d o rt“ zu unterscheiden.<br />

Territorialität <strong>und</strong> Nationalismus<br />

N ationalstaaten stellen eine territo rial d efinierte soziale<br />

E inheit u n d eine V erb in d u n g aus Staat u n d N a ­<br />

tion dar. D er Staat ü b t die A ufgabe der K ontrolle u n d<br />

K oordination sozialer H an d lu n g e n d er M itglieder<br />

einer G esellschaft aus. E r ist die In stitu tio n alisieru n g<br />

der adm inistrativen O rgane u n d d am it zuständig für<br />

die A ufrechterhaltung d er d efinierten O rd n u n g u n d<br />

der D urchsetzung des Rechts. Z u d em b eh ält sich<br />

der Staat die M öglichkeit zu r G ew altanw endung<br />

durch das M ilitär zu r D u rch setzu n g seiner A ufgaben<br />

<strong>und</strong> Ziele vor. Die N atio n hingegen ist ein soziales<br />

Kollektiv, w elches sich ü b er das vom Staat k o n ­<br />

trollierte T errito riu m definiert. D am it ist das g ru n d ­<br />

legende P rinzip des Staates - das T errito ria lp rin ­<br />

zip ndash; verankert. D enn die D efinition d er N atio n<br />

erfolgt w esentlich stärk er ü b er das vom Staat definierte<br />

T errito riu m als beispielsw eise ü b er die a d m in i­<br />

strativen O rgane, w o m it w ied eru m H erk u n ft - also<br />

eine ethnisch-völkische A rg u m en tatio n - n ationale<br />

Diskurse prägt.<br />

G r<strong>und</strong>legend u nterliegt d er N atio n alstaat w eniger<br />

einem em otionalen u n d psychologischen als vielm ehr<br />

einem politischen P rinzip: d er V erfolgung gem einsam<br />

er politischer Ziele, ledoch scheint es den V ertretern<br />

des N ationalstaates zu m V orteil zu sein, w enn<br />

national-staatliche In stitu tio n en neben politischen<br />

Zielen kulturelle S tandards setzen, was in d er G e­<br />

schichte oftm als m it d er V erfolgung kultu reller M in ­<br />

derheiten u n d der V erd rängung regionaler Sprachen<br />

einherging. Beides w u rd e als B edro h u n g des N atio ­<br />

nalstaates u n d d am it der N atio n verstanden. In d iesem<br />

Sinne versucht auch d er N atio n alstaat d u rch stereotype<br />

Z u schreibungen eine H o m o g en isieru n g d er<br />

Bevölkerung nach in n en durchzusetzen, u m einen<br />

,\usschluss nach au ß en , kriegerische H an d lu n g en<br />

<strong>und</strong> so w eiter legitim ieren zu k ö n n en . Als häufigstes<br />

K riterium einer N atio n w ird die Sprache b en u tzt, die<br />

verbindend u n d d am it iden titätsstiften d w irkt. N eben<br />

d er Sprache ist es die R ep ro d u k tio n einer g em einsam<br />

en K ultur, G eschichte u n d /o d e r W ertvorstellungen,<br />

die als G r<strong>und</strong>lage ein er n atio n alen Id en tität w irken<br />

sollen u n d ü b er Sym bole w ie zu m Beispiel die Flagge<br />

einer N atio n p räse n tie rt w erden.<br />

D am it bezieht sich der N atio n alstaat ebenso wie<br />

R egionalism us u n d S eparatism us a u f holistische K o n ­<br />

zepte v o n E inheit u n d G leichheit u n d teilt unkritisch<br />

die selbstverständliche V erb in d u n g vom T räger einer<br />

Sym bolik u n d d er sym bolischen Z u sch reib u n g an<br />

sich. D am it b irg t d er N atio n alstaat neben der M ö g ­<br />

lichkeit zur D u rchsetzu n g einer d efinierten O rd n u n g ,<br />

K ontrolle u n d d em Schutz d er B evölkerung auch das<br />

Potenzial für n ationalistische S trö m u n g en au fg ru n d<br />

von H o m o g en isieru n g en , die A nderssein a u to m a ­<br />

tisch als B ed ro h u n g erscheinen lassen. D ie R adikalisierung<br />

eines eth n ischen D iskurses gegenüber eines<br />

p olitisch-engagierten D iskurses, d er u n terschiedliche<br />

M einungen, S trö m u n g en u n d Ideen erlaubt, h at in<br />

d er G eschichte n icht selten zu einem rassischen<br />

W a h n geführt, d er o h n e eine ethnische A rg u m en tatio<br />

n n icht zu legitim ieren gew esen w äre (G io rd an o<br />

1999).<br />

Territorialität <strong>und</strong> Gender<br />

W ie erw äh n t stellt T errito rialität ein M ittel zu r K o n ­<br />

trolle ü ber P erso n en u n d R essourcen u n d zu r D u rc h ­<br />

setzung b estim m ter N o rm e n u n d Regeln dar. D ie b e­<br />

k an n teste F orm ein er solchen A usü b u n g von M ach t<br />

ü b er R aum ist d er N ationalstaat. D abei en tste h t d er<br />

E indruck, n ationalstaatliche T errito rialität bürge für<br />

S ouveränität u n d S icherheit u n d G ender sei fü r die<br />

K onzepte von T e rrito riu m , T errito rialität u n d G re n ­<br />

zen irrelevant. D och w en n ü b er ein T errito riu m K o n ­<br />

trolle u n d M ach t ü b er P erso n en entlang von N o rm en<br />

ausgeübt w erden, erfolgen en tlan g von an sch ein en d<br />

b io lo g isch -n atü rlich en D ifferenzen Z usch reib u n g en<br />

zu b estim m ten R äum en, w elche gleichzeitig H a n d ­<br />

lungsspielräum e von A kteuren darstellen. M enschen<br />

w erden v erortet. D iese Z usch reib u n g en u n d V erortu<br />

n g en sind eingebettet in d en kultu rellen , sozialen,<br />

religiösen u n d w irtschaftlichen K ontext der G esellschaft<br />

u n d spiegeln d am it gesellschaftliche V o rstellungen<br />

u n d Ideologien w ider. D ie W a h rn e h m u n g<br />

von D ifferenz u n d die d a ra u f folgenden n o rm ativ en<br />

Z usch reib u n g en sind eine kulturelle Strategie d er U n ­<br />

terscheidung, die räu m lich projiziert zu einer rä u m ­<br />

lichen Strategie beziehungsw eise zu T e rrito ria lisie ­<br />

ru n g e n führt. So k ö n n en altersspezifische, ethnische<br />

u n d auch geschlechtsspezifische T errito rialisieru n g en<br />

festgeschrieben w erden.


392 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

E ine zentrale D iskussion um die K onzepte T errito<br />

riu m , T errito rialität u n d G renzen innerh alb gendersensibler<br />

geographischer F orschung erfolgt im<br />

Z uge d er D ebatte u m die öffentliche u n d private<br />

Sphäre. D ie stete R ep ro d u k tio n eines D ualism us zw i­<br />

schen öffentlicher u n d p rivater Sphäre stellt T e rrito ­<br />

rialisierungen dar, die die U ngleichheit zw ischen den<br />

G eschlechtern u n d die d am it ein h erg eh en d en u n te r­<br />

schiedlichen H andlungsm öglichkeiten verfestigt (K a­<br />

pitel 6). Jedoch erfolgen geschlechtsspezifische T errito<br />

rialisierungen n ich t n u r zw ischen, so n d ern auch in ­<br />

nerhalb d er G eschlechter. D en so g en an n ten „Q ueer<br />

S tudics“ liegt die T hese zu gr<strong>und</strong>e, dass die Z w eigeschlechtlichkeit<br />

ebenso wie die H eterosexualität sozial<br />

gestiftet ist, sich gegenseitig bedingen, w echselseitig<br />

stabilisieren u n d ein an d er ihre N aturhaftigkeit g aran ­<br />

tieren. M it d er K ritik an d er W a h rn eh m u n g von H o ­<br />

m osexualität als einem u n n atü rlich e n Persönlichkeits-<br />

o d er G ru p p e n m e rk m a l entlarven die Q ueer<br />

Studies die heterosexuelle B eziehung als norm atives<br />

K onstrukt. W eiterhin decken die W issenschafter<br />

auf, dass die H eterosexualität n icht n u r individuelle<br />

S ubjektpositionen bezüglich d er B eziehungs- u n d Beg<br />

ehrensform darstellt, so n d e rn die zentrale S tru k tu r­<br />

kategorie aller gesellschaftlichen In stitu tio n en wie<br />

R echt, Ehe, Fam ilie, V erw andtschaft, (W ohlfahrts-)<br />

Staat, A rbeitsm arkt u n d die T re n n u n g in private<br />

u n d öffentliche S phären ist. D am it organisiert u n d<br />

stru k tu rie rt sie die politischen, sozialen, ö k o n o m i­<br />

schen u n d individuellen V erhältnisse des alltäglichen<br />

Lebens jeder Person u n d ist d am it nicht n u r (H etero-)<br />

Sexualität, so n d e rn w ird zu r (H etero -)N o rm ativ ität;<br />

sie ist die allgem eingültige N o rm , die A bw eichungen<br />

als u n n atü rlich erscheinen lässt u n d stellt d am it eine<br />

w eitere Strategie d er T errito rialisieru n g dar.<br />

I Die Vermarktung von Orten<br />

Die G lobalisierung von W irtschaft u n d K ultur h at zur<br />

Folge, dass O rte u n d R egionen überall a u f d er E rde<br />

zu n e h m e n d bestreb t sind, die A rt u n d W eise, wie<br />

sie von T o u risten , U n tern e h m en , M edien u n d V erb<br />

rau ch ern w ah rg en o m m en w erden, positiv zu b eein ­<br />

flussen. Dies fü h rt dazu, dass O rte n eu in terp retiert,<br />

neu erdacht, n eu entw orfen, neu rep räsentiert u n d<br />

neu v erm ark tet w erden. Im Z u sam m en h ang m it<br />

d er V erm ark tu n g von O rten ist em otio n ale O rtsbezogenheit<br />

zu einer w ertvollen W are u n d K ultur zu einer<br />

b ed eu ten d en ö k o n o m isch en G rö ß e gew orden. K ultur<br />

h at sich zu einem en tsch eid en d en F aktor bezüglich<br />

des Potenzials von O rten entw ickelt, ökonom isch e<br />

A ktivitäten anzuziehen u n d d au erh aft an sich zu b in ­<br />

den. D as Streben nach W ettbew erbsfähigkeit innerhalb<br />

der globalisierten W irtschaft h at dazu geführt,<br />

dass vielerorts A nstren g u n g en zur Steigerung der Attrak<br />

tiv ität u n te rn o m m e n w u rd en , etw a d urch verk<br />

eh rsb eru h ig te Z o n en , m u ltik u ltu relle Einrichtungen<br />

o d er V eranstaltungen wie Festivals, Sport- u n d M e­<br />

dienereignisse. F erner p räse n tiert sich eine w achsende<br />

Z ahl von O rten , S tädten o d er R egionen m it eigenen<br />

H om epages im In tern et, u m m it K arten, Inform<br />

atio n en , Fotografien, F ü h re rn u n d virtuellen A n­<br />

sichten a u f den globalen M ärk ten d er T ourism usind<br />

u strie u n d an d erer W irtschaftszw eige für sich zu<br />

w erben. M ittlerw eile ist die Frage, w er neue Konzepte<br />

entw ickelt u n d K ulturelles n eu verpackt - <strong>und</strong> zu<br />

w essen B edingungen - , vielfach zu einem wichtigen<br />

G egenstand d er Lokal- u n d R egionalpolitik geworden.<br />

E ntscheidend bei d er V erm ark tu n g von O rten ist<br />

eine a u f S chlüsselgruppen abzielende Steigerung der<br />

A ttraktivität d u rch geschicktes Inszenieren m aterieller<br />

u n d visueller K u lturgüter. Z u diesen Ziclgruppen<br />

zählen F ü h ru n g sp erso n en g ro ß er U nternehm en, gut<br />

ausgebildete, von ex p andierenden H ochtechnologiefirm<br />

en gesuchte A rbeitskräfte, b etu ch te Touristen<br />

u n d O rg an isato ren von Fach- u n d Firm entagungen<br />

sow ie an d erer V eran staltu n g en , die wirtschaftliche<br />

Im p u lse geben k ö n n en . Z u m einen k an n eine werbew<br />

irksam e Inszen ieru n g k u ltu reller E igenheiten durch<br />

die H erv o rh eb u n g lokal o d er regional verw'urzelter<br />

T raditio n en , L ebensw eisen u n d künstlerischer Aktiv<br />

itäten erfolgen (E xkurs 7.1 „G eographie in Bildern<br />

- V erm a rk tu n g von O rten u n d w irtschaftliche U m ­<br />

o rien tieru n g “ ); zu m an d eren hän g t der Erfolg derartiger<br />

B em ü h u n g en davon ab, inw iew eit es einem Ort<br />

gelingt, sich d u rch neue k u lturelle A nreize sowie eigens<br />

organisierte V eranstaltungen u n d Ausstellungen<br />

an das globalisierte K ulturgeschehen anzukoppeln.<br />

W eith in gebräuchliche Strategien der Inszenierung<br />

u n d k o m m erziellen V erw ertu n g von K ultur sind<br />

die F ö rd e ru n g k u ltu reller E inrichtungen, Investition<br />

en in den öffentlichen R aum , die N eugestaltung<br />

o d er S anierung von O bjekten wie städtischen Hafenarealen<br />

o d er histo risch en Stadtvierteln, die Ausweitu<br />

n g u n d V erbesserung des A ngebots von Museen<br />

- insbesondere in F o rm von Sonderausstellungen,<br />

die große B esucherm assen anziehen u n d sich durch<br />

d aran geknüpfte K aufangebote v erm arkten lassen -<br />

sow ie die A usw eisung, B eschilderung u n d Instandh<br />

altu n g histo risch er Sehensw ürdigkeiten.<br />

D ie Stadt A m sterdam ist ein positives Beispiel dafür,<br />

w ie Investitionen in K unst u n d K ultur als Katalysator<br />

für W irtschaftsw achstum w irken können. Die<br />

Stopera, ein in den späten 1980er-Iahren fertiggestell-


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 393<br />

tes K ulturzentrum , w u rd e bew usst in einem von V erfall<br />

b edrohten V iertel im östlichen Teil des S tad tzen ­<br />

trum s errichtet u n d h atte eine A ufw ertung u n d W iederbelebung<br />

des gesam ten G ebiets in n erh alb w eniger<br />

Jahre zur Folge. Z u B eginn der 1990er-Jahre arb eiteten<br />

bereits 2 000 M enschen in d er Stopera, in d er U m ­<br />

gebung eröffneten B u chhandlungen, M usik- u n d<br />

Z eitschriftenläden sow ie R estaurants, Cafés u n d Feinküstläden.<br />

D arüber h in aus lockte die neue A tm o sp h ä­<br />

re nicht n u r K leingew erbe, so n d e rn auch eine w ach ­<br />

sende Zahl von T o u risten an, die das G elände bis d a­<br />

hin eher gem ieden h atten.<br />

New York C ity ist ebenfalls ein gutes Beispiel für<br />

die V 'erm arktung von O rten d u rch Investitionen in<br />

den öffentlichen R aum . D er B ryant P ark, an d er<br />

42. Straße in M anhattan (A bbildung 7.10) gelegen,<br />

hat sich im Z uge d er B em ü h u n g en , das Im age d er<br />

Stadt zu verbessern sow ie T o u risten u n d gew erbliche<br />

Investitionen anzuziehen, in ein von vielen geschätztes<br />

Schm uckstück verw andelt. N ach einer P eriode des<br />

W rfalls u n d der N u tzu n g d u rch O bdachlose u n d<br />

D rogendealer w u rd e die Parkanlage von einer nich t<br />

kom m erziellen V ereinigung örtlich er Im m o b ilien -<br />

cigentinner u n d F lauptm ieter n am en s B ryant Park<br />

Restoration C o rp o ratio n ü b ern o m m en . D iese G ru p ­<br />

pe von Leuten n ah m sich des Parks an u n d gab ihm<br />

ein neues G esicht. N eue D ienstleistungen im E rn ä h ­<br />

rungsbereich w u rd en angeboten, ein privater Sicherh<br />

eitsdienst eingerichtet u n d eine Reihe kultu reller<br />

V eran staltu n g en organisiert, d a ru n te r eine zw eim al<br />

jährlich stattfin d ende M o d en sch au , bei der N ew<br />

Y orker D esigner ih re K ollektionen in einem Zelt<br />

a u f d er M itte des Platzes p räsen tieren . N ach d em<br />

m an die unliebsam en N u tze r aus dem P ark vertrieben<br />

u n d das Im age d er an g ren zen d en G ebiete gründlich<br />

aufgebessert h atte, ergoss sich ü b er das V iertel bald<br />

eine zw eite Investitionsw elle.<br />

Beispiele fü r die U m gestaltung u n d M o d ern isieru<br />

n g b estim m ter U m g ebungen w ie städtischer H a ­<br />

fenareale o der h isto risch er V iertel lassen sich in zahlreichen<br />

S tädten finden. H arborplace, ein am W asser<br />

gelegener K om plex, d er in einer Z one teils verfallener<br />

Kais u n d H afenbecken d er S tadt B altim ore errich tet<br />

w urde, k an n als erfolgreiches S anierungsprojekt b e­<br />

trachtet w erden. 1980 fertiggestellt, zählte H a rb o rp la ­<br />

ce zu den b ek an n testen Beispielen eines g ro ß angelegten,<br />

d u rch M isch n u tzu n g gekennzeichneten S tad t­<br />

entw icklungsprojekts, das eine In d u striestad t m it<br />

g ro ß en A nstren g u n g en um gesetzt hatte, u m ih r Im a ­<br />

ge zu verbessern sow ie T o u risten u n d K u n d en a n z u ­<br />

ziehen. Bis 1995 lockte H arb o rp lace jäh rlich m e h r als<br />

30 M illionen B esucher an. Es ü b errasch t nich t, dass<br />

7.10 Der Bryant Park in New York City Der Bryant Park erstreckt sich vor dem Hauptgebäude der Stadtbibliothek von New York<br />

City im Herzen Manhattans. Früher hielten sich dort vor allem Obdachlose <strong>und</strong> Drogenhändler auf. Nach der Neugestaltung des<br />

Platzes durch Bürgerinitiativen wurde die Anlage ein beliebter Treffpunkt für Besucher <strong>und</strong> Berufstätige. Die Umwandlung war<br />

so erfolgreich, dass hier heute die Modewoche von New York abgehalten wird, bei der Models in eigens errichteten Zelten die<br />

Herbstkollektionen der Modedesigner präsentieren. Der Bryant Park erstrahlt in neuem Glanz, wobei nicht eindeutig zu sagen ist,<br />

ob es sich um einen öffentlichen Raum oder um eine Mischung aus öffentlichem <strong>und</strong> privatem Raum handelt. Oder vielleicht lautet die<br />

Frage: Öffentlich für wen? Unter all den eher wohlhabenden Besuchern sind Obdachlose jedenfalls nicht mehr gern gesehen.


394 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

Exkurs 7.1<br />

Geographie in Bildern - Vermarktung von Orten<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Umorientierung<br />

E ngland<br />

■-IPorts’m oÄ h<br />

^<br />

-Ai q<br />

Ij^and <<br />

England<br />

?Ää-<br />

fC-<br />

•Portsmouth<br />

N<br />

Der Kanal 0 4 8 Kilometer<br />

D e r K a n a l<br />

Wegen seines vorzüglichen Naturhafens war Portsmouth seit der Regierungszeit Heinrichs VIII. Englands wichtigster Marinehafen<br />

mit der bedeutendsten Werft des Landes. Auf dem Höhepunkt des britischen Empire hatte der Schiffsbau mit den dazugehörigen<br />

spezialisierten Herstellungsbetrieben erheblichen Anteil an der Entwicklung der Stadt. Als mit dem Niedergang des Britischen<br />

Empire nach 1960 die Marine drastisch verkleinert wurde, geriet die Werftindustrie in Portsmouth in eine schwere Krise.<br />

Nach einer ökonomischen Anpassungsphase begann man, das Image der Stadt wieder zu verbessern. Dabei besann man sich<br />

der eigenen Geschichte <strong>und</strong> entschied sich dafür, Portsmouth als Tagungsort <strong>und</strong> Touristenziel mit besonderem Flair zu vermarkten.<br />

" f f<br />

Die Mary Rose (Quelle: Pepys Library, Magdalene College, Camb.).<br />

Die HMS Victory (das Flaggschiff von Lord Nelson).<br />

I !<br />

ft<br />

Eingang zu den auf dem denkmalgeschützten Gelände des Marinehafens von Portsmouth<br />

eingerichteten Ausstellungsräumen, die dem gesunkenen Schlachtschiff<br />

Mary Rose gewidmet sind.<br />

Der Stadt Portsmouth ist es gelungen, das historische Erbe als bedeutenden Marinestützpunkt<br />

touristisch zu vermarkten. Dadurch konnte der Verlust an Arbeitsplätzen<br />

in der Werftindustrie, die über lange Zeit das wirtschaftliche F<strong>und</strong>ament der Stadt<br />

gebildet hatte, wettgemacht werden. Die HMS Victory, Nelsons Flaggschiff in der<br />

Schlacht von Trafalgar, ist seit langem die Hauptattraktion des Royal Dockyard.<br />

1979 fand eine private Organisation das Wrack der Mary Rose, eines Kriegsschiffs<br />

aus derTudor-Zeit, das 1545 in der Schlacht gegen eine französische Invasionsflotte<br />

unweit von Portsmouth versenkt worden war. Das mittlerweile restaurierte SegeF<br />

schiff bildet einen wichtigen Besuchermagneten auf dem Areal des ebenfalls in Stand<br />

gesetzten historischen Hafens.


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 395<br />

18. Juli 1545: Die Schiffe Heinrichs VIII. schlagen in Portsmouth Harbour einen Angriff der französischen Flotte zurück.<br />

Restauriertes Marineboot.<br />

6. Juni 1944; D-Day mit Landung der Alliierten Streitkräfte in der Normandie.<br />

In der zweiten Hälfte des 19. <strong>und</strong> der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts profitierte Portsmouth wirtschaftlich von seiner Funktion<br />

als Erholungsziel <strong>und</strong> Sommerfrische. Als in den öOer-Jahren des 20, Jahrh<strong>und</strong>erts Reisen ins Ausland erschwinglicher wurden,<br />

entschieden sich viele britische Urlauber für wärmere Gefilde am Mittelmeer, während die Tourismusbranche von Portsmouth herbe<br />

Verluste hinnehmen musste. Seit den 1980er-Jahren änderte die Stadt ihre Strategie <strong>und</strong> setzte auf ihre historische Bedeutung als<br />

Seehafen <strong>und</strong> Marinestützpunkt. Dahinter stand die Absicht, Tagesbesucher auf der Durchreise von <strong>und</strong> nach Frankreich anzulocken.<br />

Dabei profitierte man von einer neu eingerichteten Autofähre über den Kanal, die ein stillgelegtes Werftgelände im Hafen<br />

von Portsmouth als Anlegestelle nutzte. 1996 schloss die Stadt mit benachbarten Gemeinden eine Partnerschaft zur Sanierung <strong>und</strong><br />

Neugestaltung des Hafens. Das umgerechnet 135 Millionen US-Dollar teure Projekt finanziert sich zu wesentlichen Teilen aus<br />

Einnahmen der staatlichen Lotterie. Vorgesehen ist unter anderem eine Kaianlage nach dem Vorbild von Baltimore, an der ein<br />

modernes Tagung.szentrum, Läden, Cafés, Hotels <strong>und</strong> Aussichtsterrassen für maritime Events entstehen sollen.<br />

Im Zweiten Weltkrieg war Portsmouth militärischer Hauptstützpunkt für die Streitkräfte der Alliierten, die von hier aus am 6. Juni<br />

1944, dem sogenannten D-Day, ihre Invasion in das von Deutschen besetzte Frankreich starteten. 1982 öffnete das D-Day-Museum<br />

erstmals seine Pforten. Die Stadt unterstrich damit einmal mehr ihre spezifische historische Bedeutung.<br />

D -D A Y MUSEUl<br />

Das Königliche Marinemuseum in Portsmouth.<br />

D-Day-Museum, Portsmouth.


396 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

der hier erzielte Erfolg andere Städte dazu ermuntert<br />

hat, sich durch noch größer dimensionierte Projekte<br />

hervorzutun. Zu diesen gehören South Street Seaport<br />

in New York, der Marktplatz <strong>und</strong> die Hafenpromenade<br />

in Boston sowie Darling Harbour im australischen<br />

Sydney. Die umfangreichste <strong>und</strong> ambitionierteste<br />

Entwicklungsmaßnahme dieser Art wurde jedoch<br />

in den Londoner Docklands realisiert (Abbildung<br />

7.11). Die Sanierung der Docklands in den<br />

1980er-Jahren war ein gezielter Versuch der britischen<br />

Regierung unter Premierministerin Margaret<br />

Thatcher, diesen Teil Londons nicht nur im Hinblick<br />

auf globale Besucherströme <strong>und</strong> Investitionen zu vermarkten,<br />

sondern das Bild einer postindustriellen<br />

Ökonomie sowie eines verjüngten <strong>und</strong> lebendigen<br />

Vereinigten Königreichs zu vermitteln.<br />

Maßnahmen der Neugestaltung <strong>und</strong> Restaurierung<br />

historischer Stadtbezirke <strong>und</strong> anderer Objekte<br />

sind nicht auf Einzelbeispiele beschränkt, sondern<br />

mittlerweile so weit verbreitet, dass diese als Hauptstütze<br />

eines auf der Vermarktung historischer Sehenswürdigkeiten<br />

basierenden Wirtschaftszweigs gelten<br />

können. Der Besichtigungstourismus hat sich zu<br />

einer regelrechten Industrie entwickelt, die aus der<br />

Geschichte von Menschen <strong>und</strong> Orten kommerzielle<br />

Gewinne zieht. Dass es sich um einen weltweit bedeutenden<br />

Industriesektor handelt, beweist die Beteiligung<br />

der ökonomischen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Organisation<br />

der Vereinten Nationen (UNESCO) an der<br />

Ausweisung von Orten, die in die Weltkulturerbe-<br />

Liste aufgenommen werden. In Ländern wie Großbritannien,<br />

das eine Vielzahl historischer Bezirke <strong>und</strong><br />

Stätten besitzt, stützt sich die Vermarktung von Orten<br />

im Wesentlichen auf den Besichtigungstourismus. Im<br />

Vereinigten Königreich bezahlen jährlich über 90 Millionen<br />

Menschen Eintrittsgebühren für die Besichtigung<br />

von insgesamt r<strong>und</strong> 650 historischen Stätten.<br />

Hinzu kommt eine ebenfalls in die Millionen gehende<br />

Zahl von Menschen, die sich von frei zugänglichen<br />

historischen Sehenswürdigkeiten wie Kirchen, Denk-<br />

' M<br />

B<br />

I'm<br />

lili!<br />

ssl<br />

7.11 Die Londoner Docklands<br />

Mit mehr als 30 000<br />

Werftarbeitern einst ökonomisches<br />

Herzstück des Britischen<br />

Empire, stürzten die<br />

Londoner Docklands in den<br />

1960er-Jahren infolge des<br />

Konkurrenzdrucks durch<br />

spezialisierte Containerhäfen<br />

in eine schwere Krise. 1983<br />

wurde von der Zentralregierung<br />

die London Docklands<br />

Development Corporation<br />

gegründet <strong>und</strong> mit weit<br />

reichenden Zuständigkeiten<br />

hinsichtlich der Sanierung<br />

des verfallenen Hafengeländes<br />

ausgestattet. Die Docklands<br />

gelten heute als weltweit<br />

größtes städtisches<br />

Sanierungsprojekt, im Zuge<br />

dessen Millionen von Quadratmetern<br />

an Büro- <strong>und</strong><br />

Ladenfläche sowie eine<br />

beträchtliche Zahl neuer<br />

Wohnungen entstanden.<br />

Das Foto zeigt Canary Wharf.


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 397<br />

malern, Ruinen <strong>und</strong> stillgelegten Industriekanälen<br />

anziehen lassen. 2001 konnten die in Großbritannien<br />

ausgewiesenen historischen Stätten mehr als 185 Millionen<br />

Besucher verzeichnen, die insgesamt r<strong>und</strong><br />

46 Milliarden US-Dollar für Eintritt, Souvenirartikel,<br />

Anreise <strong>und</strong> Übernachtung ausgaben.<br />

Eine bedeutende Folge des Geschäfts mit dem kulturellen<br />

Erbe ist es, dass vor allem städtische Räume<br />

anföllig für eine entwürdigende <strong>und</strong> trivialisierende<br />

„Disneyfizierung“ sind. Das United Nations Genter<br />

for Human Settlement (UNCHS) schreibt dazu im<br />

Global Report on Human Settlement 2001: „Bei<br />

dem offenk<strong>und</strong>igen Bestreben vieler Städte, ein international<br />

beachtetes Image zu erlangen <strong>und</strong> zu einem<br />

international anerkannten Wirtschaftsstandort zu<br />

werden, geht der besondere historische Charakter<br />

einer Stadt oft verloren. Lokale Identität wird zum<br />

PR-Produkt - entworfen um die Vermarktung des<br />

Standorts anzukurbeln - <strong>und</strong> das Schlagwort ,Authentizität’<br />

wird instrumentalisiert, um etwas zu erhalten<br />

<strong>und</strong> zu bewahren, das nicht die eigentliche<br />

Stadtgeschichte sowie die alten Werte <strong>und</strong> Traditionen<br />

repräsentiert, sondern eher dazu dient, zahlreiche<br />

fouristen anzuziehen.“<br />

Ein wichtiger Aspekt der Auswirkungen des Besichtigungstourismus<br />

auf Räume, Orte <strong>und</strong> Landschaften<br />

ist der Trend, historische Bezirke <strong>und</strong> Stätten<br />

neu zu gestalten, nachzubilden, als historisch auszugeben<br />

oder neu zu erfinden. Dabei stehen häufig nicht<br />

der Schutz oder die Erhaltung, sondern rein wirtschaftliche<br />

Erwägungen im Vordergr<strong>und</strong>. Demzufolge<br />

kennzeichnet eine wachsende Zahl nicht authentischer<br />

Elemente das Inventar heutiger Landschaften,<br />

die von David Harvey als „degenerative Utopien“<br />

des globalen Kapitalismus bezeichnet werden. Diese<br />

sind gleichermaßen das Produkt gegenwärtiger -<br />

sichtbarer <strong>und</strong> dinglicher - wie ererbter Kultur. Welche<br />

besondere Rolle Vorstellungen <strong>und</strong> Symbole spielen<br />

können, die sich aus Kino, Werbung <strong>und</strong> Volkskultur<br />

herleiten, zeigen US-amerikanische Beispiele<br />

wie die nachgebaute, den Mythos des Wilden Westens<br />

heraufbeschwörende Cowboy-Stadt Old Tucson in<br />

Arizona (Abbildung 7.12), das Bayerische Dorf im kalifornischen<br />

Torrance, die Nachbildung Amerikas im<br />

American Adventure-Freizeitcenter in Derbyshire<br />

(England) oder die Nachahmung von bekannten europäischen<br />

Touristenorten in Las Vegas (Abbildung<br />

7.13). Die Stadt Helen im US-amerikanischen Georgia<br />

präsentiert die maßstabsgetreue Nachbildung<br />

eines schweizerischen Bergdorfs. Dort empfangen<br />

in Trachten gekleidete Angestellte die K<strong>und</strong>en in Geschäften<br />

mit landestypischem Sortiment. In Japan<br />

wurde nördlich von Tokio ebenfalls ein künstliches<br />

Dorf namens British Hills mit entsprechenden Kirchen,<br />

Pubs <strong>und</strong> Schulen errichtet.<br />

Wie in den vorangegangenen Abschnitten dieses<br />

Kapitels dargelegt wurde, sind Landschaften mit Bedeutungen<br />

versehen, die von unterschiedlichen Personen<br />

oder Gruppen unterschiedlich interpretiert<br />

werden können. Um jedoch unsere Umwelt interpretieren<br />

oder lesen zu können, müssen wir die Sprache<br />

verstehen, in der diese geschrieben ist, <strong>und</strong> lernen, die<br />

Zeichen <strong>und</strong> Symbole zu erkennen, mit denen Landschaften<br />

versehen sind. Die Wissenschaft des Schreibens<br />

<strong>und</strong> Lesens von Zeichen wird als Semiotik bezeichnet.<br />

7.12 Old Tuscon im<br />

US-B<strong>und</strong>esstaat Arizona<br />

Die Grenzen zwischen<br />

überkommener Industrie<br />

einerseits <strong>und</strong> Freizeit- <strong>und</strong><br />

Unterhaltungsindustrie<br />

andererseits sind zunehmend<br />

fließend geworden -<br />

mit dem Ergebnis, dass<br />

beträchtliche Investitionen<br />

in die Schaffung „historischer“<br />

Schauplätze flössen,<br />

deren Merkmale<br />

ebenso auf Filmen <strong>und</strong><br />

populären Stereotypen<br />

basieren wie auf der tatsächlichen<br />

Geschichte.


398 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

7.13 Las Vegas Die Grenzen zwischen herkömmlicher Industrie einerseits <strong>und</strong> Freizeit- <strong>und</strong> Unterhaltungsindustrie andererseits<br />

haben sich zunehmend verwischt, mit dem Ergebnis, dass große Investitionen in die Anlage nicht authentischer „historischer“<br />

Umgebungen flössen, deren Merkmale eher auf Kinofilmen oder populären Stereotypen als auf historischen Tatsachen beruhen.<br />

Hier das Venetian Hotel (a) <strong>und</strong> das New York, New York (b) in Las Vegas.<br />

, Semiotik <strong>und</strong> Kulturlandschaft<br />

Aus Sicht der Semiotik beinhalten oder offenbaren<br />

Landschaften (landscapes), Räume (spaces) <strong>und</strong><br />

Orte (places) eine Fülle von Zeichen, die Botschaften<br />

hinsichtlich Identitäten, Werten <strong>und</strong> Weltanschauungen<br />

vermitteln. Zeichen können für diejenigen,<br />

die sie schaffen, andere Bedeutungen besitzen als<br />

für diejenigen, die diese Zeichen lesen oder interpretieren.<br />

Manche Zeichen sind verborgen, sodass man<br />

sie nur wahrnimmt, wenn ein Ortsk<strong>und</strong>iger auf sie<br />

aufmerksam macht. Andere springen sofort ins<br />

Auge <strong>und</strong> sind so gut wie allgegenwärtig. Mithilfe<br />

der Semiotik können wir erkennen, dass beispielsweise<br />

Studenten durch die Art, sich zu kleiden, Botschaften<br />

an ihre engeren <strong>und</strong> weiteren Kreise darüber aussenden,<br />

wer sie sind <strong>und</strong> was sie denken. Unter Umständen<br />

kann man einen bestimmten Typ Mensch,<br />

wie zum Beispiel einen „Skater“ oder einen „Grufti“,<br />

schon an seiner Kleidung, seiner Frisur, seinen Schuhen<br />

oder selbst daran, was er isst, erkennen.<br />

Semiotik hat jedoch nicht nur mit Zeichen <strong>und</strong><br />

Botschaften zu tun, die Menschen durch Kleidung<br />

aussenden. Botschaften sind ebenso in Landschaften<br />

verborgen oder in Orten <strong>und</strong> Regionen enthalten,<br />

beispielsweise in den uns allen vertrauten „Landschaften“<br />

großer, an nordamerikanischen Shopping<br />

Mails orientierter Einkaufszentren. Wenngleich die<br />

Größe, die räumliche Aufteilung <strong>und</strong> das Warenangebot<br />

solcher Einrichtungen auf Erkenntnissen beruhen,<br />

denen demographische Untersuchungen, Milieustudien<br />

<strong>und</strong> architekturpsychologische Tests zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen, sind es doch mehr als nur diese konkreten<br />

Merkmale, die ein Einkaufszentrum ausniachen.<br />

Von der Lage <strong>und</strong> der Mischung unterschiedlicher<br />

Geschäfte <strong>und</strong> deren „Design“ über die Anordnung<br />

<strong>und</strong> Präsentation der Waren in den Läden bis<br />

hin zu k<strong>und</strong>enorientierten Serviceeinrichtungen <strong>und</strong><br />

musikalischer Untermalung ist alles darauf abgestimmt,<br />

dem Verbraucher Stil, Geschmack <strong>und</strong> Ungezwungenheit<br />

zu signalisieren (Abbildung 7.14).<br />

Von manchen als „Konsumtempel“ bezeichnet,<br />

sind solche Einrichtungen Lokalitäten von überaus<br />

komplexer Semiotik. Sie senden Signale darüber<br />

aus, was gekauft werden soll <strong>und</strong> wer dort kaufen soll.<br />

Welchen Stellenwert das Einkäufen im Alltag beispielsweise<br />

von Nordamerikanern besitzt, mögen folgende<br />

Zahlen belegen: Nach Angaben des National<br />

Research Bureau existierten 1998 in den Vereinigten<br />

Staaten 43 600 große Einkaufszentren, die einen Gesamtumsatz<br />

von 1 045 Milliarden US-Dollar erzielten.<br />

In einem gewöhnlichen Monat kaufen 198 Millionen<br />

Erwachsene, oder 94 Prozent der Bevölkerung<br />

über 18 fahren, in Einkaufszentren ein. So sehr Amerikaher<br />

das Einkäufen zu genießen scheinen, so ausdrücklich<br />

bestehen sie darauf, es im Gr<strong>und</strong>e genommen<br />

zu verachten. Ebenso widersprüchlich ist die<br />

Einstellung gegenüber Kommerz <strong>und</strong> Materialismus,<br />

den Voraussetzungen <strong>und</strong> Begleiterscheinungen des


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten 399<br />

7.14 Potsdamer-Platz-<br />

Arkaden in Berlin Planer<br />

von Einkaufszentren wissen,<br />

dass das Konsumverhalten<br />

stark von der<br />

räumlichen Anordnung <strong>und</strong><br />

dem äußeren Erscheinungsbild<br />

der einzelnen<br />

Geschäfte abhängt. Man<br />

investiert daher viel Geld,<br />

um ein Umfeld zu schaffen,<br />

in dem sich der K<strong>und</strong>e<br />

wohl fühlt.<br />

Konsums. Einkäufen ist demnach eine vielschichtige<br />

Angelegenheit <strong>und</strong> eine Aktivität voller Ambivalenzen.<br />

Es überrascht daher nicht, dass Planer <strong>und</strong> Marketingstrategen<br />

bestrebt sind, dem Einkäufen touristischen<br />

Charakter zu verleihen. Das Einkaufszentrum,<br />

ein „Pseudo-Ort“, ist darauf ausgerichtet, zu<br />

einer bestimmten Aktivität - dem Kaufen - anzuregen,<br />

indem die Illusion erzeugt wird, dass mit dem<br />

Kaufen <strong>und</strong> Geldausgeben noch andere Dinge verb<strong>und</strong>en<br />

sind. Shopping Mails sind entsprechend ihrer<br />

herausragenden Bedeutung <strong>und</strong> komplexen Funktionen<br />

Orte mit vielfältigen semiotischen Systemen, die<br />

durch Ausdrucksformen, Leitmotive <strong>und</strong> Phantasiebilder<br />

vermittelt werden.<br />

Manche Einkaufszentren senden Botschaften an<br />

bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Höherverdienende<br />

oder Teenager (unter Umständen auch an beide<br />

Zielgruppen innerhalb ein <strong>und</strong> desselben Zentrums)<br />

aus, andere sprechen mit unterschiedlichen<br />

Botschaften unterschiedliche Käuferschichten an.<br />

Das South Coast Plaza im kalifornischen Orange<br />

County ist die Nummer Eins der Einzelhandelszentren<br />

in den USA <strong>und</strong> erstreckt sich auf bebauten Fläche<br />

von fast 27 Hektar. Es ist eines der größten Einkaufszentren<br />

des Landes <strong>und</strong> mit einem Jahresumsatz<br />

von über 20 Milliarden US-Dollar vermutlich auch<br />

das profitabelste. Das South Coast Plaza zeichnet<br />

sich durch eine Art soziokulturelle Stratigraphie<br />

aus. Die unterste Ebene des Einkaufszentrums, in<br />

der einfachere Geschäfte untergebracht sind, bildet<br />

eine „Landschaft“, deren Semiotik mit Läden wie<br />

Sears, Macy’s <strong>und</strong> Robinson’s May auf die Mittelschicht<br />

abzielt, während die aufwendiger gestalteten<br />

<strong>und</strong> teureren oberen Etagen mit Läden wie Gucci,<br />

Versace, Chanel, Tiffany, Jimmy Choo oder Cartier<br />

die anspruchsvollen K<strong>und</strong>en ansprechen. Die Läden<br />

für die Mittelschicht befinden sich in den äußeren<br />

Ecken der Mall, während die Luxusläden in ihrem<br />

Inneren liegen, sodass der zentrale Teil der Mall<br />

Luxus <strong>und</strong> Wohlstand symbolisiert <strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en<br />

der Oberschicht ansprechen soll, während die Außenbereiche<br />

eher auf die Bedürfnisse <strong>und</strong> Wünsche von<br />

K<strong>und</strong>en aus der Mittelschicht ausgerichtet sind. Die<br />

verschiedenen Räume (spaces) dieses einen Ortes<br />

(place) übermitteln folglich unterschiedliche Botschaften<br />

an unterschiedliche Verbrauchergruppen.<br />

Doch wie komplex die Botschaften großer Einkaufszentren<br />

auch sein mögen, eine Botschaft - die<br />

zu konsumieren - richtet sich über alle kulturellen<br />

Schranken hinweg an Menschen aller Schichten, Ethnien,<br />

Geschlechter, Altersstufen. Konsum, ein zentraler<br />

Aspekt der Globalisierung, findet im beginnenden<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert vor allem in großen Einkaufszentren<br />

statt. Diese bilden Räume, in denen jeder Lebensaspekt<br />

Warencharakter annimmt. Der Konsum -<br />

oder das Kaufen von Waren - bestimmt wie niemals<br />

zuvor unser Dasein. Durch das, was wir konsumieren,<br />

signalisieren wir, wer wir sein wollen. Was wir konsumieren<br />

sollen, erfahren wir aus der Werbung <strong>und</strong><br />

über die Massenmedien, in denen das Besitzen von<br />

Waren gleichgesetzt wird mit Glück, Erfolg <strong>und</strong><br />

einem erfüllten Sexualleben. Das Einkaufszentrum<br />

ist ein Raum, in dem diese Signale gebündelt <strong>und</strong> reflektiert<br />

werden. Architektur <strong>und</strong> Ausgestaltung einer


400 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

Shopping Mall sind wichtige Bestandteile eines semiotischen<br />

Systems, welches das KauiVerhalten beeinflusst<br />

<strong>und</strong> den persönlichen Geschmack steuert.<br />

Die Architekturhistorikerin Margaret Crawford<br />

schreibt hierzu:<br />

„Begrenzter Zutritt, am Ende von Fluren angeordnete<br />

Aufzüge, Springbrunnen <strong>und</strong> Sitzgelegenheiten,<br />

die so platziert sind, dass K<strong>und</strong>en in die Geschäfte gelockt<br />

werden - all die bekannten Kniffe der Gestaltung<br />

von Shopping Mails haben einzig <strong>und</strong> allein<br />

den Zweck, die K<strong>und</strong>enströme durch die sich scheinbar<br />

endlos wiederholenden Gänge der Geschäfte zu<br />

lenken. Einerseits stachelt die Prozession der nach<br />

Gruppen geordneten Waren unablässig die Kauflust<br />

an, andererseits scheinen architektonische Finessen<br />

kommerziellen Absichten geradezu zu widersprechen.<br />

Atemberaubende Vorhallen schaffen riesige ineinander<br />

fließende Räume der Entspannung, verschiedene<br />

Ebenen <strong>und</strong> unterschiedlichste Aussichtspunkte<br />

sorgen für eine Flut visueller Eindrücke<br />

<strong>und</strong> in spiegelnden Oberflächen verschmelzen nah<br />

<strong>und</strong> fern miteinander. Gegen die Geräusche der Außenwelt<br />

abgeschirmt, werden die kunstvoll arrangierten<br />

visuellen Reize ergänzt durch das ,weiße Rauschen‘<br />

suggestiver Klangkompositionen <strong>und</strong> das<br />

Echo der Springbrunnen in den riesigen Innenhöfen<br />

(Crawford, M. The World in a Shopping Mall. In: M.<br />

Sorkin (Hrsg.) Variations on a Theme Park. New York<br />

(Noonday Press) 1992, S. 14).“<br />

Einkaufszentren, Eigenheimsiedlungen, Stadtviertel<br />

oder Parks besitzen wie jeder beliebige andere geographische<br />

Ort spezifische Bedeutungscodes. Diese<br />

lassen sich entschlüsseln <strong>und</strong> interpretieren, indem<br />

man den Ort in Beziehung setzt zu den Kräften<br />

der Globalisierung. Dabei muss der Fokus nicht ausschließlich<br />

auf die Kernregionen gerichtet sein.<br />

Betrachten wir das Beispiel der brasilianischen<br />

Hauptstadt Brasilia. Nachdem Brasilien 1822 die Unabhängigkeit<br />

von Portugal erlangt hatte, machten<br />

brasilianische Politiker den Vorschlag, eine neue<br />

Hauptstadt auf dem Zentralplateau des unerschlossenen<br />

Landesinneren zu errichten. Zwar wurde das<br />

Vorhaben bereits 1899 offiziell beschlossen, doch<br />

erst in der Mitte des 20. jahrh<strong>und</strong>erts kam es zur Ausweisung<br />

eines B<strong>und</strong>esdistrikts <strong>und</strong> zur Gründung<br />

einer neuen Hauptstadt. 1957 billigte der brasilianische<br />

Kongress die Errichtung einer neuen Hauptstadt,<br />

<strong>und</strong> 1960 wurde Brasilia offizieller Regierungssitz.<br />

Als Symbol der Zähmung des wilden Landesinnern<br />

<strong>und</strong> des Sieges menschlichen Gestaltungswillens<br />

über die Natur ist Brasilia ebenfalls ein vielschichtiges<br />

Zeichensystem, das vielfältige <strong>und</strong> teilweise unterschiedlich<br />

zu deutende Botschaften transportiert.<br />

Die Stadt sollte den Aufbruch Brasiliens in eine<br />

neue Zeit symbolisieren <strong>und</strong> eine zukunftsweisende<br />

Epoche begründen. Hieraus erklärt sich der kühne<br />

Entwurf <strong>und</strong> die gezielt mit Bedeutungen angereicherte<br />

Architektur, deren Neuartigkeit <strong>und</strong> Radikalität<br />

die Botschaft einer veränderten brasilianischen<br />

Gesellschaft vermitteln wollte. Um der Idee einer<br />

„Stadt in der Wildnis“ konkretere Gestalt zu geben,<br />

schrieb die brasilianische Regierung in den 1950erlahren<br />

einen städtebaulichen Wettbewerb aus, der<br />

zu Visionen einer zukünftigen Hauptstadt - <strong>und</strong><br />

letztlich einer neuen Gesellschaft - anregen sollte. Gewinner<br />

des Wettbewerbs war der brasilianische Städtebauer<br />

Lucio Costa. Sein bei einer international besetzten<br />

lury eingereichter Entwurf bestand aus drei<br />

einfachen Skizzen, in denen sich die Stadtstruktur<br />

schrittweise aus der Gr<strong>und</strong>form des Kreuzes entwickelte<br />

(Abbildung 7.15).<br />

Nach semiotischer Lesart von Costas Entwurf <strong>und</strong><br />

der Stadt selbst, die nunmehr seit über 35 fahren besteht,<br />

handelt es sich bei deren kreuzförmigem<br />

Gr<strong>und</strong>riss um die bewusste Anlehnung an ein fahrtausende<br />

altes Zeichen. Zum einen repräsentieren<br />

die sich rechtwinklig schneidenden Achsen das christliche<br />

Kreuz. Dieser Aspekt ist insofern bedeutsam, als<br />

dadurch die Errichtung Brasilias an einem heiligen<br />

Ort angedeutet wird, was als zusätzliche Legitimation<br />

/I<br />

7.15 Von Lucio Costa skizzierte Kreuze Das Kreuz symbolisiert<br />

im Christentum <strong>und</strong> in anderen Religionen einen heiligen<br />

Ort. Mit der Verwendung des Kreuzes zur Kennzeichnung<br />

der Lage <strong>und</strong> Ausrichtung Brasilias, der neuen Stadt im unerschlossenen<br />

Landesinneren Brasiliens, spielte Costa auf diesen<br />

Sachverhalt an. (Quelle: Holston, J. The Modernist City:<br />

An Anthropological Critique of Brasilia. Chicago (University of<br />

Chicago Press) 1989. S. 63.)


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten<br />

der neuen Hauptstadt verstanden werden kann. Das<br />

Leitmotiv des Kreuzes schafft darüber hinaus eine semiotische<br />

Verbindung zu einem in unterschiedlichen<br />

Kulturkreisen erscheinenden Idealtyp, der in früheren<br />

wie in heutigen städtebaulichen Konzeptionen<br />

eine Rolle spielt. In einem Text des Anthropologen<br />

lohn Holston heißt es dazu:<br />

„Die ägyptische Hieroglyphe des in einen Kreis<br />

einbeschriebenen Kreuzes, selbst ikonisches Zeichen<br />

für ,Stadt‘, gilt als eine der frühesten bildlichen Darstellungen<br />

der Idee von Stadt. [...] Eine zweite Form<br />

ist die grafische Darstellung des altrömischen Tempels<br />

der Weißsagung: ein durch zwei Achsen in<br />

vier Quadranten untergliederter Kreis. Das Schema<br />

repräsentiert einen Raum im Himmel oder auf der<br />

Erde, gewidmet [...] dem Lesen der Auspizien. Es bedeutet<br />

somit einen geweihten Ort, ein Heiligtum,<br />

einen Zufluchtsort, einen Schrein oder Tempel (Holston,<br />

J. The Modernist City: An Anthropological Critique<br />

of Brasilia. Chicago (University of Chicago Press)<br />

1989, S. 71).“<br />

Viele erinnerten die Entwürfe <strong>und</strong> später die gebaute<br />

Stadt Brasilia weniger an ein altes Symbol als<br />

vielmehr an die Form eines Flugzeugs. Betrachtet<br />

man den ausgearbeiteten Plan der Gesamtanlage (Abbildung<br />

7.16), so erscheint auch diese Deutung<br />

durchaus plausibel. Wie der Entwurf zeigt, bilden<br />

die aneinander gereihten Wohnkomplexe einen<br />

nördlichen (in der Abbildung links) <strong>und</strong> einen südlichen<br />

Flügel, während sich die Regierungs- <strong>und</strong> Verwaltungskomplexe<br />

in Form eines Flugzeugrumpfes<br />

anordnen. Das Geschäfts- <strong>und</strong> Handelsviertel liegt<br />

dort, wo sich Rumpf <strong>und</strong> Flügel schneiden. Entlang<br />

der monumentalen Achse befinden sich außerdem<br />

eine Kathedrale <strong>und</strong> ein Museum. Tatsächlich sahen<br />

Politiker <strong>und</strong> Stadtplaner in Brasilia den Motor <strong>und</strong><br />

das Symbol einer raschen Modernisierung des Landes.<br />

Das Bild des durch die Lüfte gleitenden Flugzeugs<br />

stand als Chiffre für Fortschritt, Modernisierung,<br />

Tempo <strong>und</strong> Erneuerung.<br />

Sämtliche großen öffentlichen Gebäude Brasilias<br />

wurden von dem international anerkannten Architekten<br />

Oscar Niemeyer erbaut. Die entlang von Achsen<br />

orientierten Wohngebäude sind in Komplexe gegliedert,<br />

die sich jeweils um ein Areal mit Freizeiteinrichtungen,<br />

Schulen <strong>und</strong> Geschäften gruppieren. Die<br />

Universität von Brasilia war bereits in den frühen<br />

Entwürfen der Stadt vorgesehen, ebenso die Anlage<br />

I<br />

I W ohnungen<br />

[ I öffentliche Einrichtungen<br />

Freizeiteinrichtungen u. Hotels<br />

[ I Industrie <strong>und</strong> G ew erb e<br />

7.16 Costas Entwurf für die neue<br />

Hauptstadt Brasilia 1957 reichte Lucio<br />

Costa seinen Entwurf bei der Jury eines Ideenwettbewerbs<br />

zur Gestaltung der neuen<br />

Hauptstadt Brasilia in Form von fünf mittelgroßen<br />

Plänen ein. jeder dieser Pläne bestand<br />

aus einer Serie von Skizzen, denen einige<br />

Kommentare beigefügt waren. Sein Entwurf<br />

basierte auf drei Gr<strong>und</strong>elementen: einem<br />

Kreuz, gebildet von zwei rechtwinklig zueinander<br />

verlaufenden Verkehrsachsen, überlagert<br />

von einem gleichschenkeligen Dreieck,<br />

das die geographische Abgrenzung des<br />

Stadtgebiets markiert, sowie auf zwei stufenförmig<br />

ansteigenden Wällen <strong>und</strong> einer<br />

Plattform. Die hier wiedergegebene detailliertere<br />

Ausführung von Costas Plan der<br />

neuen Hauptstadt Brasiliens lässt erkennen,<br />

wie dieser sich die funktionale <strong>und</strong> bauliche<br />

Gliederung der städtischen Lebensbereiche<br />

<strong>und</strong> deren räumliche Anordnung vorstellte.<br />

(Quelle: Marshall, B. (Hrsg.) The Real World.<br />

London (Marshall Editions/Houghton Mifflin)<br />

1991, S. 171.)


402 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

7.17 Performing Arts Center, Brasilia<br />

Das Gebäude des Zentrums für darstellende<br />

Künste kombiniert den internationalen Einheitsstil<br />

der „Glaskasten“-Architektur mit sehr individuellen<br />

künstlerischen Elementen, wie den<br />

schwungvollen Kolonnaden.<br />

! 1<br />

eines Sees sowie der Palacio de Alvorada oder „Palast<br />

der Morgenröte“, die offizielle Residenz des Präsidenten<br />

von Brasilien (Abbildung 7.17).<br />

Wie das australische Canberra, das US-amerikanische<br />

Washington D. C. <strong>und</strong> viele andere Hauptstädte<br />

beinhaltet auch die Architektur von Brasilia sowohl<br />

verborgene als auch offenk<strong>und</strong>ige, die Stärke <strong>und</strong><br />

die Ziele der Staatsführung unterstreichende Botschaften.<br />

Der konsequent modernistische Baustil -<br />

im Gegensatz beispielsweise zum neoklassischen Washington<br />

- sollte dem Glauben an technologischen<br />

Fortschritt <strong>und</strong> dem Ideal einer gerechten, demokratischen<br />

Gesellschaft Ausdruck verleihen. Niemeyers<br />

architektonische Formensprache <strong>und</strong> kühne Stadtbilder<br />

zielten darauf ab, die brasilianische Gesellschaft<br />

durch die Vermittlung des Modernen <strong>und</strong> eines<br />

nach Erneuerung strebenden Geistes zu verändern.<br />

Eine andere, indirekte Botschaft drückt die Lage<br />

des Präsidentenpalastes außerhalb des eigentlichen<br />

Stadtkerns aus. Die räumliche Distanz kann entweder<br />

als soziale Distanz zwischen Regierenden <strong>und</strong> Regierten<br />

gedeutet werden, oder aber als Symbol für den<br />

höheren Rang der Exekutive gegenüber der Legislative,<br />

da sich der Sitz der gesetzgebenden Organe in einiger<br />

Entfernung zum Präsidentenpalast innerhalb der<br />

Stadtgrenzen befindet. Bereits der Name, Palast der<br />

Morgenröte, kann als Ausdruck des Glaubens an<br />

eine neue Epoche <strong>und</strong> das Aufscheinen einer neuen<br />

Demokratie im Zeichen Brasilias interpretiert werden.<br />

Sowohl der Präsidentenpalast als auch die Stadt in<br />

ihrer Gesamtheit spiegeln die Vorstellung einer zukünftigen<br />

Gesellschaftsordnung wider. Der Palast<br />

kann als Bindeglied zwischen Realität <strong>und</strong> Vorstellung<br />

aufgefasst werden. Heute verkörpert die Stadt<br />

selbst diese Spannung, denn die angestrebte Gleich­<br />

heit wurde niemals erreicht. Die eigentlichen Erbauer<br />

- Wanderarbeiter, die gekommen waren, um eine<br />

Stadt zu errichten, in der ihre Träume Wirklichkeit<br />

werden konnten - endeten in den unaufhaltsam anwachsenden<br />

Hüttenvierteln oder favelas, die sich als<br />

Elendsgürtel um Brasilia legen. Waren die ursprüngliche<br />

Anlage <strong>und</strong> die Architektur der Stadt Zeichen<br />

der Hoffnung auf ein neues Brasilien, so steht das<br />

heutige Bild Brasilias, das von bitterer Armut <strong>und</strong><br />

Ungleichheit geprägt ist, in krassem Widerspruch<br />

zu den Träumen von einst.<br />

Die Beispiele der US-amerikanischen Shopping<br />

Mall <strong>und</strong> der brasilianischen Hauptstadt Brasilia illustrieren,<br />

wie „Landschaften“ durch das Interpretieren<br />

der Zeichen <strong>und</strong> Symbole gelesen oder decodiert werden<br />

können. Nicht alle diese Zeichen sind eindeutig<br />

<strong>und</strong> beständig, selbst dann nicht, wenn Planer <strong>und</strong><br />

Gestalter sich strikt an die vorgegebenen Konzepte<br />

halten. Eine Ursache ist darin zu suchen, dass „Leser“<br />

die Zeichen nicht zwangsläufig so deuten, wie es<br />

deren Urheber beabsichtigt hatten. Außerdem können<br />

soziale <strong>und</strong> politische Realitäten einem geplanten<br />

Vorhaben in die Quere kommen <strong>und</strong> ihm<br />

neue, vollkommen anders geartete Bedeutungen verleihen.<br />

I Sakrale Räume<br />

Auch religiöse Orte können gelesen <strong>und</strong> decodiert<br />

werden. Tatsächlich kennt die Mehrzahl der Religionen<br />

eindeutig lokalisierte heilige Orte, deren Bedeutung<br />

in vielen Fällen auf einem besonderen Ereignis<br />

beruht, das dort stattgef<strong>und</strong>en hat. Oft werden Orten<br />

religiöse Bedeutungen verliehen, um sie gegenüber<br />

der angrenzenden, als gewöhnlich oder profan ange-


Das Gestalten <strong>und</strong> Vermarkten von Orten<br />

sehenen Landschaft herauszuheben <strong>und</strong> von dieser<br />

unterscheidbar zu machen. Sakrale Räume stellen etwas<br />

Besonderes dar, weil es Stätten intensiver oder<br />

bedeutsamer mystischer oder spiritueller Erfahrungen<br />

sind.<br />

Sakrale Räume umfassen Gebiete oder Stätten, denen<br />

Individuen oder Gruppen besondere Beachtung<br />

schenken, da es sich um Stätten bedeutender religiöser<br />

Erfahrungen <strong>und</strong> Begebenheiten handelt. Sakrale<br />

Räume entstehen nicht aus sich heraus, vielmehr bekommen<br />

sie die Bedeutung des Heiligen verliehen,<br />

<strong>und</strong> zwar durch die Anschauungen <strong>und</strong> Glaubenssysteme<br />

bestimmter Gruppen oder Personen. Der Geograph<br />

Yi-Fu Tuan weist ausdrücklich daraufhin, dass<br />

das Sakrale eines Raums nicht alleine in einer Anzahl<br />

sichtbarer Heiligtümer <strong>und</strong> Tempel besteht. Heilige<br />

Räume seien schlicht jene, die sich von alltäglichen<br />

Orten abheben <strong>und</strong> die gewohnte Routine unterbrechen.<br />

Sakrale Räume sind fast immer abgegrenzte, einer<br />

religiösen Bestimmung gewidmete <strong>und</strong> in irgendeiner<br />

Form geweihte Stätten, deren Bedeutungen von Generation<br />

zu Generation weitergegeben werden. Gläubige,<br />

seien es Mystiker, Spiritualisten, religiöse Anhänger<br />

oder Pilger, betrachten heilige Räume als Stätten,<br />

die mit göttlicher Bedeutung erfüllt sind. Sakrale<br />

Räume umfassen so verschiedene Orte <strong>und</strong> Stätten<br />

wie einen buddhistischen Tempel in Laos, die Black<br />

Hills von South Dakota oder die heiligen Berge der<br />

Lakota Sioux (Abbildungen 7.18 <strong>und</strong> 7.19).<br />

Von Angehörigen bestimmter Religionen wird erwartet,<br />

dass sie zu besonderen heiligen Stätten reisen,<br />

um ihren Glauben zu festigen oder Demut <strong>und</strong> Ergebenheit<br />

zu bek<strong>und</strong>en. Eine Pilgerreise ist eine Fahrt<br />

zu einer heiligen Stätte, der Pilger eine Person, der<br />

eine solche Reise unternimmt. In Indien konzentrieren<br />

sich zahlreiche hinduistische Pilgerstätten entlang<br />

der sieben heiligen Flüsse Ganges, Yamuna, Saraswati,<br />

Naramada, Indus, Cauvery <strong>und</strong> Godavari. Der<br />

Ganges ist Indiens heiligster Fluss, entsprechend zahlreich<br />

sind die heiligen Stätten an seinen Ufern (Abbildung<br />

7.20). Hindus suchen heilige Pilgerorte aus<br />

den unterschiedlichsten Motiven auf, sei es, um Heilung<br />

von einer Krankheit zu suchen, sich von Sünden<br />

zu befreien oder um ein Versprechen einzulösen, das<br />

man einer Gottheit gegeben hat.<br />

Die wohl bekannteste Pilgerfahrt ist die Hadsch,<br />

die Pilgerreise nach Mekka, die jeder Moslem mindestens<br />

einmal im Leben unternehmen sollte. Jedes<br />

Jahr, wenn Pilger in Erfüllung ihrer Pflicht, in Mekka<br />

zu beten <strong>und</strong> die Gnade Allahs zu empfangen, aus aller<br />

Welt in die arabische Stadt strömen, schwillt dort<br />

die Zahl der Menschen von 150 000 auf über 1 Million<br />

7.18 Buddhistischer Tempel in Laos That Louang in der<br />

laotischen Hauptstadt Vientiane ist das wichtigste religiöse<br />

Gebäude von Laos <strong>und</strong> sein nationales Symbol, auch wenn die<br />

heutige Anlage eine Rekonstruktion aus den 30er-Jahren des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts darstellt. Seit etwa 300 v. Chr. soll sich an<br />

dieser Stelle ein buddhistisches Heiligtum bef<strong>und</strong>en haben.<br />

an. Die Abbildung 7.21 zeigt die hauptsächlichen<br />

Herkunftsländer der Mekkapilger.<br />

Überall auf der Welt werden Pilgerfahrten zu heiligen<br />

Stätten unternommen, auch im christlichen Europa.<br />

Der meistbesuchte heilige Ort Europas ist Lourdes,<br />

eine zu Füßen der Pyrenäen unweit der Grenze<br />

zu Spanien gelegene Stadt im Südwesten Frankreichs<br />

(Abbildung 7.22). Ebenfalls ein Ort, der Pilger aus allen<br />

Teilen der Welt anzieht, ist Jerusalem <strong>und</strong> das<br />

Heilige Land. Juden <strong>und</strong> griechisch-orthodoxe, römisch-katholische<br />

<strong>und</strong> protestantische Christen,<br />

christliche Zionisten, Moslems sowie Anhänger vieler<br />

anderer Religionen finden sich dort in großer Zahl<br />

ein. Wie für die meisten heiligen Stätten trifft auch<br />

für das Heilige Land zu, dass die der Landschaft eingeschriebenen<br />

Codes sowohl von den Angehörigen<br />

unterschiedlicher Religionsgemeinschaften als auch<br />

von nicht gläubigen Besuchern unterschiedlich gelesen<br />

<strong>und</strong> ausgelegt werden können. Zwei Studenten


404 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

'Mm<br />

I I<br />

7.19 Die Black Hills in South Dakota, USA Die Sioux-Indianer verehren die Black Hills als heiligen Ort. 1877 verdrängte die<br />

Kavallerie der Vereinigten Staaten die Sioux in einer Reihe blutiger Kämpfe aus dem Gebiet. Auch die Schlacht am Little Righorn,<br />

in der die Truppen unter dem Befehl von General George Güster eine schwere Niederlage hinnehmen mussten, vermochte daran<br />

nichts zu ändern. In Reservate umgesiedelt, führen die Lakota Sioux heute einen juristischen Kampf gegen die Regierung der<br />

Vereinigten Staaten um die Rückgabe der Black Hills. Der Streit um dieses Gebiet dauert seit 1920 an. Damals hatte der Supreme<br />

Court, das höchste Gericht der Vereinigten Staaten, den Stämmen der Lakota eine Entschädigungssumme von 105 Millionen<br />

US-Dollar zuerkannt. Doch die Lakota schlugen das Angebot aus. Seitdem lagert das Geld in staatlichen Tresoren <strong>und</strong> trägt Zinsen.<br />

Die Lacota Sioux bestehen auf der Rückgabe des Paha Sapa, ihrer heiligen Stätte.<br />

schildern ihre Eindrücke einer Pilgerreise wie folgt:<br />

„Jede Gruppe, die nach Jerusalem kommt, besitzt<br />

ein eigenes eingewurzeltes Verständnis des Heiligen.<br />

Sie haben nichts gemein, ausgenommen die - bisweilen<br />

gleichzeitige - Anwesenheit an denselben heiligen<br />

Stätten. Für die griechisch-orthodoxen Pilger ist die<br />

genaue Bestimmung des Ortes freilich kaum relevant,<br />

ihr Interesse gilt in erster Linie den gezeigten Ikonen.<br />

Für die römischen Katholiken ist der Ort als Kulisse<br />

der um das Leben Jesu kreisenden Bibeltexte wichtig<br />

- wenn auch nur in historischer Hinsicht, als Bestätigung<br />

der Wahrheit überlieferter Begebenheiten. Nur<br />

für die christlichen Zionisten, die sich an diesem Ort<br />

ihrer eigentümlichen Verwandtschaft mit den hier<br />

lebenden Juden bewusst werden, besitzt das Heilige<br />

Land selbst Bedeutung für die Gegenwart <strong>und</strong> die<br />

Zukunft (Fade, J.; Sallnow, M. (Hrsg.j Contesting<br />

the Sacred. London (Routledge) 1991. S. 14).“<br />

Dass heilige Stätten wie andere kulturelle Erscheinungsformen<br />

unterschiedlichen „Lesern“ unterschiedliche<br />

Botschaften vermitteln können, ist die Erkenntnis<br />

einer jüngeren Generation von Theoretikern,<br />

die als Postmodernisten bezeichnet werden. Deren<br />

Konzepte <strong>und</strong> Ansätze sind Gegenstand der folgenden<br />

Abschnitte.<br />

L<br />

Postmoderne Räume<br />

Seit den 1980er-Jahren ist auf allen kreativen Tätigkeitsfeldern<br />

wie Kunst, Architektur, Werbung, Philosophie,<br />

Mode, Möbeldesign, Musik, Film, Literatur,<br />

Fernsehen sowie Städtebau <strong>und</strong> Stadtplanung ein<br />

deutlicher Wandel des kulturellen Empfindens zu beobachten.<br />

Dieser Wandel, der in seiner Gesamtheit<br />

den Übergang von der Moderne zur Postmoderne<br />

kennzeichnet, hat sowohl die avantgardistische als<br />

auch die Alltagskultur erfasst. Es handelt sich um<br />

einen Prozess, der seinen Ursprung offenbar in bestimmten<br />

Teilen der Kernregionen hatte <strong>und</strong> gegenwärtig<br />

dabei ist, sich über die gesamte Erde auszubreiten.<br />

Der Übergang zu einer postmodernen Kultur ist<br />

für die Kulturgeographie von besonderer Bedeutung,<br />

vor allem hinsichtlich der Frage, welchen Einfluss die<br />

veränderten Auffassungen <strong>und</strong> Werte auf die Her\'orbringung<br />

von Orten <strong>und</strong> die Gestaltung von Landschaften<br />

ausüben.


Postmoderne Räume 405<br />

I ( S )<br />

/ — ^ ,<br />

Pakistan Harder (S.V^^^Q *)<br />

(S),<br />

Rishikesh ,Q ^ ^^¿:^»__Kailash (S)<br />

(S)<br />

I<br />

(D) 7 ^<br />

y * Z (S)<br />

Q Ujjain<br />

Q i •<br />

Dwarkai»-^ \ • I n d i e n<br />

(§ / *{3)<br />

^ Q Nasik-Tryambak (V)<br />

Arabisches<br />

Meer<br />

200 400 Kikxneler<br />

( ^<br />

\ (D)» I<br />

\ »(D)<br />

(V)<br />

Tirapati (V)<br />

R^gieswaram<br />

KS^,<br />

'^(3)<br />

stark besuchter Ort von<br />

religiöser Bedeutung für<br />

Hindus aus ganz Indien<br />

Ort von regionaler Bedeutung<br />

für Hindus oder<br />

hinduistische Sekten<br />

hinduistischer Pilgerort von<br />

lokaler Bedeutung oder<br />

berühmtes, jedoch selten<br />

aufgesuchtes Heiligtum<br />

Buchstaben kennzeichnen die<br />

Hauptgottheit oder den Hauptritus<br />

(V) Vishnu (S) Shiva (D) Shakti<br />

7.20 Heilige Stätten im<br />

hinduistischen Indien<br />

Die zahlreichen Flüsse Indiens<br />

sind nach hinduistischem<br />

Glauben heilig. Es überrascht<br />

daher nicht, dass zahlreiche<br />

heilige Stätten an den Ufern<br />

von Flüssen liegen. Offenbar ist<br />

die religiöse Bedeutung eines<br />

Heiligtums umso höher, je<br />

näher es sich an einem Fluss<br />

befindet. (Quelle: bearbeitet<br />

von al Farugi, I.R.; Sopher,<br />

D. E. Historical Atlas of the<br />

Religions of the World.<br />

New York (Macmillan) 1974.)<br />

I Moderne <strong>und</strong> Postmoderne<br />

Wahrend Shopping Mails, planmäßig angelegte Städte<br />

<strong>und</strong> sakrale Landschaften zeigen, wie Orte je nach<br />

Kontext mit speziellen Bedeutungen aufgeladen werden<br />

können, gibt es weite Bereiche der sozialen, wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Organisation, die sich<br />

auf die Art <strong>und</strong> Weise beziehen, in der Menschen<br />

über sich selbst <strong>und</strong> die von ihnen bewohnten Orte<br />

nachdenken. Mehr als ein Jahrh<strong>und</strong>ert lang waren<br />

die Wechselwirkungen zwischen Kultur, Gesellschaft,<br />

Raum, Ort <strong>und</strong> Landschaft in hohem Maße von der<br />

Philosophie der Moderne geprägt. Moderne bezeichnet<br />

eine zukunftsorientierte Einstellung gegenüber<br />

der Welt, deren Leitbilder Vernunft, wissenschaftliche<br />

Rationalität, Kreativität, Erneuerung <strong>und</strong> Fortschritt<br />

sind. Die Ursprünge der Moderne liegen in<br />

der europäischen Renaissance <strong>und</strong> sind an die Herausbildung<br />

eines auf Wettbewerb ausgerichteten kapitalistischen<br />

Weltsystems im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert geknüpft.<br />

In dieser Zeit begannen der aufkommende<br />

Handel <strong>und</strong> wissenschaftliche Entdeckungen rückwärts<br />

gewandte soziokulturelle Auffassungen zu verdrängen,<br />

die von Mystizismus, Verklärung <strong>und</strong> Fatalismus<br />

gekennzeichnet waren. Diese frühen Entwicklungen<br />

mündeten im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert in die Epoche<br />

der Aufklärung, einer philosophischen Bewegung, die<br />

den Glauben an einen universellen Fortschritt der<br />

Menschheit <strong>und</strong> die uneingeschränkte Gültigkeit wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis begründete.<br />

Zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand aus der<br />

Philosophie der Aufklärung eine weit verbreitete<br />

intellektuelle Bewegung. Etwa um die Wende vom<br />

19. zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert wurden auf technologischem<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlichem Gebiet eine Reihe<br />

bahnbrechender Fortschritte erzielt, die nicht nur<br />

eine neue R<strong>und</strong>e der räumlichen Neuordnung einleiteten<br />

(Kapitel 2), sondern auch die Gr<strong>und</strong>pfeiler<br />

des sozialen <strong>und</strong> kulturellen Lebens erschütterten.


406 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

/ai e h m «fpgMia<br />

S ^ ‘ ‘¿a TuHiei<br />

Syrien ]<br />

i I<br />

negat<br />

b u<br />

Mali<br />

0<br />

Algerien<br />

^<br />

y ^Libÿè^<br />

Tschad<br />

©<br />

Ägypten<br />

^ rd a n le n ’<br />

©<br />

" ^ Bahrain^ I r x i i e n<br />

Sudan<br />

0 ^ -'C ;!jÜ 8 o m rt«<br />

ÄthioDien<br />

É i I<br />

{/<br />

Phillppineh (<br />

Kreisgrößen<br />

entsprechen<br />

Pilgerzahlen<br />

in Tausend<br />

i I<br />

Südafrika<br />

o /<br />

o '/<br />

zu Land<br />

m per Schiff<br />

i !<br />

1 0 0 0 2 0 0 0 K ilo m e te r<br />

□ per Flugzeug<br />

M<br />

I<br />

7.21 Herkunftsgebiete der Mekkapilger Der Islam schreibt vor, dass jeder ervifachsene Moslem im Laufe seines Lebens<br />

mindestens eine Pilgerfahrt nach Mekka unternimmt. Von dem Gebot ausgenommen sind vier Gruppen von Menschen: diejenigen,<br />

die durch körperliche Gebrechen, Naturkatastrophen oder politische Grenzen an der Reise gehindert werden; ferner Sklaven <strong>und</strong><br />

geistig Verwirrte sowie unverheiratete Frauen oder Frauen ohne männliche Begleiter. Das heutige räumliche Muster der Pilgerfahrten<br />

nach Mekka zeigt in Bezug auf die Häufigkeit der Pilgerreisen einen deutlichen Distanzabfall. An der Spitze stehen die relativ<br />

nahe gelegenen arabischen Länder. Mit der bemerkenswerten Ausnahme von Indonesien <strong>und</strong> Malaysia stellen weiter entfernte<br />

Gebiete eine kleinere Zahl von Pilgern. (Quelle: Park, C.C. Sacred Worlds. London (Routledge) 1994, S. 268.)<br />

\-l-<br />

7 .2 2 Herkunftsgebiete von Pilgern<br />

nach Lourdes Die Karte zeigt die Städte<br />

innerhalb Europas, in denen 1978 organisierte<br />

Pilgerreisen nach Lourdes ange-<br />

boten werden. Während r<strong>und</strong> 30 Prozent<br />

aller Pilger diese Reiseart wählen, um<br />

nach Lourdes zu gelangen, reist die<br />

Mehrzahl der Besucher auf eigene Faust<br />

zu den heiligen Stätten in Frankreich.<br />

Verbesserte Reisemöglichkeiten -<br />

hauptsächlich mit der Eisenbahn - <strong>und</strong><br />

Komplettangebote von Reiseveranstaltern<br />

haben die Besucherzahlen deutlich<br />

ansteigen lassen. Viele der 5 Millionen<br />

Pilger, die jährlich nach Lourdes kommen,<br />

tun dies in der Hoffnung auf eine<br />

w<strong>und</strong>ersame Heilung ihrer Gebrechen in<br />

der Grotte, wo der 14 Jahre alten Bernadette<br />

Soubirous 1858 die Jungfrau<br />

Maria 18-mal erschienen sein soll.<br />

(Quelle: Park, C.C. Sacred Worlds.<br />

London (Routledge) 1994, S. 284.)


Postmoderne Räume 407<br />

Zu den Errungenschaften <strong>und</strong> Entdeckungen, die<br />

diese Veränderungen auslösten, gehörten die Telegrafie,<br />

das Telefon <strong>und</strong> die Röntgenstrahlung ebenso<br />

wie das Radio, der Verbrennungsmotor <strong>und</strong> das Flugzeug<br />

sowie das Hochhaus, die Relativitätstheorie <strong>und</strong><br />

die Psychoanalyse. Es war eine Zeit, in der grenzenloser<br />

Fortschritt zu einer realistischen Perspektive<br />

wurde.<br />

Dennoch stellte das Tempo der ökonomischen, sozialen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> geographischen Entwicklung<br />

mit ungewissem Ausgang für viele eine Belastung<br />

dar. Die intellektuelle Antwort einer Gruppe avantgardistischer<br />

Maler, Architekten, Schriftsteller <strong>und</strong><br />

Fotografen war der erklärte Wille, die Moderne durch<br />

radikale kulturelle Veränderungen voranzutreiben.<br />

Schriftlich wurden diese Ideen erstmals im „Futuristischen<br />

Manifest“ fixiert, das 1909 in der Pariser Zeitung<br />

Le Figaro in Form eines Briefs des italienischen<br />

Dichters Filippo Marinetti erschien. Die Verbindung<br />

von neuen Technologien <strong>und</strong> einer radikalen Gestaltung<br />

führte nach <strong>und</strong> nach zur Wucherung moderner<br />

Stadtlandschaften von Helsinki bis Hongkong <strong>und</strong><br />

von New York bis Nairobi (Abbildung 7.23). In<br />

der Tat sind fast alle vom Beginn bis zur Mitte des<br />

20. lahrh<strong>und</strong>erts geschaffenen Orte <strong>und</strong> Landschaften<br />

Erscheinungsformen der Moderne.<br />

Während dieser Periode blieb die von Zuversicht<br />

<strong>und</strong> Fortschrittsglauben geprägte modernistische<br />

Philosophie praktisch unhinterfragt. Dementsprechend<br />

wurden Orte <strong>und</strong> Regionen allenthalben im<br />

Wesentlichen von denen gestaltet, die ihre eigenen<br />

Auffassungen von rationalen Handlungen <strong>und</strong> Fortschritt<br />

in die Tat umsetzten. So hatten beispielsweise<br />

Modernisierungsprozesse im Agrarsektor zur Folge,<br />

dass sich das Erscheinungsbild ländlicher Räume<br />

stark wandelte. Hecken, die bisher die europäischen<br />

Agrarlandschaften geprägt hatten, wurden entfernt.<br />

Dadurch entstanden große, ausdruckslose Ackerflächen,<br />

die mit schweren Maschinen effizienter bewirtschaftet<br />

werden konnten (Abbildung 7.24). Wirtschaftliche<br />

Entwicklung <strong>und</strong> gesellschaftlicher Fortschritt<br />

wurden durch den Bau moderner Infrastruktureinrichtungen<br />

wie Autobahnen, Flughäfen, Staudämme,<br />

Häfen <strong>und</strong> Industriegebiete erzielt.<br />

Als Postmoderne wird eine Weitsicht bezeichnet,<br />

die von Offenheit gegenüber einem breiten Spektrum<br />

gesellschaftlicher Fragen, künstlerischer Ausdrucksformen<br />

<strong>und</strong> politischer Kräfte geprägt ist. Postmoderne<br />

wird häufig in Bezug auf die vorherrschenden<br />

kulturellen Strömungen beschrieben, die sich durch<br />

Merkmale wie Verspieltheit, Oberflächlichkeit, Populismus,<br />

Pluralität oder Theatralik kennzeichnen lassen.<br />

Viele sehen darin das Ergebnis eines soziokulturellen<br />

Wertewandels infolge der Umgestaltung der<br />

politischen Ökonomien in den Kernländern der<br />

Erde. In diesem Kontext wurde von Postmoderne<br />

als cultural clothing (kulturelles Gewand) der postindustriellen<br />

Ökonomie gesprochen.<br />

Die Postmoderne lässt die für die Moderne charakteristische<br />

Betonung des wissenschaftlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Fortschritts hinter sich <strong>und</strong> stellt den Augenblick<br />

in den Mittelpunkt des Lebensinteresses.<br />

7.23 Moderne städtische Räume Die Aufnahmen zeigen einen Einkaufstempel<br />

in Hongkong (links) <strong>und</strong> den Louvre in Paris mit Glaspyramide.


408 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

7.24 Der ländliche Raum heute<br />

Die Fotografie des ländlichen East Anglia,<br />

Großbritannien, zeigt eine Landschaft, die<br />

das Ergebnis der Modernisierung der<br />

ländlichen Räume ist. Städtische Landnutzungen<br />

- Pendlerwohnsiedlungen <strong>und</strong><br />

die Kühltürme eines Kraftwerks - sind<br />

in den ländlichen Raum vorgedrungen.<br />

Außerdem hat man viele der traditionellen<br />

Hecken in großen Teilen von East Anglia<br />

enfernt, <strong>und</strong> kleine Besitzungen wurden<br />

zusammengelegt. So entstanden große<br />

Anbauflächen, die sich mit modernen<br />

landwirtschaftlichen Maschinen effizient<br />

bewirtschaften lassen.<br />

Vor allem anderen ist die Postmoderne durch das Primat<br />

des Konsums gekennzeichnet. Dadurch sind soziokulturelle<br />

Milieus entstanden, in denen das Hauptgewicht<br />

weniger auf Konsum <strong>und</strong> Besitz als solchen<br />

liegt, als vielmehr auf dem Besitz bestimmter Dinge<br />

sowie auf der Art des Konsums. Die postmoderne Gesellschaft<br />

wurde daher auch als society of the spectacle<br />

bezeichnet, in der die Symbolgehalte von Orten <strong>und</strong><br />

Waren eine alles überragende Bedeutung erlangt haben.<br />

Eklektizismus, Dekoration, Parodie <strong>und</strong> Zitat<br />

sind weitere, mit modischer Finesse vorgetragene Elemente<br />

der postmodernen Betonung des Stilistischen.<br />

So wurde beispielsweise in der Architektur der modernistische<br />

Aphorismus „weniger ist mehr“ (less is<br />

more) mit dem Ausspruch „weniger ist langweilig“<br />

(less is höre) parodiert. Seit Mitte der 1970er-Jahre traten<br />

postmoderne Ausdrucksformen in Architektur,<br />

Bildender Kunst, Literatur, Film <strong>und</strong> Musik ebenso<br />

in Erscheinung wie im Städtebau <strong>und</strong> in der Stadtplanung.<br />

Einige der markantesten postmodernen Räume<br />

sind in sanierten Hafenarealen, wiederbelebten Einkaufsvierteln<br />

von Innenstädten <strong>und</strong> in neotraditionellen<br />

Siedlungen suburbaner Räume entstanden<br />

(Abbildung 7.25).<br />

, Globalisierung <strong>und</strong> Postmoderne<br />

Wie in Kapitel 2 erläutert wurde, führte die Globalisierung<br />

der Wirtschaft zu einer weltweiten Vereinheitlichung<br />

der Formen industrieller Produktion,<br />

der Marktprozesse, des Handels <strong>und</strong> der Verbrauchergewohnheiten.<br />

Die ökonomischen Interdependenzen<br />

sind darüber hinaus in verschiedene andere<br />

U J jI<br />

U "'<br />

lU' • in<br />

'-*1*1<br />

IIIII<br />

ml<br />

«'L<br />

h( !»■-<br />

III<br />

7.25 Postmoderne Räume<br />

Die Aufnahme zeigt einen Teil von Seaside,<br />

Florida, einer kleinen Gemeinde, die als<br />

Beispiel für neotraditionelles Bauen berühmt<br />

wurde, wobei Planer <strong>und</strong> Architekten<br />

bestrebt sind, das Ambiente, das Erscheinungsbild<br />

<strong>und</strong> die Beschaulichkeit nachzuahmen,<br />

wie sie kleinstädtische Viertel in<br />

früherer Zeit auszeichneten.


Postmoderne Räume 409<br />

Dimensionen der Globalisierung eingeb<strong>und</strong>en, die<br />

ihrerseits die Vereinheitlichung von Orten vorangetrieben<br />

haben. Drei Dimensionen sind dabei von besonderer<br />

Bedeutung: Erstens haben die Massenmedien<br />

- Presse, Film, Musik, Fernsehen <strong>und</strong> Internet<br />

- globale Märkte im kulturellen Sektor geschaffen.<br />

Mit dem Internet entstand indes eine ganz neue<br />

Art von Raum, der Cyberspace, mit eigenen „Landschaften“<br />

{landscapes oder technoscapes) <strong>und</strong> eigenen<br />

embryonalen Kulturen. Durch die Übertragungsgeschvvindigkeit<br />

moderner Kommunikationsmittel ist<br />

es außerdem möglich geworden, mittels globaler<br />

Events ein gemeinsames globales Bewusstsein zu<br />

schaffen. Beispiele für solche Inszenierungen sind<br />

das „LiveAid“-Konzert, die Olympischen Spiele<br />

oder die Fußballweltmeisterschaffen. Zweitens wurden<br />

über die Massenmedien bestimmte Werte <strong>und</strong><br />

Einstellungen zu soziokulturellen Themen im Zusammenhang<br />

mit Fragen der Staatsbürgerschaft,<br />

der Menschenrechte, der Erziehung, der sozialen Gerechtigkeit<br />

oder des Selbstausdrucks verbreitet. Drittens<br />

wurden durch Rechtskonventionen einheitlichere<br />

<strong>und</strong> besser aufeinander abgestimmte Standards sowohl<br />

in der lustiz <strong>und</strong> im Handel als auch in puncto<br />

Arbeitsbedingungen, Bürgerrechte <strong>und</strong> Umweltbestimmungen<br />

geschaffen.<br />

Die erwähnten Homogenisierungsprozesse waren<br />

in vielen Gesellschaften mit einer Bedeutungszunahme<br />

des Konsums verb<strong>und</strong>en. Genau hier treffen der<br />

Prozess der Globalisierung <strong>und</strong> das Phänomen der<br />

Postmoderne aufeinander <strong>und</strong> verstärken sich gegenseitig.<br />

In zunehmendem Maße essen die Menschen<br />

r<strong>und</strong> um den Globus dieselben Lebensmittel, tragen<br />

dieselbe Kleidung <strong>und</strong> kaufen dieselben Konsumgüter.<br />

Je mehr sich das Konsummuster der Menschen<br />

annähert, umso mehr werden counter-kulturelle Bewegungen<br />

begünstigt. Je stärker transnationale Unternehmen<br />

die Autorität von nationalen <strong>und</strong> lokalen<br />

Regierungen, die wirtschaftliche Angelegenheiten regeln,<br />

untergraben, umso stärker ist die allgemeine Befürwortung<br />

des Regionalismus. Je universeller die<br />

Ausbreitung von erlebnisorientiertem Konsumverhalten<br />

<strong>und</strong> Lehensstil, umso mehr werden lokale<br />

<strong>und</strong> ethnische Identitäten geschätzt. Je schneller<br />

der Daten-Highway Menschen den Zugang zum Internet<br />

eröffnet, umso größer ist ihr Bedürfnis nach<br />

einem persönlichen Platz (einem Ort oder einer Gemeinschaft),<br />

den sie ihr Eigen nennen können. Je<br />

mehr die Profit- <strong>und</strong> Konsumsucht um sich greift,<br />

umso mehr schätzen die Menschen ihre freie Zeit.<br />

Und je schneller in den Wohnvierteln <strong>und</strong> Städten<br />

dieselben Supermärkte, Tankstellen, Shopping Malis,<br />

Gewerbegebiete <strong>und</strong> Büroparks gebaut werden <strong>und</strong><br />

dieselben suburbanen Ausuferungsprozesse stattfmden,<br />

umso eher sehnen sich die Menschen nach Enklaven<br />

der Vertrautheit, Selbstbezogenheit <strong>und</strong> Identität.<br />

Das United Nations Center for Human Settlement<br />

(UNCHS) schreibt dazu: „An einigen Orten<br />

sind die Menschen überfordert von den Veränderungen<br />

ihrer traditionellen kulturellen, intellektuellen<br />

<strong>und</strong> sozialen Werte <strong>und</strong> Normen <strong>und</strong> der Einführung<br />

eines Konsumismus-Kultes, der mit dem Prozess der<br />

Globalisierung einhergeht. Nach dem ersten Schock<br />

wurde vielerorts die ,Kultur des Ortes’ wieder entdeckt.<br />

Das heißt, die spezifische Identität, Geschichte,<br />

Kultur sowie die jeweiligen Traditionen <strong>und</strong> Wertvorstellungen,<br />

die mit einem Ort, einer Wohngegend<br />

oder einem Wohnviertel verb<strong>und</strong>en sind, werden<br />

wieder gefördert <strong>und</strong> hervorgehoben.“<br />

Die Neue Urbanität (New Urbanism) (Abbildung<br />

7.26) ist eine hoch chiffrierte <strong>und</strong> kodifizierte Form<br />

des neotraditionellen Designs <strong>und</strong> die Antwort der<br />

Architekten auf die zunehmende Globalisierung.<br />

Die Kombination von traditionellen Architekturstilen<br />

mit städtischen Elementen wie Passagen <strong>und</strong> öffentlichen<br />

Plätzen, die von verschiedenen Häusertypen<br />

7.26 Neue Urbanität Gut ausgestattete<br />

Wohnsiedlungen im „neotraditionellen“<br />

Stil sind typisch für<br />

das „New-Urbanist-Design“ in den<br />

Vereinigten Staaten. Sie sollen die<br />

Atmosphäre <strong>und</strong> die Beschaulichkeit<br />

der traditionellen US-amerikanischen<br />

Kleinstadt wachrufen. Hier die<br />

Siedlung Kentland in der Nähe von<br />

Gaithersburg im US-B<strong>und</strong>esstaat<br />

Maryland.


410 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

Exkurs 7.2<br />

Geographie in Beispielen - Jerusalem, die Heilige Stadt<br />

Zahlreiche Städte der Welt waren im Laufe der Geschichte hart<br />

umkämpft, aber keine scheint so anhaltend davon betroffen zu<br />

sein wie Jerusalem. Besucher, Schriftsteller <strong>und</strong> Einheimische<br />

sind davon überzeugt, dass Jerusalem die schönste Stadt der<br />

Welt sei. Es gibt sicherlich einige ernsthafte Rivalen um den<br />

Titel der schönsten Stadt, aber Jerusalem hat mit seiner einzigartigen<br />

christlich, jüdisch <strong>und</strong> islamisch geprägten Geschichte<br />

vermutlich nur wenige Konkurrenten um den Titel<br />

der heiligsten Stadt der Erde. Die Geschichte Jerusalems begann<br />

mit einer kleinen Siedlung auf den Hängen des Berges<br />

Moriah (Tempelberg). 997 v. Chr. wurde die damalige Siedlung<br />

Jerusalem von David, dem König der Israeliten, erobert, der sie<br />

zur Hauptstadt seines Königreichs Israel erhob. Davids Sohn<br />

<strong>und</strong> Nachfolger Salomon baute den ersten Jerusalemer Tempel<br />

(Salomonischer Tempel) auf dem Berg Moriah, um den Platz zu<br />

ehren, an dem Abraham bereit war, Gott seinen Sohn zu opfern.<br />

Obwohl der Tempel bereits vor Jahrh<strong>und</strong>erten zerstört<br />

wurde, ist der Ort ein zentraler Platz im jüdischen Glauben.<br />

Die Geschichte Jerusalems spiegelt auch die Geschichte<br />

der verschiedenen herrschenden Kaiserreiche wider (Abbildung<br />

7.2.1). Der babylonische König Nebukadnezar zerstörte<br />

den Salomonischen Tempel 586 v. Chr. <strong>und</strong> vertrieb die Juden<br />

aus der Stadt. Später beendeten die Perser die babylonische<br />

Herrschaft über Jerusalem <strong>und</strong> erlaubten den Juden, wieder<br />

nach Jerusalem zurückzukehren <strong>und</strong> anstelle des zerstörten<br />

Tempels einen neuen, den sogenannten Serubbabelischen<br />

Tempel, zu errichten. Die Vormachtstellung der Perser über<br />

Jerusalem wurde schließlich von Alexander dem Großen<br />

(356 bis 323 v. Chr.), König von Makedonien <strong>und</strong> größter Heerführer<br />

der Weltgeschichte, gebrochen. Unter Alexanders Regentschaft<br />

dehnte sich das „Griechische Reich“ von den südlichen<br />

Küsten des Kaspischen Meeres bis nach Zentralasien<br />

aus. Im Jahr 63 v. Chr. betraten dann die Römer den Schauplatz<br />

<strong>und</strong> Herodes der Große herrschte von Jerusalem aus über<br />

das römische Reich von Judäa.<br />

Während der frühchristlichen Zeit lehnten sich die Juden in<br />

Jerusalem immer offener gegen ihre römischen Besetzer auf,<br />

worauf die Römer 132 n. Chr. den Serubbabelischen Tempel<br />

zerstörten <strong>und</strong> sämtliche Juden aus Jerusalem <strong>und</strong> Palästina<br />

verbannten. Die Juden zogen zunächst nach Norden in Richtung<br />

Babylonien <strong>und</strong> wanderten später nach Europa <strong>und</strong> Nordafrika<br />

aus. Dem Mythos nach kehrte diese alte jüdische Diaspora<br />

erst 1948, als der israelische Staat gegründet wurde,<br />

aus der Verbannung in die Heimat zurück.<br />

Der bedeutende christliche Einfluss auf die „Heilige Stadt“<br />

begann als Konstantin I. (285? bis 337 n. Chr.), Kaiser des<br />

Oströmischen Reiches, 313 n. Chr. zum Christentum konvertierte.<br />

Daraufhin wurden zahlreiche Kirchen <strong>und</strong> andere christliche<br />

Bauwerke errichtet, um das Leben <strong>und</strong> Wirken von Jesus<br />

Christus zu würdigen. Die christliche Vormacht endete erst, als<br />

Kalif Omar I. im Jahr 638 Jerusalem eroberte <strong>und</strong> die Stadt von<br />

nun an unter islamischer Herrschaft war. Im islamischen Glauben<br />

ist Jerusalem eine heilige Stadt, weil der Prophet Mohammed<br />

hier angeblich in den Himmel aufgefahren ist.<br />

I : I<br />

D avidsturm ; Erbaut<br />

von H e ro d e s d em<br />

G ro ßen. Fälsch lich erw<br />

e ise für d en B erg<br />

Zion, die S ta d t<br />

D avid s, gehaiten.<br />

Kirch e d e s Heiligen G rab es:<br />

N a ch christlicher Tradition<br />

Ort d e r Kreuzigung, Grabie- .<br />

gung <strong>und</strong> W iederauferstehung<br />

Je s u .<br />

Christliches! 1<br />

Viertel "l I<br />

V<br />

l Ö J<br />

Armenischem<br />

Viertel \<br />

L J L i b ;<br />

b;<br />

uslimlscH<br />

Viertel<br />

K leine M auer: V erlän g e­<br />

rung d e r W estlich en<br />

M a u e r (Klagem auer).<br />

O rth o d o x e Ju d e n beten<br />

im A ra b isch e n Viertel<br />

Hashom ain-Tunnel: H ier<br />

kam e s im Ja h r 1996 zu<br />

A u fständen, a ls A rc h ä o ­<br />

logen einen G a n g unter<br />

d s n i Tem peiberg öffneten.<br />

Westliche Mauer: Heiligster<br />

Ort im Judentum. Einziger<br />

Überrest des Zweiten<br />

Tempels<br />

in u L<br />

ö lb e rg : H ier verb ra ch te<br />

Je s u s die letzte N a ch t<br />

v o r se in er H inrichtung.<br />

A m H a n g d e s B e rg e s<br />

befindet sich ein alter<br />

jü d isch er Friedhof.<br />

G e th sem a n e; D er G a rte n , in<br />

d em Je s u s verra ten <strong>und</strong><br />

gefangen g en o m m en w urde.<br />

Einige d e r O live n b ä u m e<br />

sollen 2000 Ja h r e alt sein<br />

<strong>und</strong> könnten vo n Je s u s<br />

g e se h e n w o rd e n sein.<br />

'//}}<br />

w<br />

Tem pelberg: Ort d e s Ersten<br />

Jü d is c h e n Tem pels, 956 v.<br />

Ohr. D er Z w eite Tem pel<br />

w u rd e d urch Titus, S o h n d e s<br />

K a is e rs V e sp a sia n , im Ja h r<br />

70 n. Chr. zerstört. Heiliger<br />

Bez irk d e s Islam (638 bis<br />

heute). O rt d e s F elsen d o m s<br />

<strong>und</strong> d e r A l-A ksa-M o schee.<br />

0 1/16 1/8 Kilometer<br />

7.2.1 Die Heilige<br />

Stadt Jeruslaem<br />

Der Plan von Jerusalem<br />

zeigt die Hauptviertel<br />

der Altstadt.<br />

In den vielen Jahren<br />

des israelisch-palästinensischen<br />

Friedensprozesses<br />

wurden<br />

zahlreiche Vorschläge<br />

gemacht,<br />

wie die Stadt zu teilen<br />

sei, um die Ansprüche<br />

beider Seiten<br />

zu befriedigen.<br />

Die Jerusalem-Frage<br />

spielt eine zentrale<br />

Rolle im andauernden<br />

Friedensprozess.<br />

(Quelle: umgezeichnet<br />

nach The<br />

Guardian, 14. Oktober<br />

2000, S. 5.)


Postmoderne Räume 411<br />

Mehrere Jahrh<strong>und</strong>erte war es Juden, Christen <strong>und</strong> Moslems<br />

gleichermaßen erlaubt, in Jerusalem zu leben, bis im 10. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

die Verfolgung der nichtmuslimischen Bevölkerung<br />

begann. Vom 11. bis zum 13. Jahrh<strong>und</strong>ert unternahmen europäische<br />

Christen Kreuzzüge in das Heilige Land <strong>und</strong> versuchten,<br />

die Kontrolle über Jerusalem wieder zu erlangen <strong>und</strong> die<br />

Moslems zu vertreiben. Im Jahr 1099 gelang es den Kreuzrittern<br />

die Stadt zu erobern, aber bereits 1187 verloren sie Jerusalem<br />

erneut an den Heerführer Saladin <strong>und</strong> seine muslimischen<br />

Truppen. Im Jahr 1517 wurde Jerusalem dem Osmanischen<br />

Reich einverleibt <strong>und</strong> die darauf folgenden fast 400 Jahre<br />

von Istanbul aus regiert. Die Osmanen zeigten allerdings<br />

wenig Interesse für die Stadt, sodass die vertriebene Jüdische<br />

Bevölkerung Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts nach Jerusalem <strong>und</strong><br />

Palästina zurückzukehren begann.<br />

Die heutige Situation in Jerusalem wird bestimmt von den<br />

politischen <strong>und</strong> geographischen Folgen der Balfour-Deklaration.<br />

Diese Regelung sah vor, dass Jerusalem eine internationale<br />

Stadt sein <strong>und</strong> kein Staat ein alleiniges Anrecht auf die Stadt<br />

beanspruchen sollte. Heute ist der Status Jerusalems ein zentraler<br />

Streitpunkt <strong>und</strong> Palästinenser, Christen, Moslems <strong>und</strong> israelische<br />

Juden kämpfen um die Kontrolle über die Heilige<br />

Stadt. Ein Beispiel dafür ist der andauernde Streit um den Felsendom,<br />

der zwischen 688 <strong>und</strong> 691 n. Chr. erbaut wurde. Die<br />

Moslems beanspruchen den Dom als ihre heiligste Stätte (Abbildung<br />

7.2.2). Tatsächlich befindet er sich an einer heiligen<br />

Stätte der Juden, dem Tempelberg, wo sowohl der Salomonische<br />

als auch der Serubbabelische Tempel erbaut <strong>und</strong> später<br />

zerstört wurden. Nach Jüdischem Glauben ist der Felsendom<br />

über Jenem Felsen errichtet, auf welchem Abraham der Legende<br />

nach seinen Sohn zu opfern bereit war, <strong>und</strong> gemäß der islamischen<br />

Tradition, ist es Jener Felsen, von dem Mohammed<br />

in den Himmel aufgefahren sein soll. Ebenfalls auf dem Tempelberg<br />

befindet sich die al-Aqsa-Moschee, eine bedeutende<br />

heilige Stätte der Moslems.<br />

Während nationalistische Israelis weiterhin behaupten,<br />

dass Jerusalem die „ewige <strong>und</strong> ungeteilte Hauptstadt“ Israels<br />

ist, glauben die Palästinenser, dass Jerusalem die zukünftige<br />

Hauptstadt des palästinensischen Staates ist. Der Osloer Frie-<br />

densprozess von 1992, der zu einem Abkommen zwischen Israel<br />

<strong>und</strong> Palästina führte, wurde als positives Zeichen dafür<br />

gesehen, dass über die Zukunft Jerusalems verhandelt werden<br />

könnte. Weitere Friedensverhandlungen wie zum Beispiel im<br />

amerikanischen Wye River (Wye River Memorandum) 1998,<br />

im ägyptischen Sharm el-Sheikh 1999, in Camp David in Maryland<br />

2000, in Washington 2001 <strong>und</strong> in Genf 2003 geben Anlass<br />

zu der Hoffnung, dass eine Resolution über die Zukunft<br />

Jerusalems erreicht werden kann, in welcher der Einfluss<br />

der Palästinenser eine stärkere Rolle spielen wird. Momentan<br />

wird Jerusalem vollkommen von Israel kontrolliert, wenngleich<br />

gemäß den Osloer Friedensvereinbarungen im Mai 2000 Israel<br />

die Kontrolle über drei Dörfer aufgab, die nun wieder unter palästinensischer<br />

Kontrolle stehen. Alle drei Siedlungen liegen in<br />

„Großjerusalem“ im Westjordanland <strong>und</strong> alle bis auf Abu Dis<br />

nur wenige Meter Jenseits der Stadtgrenze. Von Abu Dis<br />

aus ist die Altstadt von Jerusalem <strong>und</strong> besonders der Felsendom<br />

deutlich zu sehen. Mitte 2007 ist immer noch ungeklärt,<br />

wie der Konflikt um die Herrschaft in Jerusalem letztlich gelöst<br />

werden kann. Fest steht Jedoch, dass beide Seiten ihre Ansprüche<br />

gleichermaßen verteidigen.<br />

-O - - - •<br />

7.2.2 Felsendom Auf dem Haram Al-Shaif, oder Tempelberg, gelegen, befindet sich der Felsendom in einem Teil Jerusalems,<br />

der genau genommen weder Jüdisch noch muslimisch ist, sondern beides zugleich. Die Muslime erheben Anspruch auf die gesamte<br />

heilige Stätte. Die Israelis fordern den Ort ebenfalls für sich; denn die Klagemauer, die den Juden heilig ist, nimmt einen Teil<br />

des Tempelbergs ein. Die Wut der Palästinenser kochte über, als im Jahr 2000 der nationalistische israelische Politiker Ariel Sharon,<br />

der einige Monate später Israels Präsident wurde, den Tempelberg in den ersten Tagen des Ramadan besuchte - einer Zeit,<br />

die den Muslimen heilig ist.


412 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

i i<br />

I ^<br />

i ( '<br />

umgeben sind - alle kontrolliert von einem privaten<br />

Investor - übte einen starken Anreiz auf den Markt<br />

aus. Aber die starke Zunahme neotraditioneller<br />

oder ähnlicher Projekte führte dazu, dass der New<br />

Urbanism inzwischen eher ein Teil der Globalisierung<br />

ist <strong>und</strong> weniger eine Antwort darauf. Die Stadtstruktur<br />

in Europa <strong>und</strong> Nordamerika wird mehr <strong>und</strong><br />

mehr zu einem Ersatz, einer sterilen <strong>und</strong> „disneyfizierten“<br />

Form, während die meisten der aufwändiger<br />

ausgeführten New-Urbanism-Projekte kunstvolle<br />

Bruchstücke bleiben <strong>und</strong> reine „Privatopias“ sind, die<br />

völlig losgelöst von der sie umgebenden physischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Stadtstruklur existieren.<br />

Private angelegte neotraditionelle Wohnanlagen<br />

sind bei den Konsumenten äußerst beliebt, da sie<br />

für einen hohen sozialen Status <strong>und</strong> ein sicheres<br />

Wohnumfeld stehen <strong>und</strong> einen gewissen Vermögenswert<br />

haben. Jedoch sind sie meist relativ monoton<br />

<strong>und</strong> formal angelegt <strong>und</strong> entbehren eines persönlichen<br />

Charakters, sodass ihre Bewohner selten eine<br />

emotionale Ortsbezogenheit oder ortsbezogene Identität<br />

entwickeln oder soziale Gemeinschaften am<br />

Wohnort entstehen.<br />

Ein anderes Beispiel für emotionale Ortsbezogenheit<br />

ist die Cittaslow-Bewegung, die Idee der „lebenswerten<br />

Stadt“. Diese Volksbewegung gegen die zunehmende<br />

Globalisierung ist eng verwandt mit der<br />

älteren <strong>und</strong> populäreren Slow-Food-Bewegung. Obwohl<br />

sie unterschiedliche Ziele verfolgen, sind die<br />

Anliegen auf beiden Seiten die gleichen: Beide Bewegungen<br />

sind gegen eine Beschleunigung der Lebensabläufe,<br />

die mit dem immer schnelleren Transfer von<br />

lokalem, nationalem <strong>und</strong> globalem Kapitel im Zuge<br />

der Globalisierung einhergeht. Ihre Motivation ist dabei<br />

weniger politischer als ökologischer <strong>und</strong> sozialer<br />

Art: Sowohl die Cittaslow- als auch die Slow-Food-<br />

Bewegung wollen die traditionellen lokalen Kulturen<br />

stärken <strong>und</strong> im Gegensatz zum hektischen postmodernen<br />

Lebensrhythmus eine entspannte, heitere<br />

<strong>und</strong> gesellige Lebensweise fördern. Im Mittelpunkt<br />

der im norditalienischen Bra, in der Nähe von Turin,<br />

ansässigen Slow-Food-Bewegung stehen ein entspanntes<br />

Lebenstempo <strong>und</strong> die abwechslungsreiche<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Ernährung mit ökologisch angebauten<br />

<strong>und</strong> verarbeiteten Nahrungsmittel. Slow Food richtet<br />

sich ausdrücklich gegen die Massenproduktion von<br />

Lebensmitteln <strong>und</strong> die Fast-Food-Kultur, die vor allem<br />

von US-amerikanischen Franchiseunternehmen<br />

wie McDonalds, Burger King, Pizza Hut, Taco Bell<br />

<strong>und</strong> Kentucky Fried Chicken vorangetrieben wird.<br />

Die Slow-Food-Bewegung hatte 2005 über 450 Filialen,<br />

sogenannte Slow-Food-Convivien, in mehr als 45<br />

Ländern <strong>und</strong> weltweit über 80 000 Mitglieder. Die<br />

Kampagne befasst sich mit zahlreichen Problemen,<br />

die bei der Herstellung von Verarbeitung von Nahrungsmittel<br />

auftreten, wie zum Beispiel Materialübergängen<br />

aus der Verpackung eines Lebensmittels in<br />

dasselbe (Integrität). Außerdem fördert die Slow-<br />

Food-Bewegung den Anbau traditioneller Kulturpflanzenarten<br />

sowie die traditionelle Viehzucht <strong>und</strong><br />

lehnt den Anbau genetisch veränderter Lebensmittel<br />

ab.<br />

Inzwischen ist in vielen Industrienationen sowohl<br />

in der Hoch- als auch der Alltagskultur eine erhöhte<br />

Sensibilität für die gesellschaftlichen Veränderungen<br />

im Zuge des kulturellen Wandels festzustellen. Diese<br />

Veränderungen kennzeichnen den Übergang von der<br />

Moderne zur Postmoderne <strong>und</strong> vollziehen sich am<br />

ausgeprägtesten in den wohlhabenden Ländern der<br />

Erde. Der Wert, den materielle Güter für den Konsumenten<br />

besitzen, beschränkt sich nicht mehr auf<br />

den physischen Verbrauch oder Gebrauch von Produkten,<br />

vielmehr erlangt die materielle Kultur die<br />

Bedeutung eines sozialen Etiketts. Wie jemand wohnt<br />

<strong>und</strong> sich kleidet, welches Auto er fährt, was er liest,<br />

sich ansieht, isst <strong>und</strong> trinkt, wo er seinen Urlaub verbringt<br />

- all diesen Dingen kommt in zunehmendem<br />

Maße die Funktion sozialer Bestimmungsmerkmale<br />

zu, die etwas über den Wert aussagen, den eine<br />

Person auf Geschmack legt. Damit verb<strong>und</strong>en sind<br />

die ständige Suche nach neuen Quellen des persönlichen<br />

Ausdrucks <strong>und</strong> das unablässige Bemühen um<br />

die Hervorhebung der eigenen Besonderheit. Je größer<br />

die Reichweite von Speisen, Produkten <strong>und</strong> Meinungen<br />

ist, desto vielfältiger sind die Möglichkeiten,<br />

Modetrends <strong>und</strong> Unterscheidungsmerkmale zu etablieren.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Tatsache, dass materielles Konsumverhalten<br />

einen zunehmend höheren Stellenwert im<br />

Repertoire der Symbole, Überzeugungen <strong>und</strong> Gepflogenheiten<br />

postmoderner Kulturen einnimmt, hat sich<br />

die Kulturindustrie mit den Branchen Werbung,<br />

Verlagswesen, Medien <strong>und</strong> Unterhaltung zu einem<br />

Faktor entwickelt, der die Gestaltung von Orten, Regionen<br />

<strong>und</strong> Landschaften maßgeblich beeinflusst. Da<br />

die symbolischen Bedeutungen der materiellen Kultur<br />

durch Werbung - im weitesten Sinne - vermittelt<br />

werden müssen, um von allen verstanden zu werden,<br />

ist Werbung - in der engeren Bedeutung des Wortes -<br />

zu einem Schlüsselinstrument der zeitgenössischen<br />

Kultur wie auch des „Mächens“ von Orten (placc making)<br />

geworden. Neben der Rolle, ständig neue Kautanreize<br />

zu schaffen, hatte Reklame seit jeher die<br />

Funktion, Menschen darüber auf dem Laufenden<br />

zu halten, wie sie sich zu kleiden haben, wie sie ihr<br />

Zuhause einrichten <strong>und</strong> mit welchen Dingen sie


Postmoderne Räume 413<br />

sich zu umgeben haben, um ihren Status zu kennzeichnen.<br />

In den 1970er- <strong>und</strong> 1980-Jahren verlagerte sich der<br />

Schwerpunkt der Werbestrategien von der Präsentation<br />

neuer, besserer, effizienterer <strong>und</strong> preisgünstigerer<br />

Produkte - entsprechend der Stimmungslage der<br />

Moderne - auf deren Bedeutung als Mittel zur Steigerung<br />

des Selbstwertgefühls, als Ausdruck von<br />

Selbstverwirklichung <strong>und</strong> Lifestyle - gemäß dem<br />

postmodernen Lebensgefühl. Es wird zunehmend<br />

mit einem spezifischen Lebensgefühl geworben, das<br />

mit einem Produkt verknüpft ist, <strong>und</strong> nicht mehr unmittelbar<br />

mit dem Nutzen eines Produkts. Viele Werbestrategien<br />

bedienen sich bewusst internationaler<br />

oder globaler Themen, <strong>und</strong> verschiedentlich bezogen<br />

<strong>und</strong> beziehen sich ganze Werbekampagnen, zum Beispiel<br />

für Coca-Cola, Benetton oder American Express,<br />

auf das Thema der globalen Kultur. Andere<br />

Werbekonzepte setzen auf Stereotypen bestimmter<br />

Orte oder Arten von Orten, insbesondere exotische,<br />

spektakuläre oder „coole“, die den geeigneten Kontext<br />

oder Hintergr<strong>und</strong> eines Produkts bilden. Auf<br />

diese Weise verschmelzen auf dem globalen Medienmarkt<br />

das Image von Orten <strong>und</strong> das Image globaler<br />

Nahrungsmittelprodukte, globaler Architektur, globaler<br />

Popkultur <strong>und</strong> globaler Konsumgüter miteinander.<br />

Werbespots informieren <strong>und</strong> beeinflussen<br />

den Verbraucher nicht nur im Hinblick auf das Produkt,<br />

die suggestive Wirkung von Werbung erstreckt<br />

sich ebenso auf Räume, Orte <strong>und</strong> Landschaften.<br />

Infolge dieser Entwicklungen gründet sich die<br />

Identität zeitgenössischer Kulturen heute sehr viel<br />

stärker sowohl auf den Konsum materieller Güter<br />

als auch auf den visuellen <strong>und</strong> erlebnisorientierten<br />

Konsum, sprich, die Aneignung von Bildern <strong>und</strong><br />

das Erleben eindrucksvoller Orte, Gegenden <strong>und</strong><br />

Landschaften. Anreize zu visuellem Konsum schaffen<br />

Zeitschriften, Fernsehen, Kino <strong>und</strong> Internet. Touristische<br />

Aktivitäten, ein Schaufensterbummel, das Beobachten<br />

von Menschen oder der Besuch von Galerien<br />

<strong>und</strong> Museen stellen ebenfalls Formen des visuellen<br />

Konsums dar. Bei den konsumierten Bildern (Zeichen)<br />

<strong>und</strong> Erlebnissen kann es sich um Originale<br />

oder Nachbildungen handeln.<br />

Die Bedeutung des gesteigerten visuellen Konsums<br />

für die Gestaltung von Orten <strong>und</strong> die Umgestaltung<br />

von Landschaften zeigt sich darin, dass themenorientierte<br />

Freizeitparks, große Einkaufszentren, auf<br />

öffentlichen Plätzen abgehaltene Feste, renovierte<br />

historische Stadtviertel sowie Museen <strong>und</strong> Galerien<br />

zu Stätten kultureller Betätigung geworden sind.<br />

Die Zahl derartiger Schauplätze ist stark angewachsen,<br />

sodass die Auswirkungen in den urbanen Landschaften<br />

der Großstädte deutlich in Erscheinung<br />

treten. Von noch größerem Einfluss auf die städtischen<br />

Räume war jedoch die Gestaltung dieser Einrichtungen.<br />

Eben jene von Eklektizismus, Dekoration,<br />

Parodie <strong>und</strong> Zitat geprägten Schauplätze des<br />

materiellen <strong>und</strong> visuellen Konsums waren es, die<br />

den postmodernen Werten <strong>und</strong> Vorstellungen den<br />

7.27 Stilvoll genießen Die Gestaltung von<br />

Restaurants trägt zum Erscheinungsbild einer<br />

Stadt bei, wobei Architekten, Innenarchitekten,<br />

Einrichtungsberater <strong>und</strong> Restaurantmagazine<br />

globale, an die jeweiligen lokalen Moden angepasste<br />

Trends verbreiten. Hier ein Blick in das<br />

Restaurant „Buddakan“ im US-B<strong>und</strong>esstaat<br />

Philadelphia.


414 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

■'1<br />

■ i<br />

I I I<br />

Weg bereiteten, indem sie dem Lifestyle der Zeit entsprachen.<br />

Der sich verstärkende Trend zu erlebnisorientiertem<br />

Konsumverhalten hat interessanterweise dazu<br />

geführt, dass Restaurants heute wichtige „Kulturstätten“<br />

geworden sind. Restaurants bilden häufig eine<br />

Synthese zwischen dem Globalen <strong>und</strong> dem Lokalen.<br />

Nicht nur Restaurants als solche, auch das Erlebnis<br />

eines stilvollen Essens kann durchaus Symbolcharakter<br />

annehmen (Abbildung 7.27). Der Erlebniswert<br />

eines Restaurants bemisst sich dabei unter anderem<br />

am gesellschaftlichen Status oder dem Bekanntheitsgrad<br />

der dort verkehrenden Gäste. Restaurants sind<br />

oft Bühne <strong>und</strong> Schauspiel zugleich, insbesondere in<br />

großen Städten wie New York, London oder Paris,<br />

wo unterbeschäftigte oder arbeitslose Schauspieler,<br />

Tänzer <strong>und</strong> andere Künstler einen Gutteil des Personals<br />

ausmachen. Restaurants bringen in- <strong>und</strong> ausländische<br />

Arbeitskräfte ebenso zusammen wie Gäste verschiedenster<br />

Nationen. Schließlich tragen Restaurants<br />

durch die Gestaltung der Innenräume <strong>und</strong> Fassaden<br />

insofern zum optischen Erscheinungsbild einer Stadt<br />

bei, als globale, an die jeweiligen lokalen Verhältnisse<br />

an gepasste Trends über Architekten, Innenarchitekten,<br />

Designer, Berater <strong>und</strong> Gastronomiemagazine<br />

weiter verbreitet werden.<br />

Wenngleich die Vorstellung von der Herausbildung<br />

einer einheitlichen globalen Kultur eine starke<br />

Vereinfachung darstellt, so hat die postmoderne Hervorhebung<br />

des materiellen, visuellen <strong>und</strong> erlebnisorientierten<br />

Konsums doch bewirkt, dass viele<br />

Aspekte heutiger Kultur regionale <strong>und</strong> nationale<br />

Grenzen überschreiten. Darüber hinaus sind viele Bewohner<br />

der „beschleunigten“ Welt Fernreisende - sei<br />

es im Wortsinn oder zu Hause vor dem Fernsehapparat<br />

-, die über andere Kulturen zumindest in gewissem<br />

Umfang informiert sind. Dieser Sachverhalt trägt<br />

häufig zu einer Denkweise bei, die von intellektueller<br />

<strong>und</strong> ästhetischer Aufgeschlossenheit gegenüber abweichenden<br />

Erfahrungen, Vorstellungen <strong>und</strong> Produkten<br />

fremder Kulturen geprägt ist. Diese Haltung<br />

bezeichnet man auch als Kosmopolitismus.<br />

Kosmopolitismus ist insofern ein wichtiges geographisches<br />

Phänomen, als Weltoffenheit mit Neugier<br />

gegenüber Orten, Menschen <strong>und</strong> Kulturen verb<strong>und</strong>en<br />

ist, einer Eigenschaft, die dazu beiträgt,<br />

dass zumindest elementare Fähigkeiten der geographischen,<br />

historischen <strong>und</strong> anthropologischen Einordnung<br />

erworben werden. Außerdem wird das Vermögen<br />

gesteigert, über verschiedene Orte <strong>und</strong> Gesellschaftsformen<br />

zu reflektieren <strong>und</strong> zu ästhetischen Urteilen<br />

zu gelangen. Ferner versetzt kosmopolitisches<br />

Denken <strong>und</strong> Handeln Menschen in die Lage, die eigene<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Kultur vor einem breiteren historischen<br />

<strong>und</strong> geographischen Hintergr<strong>und</strong> zu betrachten<br />

<strong>und</strong> einzuordnen. Kosmopolitismus fördert bei<br />

Reisenden <strong>und</strong> Touristen die Bereitschaft <strong>und</strong> auch<br />

die Fähigkeit, Risiken auf sich zu nehmen <strong>und</strong> ausgetretene<br />

touristische Pfade zu verlassen. Außerdem<br />

entwickeln Menschen auf diese Weise Fertigkeiten,<br />

die sie benötigen, um fremde Kulturen <strong>und</strong> deren<br />

sichtbare Symbole interpretieren zu können.<br />

Die Kulturgeographie<br />

, des Cyberspace<br />

Die rasche Ausbreitung des Internets war mit einer<br />

globalen „Massenimmigration“ in den Cyberspace<br />

verb<strong>und</strong>en. Ende der 1990er-Jahre verzeichnete die<br />

elektronische Internetgemeinde monatlich r<strong>und</strong><br />

1 Million Neuzugänge. Um das Jahr 2005 hatten<br />

etwa 350 Millionen Menschen Zugang zum Internet.<br />

Die Bedeutung dieser Entwicklungen kann nicht<br />

hoch genug eingeschätzt werden, sind diese doch<br />

Gr<strong>und</strong>lage weit reichender Veränderungen gesellschaftlicher<br />

Interaktionsmuster, Nährboden für Veränderungen<br />

des menschlichen Bewusstseins <strong>und</strong> Voraussetzung<br />

für kulturelle Wandlungsprozesse. Kultur<br />

beruht zu einem wesentlichen Teil auf Kommunikation.<br />

Dies gilt auch für den Cyberspace, wenngleich<br />

im virtuellen Raum eine völlig neue - unzensierte,<br />

schriftliche, visuelle <strong>und</strong> akustische - Form der<br />

Kommunikation entstanden ist. Aufgr<strong>und</strong> der dezentralen<br />

<strong>und</strong> komplexen Natur des aus einem Netz von<br />

Computerhosts bestehenden Internet haben cs gesellschaftliche<br />

Kontrollinstanzen ausgesprochen schwer,<br />

Einfluss auf die über dieses Netz vermittelten Kulturen<br />

auszuüben.<br />

Vordergründig scheint das Internet wie kein anderes<br />

Medium die Globalisierung der Kultur voranzutreiben.<br />

Insgesamt betrachtet, ist die durch das Internet<br />

verbreitete Kultur in hohem Maße auf die Kernregion<br />

ausgerichtet. Dass heute mehr als 90 Prozent<br />

der gesamten über das Internet laufenden Kommunikation<br />

in englischer Sprache erfolgt, deutet darauf<br />

hin, dass die globale Kultur auf dem Englischen als<br />

universeller Weltsprache basieren wird. Da die Wurzeln<br />

des Internets im Bildungs- <strong>und</strong> Unternehmensbereich<br />

wohlhabender westlicher Länder liegen, werden<br />

auch dessen Inhalte von kulturellen Werten der<br />

Kernregion dominiert, die um das Neue, Spektakuläre<br />

<strong>und</strong> Modische kreisen <strong>und</strong> eng mit Konsum <strong>und</strong><br />

Freizeit verknüpft sind. Die Natur des Internets gestattet<br />

es Millionen von Individuen - nicht so sehr


Postmoderne Räume 415<br />

sozialen Gruppen oder Institutionen Botschaften<br />

gleich welcher Art an beliebige Empfänger zu übermitteln,<br />

<strong>und</strong> zwar - erstmals in der Geschichte -<br />

ohne jegliche staatliche Kontrolle.<br />

Es ist jedoch kaum anzunehmen, dass das Internet<br />

lediglich die Funktion eines neuen Mediums zur Verbreitung<br />

der Kultur <strong>und</strong> der Wertvorstellungen der<br />

Kernregion übernehmen wird. Das Internet, selbst<br />

Agens kultureller Veränderung, bildet einen einzigartigen<br />

Raum mit eigenen Landschaften, den Websites,<br />

elektronischen Informationsbörsen (dial-in bulletin<br />

boards), interaktiven Spiel- <strong>und</strong> Arbeitswelten (multiuser<br />

dungeons), einer digitalen Upperclass (technoyuppies),<br />

Computerffeaks (chipheads) <strong>und</strong> Informationssüchtigen<br />

(infosurfers). Bereits heute findet<br />

das - fast ausschließlich angloamerikanische - Vokabular<br />

des Internetjargons Eingang in die Alltagssprache.<br />

Mit der Nutzung der elektronischen Post entwickelte<br />

sich ebenfalls eine dem Medium eigene Syntax<br />

sowie ein charakteristischer Stil, der Züge des inneren<br />

Monologs trägt <strong>und</strong> durch assoziativ aneinander gereihte<br />

Gedanken geprägt ist. Ein großer Teil der immer<br />

zahlreicher werdenden elektronischen Magazine<br />

(E-Zines) bedient sich bewusst der Ausdrucksformen<br />

der Popkultur, während genau diese Kultur kritisch<br />

kommentiert wird. Elektronische Zeitschriften mit<br />

ausgefallenen oder avantgardistischen Inhalten, die<br />

im Internet große Leserkreise erreichen, wären in anderen<br />

Medien wirtschaftlich nicht überlebensfähig.<br />

Das Angebot dieser Magazine besteht zusätzlich aus<br />

Audio- <strong>und</strong> Videoclips, direkten Links zu Reklame-<br />

Homepages <strong>und</strong> der Möglichkeit zu interaktiven Diskussionen<br />

mit Autoren, Herausgebern <strong>und</strong> Lesern.<br />

Diesbezüglich könnten elektronische Zeitschriften<br />

ein wichtiges Vehikel der Ausbreitung einer partizipatorischen<br />

Demokratie werden.<br />

Virtuelle Shops, virtuelle Peepshows, Telekliniken<br />

<strong>und</strong> spezielle Netzwerke (Special Interest Networks,<br />

SIN) gehören ebenfalls zu den Landschaftselementen<br />

des Cyberspace. Die Möglichkeit, über das Internet<br />

einzukaufen, hat bereits heute das Verbraucherverhallen<br />

verändert. Mittels virtueller Kataloge lassen<br />

sich Preise <strong>und</strong> Produkte zeit- <strong>und</strong> kostensparend<br />

vergleichen. Im Internet zu surfen, ist außerdem zu<br />

einer neuen Form der Entspannung geworden, wobei<br />

Voyeurismus <strong>und</strong> Cybersex ganz oben auf der Liste<br />

der am häufigsten angewählten Kategorien stehen.<br />

Indem sich Menschen mit unterschiedlichem sozialem<br />

<strong>und</strong> kulturellem Hintergr<strong>und</strong> von unterschiedlichen<br />

Orten aus über das Internet zu chat groups oder<br />

news groups (Diskussionsforen) zusammenschließen,<br />

um sich über gemeinsame Interessen auszutauschen,<br />

entstehen neue, virtuelle Gemeinschaften (communities).<br />

Schließlich hat sich das Internet auch zu einer<br />

nahezu unerschöpflichen Wissens- <strong>und</strong> Informationsquelle<br />

entwickelt.<br />

Infolge der Kluft zwischen digitaler <strong>und</strong> analoger<br />

Welt dürften diese Wandlungen jedoch höchst unterschiedliche<br />

Auswirkungen haben. Überdies kann das<br />

Internet zu neuen Verwicklungen zwischen Kerngebiet<br />

<strong>und</strong> Peripherie führen, wie im Falle der 1996 erschienenen<br />

Webseiten über die Prostitution in Kuba<br />

geschehen. Die Intention der über einen finnischen<br />

Server bereitgestellten Webseiten war eindeutig: Es<br />

handelte sich um einen Sexführer, der Touristen<br />

über den einschlägigen Markt informierte, der sich<br />

in Havanna zu dieser Zeit ^vieder zu entwickeln begann.<br />

Von italienischen Korrespondenten in englischer<br />

Sprache verfasst, enthielten die Seiten detaillierte<br />

Informationen über Lokalitäten, spezielle Angebote<br />

<strong>und</strong> Preise sowie Tipps für den Umgang mit der<br />

örtlichen Polizei. Wenngleich die Sexindustrie in Havanna<br />

davon zweifellos profitierte, so handelt es sich<br />

bei dem Vorgang letztlich um ein Beispiel, das stellvertretend<br />

für die Intensivierung der wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Dominanz der Kerngebiete über die<br />

Peripherie steht.<br />

Der Einfluss des Internets ist aufgr<strong>und</strong> der digitalen<br />

Kluft unterschiedlich groß. Es gibt Orte <strong>und</strong> Regionen,<br />

die dem Cyberspace <strong>und</strong> der damit einhergehenden<br />

Globalisierung der Kultur Widerstände entgegensetzen.<br />

Die französischen <strong>und</strong> frankokanadischen<br />

Behörden, die Einflüssen der englischen <strong>und</strong><br />

englischsprachigen Alltagskultur seit jeher kritisch gegenüberstehen,<br />

haben aktiv nach Wegen gesucht,<br />

frankofonen Cybernauten die Nutzung des Internets<br />

unter Vermeidung des Englischen, der in diesem Medium<br />

dominierenden Sprache, zu ermöglichen. Darüber<br />

hinaus hat die Regierung Frankreichs die nationale<br />

Alternative zum Internet, das Kommunikationssystem<br />

Minitel, finanziell massiv unterstützt. Dabei<br />

handelt es sich um ein Netzwerk von Online-Terminals,<br />

das an das französische Telefonnetz angeschlossen<br />

ist. Alle Geschäftsstellen der France Telecom verfügen<br />

über einen Minitel-Zugang, der von jedermann<br />

frei genutzt werden kann.<br />

In großen Teilen Asiens kollidiert das Internet als<br />

Medium des Informationsaustauschs mit regionalen<br />

Kulturen, in denen Information als geschütztes Gut<br />

gehandhabt wird. Während zahlreiche US-amerikanische<br />

Websites ausführliche Regierungsberichte,<br />

wissenschaftliche Untersuchungen <strong>und</strong> lebhafte Debatten<br />

zur Regierungspolitik präsentieren, bieten vergleichbare<br />

asiatische Sites lediglich Pressemitteilungen<br />

regierungsnaher Agenturen <strong>und</strong> Organisationen.<br />

Die politische Führung des puritanischen Singapur


416 7 Interpretationen von Landschaften, Orten <strong>und</strong> Räumen<br />

!M<br />

I<br />

lässt aus Sorge, das Internet könnte die Moral untergraben,<br />

im Zuge umfassender Maßnahmen zur Eindämmung<br />

der Online-Pornographie unter anderem<br />

den Inhalt privater E-Mails kontrollieren. Da chinesische<br />

Regierungsstellen fürchteten, dass durch das<br />

Internet politische Rebellionen angefacht werden<br />

könnten, wurde der Zugang von offizieller Seite limitiert.<br />

Dadurch sollte sichergestellt werden, dass im<br />

Falle politischer Unruhen der chinesische Teil des Internets<br />

leicht von der übrigen Welt abgekoppelt werden<br />

konnte. Viele große asiatische Organisationen<br />

lehnen es ab, wichtige Informationen ins Internet<br />

zu stellen. Außerdem können westliche Nutzer in<br />

einer asiatischen Landessprache abgefasste Dokumente<br />

nur mithilfe spezieller Software lesen, sodass<br />

der Informationsfluss ausgesprochen einseitig, von<br />

Amerika nach Asien, verläuft.<br />

Das größte Potenzial des Internets liegt, in Bezug<br />

auf den kulturellen Wandel, in der Bereitstellung von<br />

enormen Wissensbeständen <strong>und</strong> der Möglichkeit der<br />

schnellen <strong>und</strong> freien Datenübertragung. Die „Natur“<br />

des Internets als dezentralisiertes <strong>und</strong> komplexes Netz<br />

von Rechnernetzwerken erlaubt Millionen von Menschen<br />

zum ersten Mal in der Geschichte eine von jeglicher<br />

staatlichen Kontrolle befreite Meinungsäußerung<br />

<strong>und</strong> fördert auf diese Weise die mitbestimmende<br />

Demokratie.<br />

Fazit<br />

Geographen untersuchen die Interdependenz von<br />

Menschen <strong>und</strong> Orten. Im Vordergr<strong>und</strong> steht dabei<br />

die Frage, wie Einzelpersonen <strong>und</strong> Gruppen Wissen<br />

über ihre Umgebungen erwerben <strong>und</strong> wie dieses Wissen<br />

deren Einstellungen <strong>und</strong> Handlungen prägt.<br />

Ebenso wie Menschen Landschaften <strong>und</strong> Orten auf<br />

unterschiedlichste Weise Bedeutungen zuschreiben,<br />

leiten sie aus ihnen bekannten Orten <strong>und</strong> Landschaften<br />

Bedeutungen ab. Unterschiedliche Gruppen haben<br />

unterschiedliche Wahrnehmungen von Landschaften,<br />

Orten <strong>und</strong> Räumen. Kinder, die in einer<br />

ländlichen Umgebung im Sudan aufwachsen, nehmen<br />

Landschaft anders wahr <strong>und</strong> erwerben Wissen<br />

über ihre Umgebung auf andere Weise als Kinder,<br />

die der amerikanischen Mittelschicht angehören<br />

<strong>und</strong> im suburhanen Raum leben. Darüber hinaus rufen<br />

unterschiedliche Landschaften <strong>und</strong> Umgebungen<br />

spezifische Arten emotionaler Ortsbezogenheit hervor.<br />

Derjenige, der an einem Ort lebt, besitzt gegenüber<br />

diesem Ort eine andere emotionale Ortsbezogenheit<br />

als ein Außenstehender, der diesen Ort lediglich<br />

besucht oder von Bildern kennt.<br />

Wie dieses Kapitel zeigt, spielen die Begriffe Landschaft<br />

(landscape) <strong>und</strong> Ort (place) im Kontext geographischer<br />

Fragestellungen eine zentrale Rolle. Landschaften<br />

<strong>und</strong> Orte entstehen sowohl durch zielgerichtetes<br />

als auch durch nicht intentionales menschliches<br />

Handeln, wobei jede Landschaft in ihrer Komplexität<br />

die Aktivitäten einer größeren Gemeinschaft widerspiegelt.<br />

Um die verschiedenen Arten existierender<br />

Landschaften besser unterscheiden zu können, haben<br />

Geographen Kategorien entwickelt. Gewöhnliche<br />

„Landschaften“ wie Stadtviertel oder Autokinos werden<br />

von Menschen im Laufe ihres Alltagslebens geschaffen.<br />

Im Unterschied dazu repräsentieren symbolische<br />

Landschaften Werte oder Sehnsüchte, welche<br />

diejenigen, die diese Landschaften erschaffen oder finanzieren,<br />

einer größeren Öffentlichkeit vermitteln<br />

wollen. Das in den Black Hills von South Dakota gelegene<br />

Mount Rushmore ist ein solches Beispiel. Dort<br />

hat der Bildhauer Gutzon Borglum die Portraits von<br />

George Washington, Thomas Jefferson, Theodore<br />

Roosevelt <strong>und</strong> Abraham Lincoln aus dem Granit gemeißelt,<br />

um ein unvergängliches Monument des<br />

amerikanischen Nationalgefühls inmitten unberührter<br />

Natur zu erschaffen.<br />

Die Betrachtung von Landschaft als Text, der geschrieben<br />

<strong>und</strong> gelesen, umgeschrieben <strong>und</strong> neu interpretiert<br />

werden kann, gehört zu den jüngeren Ansätzen<br />

in der Geographie. Das Konzept von Landschaft<br />

als Text führt zu der Vorstellung, dass eine Landschaft<br />

nicht von einem einzelnen, sondern von mehreren<br />

Autoren geschrieben wird. Die Auffassung beinhaltet<br />

außerdem, dass das Geschriebene je nach Leser unterschiedlich<br />

interpretiert werden kann. Das Verständnis<br />

von Landschaft als etwas, das geschrieben <strong>und</strong><br />

gelesen werden kann, wurde durch die Erkenntnis<br />

gestützt, dass es sich bei der Sprache, in der eine<br />

Landschaft „verfasst“ ist, um einen Code handelt.<br />

Um die Bedeutung eines Codes erfassen zu können,<br />

muss man die Semiotik, die Sprache des Codes verstehen.<br />

je nach Intention können Codes unterschiedliche<br />

Dinge sowohl vermitteln (zum Beispiel Stärke,<br />

Verspieltheit oder die Bevorzugung einer Gruppe<br />

gegenüber einer anderen) als auch bewirken (zum<br />

Beispiel eine Verstärkung der Imagination oder die<br />

Intensivierung religiöser Andacht oder spiritueller<br />

Ehrfurcht).<br />

Welche Veränderungen der globale Übergang von<br />

der Moderne zur Postmoderne in Kulturlandschaften,<br />

Räumen <strong>und</strong> an Orten bewirkt hat, war davon<br />

abhängig, inwiefern Einzelpersonen <strong>und</strong> Gruppen<br />

weit reichende Veränderungen des kulturellen Emp­


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 417<br />

findens auf lokaler Ebene vorangetrieben haben. Die<br />

unter Insidern bestehenden Übereinstimmungen<br />

hinsichtlich der Bedeutungsgehalte der ihnen vertrauten<br />

Orte <strong>und</strong> Landschaften wurden gestört,<br />

<strong>und</strong> zwar durch das Eindringen neuer Ansichten,<br />

Klänge <strong>und</strong> Geschmäcker sowie durch den Export<br />

von Werten, Ideen <strong>und</strong> Gepflogenheiten von einem<br />

Teil der Welt in einen anderen. Durch Internet<br />

<strong>und</strong> Cyberspace haben sich neue Interaktionsräume<br />

herausgebildet, die weder eine Tradition besitzen<br />

noch eine ausgeprägte emotionale Ortsbezogenheit<br />

erzeugen. Daraus folgt, dass der Cyberspace einzigartige<br />

Möglichkeiten des kulturellen Wandels in sich<br />

birgt. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob es sich dabei<br />

um einen Raum handeln wird, der für jedermann<br />

frei zugänglich ist, oder ob das Internet sich zu einer<br />

weiteren exklusiven, den Stärkeren, Reichen <strong>und</strong> gut<br />

ausgebildeten vorbehaltenen „Landschaft“ entwickelt.<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Aschauer, W. Zum Nutzen von „Ethnizität“ <strong>und</strong> „Regional-" oder<br />

„Heimatbewusstsein" als Erklärungskategorien geographischer<br />

Theoriebildung. In: Kritische Geographie 7(1990) S.<br />

3-27.<br />

Bourdieu, P. Physischer, sozialer <strong>und</strong> angeeigneter physischer<br />

Raum. In: Wentz, M. (Hrsg.) Stadt-Räume. Frankfurt am<br />

Main (Campus) 1991, S. 25-34.<br />

Burnett, R. The Global Jukebox: The International Music Industry.<br />

New York (Routledge) 1996.<br />

Carney, G.O. (Hrsg.) Fast Food, Stock Cars, and Rock'n'Roll: Place<br />

and Space in American Pop Culture. Landham, MD (Row-<br />

man & Littlefield) 1995.<br />

Crawford, M. The World in a Shopping Mail. In: Sorkin, M. (Hrsg.)<br />

Variations on a Theme Park. New York (Noonday Press) 1992,<br />

S. 3-30.<br />

Fade, J.; Sallnow, M. (Hrsg.) Contesting the Sacred. London<br />

(Routledge) 1991, S. 14.<br />

Felgenhauer,!.; Mihm, M.; Schlottmann, A. The making o f Mitteldeutschland.<br />

On the function o f implicit and explicit symbolic<br />

features for implementing regions and regional identity. In:<br />

Geografiska Annaler Series 87B(1) (2005) 45-60.<br />

Franke, N. Heimat <strong>und</strong> Nationalismus. Historische Aspekte. In:<br />

Natur <strong>und</strong> Landschaft 78 (2003) 390-393.<br />

Giordano, C. Ethnizität <strong>und</strong> Territorialität. Zur sozialen Konstruktion<br />

von Differenz in Mittel- <strong>und</strong> Osteuropa. In: Ethnologia Balkánica<br />

3 (1999) S. 9-33.<br />

Gold, J.R.; Ward, S.V. (Hrsg.) Place Promotion: The Use o f Publicity<br />

and Marketing to Sell Towns and Regions. New York<br />

(Wiley and Sons) 1994.<br />

Golledge, R.G.; Stimpson, R.J. Spatial Behavior. A Geographic<br />

Perspective. New York (Guilford Press) 1997.<br />

Gould, P.; White, R. Mental Maps. London (Routledge) 1992.<br />

Grant, J. Planning the good Community: New Urbanism in Theory<br />

and Practice. London (Routledge) 2006.<br />

Groth, P.; Bressi, T.W. (Hrsg.) Understanding Ordinary Landscapes.<br />

New Haven (Yale University Press) 1997.<br />

Hall, S. Representation. Cultural Representations and Signifying<br />

Practices. London (Sage Publications) 1997.<br />

Harvey, D.W. Spaces o f Hope. Berkeley (University of California<br />

Press) 2000.<br />

Hasse, J. Mediale Räume. In: Wahrnehmungsgeographische Studien<br />

zur Regionalentwicklung 16 (1997).<br />

Hasse, J. (Hrsg.) Zum Verhältnis von Raum <strong>und</strong> Gefühl in derAn-<br />

thropogeographie. In: Themenheft der Geographischen Zeitschrift<br />

Q7 [2) (1999) S. 61-62.<br />

Hasse, J. (Hrsg.) Geographie <strong>und</strong> Gesellschaftstheorie. In: Themenheft<br />

der Geographica Helvetica 2 (2000).<br />

Holston, J. The Modernist City: An Anthropological Critique o f<br />

Brasilia. Chicago (University of Chicago Press) 1989, S. 71.<br />

Honoré, C. In Praise of Slowness. How a Worldwide Movement<br />

is Challenging the Cult of Speed. New York (Harper Collins)<br />

2004.<br />

Huber, A. Heimat in der Postmoderne. Zürich (Seismo) 1999.<br />

Jackson, J. B. A Sense o f Place, a Sense o f Time. New Haven (Yale<br />

University Press) 1994.<br />

Jackson, J. B. Discovering the Vernacular Landscape. New Haven<br />

(Yale University Press) 1984.<br />

Judd, D.R.; Fainstein, S.S. (Hrsg.) The Tourist City. New Haven<br />

(Yale University Press) 1999.<br />

Laurie, N.; Smith, F.; Dwyer, C.; Holloway, S. Geographies o f New<br />

Femininities. Harlow (Longman) 1999.<br />

Katz, C. Growing up Global: Economic Restructuring and Childrens<br />

Everyday Lives. Minneapolis & St. Paul (University<br />

of Minnesota press) 2004.<br />

Katz, C. Sow What You Know: The Struggle for Social Reproduction<br />

in Rural Sudan. In: Annals to the Association of American<br />

Geographers 81 (1991) S. 488-514.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L. Creating Ordinary Places: Slow Cities in a Fast World.<br />

In: journal o f Urban Design 10(1) (2005) 3-13.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L. Vulgaria: The Re-Enchantment o f Suburbia ln:Opo//s<br />

1(2) (2005) 3 4 -4 7 .<br />

Kearns, G.; Philo, C. (Hrsg.) Selling Places: The City As Cultural<br />

Capital, Past and Present (Policy, Planning and Critical Theory).<br />

Oxford (Pergamon Press) 1993.<br />

Massey, D.; Jess, P. (Hrsg.) A Place In the World? Places, Cultures,<br />

and Globalization. New York (Oxford University Press)<br />

1995.<br />

Mitchell, D. Cultural Geography: A Critical Introduction. Malden,<br />

MA (Blackwell) 2000.<br />

Mitchell, D. The Right to the City: Socialjustice and the Fight for<br />

Public Space. New York (Guilford Press) 2003.<br />

Mitchell, K. Geographies o f Identity: The new Exceptionalism. In:<br />

Progress in Human Geography 30(1) (2006) S. 95- 106.<br />

Morley, D.; Robins, K. Spaces o f Identity. Global media, electronic<br />

landscapes and cultural bo<strong>und</strong>aries. London (Routledge)<br />

1995.<br />

Paasi, A. Region and place: regional identity in question. In: Progress<br />

in Human Geography 27(4) (2003) S. 475-485.<br />

Raban, J. Soft City. London (Fontana) 1975.<br />

Relph, E. Place and Placelessness. London (Pion) 1976.


418 7 Interpretationen von Landschaften, Orten<br />

i i<br />

Ritzer, G. The Globalization o f Nothing. Thousand Oaks, CA (Pine<br />

Forge Press) 2004.<br />

Robinson, G.; Pobric, A. Nationalism and identity in post-Dayton<br />

Accords: Bosnia-Hercegovina. In: Tijdschrift voor Economi-<br />

sche en Sociale Geografie 97(3) (2006) S. 237-252.<br />

Schama, S. Landscape and Memory. New York (Vintage Books)<br />

1995.<br />

Schütz, A. Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung<br />

in die verstehende Soziologie. Wien (Springer) 1932, S. VII,<br />

286.<br />

Schütz, A.; Luckmann, T. Strukturen der Lebenswelt, Neuwied-<br />

Darmstadt (Luchterhand) 1975.<br />

Schwyn, M. Reglonalismus als soziale Bewegung. Entwurf einer<br />

theoretischen Beschreibung des Regionalismus m it einer empirischen<br />

Analyse des Jurakonfliktes. Zürich (Geograph. Inst.)<br />

1996.<br />

Sennett, R. The Consciousness o f the Eye. New York (Knopf)<br />

1990, S. 123-124.<br />

Shurmer-Smith, P.; Hannam, K. Worlds o f Desire, Realms o f Power.<br />

London (Edward Arnold) 1994.<br />

Simmel, G. Soziologie. Untersuchungen über die Eormen der Vergesellschaftung.<br />

Berlin (Duncker & Humblot Verlag) 1908.<br />

Urry, J. Consuming Places. London (Routledge) 1995.<br />

Vale, L.J., Warner, S. B. Jr. (Hrsg.) Imaging the City. New Brunswick,<br />

NJ (CUPR Press) 2002.<br />

Ward, S.V. Sellinmg Places: The Marketing and Promotion o f<br />

Towns and Cities 1850-2000. New York (Routledge) 1998.


1<br />

<strong>und</strong> Räumen<br />

Wastl-Walter, D.; Staeheli, L.A. Territory, Territoriality, and Bo<strong>und</strong>aries.<br />

In: Staeheli, LA.; Koftnan, E.; Peake, L. (Hrsg.) Mapping<br />

Women, Making Politics: Feminist Perspectives on Polltical<br />

Geography. London (Routledge) 2004, S. 141-152<br />

Weichhardt, P. Das Forschungsfeld „Raumbezogene Identität“<br />

Koexistenz rivalisierender Paradigmen? In: Renner E<br />

(Hrsg.): Regionalismus. Tagungsbericht zum ASG-Sympo<br />

sium, 8. September 1995. St. Gallen (1996).<br />

Werlen, B. Identität <strong>und</strong> Raum - Regionalismus <strong>und</strong> Nationalismus.<br />

In: Soziographie 1 (1993) S. 39-73.<br />

Werlen, B. Regionalismus: Eine neue soziale Bewegung. In-<br />

Barsch, D.; Karrasch, H. (Hrsg.) Deutscher Geographentag<br />

Bochum 1993. Stuttgart (FranzSteiner Verlag) 1995 S<br />

42-51.<br />

Wilson, K.; Peters, E. „You can make a place for It": remapping<br />

urban First Nations spaces o f identity. In: Society and space<br />

23(3) (2005) S. 395-414.<br />

Women and Geography Study Group Feminist Geographies. Harlow<br />

(Longman) 1997.<br />

Wucherpfenning, C.; Strüver, A.; BauriedI, S. H/esens- <strong>und</strong> Wissenswelten.<br />

Eine Exkursion in die Praxis der Repräsentation.<br />

In: Wahrnehmungsgeographische Studien 21 (2003) S. 55-<br />

87.<br />

Zukin, S. The Cultures o f Cities. Cambridge, MA (Blackwell)<br />

1995.<br />

■: ET"<br />

'■<br />

i -


8 Die Geographie<br />

wirtschaftiicher<br />

Entwicklung<br />

e<br />

El<br />

Infolge der zunehmenden Integration Chinas in die Weltwirtschaft kam es<br />

in vielen Regionen des Landes in den vergangenen 25 Jahren zu einem<br />

außergewöhnlich schnellen ökonomischen Wandel. In der nahe Hongkong<br />

gelegenen Guangdong-Provinz stiegen im vergangenen Jahrzehnt<br />

das industrielle Wachstum <strong>und</strong> der Siedlungs- <strong>und</strong> Schnellstraßenbau<br />

jährlich um 15 bis 25 Prozent. Während die Region ursprünglich für<br />

die reichen Erträge hochwertiger Reissorten bekannt war, importiert<br />

Guangdong heute den wohlschmeckenden Jasmin-Reis aus Thailand.<br />

Will man im Delta des Perlflusses eines der traditionellen Reisfelder fotografieren,<br />

wird sich auf dem Bild fast immer auch eine Baustelle finden.<br />

Sowohl die Einkommen als auch die Ausgaben für Konsumgüter sind in<br />

der Guangdong-Provinz in die Höhe geschossen. Auch in der r<strong>und</strong> 1 500<br />

Kilometer weiter nördlich gelegenen Shandong-Provinz finden derlei Veränderungen<br />

statt. Ursprünglich bestritten hier die Kleinbauern ihren bescheidenen<br />

Unterhalt mit dem Anbau von Weizen <strong>und</strong> Mais, mittlerweile<br />

liefert auch Shandong seinen Beitrag zu Chinas wirtschaftlichem Aufschwung.<br />

Wer früher in dem kleinen Ort Xishan das karge Land bestellte,<br />

ist heute in einem Schlachthof, einer pharmazeutischen Fabrik oder in der<br />

Möbelindustrie beschäftigt. „Nicht ein einziger Dorfbewohner arbeitet<br />

heute noch auf den Reisfeldern“, verkündet der Bürgermeister Shan Chujie<br />

stolz. „Wir sind hier keine Bauerntrampel.“ ^<br />

Wirtschaftliche Entwicklung war zu jeder Zeit ein räumlich ungleich<br />

verteiltes Phänomen. Länder, Regionen <strong>und</strong> Orte können unterschiedliche<br />

Wege einschlagen, um ihre Wirtschaft zu entwickeln. Die Erklärung dieser<br />

regionalen Unterschiede der wirtschaftlichen Entwicklung ist eine wichtige<br />

Aufgabe der <strong>Humangeographie</strong>.<br />

Schlüsselsätze<br />

Aus geographischer Sicht ist die wichtigste Eigenschaft wirtschaftlicher<br />

Entwicklung ihr hohes Maß an räumlicher Unausgewogenheit.<br />

Mit der zunehmenden Globalisierung von Politik <strong>und</strong> Wirtschaft sowie<br />

den sich wandelnden Standortbedingungen einander ablösender Technologiesysteme<br />

kam es zu einer räumlichen Differenzierung des Arbeitskräftebedarfs.<br />

I li:<br />

Collectives Make a Comeback. In: Wall Street Journal vom 10. März 1995, S. A I.


422 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

■4^<br />

I :<br />

i I<br />

i I<br />

Regionale Kerne wirtschaftlicher Entwicklung bilden<br />

sich kumulativ aufgr<strong>und</strong> von Startvorteilen<br />

<strong>und</strong> nach bestimmten Gr<strong>und</strong>prinzipien räumlicher<br />

Organisation.<br />

Die Spiralen wirtschaftlicher Entwicklung können<br />

durch verschiedene Ereignisse (Ursachen) unterbrochen<br />

werden. Zu den wichtigsten Einflussgrößen<br />

gehören Deinvestition <strong>und</strong> Deindustrialisierung<br />

im Gefolge eines technologischen Wandels<br />

sowie veränderte geopolitische Rahmenbedingungen.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft hat dazu geführt,<br />

dass die Strukturen <strong>und</strong> Prozesse lokaler<br />

<strong>und</strong> regionaler wirtschaftlicher Entwicklung gegenüber<br />

Einflüssen von außen anfälliger geworden<br />

sind.<br />

Die Bedeutung des Begriffs<br />

„wirtschaftliche Entwicklung“<br />

Die wirtschaftliche Entwicklung wird häufig am Niveau<br />

<strong>und</strong> den Veränderungen des Wohlstands gemessen.<br />

Dazu werden Kenngrößen statistischer Erhebungen<br />

über Produktivität, Einkommensverhältnisse,<br />

Kaufkraft <strong>und</strong> Konsum verwendet. Wachsender<br />

Wohlstand ist jedoch nicht der einzige Aspekt wirtschaftlicher<br />

Entwicklung. Humangeographen <strong>und</strong><br />

andere Sozialwissenschaftler verstehen unter wirtschaftlicher<br />

Entwicklung Veränderungen des Wesens<br />

<strong>und</strong> der Struktur eines regionalen Wirtschaftsgefüges<br />

sowie die Zunahme des Wohlstands einer Region, gemessen<br />

am Lebensstandard, am Ges<strong>und</strong>heitswesen<br />

<strong>und</strong> so weiter. Die damit verb<strong>und</strong>enen Prozesse können<br />

drei Ursachen haben:<br />

• Veränderungen der Wirtschaftsstrukturen innerhalb<br />

einer Region (zum Beispiel der Wandel von<br />

einer landwirtschaftlich zu einer industriell geprägten<br />

Struktur)<br />

• gr<strong>und</strong>legende Änderungen des regionalen Wirtschaftssystems,<br />

zum Beispiel die Ablösung der<br />

zentralen sozialistischen Planwirtschaft durch die<br />

freie Marktwirtschaft<br />

• regionale Änderungen hinsichtlich der Verfügbarkeit,<br />

des Einsatzes <strong>und</strong> der Auswirkungen von<br />

Technologien<br />

Die räumliche Ungleichheit<br />

, wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Wirtschaftliche Entwicklung ist durch räumliche Ungleichheit<br />

charakterisiert. Im globalen Maßstab<br />

drückt sich dies durch die Gegensätze zwischen Zentrum<br />

<strong>und</strong> Peripherie innerhalb des sich entwickelnden<br />

kapitalistischen Weltsystems aus (Kapitel 2). Diese<br />

Gegensätze sind das Ergebnis eines Wettbewerbs,<br />

der maßgeblich von kulturellen <strong>und</strong> politischen Faktoren<br />

geprägt ist. Die Länder im globalen Zentrum -<br />

derzeit sind dies die drei Pole Nordamerika, Europa<br />

<strong>und</strong> Japan - sind gekennzeichnet durch hoch diversifizierte<br />

Wirtschaftssysteme, modernste Technologien,<br />

höchste Produktivitätsniveaus, eine hoch qualifizierte<br />

Bevölkerung <strong>und</strong> den größten Wohlstand. Sie<br />

werden üblicherweise zu den entwickelten Regionen<br />

der Welt gezählt, obwohl die wirtschaftliche Entwicklung<br />

natürlich ein kontinuierlicher Prozess ist <strong>und</strong> in<br />

keinem Land jemals abgeschlossen ist. Die Länder<br />

<strong>und</strong> Regionen der Peripherie <strong>und</strong> Semiperipherie<br />

werden oft als Entwicklungsländer oder geringer entwickelte<br />

Länder oder auch als Dritte Welt bezeichnet.<br />

Der Begriff „Dritte Welt“ stammt aus der frühen Phase<br />

des Kalten Kriegs in den 1950er- <strong>und</strong> 1960er-Jahren.<br />

Damals stellten sich die gerade unabhängig gewordenen<br />

Staaten der Peripherie als eigenständiger<br />

politischer Block dar, der sich weder in die hoch entwickelten<br />

kapitalistischen Länder der „Ersten Welt“<br />

einreihen wollte noch in die „Zweite Welt“ der Sowjetunion<br />

<strong>und</strong> ihrer Satellitenstaaten.<br />

I<br />

Globale Strukturen zwischen Kernregion<br />

<strong>und</strong> Peripherie____________________<br />

Auf globaler Ebene wird die wirtschaftliche Entwicklung<br />

meist anhand ökonomischer Indikatoren gemessen.<br />

Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist ein<br />

Maß für die Summe sämtlicher Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen,<br />

die in einem Land pro Jahr erwirtschaftet<br />

werden. Um die unterschiedliche Größe der Länder<br />

zu berücksichtigen, wird das Bruttoinlandsprodukt<br />

normalerweise durch die Zahl der Einwohner dividiert.<br />

Das so ermittelte Pro-Kopf-BIP ist ein geeignetes<br />

Maß für das wirtschaftliche Entwicklungsniveau<br />

eines Landes. Das Bruttosozialprodukt (BSP) enthält<br />

zusätzlich die Einkommen, die im Ausland erzielt<br />

werden. Dazu gehören beispielsweise die Gewinne<br />

<strong>und</strong> Verluste aus Investitionen im Ausland. Da diese<br />

Indikatoren auf unterschiedlichen Währungen beruhen,<br />

verwendet man für den internationalen Vergleich<br />

die sogenannte Kaufkraftparität {purchasing


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 423<br />

Exkurs 8.1<br />

Geographie in Beispieien - Wie Poiitik <strong>und</strong> Kuitur die<br />

wirtschaftiiche Entwicklung beeinflussen<br />

Das moderne kapitalistische Weltsystem besteht aus einem<br />

Netzwerk politischer Staaten, die zueinander in einem wirtschaftlichen<br />

Wettbewerb stehen. Jeder Staat ist bestrebt,<br />

sich so weit wie möglich vor den negativen Auswirkungen<br />

des globalen Markts zu schützen sowie die Chancen dieses<br />

Markts zu nutzen. Gemäß der Theorie des Weltsystems ist<br />

dieser Wettbewerb von zentraler Bedeutung, denn er verhinderte,<br />

dass die moderne Welt zu einem globalen Imperium<br />

heranwuchs. Niemals war eine einzelne Großregion dauerhaft<br />

in der Lage, den Rest der Welt zu beherrschen. Für Humangeographen<br />

ist die internationale Arbeitsteilung innerhalb<br />

des Weltsystems von besonderem Interesse. Zur Sicherung<br />

ihrer Vorteile auf dem Weltmarkt können Staaten drei Strategien<br />

verfolgen:<br />

• Territoriale Expansion <strong>und</strong> Kontrolle, entweder auf diplomatischem<br />

Wege oder durch militärische Stärke. Diese<br />

einfache <strong>und</strong> unmittelbare Art <strong>und</strong> Weise, an Ressourcen<br />

zu gelangen <strong>und</strong> diese zu kontrollieren, wurde über Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

praktiziert <strong>und</strong> war der Ursprung zahlreicher<br />

Konflikte <strong>und</strong> Kriege.<br />

• Verzerrung der Märkte zugunsten heimischer Produzenten<br />

<strong>und</strong>/oder Konsumenten. Dies wird in aller Regel erreicht<br />

durch: 1.) Importzölle <strong>und</strong> Handelsbeschränkungen,<br />

die den Zugang ausländischer Produkte zum eigenen<br />

Markt erschweren, 2.) finanzielle Förderung inländischer<br />

Firmen (zum Beispiel durch Steuererleichterungen oder<br />

Exportsubventionen) <strong>und</strong> 3.) durch die Einflussnahme<br />

auf Produktion <strong>und</strong> Konsum durch Kontrolle von Wechselkurs,<br />

Leitzins <strong>und</strong> Geldmenge.<br />

• Entwicklung einer Infrastruktur zur Mobilisierung einheimischer<br />

Ressourcen. Dies beinhaltet den Bau von<br />

Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Flughäfen oder Staudämmen<br />

ebenso wie die soziale Infrastruktur mit ihren<br />

Rechts-, Bildungs-, Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Wohlfahrtssystemen.<br />

Eine andere wichtige Eigenschaft des Weltsystems ist seine<br />

naturgemäße Heterogenität, <strong>und</strong> zwar nicht nur was die wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Strukturen betrifft, sondern genauso<br />

bezüglich der ungleichen Stellung einzelner Regionen<br />

<strong>und</strong> Länder innerhalb des Weltsystems. So ist die Peripherie<br />

überaus inhomogen, auch wenn die dazugehörigen Länder<br />

durch wichtige ökonomische <strong>und</strong> politische Gemeinsamkeiten<br />

gekennzeichnet sind. Aber individuelle Länder, Regionen<br />

<strong>und</strong> Märkte haben ihre eigene Geschichte, ihre eigenen spezifischen<br />

Merkmale <strong>und</strong> besitzen ihre geographische Eigenständigkeit.<br />

Ein Großteil dieser Unausgeglichenheit des Weltsystems<br />

ist das Ergebnis der Geschichte <strong>und</strong> Geographie (Kapitel 2),<br />

wobei drei Hauptfaktoren ausschlaggebend sind. Zum einen<br />

hat die wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Logik des Weltsystems<br />

bei lokalen <strong>und</strong> regionalen Kulturen unterschiedliche Reaktionen<br />

ausgelöst, die von Akzeptanz <strong>und</strong> Kooperation bis zu Widerstand<br />

<strong>und</strong> Abwehr reichen. Werte wie Materialismus, individualismus,<br />

Wettbewerb oder Demokratie, welche das System<br />

der freien Marktwirtschaft bestimmen <strong>und</strong> treibende<br />

Kraft für die Länder im Zentrum des Weltwirtschaftssystems<br />

sind, werden nicht in allen Kulturen akzeptiert. Zunehmend<br />

werden sie von den Eliten dieser Länder auch ais „Diskurs“,<br />

als Instrument, interpretiert mit dem Ziel, postkoloniale Abhängigkeiten<br />

zu erhalten oder auszubauen: globale Ökonomie<br />

als „Projekt“ der Ersten Welt zum Schaden der Dritten Welt.<br />

Der zweite Faktor liegt in der geographischen Ausbreitung<br />

des modernen Weltsystems. Diese war von der Entwicklung<br />

einzelner Nationalstaaten abhängig, die sich in ihrer wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> militärischen Stärke, ihrer Gesellschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> in ihren Zielen voneinander unterschieden. Dementsprechend<br />

folgte auch die Einbindung in das Weltsystem<br />

unterschiedlichen Mustern. In einigen Beispielen, wie in<br />

Nordamerika oder Australien, wurden die Ureinwohner (Indianer<br />

<strong>und</strong> Aborigines) im Rahmen der Kolonisation dieser Länder<br />

aus ihren Lebensräumen fast völlig verdrängt <strong>und</strong> von der<br />

Teilhabe am wirtschaftlichen Aufschwung ausgeschlossen. In<br />

anderen Ländern, wie Brasilien <strong>und</strong> Südafrika, kam es zwar<br />

zur Unterwerfung der indigenen Bevölkerung, diese wurde jedoch<br />

in das Wirtschaftssystem integriert. In Ägypten <strong>und</strong> Indien<br />

wurde die einheimische Bevölkerung weitgehend in das<br />

neue Wirtschaftssystem eingeb<strong>und</strong>en, in Kambodscha <strong>und</strong><br />

Libyen gab es eine Integration nur in begrenztem Umfang.<br />

In einigen Ländern (zum Beispiel Brasilien <strong>und</strong> Malaysia) wurde<br />

die Eingliederung der Urbevölkerung durch die Aussichten<br />

einer wirtschaftlichen Entwicklung wenig dicht besiedelter<br />

Regionen angetrieben, während sie in anderen lediglich<br />

aus politischen Beweggründen erfolgte, um so rivalisierende<br />

Kräfte zu integrieren oder eine militärisch bedeutsame, aber<br />

wirtschaftlich unbedeutende Region zu sichern. So hat etwa<br />

Somalia durch seine geographische Lage einen strategischen<br />

Vorteil, weil das Land den Zugang zum Persischen Golf <strong>und</strong><br />

Indischen Ozean kontrolliert. Dies war der Hauptgr<strong>und</strong>, warum<br />

sich die USA <strong>und</strong> die ehemalige Sowjetunion in dieser<br />

Region um Einfluss bemühten.<br />

Der dritte Parameter, der die wirtschaftliche Entwicklung<br />

beeinflusste, liegt in der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit<br />

verschiedener Wirtschaftssysteme begründet. Die bedeutsamsten<br />

Gegenbewegungen zur freien Marktwirtschaft<br />

sind die verschiedenen Varianten der kommunistischen Planwirtschaft,<br />

wie sie in der Volksrepublik China, den Staaten<br />

des ehemaligen Ostblocks, in Kuba <strong>und</strong> Nordkorea praktiziert<br />

wurden.


424 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

m<br />

Up.<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen<br />

(in US-Dollar)<br />

über 25000<br />

10000 bis 24999<br />

0 1 500 3 000 Kilometer<br />

I<br />

I<br />

2500 bis 9999<br />

w eniger als 2500<br />

Europa i<br />

keine A ngaben<br />

8.1 Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt Das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt ist eine der aussagekräftigsten Kenngrößen des wirtschaftlichen<br />

Entwicklungsniveaus. Die Karte (Stand 1997) zeigt das Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern des Zentrums <strong>und</strong> der<br />

Peripherie. Während das jährliche Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt (als Kaufkraftparität) in den USA, Norwegen <strong>und</strong> der Schweiz bei über<br />

25 000 US-Dollar lag, betrug es in Angola, Haiti <strong>und</strong> Mali nicht einmal 3 500 Dollar. In semiperipheren Ländern wie Südkorea, Brasilien<br />

oder Mexiko reichte das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt von 5 000 bis 10 000 Dollar. (Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Fuller<br />

Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung „Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion Map Design<br />

sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967,1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

power parity, PPP). Dabei handelt es sich um einen<br />

fiktiven idealen Wechselkurs, bei dem die Kaufkraft<br />

zweier Länder als identisch angenommen wird. Letztlich<br />

bestimmt die Kaufkraftparität, wie viel Geld für<br />

einen „Warenkorb“ bestimmter Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

zu zahlen ist - wobei es sein kann, dass<br />

diese nur regional <strong>und</strong> nicht auf dem internationalen<br />

Markt erhältlich sind. Anders als bei den Indikatoren,<br />

die auf den Länderwährungen beruhen, ergeben sich<br />

bei Vergleichen auf der Basis der Kaufkraftparität in<br />

den entwickelten Staaten vergleichsweise niedrigere<br />

Werte des Bruttosozialprodukts. In den armen Ländern<br />

fallen diese Werte folglich höher aus. Doch trotz<br />

dieser rechnerischen Annäherung zwischen Arm <strong>und</strong><br />

Reich ist der wirtschaftliche Wohlstand höchst ungleich<br />

verteilt.<br />

Wie die Abbildung 8.1 zeigt, ist die wirtschaftliche<br />

Entwicklung auf der nördlichen Halbkugel (ungefähr<br />

ab 30 Grad nördlicher Breite) am weitesten fortgeschritten.<br />

Deshalb wird die Welt oft in einen reichen<br />

Norden (Zentrum oder Kernregion) <strong>und</strong> einen armen<br />

Süden (Peripherie) unterteilt. Die Verteilung<br />

der Bruttosozialprodukte im Jahr 2002, ermittelt<br />

auf der Basis der Kaufkraftparität, bildet ziemlich genau<br />

die Struktur des aus Kernregion (core region), Semiperipherie<br />

(semiperipheral regions) <strong>und</strong> Peripherie<br />

(peripheral regions) bestehenden Weltsystems ab. In<br />

fast allen Ländern des Zentrums in Nordamerika, Europa<br />

<strong>und</strong> Japan lag das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt<br />

(in PPP) über 20 000 US-Dollar. Diese Zahlen<br />

wurden nur noch von Australien, Hongkong <strong>und</strong> Singapur<br />

erreicht, wo 2003 das Bruttosozialprodukt<br />

28 290 bzw. 28 810 <strong>und</strong> 24 180 US-Dollar betrug.<br />

Die jährlichen Pro-Kopf-Bruttosozialprodukte (in<br />

PPP) semiperipherer Länder wie Brasilien, Russland<br />

<strong>und</strong> Thailand betragen zwischen 7 000 <strong>und</strong> 9 000 US-<br />

Dollar, In allen übrigen Staaten (der Peripherie) liegen<br />

die Werte meist unter 5 000 US-Dollar. Zwischen<br />

den reichsten Ländern (37 500 US-Dollar Pro-Kopf-<br />

BSP in den USA <strong>und</strong> 37 300 US-Dollar in Norwegen )<br />

<strong>und</strong> den Ärmsten der Armen (530 US-Dollar in Sierra<br />

Leone, 600 US-Dollar in Malawi) besteht also eine<br />

riesige Kluft, die zudem immer weiter wächst (Abbildung<br />

8.2). Im Jahr 1970 betrugen die durchschnitt-


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 425<br />

8.2 Langfristige Entwicklung des Pro-Kopf-Bruttosozialprodukts<br />

Das Diagramm veranschaulicht das stetig wachsende<br />

Wohlstandsgefälle zwischen den reichsten <strong>und</strong> den ärmsten<br />

Teilen der Weltbevölkerung. 1960 entfielen 70,2 Prozent der<br />

weltweiten Einkommen auf 20 Prozent der Menschen. Die<br />

20 Prozent der Ärmsten hatten einen Anteil am globalen Einkommen<br />

von 2,3 Prozent. Dies entspricht einem Verhältnis von<br />

30:1. Bis 1980 stieg dieses Verhältnis auf 45:1, bis 1990 auf<br />

64:1, <strong>und</strong> 2000 lag es bei 72:1.<br />

liehen Pro-Kopf-Bruttosozialprodukte der zehn ärmsten<br />

Länder ein Fünfzigstel derjenigen der zehn reichsten<br />

Länder; 1990 hatte sich dieser Abstand bereits<br />

verdoppelt <strong>und</strong> im Jahr 2005 noch einmal auf das<br />

Verhältnis von eins zu zweih<strong>und</strong>ert vergrößert.<br />

Natürlich gibt es auch innerhalb der Kernregion<br />

sehr große regionale Unterschiede des wirtschaftlichen<br />

Entwicklungsniveaus. Die Abbildung 8.3 veranschaulicht<br />

die regionalen Unterschiede des Pro-Kopf-<br />

Bruttoinlandsprodukts im angeblich so reichen Europa<br />

im Jahre 2000. Das große Entwicklungsgefälle zwischen<br />

West- <strong>und</strong> Osteuropa sowie zwischen Nord<strong>und</strong><br />

Südeuropa gehört sicherlich zu den großen Fierausforderungen<br />

der Europäischen Union. Nicht nur<br />

in den armen, sondern auch innerhalb der meisten<br />

reichen Staaten gibt es historisch gewachsene <strong>und</strong><br />

in der zeitlichen Dimension erstaunlich stabile regionale<br />

Disparitäten des ökonomischen Entwicklungsniveaus.<br />

Ob <strong>und</strong> wie sehr diese räumlichen Disparitäten<br />

in Erscheinung treten, ist oft nur eine Frage des Maßstabs<br />

beziehungsweise der Größe der räumlichen Bezugseinheiten.<br />

Humangeographen sollten sehr skeptisch<br />

sein, wenn die Politik von einer Gleichwertigkeit<br />

8.3 Regionales Bruttoinlandsprodukt in Europa pro Einwohner 2000 (Quelle: Schüler, M.; Dessemontet, P.; Jemlin, C. Atlas des<br />

räumlichen Wandels der Schweiz. Zürich (Nzz Libro) 2007, S. 47.)


426 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

'W F m der Lebensverhältnisse spricht. Es überrascht nicht,<br />

dass die Karte der WanderungsbUanz in Europa (Abbildung<br />

3.25) fast ein Spiegelbild des ökonomischen<br />

Entwicklungsgefälles darstellt.<br />

I<br />

Räumliche Gleichwertigkeit<br />

der Lebensverhältnisse<br />

Die ungleichen Einkommensverhältnisse spiegeln<br />

sich in vielen Aspekten des menschlichen Daseins wider<br />

<strong>und</strong> sind zum Teil auch durch sie bedingt. Die<br />

Kindersterblichkeit, ein zuverlässiger Indikator für<br />

sozialen Wohlstand, zeigt ähnliche Gegensätze zwischen<br />

Zentrum <strong>und</strong> Peripherie (Abbildung 3.15)<br />

wie das Bruttosozialprodukt. In den industrialisierten<br />

Ländern ist die Lebenserwartung hoch <strong>und</strong> steigt sogar<br />

noch weiter an. Wer 2004 in Australien oder der<br />

Schweiz zur Welt kam, hatte eine Lebenserwartung<br />

von 79 Jahren; in den USA lag sie bei 77 Jahren.<br />

Wer zur gleichen Zeit in Botswana oder Malawi geboren<br />

wurde, konnte dagegen nur mit einer Lebensdauer<br />

von 38 Jahren rechnen. Die Sambier <strong>und</strong> die<br />

Menschen in Sierra Leone hatten sogar nur eine<br />

von 34 beziehungsweise 32 Jahren. In den meisten<br />

afrikanischen Staaten können nur 60 bis 75 Prozent<br />

damit rechnen, älter als 40 Jahre zu werden (Kapitel<br />

3).<br />

Die räumlichen Unterschiede der Nahrungsmittelversorgung,<br />

einem der elementarsten menschlichen<br />

Bedürfnisse, reflektieren ebenfalls das bestehende<br />

Wohlstandsgefälle. R<strong>und</strong> 800 Millionen Menschen<br />

- 12 Prozent der Weltbevölkerung - leiden zu Beginn<br />

des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts an Hunger. In Südasien hat ein<br />

Viertel der Menschen keine ausreichende Ernährung,<br />

in Afrika südlich der Sahara hungert ein Drittel der<br />

Bevölkerung. Nach der absoluten Zahl der Betroffenen<br />

ist chronischer Hunger in Asien <strong>und</strong> im pazifischen<br />

Raum am weitesten verbreitet. Die Tatsache,<br />

dass die meisten Länder in diesen Regionen mehr<br />

Nahrungsmittel exportieren als einführen, sagt viel<br />

über das globale Wirtschaftssystem aus.<br />

Sehr aussagekräftig ist auch der Index of Human<br />

Developmenty der sich aus der durchschnittlichen Lem<br />

T i? '<br />

*ocu<br />

Vj,<br />

K l<br />

17 2 12 18 27 44 22 24<br />

Häufigkeitsverteilung<br />

geringes BSP<br />

geringe Lebenserwartung<br />

geringe Alphabetisierung<br />

zwei Indikatoren<br />

gering<br />

□ keine Daten<br />

■ ■ 0,0 ¿0,3<br />

■ ■ 0,3 ¿0,4<br />

■ ■ 0,4 ¿0,5<br />

0,5 ¿0,7<br />

■ ■ 0,7 ¿0,8<br />

■ ■ 0,8 ¿0,9<br />

I B I 0,9 <strong>und</strong> mehr<br />

8.4 Index o f Human D evelopm ent 2003 Dieser Index des United Nations Development Programme - kurz UNDP - basiert<br />

auf Daten zu Lebenserwartung, Bildungschancen <strong>und</strong> persönlichem Einkommen. Ein Land, das bei allen drei Kriterien unter allen<br />

Ländern der Welt am besten abschneidet, erhält den Wert 1,0, während der Index eines Landes, das bei allen drei Indikatoren weltweit<br />

am schlechtesten abschneidet, den Wert 0,0 annehmen würde. Die meisten entwickelten Länder der Kernregion erreichen Index-<br />

Werte von 0,9 oder höher; die niedrigsten Kennzahlen - weniger als 0,4 - konzentrieren sich in Afrika. (Quelle; UNDP 2004,<br />

Kartographie: Graner 2005.)


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 427<br />

benserwartung, dem Ausbildungsniveau <strong>und</strong> dem individuellen<br />

Einkommen ergibt. Ein Index von 1,0 besagt,<br />

dass ein Land in allen drei Kategorien die höchste<br />

Punktezahl erreicht, während ein Index von 0,0 die<br />

am schlechtesten abschneidenden Länder kennzeichnet.<br />

Im Jahr 2002 erreichten Norwegen (0,956),<br />

Schweden <strong>und</strong> Australien (jeweils 0,946) sowie Kanada<br />

<strong>und</strong> die Niederlande (jeweils 0,943) die höchsten<br />

Werte des Human Development Index, am unteren<br />

Ende der Skala rangierten Burkina Faso (0,302), Niger<br />

(0,292) <strong>und</strong> Sierra Leone (0,273) (Abbildung 8.4).<br />

Das gleiche Bild wiederholt sich bei allen anderen Indikatoren,<br />

die als Maß für Entwicklung beziehungsweise<br />

Unterentwicklung herangezogen werden: Analphabetismus<br />

von Erwachsenen, Armut, Unterernährung,<br />

medizinische Versorgung, Schulbildung, Telefonanschlüsse,<br />

Internetnutzung <strong>und</strong> so weiter. Einige<br />

einfache Vergleiche zwischen den Bedürfnissen der<br />

Peripherie <strong>und</strong> Ausgaben in Ländern der Kernregionen<br />

verdeutlichen die Problematik. So kommt das<br />

UNDP (United Nations Development Programme)<br />

zu dem Ergebnis, dass die jährlichen Kosten für die<br />

Gr<strong>und</strong>schulausbildung aller Kinder in den Ländern<br />

der Peripherie sich auf r<strong>und</strong> 6 Milliarden Dollar belaufen<br />

würden. Das ist weniger, als in den USA für<br />

Kosmetika ausgegeben wird. Wollte man jeden Menschen<br />

in den armen Ländern mit Wasser <strong>und</strong> sanitären<br />

Einrichtungen versorgen, benötigte man 9 Milliarden<br />

Dollar pro Jahr, weniger als die Europäer<br />

im gleichen Zeitraum für Speiseeis ausgeben. Hätte<br />

man das Geld zur Verfügung, welches die Europäer<br />

<strong>und</strong> US-Amerikaner jährlich für Tierfutter ausgeben,<br />

könnte die medizinische Gr<strong>und</strong>versorgung <strong>und</strong> die<br />

Ernährung der Menschen in den armen Regionen<br />

der Peripherie gewährleistet werden. Die Länder<br />

des Zentrums geben in jedem Jahr r<strong>und</strong> 500 Milliarden<br />

Dollar für Rüstung aus. Mit weniger als einem<br />

Zehntel dieses Betrags könnten alle Ausgaben für<br />

Gr<strong>und</strong>schulausbildung, Wasser- <strong>und</strong> Abwasserversorgung,<br />

medizinische Versorgung, Nahrungsmittel<br />

<strong>und</strong> Programme zur Geburtenkontrolle in den Ländern<br />

der Peripherie finanziert werden.<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Chancengleichheit<br />

i der Geschlechter________________<br />

Das Gefälle zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie zeigt<br />

sich auch, wenn die wirtschaftliche Entwicklung<br />

mit der Gleichberechtigung der Geschlechter in Beziehung<br />

gebracht wird. Die UNDP hat dazu einen Index<br />

entvdckelt, der den Human Development Index an<br />

die geschlechtsspezifisch ungleiche Lebenserwartung<br />

sowie an das geschlechtsspezifisch ungleiche Ausbildungsniveau<br />

<strong>und</strong> Einkommen anpasst. Demnach gibt<br />

es kein Land auf der Erde, in dem Frauen bei diesem<br />

Index besser dastehen als Männer. Der vielleicht aufschlussreichste<br />

Indikator ist der Gender Empowerment<br />

Index der UNDP, der neben den Einkommen<br />

der Frauen auch deren Anteil in Führungspositionen<br />

in Wirtschaft, Wissenschaft, Technik <strong>und</strong> Politik<br />

misst. Wie beim Human Development Index reicht<br />

die Skala des Gender Empowerment Index von 0,0<br />

bis 1,0. Die höchsten Werte erreichten Norwegen<br />

(0,908), Schweden (0,854) <strong>und</strong> Finnland (0,82).<br />

Für viele Länder liegen keine ausreichenden Daten<br />

vor, um den Index zuverlässig zu berechnen, aber<br />

am Ende der Rangskala standen der Jemen (0,123),<br />

Saudi-Arabien (0,207) <strong>und</strong> Bangladesch (0,218).<br />

Nur 16 der 78 untersuchten Länder erreichten einen<br />

Wert von mehr als 0,7. Auch wenn ein solcher Index<br />

wegen der mangelhaften internationalen Vergleichbarkeit<br />

der Daten etwas problematisch ist, so belegt<br />

er doch die Dimension der geschlechtsspezifischen<br />

Ungleichheiten.<br />

Frauen übernehmen bei der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

zunehmend zentrale Rollen, nicht zuletzt<br />

wegen der sich verändernden Weltwirtschaft. In vielen<br />

der Peripherie zugehörigen Regionen profitieren<br />

Frauen von der fortschreitenden globalen Arbeitsteilung<br />

<strong>und</strong> den neu geschaffenen Arbeitsplätzen in Industrie<br />

<strong>und</strong> Gewerbe (Abbildung 8.5). Gerade in Ländern<br />

der Peripherie sichern vor allem die Frauen trotz<br />

fortschreitender Rezession <strong>und</strong> zunehmender Armut<br />

den Lebensunterhalt ihrer Familien. In vielen Ländern<br />

ist die Arbeitsbelastung der Frauen größer, ihr<br />

Einkommen aber niedriger als das der Männer. Im<br />

Durchschnitt verdienen Frauen für die gleiche Arbeit<br />

40 bis 50 Prozent weniger als Männer. In Afrika <strong>und</strong><br />

Asien liegen die wöchentlichen (entlohnten <strong>und</strong> nicht<br />

entlohnten) Arbeitszeiten der Frauen um 12 bis 13<br />

St<strong>und</strong>en über denen der Männer. Ein großes Problem<br />

ist außerdem die Kinderarbeit. Nach Schätzungen<br />

der International Labor Organization (ILO) werden<br />

weltweit 250 Millionen Kinder im Alter zwischen 5<br />

<strong>und</strong> 14 Jahren zum Arbeiten geschickt, viele von ihnen<br />

verrichten gefährliche Tätigkeiten (Abbildung<br />

8.6). Die ILO geht weiter davon aus, dass mehrere<br />

Millionen Kinder im mit einfachsten Mitteln betriebenen<br />

Bergbau oder in Steinbrüchen arbeiten. Die<br />

meisten dieser Kinder leben in Ländern der Peripherie,<br />

H<strong>und</strong>erttausende minderjähriger Arbeiterinnen<br />

<strong>und</strong> Arbeiter werden aber auch in den Kernregionen<br />

in Hinterhofbetrieben, für die Feldarbeit <strong>und</strong> in vielen<br />

anderen Bereichen ausgebeutet, nach Schätzungen<br />

des United Nations Childrehs F<strong>und</strong> (UNICEF)


428 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

8.5 Frauen der Peripherie <strong>und</strong> Globalisierung Die Globalisierung der Wirtschaft hat zu einer unerwartet starken Zunahme<br />

der Nachfrage nach weiblichen Arbeitskräften geführt. Die Industrialisierung in peripheren Ländern stützt sich zu einem großen Teil auf<br />

die Arbeit von Frauen, weil sie deutlich geringere Löhne bekommen als Männer. In Phasen starken Wachstums <strong>und</strong> größerer<br />

Veränderungen der Wirtschaft sind es typischerweise Frauen, die zusätzlich zu ihrer traditionellen Rolle im Haushalt einen Beitrag<br />

zum Einkommen leisten. Als Angestellte sind Frauen meist verw<strong>und</strong>barer als Männer, da sie in weit größerer Zahl in unsicheren<br />

Jobs beschäftigt sind, die zudem weniger Aufstiegsmöglichkeiten bieten.


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 429<br />

allein 1,5 Millionen in den USA. Es sei jedoch nicht<br />

verschwiegen, dass der Kampf von NGOs <strong>und</strong> Medien<br />

gegen die Kinderarbeit die Situation der Kinder<br />

in einigen Entwicklungsländern (zum Beispiel bei<br />

Teppichknüpfern in Nepal) deutlich verschlechtert<br />

hat (Abbildung 8.6).<br />

Große Firmen, die für den Export produzieren,<br />

stellen an ihren Fließbändern bevorzugt Frauen<br />

ein, weil sie für niedrigere Löhne arbeiten. Vor allem<br />

die Bekleidungsindustrie beschäftigt einen großen<br />

Teil der Frauen als Subunternehmer mit entsprechend<br />

niedrigen Löhnen <strong>und</strong> zu schlechten Konditionen.<br />

Infolge der Globalisierung steigt zudem der Anteil<br />

an Fleim-, Tele- <strong>und</strong> Zeitarbeitsplätzen. In Großbritannien<br />

wuchs deren Anteil zwischen 1965 <strong>und</strong><br />

1991 von 17 auf 40 Prozent. Ähnliche Entwicklungen<br />

sind auch anderswo zu beobachten, <strong>und</strong> in den meisten<br />

Ländern sind es Frauen, die 70 bis 80 Prozent<br />

jener Stellen innehaben. Solche Arbeitsverhältnisse<br />

bieten zwar Flexibilität für Haushalt <strong>und</strong> Familie,<br />

sie sind aber meist auch unsicher <strong>und</strong> schlecht bezahlt.<br />

Die zunehmende Beschäftigung von Frauen<br />

ist also nicht unbedingt Ausdruck abnehmender<br />

Diskriminierung.<br />

Regionale Disparitäten <strong>und</strong><br />

Besonderheiten<br />

Fehlende Ressourcen <strong>und</strong> Investitionen, ineffiziente<br />

<strong>und</strong> korrupte Systeme, kulturelle Einstellungen, parasitäre<br />

Eliten <strong>und</strong> eine hohe Zahl schlecht ausgebildeter<br />

Arbeitskräfte sind einige Gründe, warum es in vielen<br />

Regionen an wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit<br />

mangelt. In einigen Regionen sind derartige Nachteile<br />

so gravierend, dass dieser Teufelskreis kaum zu<br />

durchbrechen ist. Ein Kind aus dem mexikanischen<br />

B<strong>und</strong>esstaat Chiapas hat sehr viel geringere Zukunftsperspektiven<br />

als eines, das in Mexiko-Stadt aufwächst.<br />

In Chiapas ist die Wahrscheinlichkeit, vor<br />

dem ersten Schulbesuch zu sterben, doppelt so<br />

hoch wie in der Hauptstadt. Im Vergleich zu den<br />

Stadtkindern schafft hier nur die Hälfte einen Gr<strong>und</strong>schulabschluss.<br />

Die Zahl der Wohnungen ohne fließendes<br />

Wasser ist in Chiapas zehnmal so hoch wie in<br />

der Hauptstadt Mexikos, gleichzeitig sind in Chiapas<br />

die Löhne um 20 bis 35 Prozent niedriger; im Vergleich<br />

zu den nördlichen Landesteilen Mexikos verdient<br />

man hier sogar um 40 bis 45 Prozent weniger.<br />

Solche Beispiele finden sich überall auf der Welt.<br />

Die chinesische Provinz Gansu gehört zu den ärmsten<br />

Regionen Chinas, das Pro-Kopf-Einkommen liegt<br />

hier 40 Prozent unter dem Landesdurchschnitt. Aufgr<strong>und</strong><br />

nährstoffarmer <strong>und</strong> höchst erosionsanfälliger<br />

Böden, geringer <strong>und</strong> unregelmäßiger Niederschläge<br />

sowie begrenzter Arbeitsmöglichkeiten außerhalb<br />

der Landwirtschaft leben viele Menschen in dieser<br />

Gegend in Armut. In der argentinischen Chaco-Provinz<br />

tragen das niedrige Ausbildungsniveau <strong>und</strong> die<br />

fehlende Infrastruktur - vor allem das Fehlen <strong>und</strong><br />

der schlechte Zustand von Straßen - Mitschuld daran,<br />

dass hier das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt<br />

nur 38 Prozent des Landesdurchschnitts erreicht.<br />

Ähnlich stürzte im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert der Nordosten<br />

Brasiliens infolge des Niedergangs der Zuckerproduktion<br />

in eine Krise, von der er sich nie mehr erholte.<br />

In den USA verschwand in West-Virginia<br />

mit der zunehmenden Bedeutung von Öl <strong>und</strong> Gas<br />

die Kohleindustrie - <strong>und</strong> mit ihr auch der Wohlstand.<br />

Bis heute gehört West-Virginia zu den ärmsten<br />

Regionen der Vereinigten Staaten. In Thailand hat<br />

die eindrucksvolle ökonomische Entwicklung zu<br />

keiner Zeit die nördlichen Bergregionen <strong>und</strong> den<br />

Nordosten des Landes erreicht, wo erst 15 Prozent<br />

der Bevölkerung Lesen <strong>und</strong> Schreiben können <strong>und</strong><br />

weniger als 30 Prozent aller Dörfer eine Schule besitzen.<br />

Das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt erreicht hier<br />

nicht einmal ein Viertel des Landesdurchschnitts.<br />

Selbst wenn die Wirtschaft <strong>und</strong> der Wohlstand<br />

eines Landes insgesamt wachsen, bleiben bestimmte<br />

Regionen in der Entwicklung zurück, weil sie von<br />

den neuen Impulsen, zum Beispiel technischen Innovationen,<br />

nicht profitieren können beziehungsweise<br />

nicht die Voraussetzungen bieten, um beispielsweise<br />

für ausländische Direktinvestitionen interessant zu<br />

sein. Da bei Transformations- <strong>und</strong> Modernisierungsprozessen<br />

die jeweilige Ausgangsposition beziehungsweise<br />

der Startvorteil einer Region (Infrastruktur, Angebot<br />

an qualifizierten Arbeitskräften, unternehmerische<br />

Tradition, kulturelle Wertvorstellungen, soziale<br />

Netzwerke <strong>und</strong> so weiter) eine wichtige Rolle spielen<br />

<strong>und</strong> darüber entscheiden, ob die betreffende Region<br />

zu den Gewinnern oder Verlierern der Transformation<br />

gehört, können sich regionale Disparitäten über<br />

lange Zeit verfestigen. Nach dem Motto „wo Tauben<br />

sind, da fliegen Tauben zu“ gehören bestimmte Regionen<br />

oder Standorte bei wichtigen Innovationen<br />

oder Transformationen immer wieder zu den Gewinnern<br />

<strong>und</strong> andere zu den Verlierern, so dass ein Teufelskreis<br />

der Unterentwicklung entstehen kann, aus<br />

dem benachteiligte Regionen nur schwer wieder herausfinden.<br />

Das großräumige, sozioökonomische Entwicklungsgefälle<br />

in Europa, das durch große Nord-<br />

Süd- <strong>und</strong> West-Ost-Disparitäten gekennzeichnet<br />

ist, war in groben Strukturen schon vor 200 Jahren<br />

festzustellen. Die weitgehende Übereinstimmung


430 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.2<br />

Geographie in Beispieien - W achsende Einkom m ensdifferenzierung<br />

in Deutschiand<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Flexibilisierungsdebatte, der Öff­<br />

vom Regions- <strong>und</strong> Kreistyp sowie der betrachteten sozialen<br />

nung der Märkte <strong>und</strong> der begrenzten Kontroll- <strong>und</strong> Lenkungs­<br />

Kategorie weitere Differenzierungen<br />

funktion nationalstaatlicher Interessensvertretungen haben<br />

Parallel zum Anstieg der Armut nahm in Deutschland auch<br />

sich die Einkommen auch in Deutschland sehr unterschiedlich<br />

entwickelt. Insbesondere bei den Rentnern sowie bei je­<br />

die Zahl der „Reichen“ zu. Die Zahl der sogenannten D-Mark-<br />

Einkommensmillionäre hat sich zwischen 1961 <strong>und</strong> 1998<br />

nen Arbeitnehmergruppen, die einfache Tätigkeiten ausüben<br />

verzwanzigfacht, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich in<br />

<strong>und</strong> einem harten nationalen oder sogar internationalen<br />

diesem Zeitraum der Wert 1 Million DM um mehr als ein<br />

Wettbewerb ausgesetzt sind, nehmen die Einkommen nur<br />

Drittel verringert hat. Doch selbst wenn man den Wertverlust<br />

wenig zu. Mit dem Hinweis, dass bei hohen Lohnzuwächsen<br />

des Geldes berücksichtigt, kann man ungefähr von einer<br />

die eine oder andere Branche abwandern könnte, wird eine<br />

Versechsfachung der Zahl der Einkommensmillionäre ausge­<br />

hohe Disziplin bei Lohnabschlüssen erreicht. Dass diese<br />

hen. Die regionale Einkommensverteilung <strong>und</strong> die Standorte<br />

Argumentation nicht nur eine politisch opportune Argumenta­<br />

der Reichen in Deutschland weisen dabei eine charakteristi­<br />

tion ist, führen die Verlagerungen von Produktionen oder Pro­<br />

sche Verteilung auf. Reichtum <strong>und</strong> Wohlstand sind in den<br />

duktionsteilen in Niedriglohnregionen vor Augen. Umgekehrt<br />

deutschen Großstadtregionen zu Hause, nicht unbedingt in<br />

gelingt es den qualifizierten Arbeitnehmergruppen, insbeson­<br />

den Kernstädten <strong>und</strong> seltener in den neuen Ländern, aber<br />

dere im oberen Managementbereich, nicht nur hohe Einkom­<br />

dafür umso deutlicher in den Metropolregionen Hamburg,<br />

men zu erzielen, sondern auch deren Erhöhungen zu dynami­<br />

Frankfurt am Main <strong>und</strong> München (Abbildung 8.7a).<br />

sieren.<br />

Dementsprechend gibt es in Deutschland auch große re­<br />

Gleichzeitig ist die Zahl der armen beziehungsweise auf<br />

gionale Unterschiede in der Kaufkraft pro Haushalt (Abbil­<br />

Sozialhilfe angewiesenen Haushalte seit 1991 kontinuierlich<br />

dung 8.7b). Als Kaufkraft oder verfügbares Einkommen<br />

gestiegen. Armut wird meistens relativ gemessen. Je nach Ar­<br />

wird die Gesamtheit des Einkommens von privaten Haushal­<br />

mutsdefinition waren in Deutschland im Jahr 2003 zwischen<br />

ten aus Primäreinkommen <strong>und</strong> den monetären Sozialleistun­<br />

2,8 (Zahl der Sozialhilfeempfänger) <strong>und</strong> 11 Millionen Men­<br />

gen <strong>und</strong> sonstigen laufenden Transfers, abzüglich Einkom­<br />

schen (Personen in Haushalten mit Einkommen unterhalb<br />

mens- <strong>und</strong> Vermögenssteuern, Sozialbeiträgen <strong>und</strong> sonstigen<br />

von 60 Prozent des Durchschnitts), in jedem Fall aber<br />

laufenden Transfers verstanden. Regionale Unterschiede der<br />

über 3 Prozent der Bevölkerung von Armut betroffen. Armuts­<br />

Kaufkraft deuten an, wie viel ein Haushalt für Waren, Dienst­<br />

gefährdet sind besonders Haushalte mit alleinerziehenden<br />

leistungen, Wohnungsmiete <strong>und</strong> Mietnebenkosten ausgeben<br />

Frauen (insbesondere dann, wenn diese gleichzeitig arbeits­<br />

kann. Großräumig gesehen bestehen sowohl Süd-Nord als<br />

I<br />

I<br />

los sind), kinderreiche Familien sowie Haushalte mit einem<br />

ausländischen Hauptverdiener, die einen unsicheren Aufent­<br />

auch West-Ost-Disparitäten der Kaufkraft. Die Stadtregionen<br />

von München, Stuttgart, Frankfurt, Nürnberg <strong>und</strong> Düsseldorf<br />

haltsstatus haben. Die regionale Differenzierung von Armut<br />

weisen eine Kaufkraft auf, die fast doppelt so hoch ist wie die<br />

I<br />

i<br />

beziehungsweise Sozialhilfebezug zeigt ein großräumiges<br />

Nord-Süd-Gefälle, das in erster Linie die regionalen Dispari­<br />

der meisten ostdeutschen Kreise.<br />

täten der Langzeitarbeitslosigkeit widerspiegelt (Abbildung<br />

P. Meusburger, leicht verändert nach Nationalatlas B<strong>und</strong>esre­<br />

8.9). Darüber hinaus ergeben sich jedoch in Abhängigkeit<br />

publik Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard<br />

zwischen der regionalen Verteilung der Analphabetenquote<br />

in der österreichisch-ungarischen Monarchie<br />

<strong>und</strong> den regional unterschiedlichen Erfolgen<br />

des Transformationsprozesses nach dem Zusammenbruch<br />

des kommunistischen Systems ist eines von<br />

vielen Beispielen für die lange andauernde Persistenz<br />

sozioökonomischer Disparitäten.<br />

Wie im globalen Maßstab bildet sich auch auf regionaler<br />

Ebene eine Zentrum-Peripherie-Struktur<br />

heraus. Solche innerstaatlichen Kontraste zwischen<br />

Zentrum <strong>und</strong> Peripherie sind überall vorhanden,<br />

egal ob in Frankreich, Schweden oder den USA, im<br />

semiperipheren Südkorea oder in den Peripheriestaaten<br />

Nigeria <strong>und</strong> Indien. Besonders deutlich zeigen<br />

sich die Entwicklungs- <strong>und</strong> Einkommensunterschiede<br />

in den Ländern der früheren Sowjetunion <strong>und</strong> ihren<br />

ehemaligen Satellitenstaaten. Selbst in der reichen<br />

Schweiz (Schüler et al. 2007) oder in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland (Abbildung 8.7) gibt es große<br />

regionale Einkommens- <strong>und</strong> Kaufkraftunterschiede<br />

(Exkurs 8.2 „Geographie in Beispielen - Wachsende<br />

Einkommensdifferenzierung in Deutschland“).


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 431<br />

Verfügbares Einkommen 2002<br />

nach Kreisen<br />

Verfügbares Einkommen<br />

privater Haushalte<br />

je Einwohner in €/Jahr<br />

> 1 8 0 0 0<br />

1 6 5 0 0 - 1 8 0 0 0<br />

1 5 0 0 0 - 1 6 5 0 0<br />

1 3 5 0 0 - 1 5 0 0 0<br />

< 1 3 5 0 0<br />

Max.: Starnberg 26 706 €<br />

Min.: Oberspreewald-<br />

Lausitz 12 735 €<br />

A utor: R.Kaw ka<br />

Naiionalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

O L ■hniz-instltut für Länderk<strong>und</strong>e 2005 I B B R Bonn 2004<br />

0 25 50 75 100 km<br />

8.7 a) Regionale Unterschiede des verfügbaren Einkommens in der BRD 2002 In den alten Ländern lag das verfügbare<br />

Einkommen pro Einwohner bei 16 700 Euro, in Ostdeutschland bei 14 100 Euro. Das Maximum wurde im bayerischen Landkreis<br />

Starnberg mit 26 700 Euro erreicht. Mehrere Kreise in Mecklenburg-Vorpommern <strong>und</strong> Brandenburg lagen dagegen unter<br />

13 000 Euro. (Quelle: Kawka, R. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg (Spektrum<br />

Akademischer Verlag) 2006, S. 109.)


432 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

8.7 b) Regionale Unterschiede<br />

der Kaufkraft (Quelle: Prey, G.<br />

<strong>und</strong> Scherdin, P. In: Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Nabonalatfas B<strong>und</strong>e&repuMk Deutschlarxj<br />

O Leibniz-lnstitul für Länderkur>de 2005<br />

Datengr<strong>und</strong>fage: infas GEOdaten<br />

25 50 75 too km<br />

Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2006, S. 124).<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Erwerbstätigkeit^<br />

Der Begriff Arbeitslosigkeit ist nicht so einfach zu definieren,<br />

wie vielleicht vermutet wird. Die Berechnung<br />

von Arbeitslosenquoten variiert sehr stark<br />

von Staat zu Staat. Deshalb hat die ILO (International<br />

Labour Organization) Empfehlungen verabschiedet,<br />

die eine einheitliche Erfassung <strong>und</strong> Definition der Arbeitslosen<br />

<strong>und</strong> der Erwerbspersonen zum Ziel haben.<br />

Quelle: Faßmann & Meusburger: Arbeitsmarktgeographie 1997<br />

Demnach sind Personen, die in einem Referenzzeitraum<br />

(in der Woche der Erhebung) nicht erwerbstätig<br />

waren, innerhalb der letzten vier Wochen aktiv<br />

einen Arbeitsplatz suchten, innerhalb der nächsten<br />

zwei Wochen vermittelbar sind oder in den nächsten<br />

30 Tagen einen Arbeitsplatz einnehmen werden, als<br />

arbeitslos einzustufen. Diese Definition schränkt<br />

den Kreis der Personen, die tatsächlich keiner Erwerbsarbeit<br />

nachgehen <strong>und</strong> im umgangssprachlichen<br />

Sinn als arbeitslos gelten mögen, erheblich<br />

ein. Arbeitslosigkeit nach der ILO-Definition <strong>und</strong>


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 433<br />

Begriffe der regionalen Arbeitsmarktforschung<br />

Erwerbsbeteiligung<br />

Der Begriff „erwerbsfähige“ Bevölkerung orientiert sich ausschließlich<br />

am demographischen Kriterium des Alters <strong>und</strong> umfasst<br />

alle Personen zwischen 15 <strong>und</strong> unter 65 Jahren. Er enthält<br />

folglich keine qualitative Wertung über die tatsächliche<br />

„Erwerbsfähigkeit“.<br />

Die erwerbsfähige Bevölkerung setzt sich aus Enwerbsper-<br />

sonen <strong>und</strong> Nichterwerbspersonen zusammen. Zu den Erwerbspersonen<br />

werden all Jene Personen gerechnet, die<br />

eine mittelbar oder unmittelbar auf Erwerb ausgerichtete Tätigkeit<br />

ausüben (Beschäftigte) oder suchen (Arbeitslose). Für<br />

die Definition einer Erwerbsperson sind die geleistete Arbeitszeit<br />

<strong>und</strong> das aus der Tätigkeit erzielbare Einkommen belanglos.<br />

Hausarbeit ist zwar sicherlich mit dem Arbeitsbegriff vereinbar<br />

<strong>und</strong> kann nur schwer als Freizeittätigkeit eingestuft<br />

werden; dennoch zählen Hausfrauen oder Hausmänner nicht<br />

zu den Erwerbspersonen.<br />

Die Tatsache, dass die Definition der Erwerbspersonen sowohl<br />

Beschäftigte als auch Arbeitslose umfasst, beruht auf der<br />

neokiassischen Vorstellung, dass Arbeitslosigkeit nur eine<br />

kurzfristige Episode darstellt, die es nicht erlaubt, Arbeitslosigkeit<br />

als einen dauerhaften eigenen Erwerbsstatus anzusehen.<br />

Definitorisch zwischen den Erwerbspersonen <strong>und</strong> den<br />

Nichterwerbspersonen stehen die beiden, schwer abgrenzba-<br />

ren Kategorien „Unterbeschäftigte“ <strong>und</strong> „Stille Reserve“. Als<br />

Unterbeschäftigte bezeichnet man jene Personen, die unfreiwillig<br />

weniger arbeiten als sie wollen oder dürfen. Unterbeschäftigt<br />

sind zum Beispiel jene, die auf unbestimmte Zeit<br />

in einen unbezahlten Urlaub bei bestehendem Beschäfti-<br />

gungsverhältnis geschickt worden sind, sei es weil keine Rohstoffe<br />

vorhanden sind oder die Maschinen nicht mehr repariert<br />

werden.<br />

Die „Stille Reserve“ umfasst dagegen jene nicht erwerbstätigen<br />

Personen, die nicht als arbeitslos gemeldet sind, aber<br />

bei günstigeren Bedingungen an einer Arbeitsaufnahme interessiert<br />

wären (Hausfrauen, Personen, die „Warteschleifen im<br />

Bildungswesen“ ziehen oder Personen, die sich in geförderter<br />

beruflicher Weiterbildung befinden). Die Frage, wer zur Stillen<br />

Reserve <strong>und</strong>/oderzu den „Unterbeschäftigten“ gehört, unterliegt<br />

in starkem Maße einer subjektiven Bewertung. Diese<br />

Kategorien können, wenn überhaupt, nur im Rahmen von<br />

Mikrozensen <strong>und</strong> anderen Stichprobenerhebungen erfasst<br />

werden.<br />

Erwerbsquote<br />

Ein oft verwendeter Indikator für die Erwerbsbeteiligung ist die<br />

Erwerbsquote. Die Erwerbsquote (EQ) wird als Anteil der Erwerbspersonen<br />

(EWP) an der Wohnbevölkerung (POP) definiert.<br />

EWP<br />

Erwerbspersonenpotenzialquote<br />

Zählt man zu den Erwerbspersonen auch die „Stille Reserve“<br />

(SR) hinzu, dann gelangt man zur sogenannten Erwerbspersonenpotenzialquote<br />

(EPQ). Die Erwerbspersonenpotenzialquote<br />

misst den Anteil eines unter günstigen ökonomischen Voraussetzungen<br />

mobilisierbaren Arbeitskräfteangebots an der<br />

Wohnbevölkerung. Die Erwerbspersonenpotenzialquote ist allgemeiner<br />

als die Erwerbsquote <strong>und</strong> die wiederum umfassender<br />

als die nachfolgend zu erläuternde Erwerbstätigenquote.<br />

EPQ =<br />

Erwerbstätigenquote<br />

f w p + c/?<br />

POP<br />

* }QQ<br />

Ein dritter Indikator zur Messung einer allgemeinen oder einer<br />

regional differenzierten Erwerbsneigung ist die Erwerbstätigenquote<br />

(ETQ). Zusammen mit der Arbeitslosenquote gehört<br />

sie zu den aussagekräftigsten Indikatoren zur Beschreibung<br />

des Arbeitsmarkts. Dabei wird die Zahl der tatsächlich Erwerbstätigen<br />

durch die Wohnbevölkerung dividiert. Als Erwerbstätige<br />

gelten unselbstständig Beschäftigte, Lehrlinge,<br />

Selbständige <strong>und</strong> mithelfende Familienangehörige <strong>und</strong> zwar<br />

unabhängig von der (finanziellen) Bedeutung dieser Tätigkeit<br />

für den Lebensunterhalt, aber keine Arbeitslosen (AL).<br />

ETQ = E W P -A L<br />

POP<br />

100<br />

Altersspezifische Indikatoren der Erwerbsbeteiligung<br />

Eine auf die gesamte Wohnbevölkerung bezogene Erwerbs- oder<br />

Erwerbstätigenquote ist ein sehr allgemeines Maß, das für die<br />

genaue Erfassung <strong>und</strong> Erklärung regionaler Unterschiede der Erwerbstätigkeit<br />

wenig aussagekräftig ist. Weil Säuglinge, Kleinkinder<br />

<strong>und</strong> Schüler noch nicht <strong>und</strong> alte Menschen nicht mehr erwerbstätig<br />

sind, „verzerren“ sie den regionalen Vergleich.<br />

EWP.^<br />

- pQ p 100<br />

/= ein- oder fünfjährige Altersgruppen, j= Geschlecht, /r= Region<br />

Eine Erwerbs(tätigen)quote wird im allgemeinen für die 15-<br />

bis 65-Jährigen oder für die Wohnbevölkerung über 15 Jahre<br />

berechnet. Für spezifische Fragestellungen ist jedoch eine feinere<br />

Untergliederung der Altersgruppen notwendig. Werden<br />

Erwerbsquoten für einjährige oder fünfjährige Altersgruppen<br />

berechnet, dann können charakteristische altersspezifische<br />

Verlaufsmuster ermittelt werden.


434 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

ti<br />

Bezug von Unterstützungen aus der Arbeitslosenversicherung<br />

sind nicht das Gleiche. Die Zahl der<br />

sogenannten Leistungsbezieher aus der Arbeitslosenversicherung<br />

kann erheblich von der Zahl der Arbeitslosen<br />

abweichen. Die Abweichung kann in beide<br />

Richtungen gehen. Wer nicht aktiv einen Arbeitsplatz<br />

sucht oder wer aus unterschiedlichen Gründen nicht<br />

mehr vermittelbar ist, aber dennoch einen Anspruch<br />

auf Unterstützung vorweisen kann, der wird als<br />

Leistungsbezieher <strong>und</strong> nicht als Arbeitsloser gezählt.<br />

Umgekehrt können Personen nach der ILO-Statistik<br />

als arbeitslos gelten <strong>und</strong> dennoch keine Unterstützung<br />

erhalten. Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung<br />

kann nur der erhalten, der vorher<br />

erwerbstätig war, wobei die Dauer der Erwerbstätigkeit<br />

<strong>und</strong> damit die eingezahlten Versicherungsbeträge<br />

innerhalb Europas sehr unterschiedlich bewertet<br />

werden <strong>und</strong> sich in der nationalen Gesetzgebung<br />

auch immer wieder ändern. Absolventen einer Schule<br />

oder einer Universität können zwar als arbeitslos<br />

gelten, bekommen jedoch keine Unterstützung,<br />

weil sie vorher nicht erwerbstätig waren. Ebenso<br />

erhalten Hausfrauen (oder Hausmänner), die nach<br />

der Kindererziehung wieder eine Erwerbsarbeit<br />

aufhehmen, aber keinen Arbeitsplatz finden, keine<br />

Leistung aus der Arbeitslosenversicherung, wenn<br />

die letzte Erwerbstätigkeit zu lange zurückliegt. Aus<br />

der durchschnittlichen Zahl der Arbeitslosen eines<br />

Berichtszeitraums lässt sich eine Arbeitslosenquote<br />

bestimmen.<br />

A I<br />

ALQ = — * m<br />

E<br />

Die Arbeitslosenquote (ALQ) ergibt sich aus der Division<br />

der Arbeitslosen (AL) durch die Erwerbspersonen<br />

(E) mal 100. Die Erwerbspersonen umfassen Erwerbstätige<br />

<strong>und</strong> Erwerbslose. Erwerbstätige sind<br />

nach der ILO-Definition alle Personen (zwischen<br />

15 <strong>und</strong> 74 Jahre), die eine mittelbar oder unmittelbar<br />

auf Erwerb (Entgelt oder Sachleistung) gerichtete Tätigkeit<br />

mindestens eine St<strong>und</strong>e in der Woche ausüben.<br />

Die Höhe der Bezahlung spielt dabei keine Rolle;<br />

innerhalb eines Familienbetriebs kann die Bezahlung<br />

auch komplett entfallen.<br />

Für die Beurteilung der regionalen Arbeitslosigkeit<br />

ist neben der geographischen Zuordnung auch die<br />

Dynamik wichtig. Handelt es sich bei einer hohen Arbeitslosigkeit<br />

um eine friktionelle Sucharbeitslosigkeit<br />

oder um eine strukturell verursachte <strong>und</strong> daher lang<br />

fristige Arbeitslosigkeit? Die Zerlegung der Arbeitslosenquote<br />

in zwei Komponenten, die Zugangs- <strong>und</strong><br />

die Verbleibskomponente, kann darüber Aufschluss<br />

geben. Regionen mit einer hohen Arbeitslosigkeit,<br />

die sich auf viele Arbeitslosigkeitsepisoden mit kurzer<br />

Laufzeit verteilt, sind regionalpolitisch beurteilt günstiger<br />

als Regionen mit geringerer individueller Betroffenheit,<br />

aber langen Verbleibsdauern. Es zeigt<br />

sich dabei, dass Langzeitarbeitslosigkeit in Ostdeutschland<br />

ein großes <strong>und</strong> flächendeckend auftretendes<br />

Problem darstellt, während die westdeutschen<br />

regionalen Arbeitsmärkte durch stark differierende<br />

Arbeitslosigkeitsdauern <strong>und</strong> Zugangsquoten gekennzeichnet<br />

sind, denen unterschiedliche Konstellationen<br />

zu Gr<strong>und</strong>e liegen (Saisonarbeitsmärkte, Arbeitsmärkte<br />

in Altindustriegebieten, dynamische urbane<br />

Arbeitsmärkte).<br />

Arbeitslosigkeit in Deutschland<br />

Die B<strong>und</strong>esrepublik ist seit Jahren durch eine hohe<br />

Arbeitslosigkeit gekennzeichnet, die erst wieder im<br />

Jahre 2007 deutlich abnahm. Kurz nach der Wiedervereinigung,<br />

im Jahre 1992, waren in Deutschland<br />

r<strong>und</strong> 37 Mio. Personen erwerbstätig <strong>und</strong> fast 3<br />

Mio. arbeitslos. Zehn Jahre später (2002) hatte sich<br />

die Zahl der Arbeitslosen auf über 4 Mio. (Jahresdurchschnitt)<br />

erhöht, während die Beschäftigung<br />

auf 36,5 Mio. zurückgegangen war. Im Jahr 2004 befanden<br />

sich 4,4 Mio. in einer registrierten Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> die Beschäftigung ist auf 35,6 Mio. zurückgegangen.<br />

Der Anstieg der Arbeitslosigkeit beendete eine lang<br />

andauernde Phase wirtschaftlicher Prosperität. Anfang<br />

der 1950er-Jahre lag die Arbeitslosenquote bereits<br />

einmal deutlich über 10 Prozent (1950:11,0 Prozent),<br />

sie ist dann aber kontinuierlich zurückgegangen.<br />

Ende der 1950er-Jahre wurde ein Niveau erreicht,<br />

von dem Ökonomen meinen, es kennzeichne<br />

Vollbeschäftigung. In den 1960er-Jahren betrug die<br />

Arbeitslosenquote weniger als 1 Prozent, die Nachfrage<br />

nach Arbeitskräften überstieg das Angebot, der<br />

Arbeitsmarkt war „ausgetrocknet“ <strong>und</strong> ohne die gezielte<br />

Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften<br />

wäre das Wirtschaftswachstum deutlich begrenzt gewesen<br />

(Abbildung 8.8).<br />

Das regionale Muster der Arbeitslosigkeit in den<br />

westdeutschen Regionen folgt noch immer einem<br />

Nord-Süd-Gefälle. Die niedrigsten Quoten sind in<br />

Bayern, speziell in Südbayern, <strong>und</strong> in Baden Württemberg<br />

zu finden, die höchsten vor allem in Nordrhein-Westfalen,<br />

speziell im Ruhrgebiet, im Nordwesten<br />

Niedersachsens, in Bremen sowie im Norden<br />

Bayerns. Dieses räumliche Muster der Arbeitslosigkeit<br />

in Westdeutschland hat sich lange vor der deutschen<br />

Wiedervereinigung herausgebildet. Innerhalb<br />

Ostdeutschlands ist die Arbeitsmarktlage besonders<br />

dort sehr ungünstig, wo einerseits der Rückgang


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 435<br />

Arbeitslosenquoten 1949-2004<br />

A rbeitslosenquote in %<br />

Jahr<br />

Hinweise zur Abbildung:<br />

1948-1949: ohne Saarland <strong>und</strong> Berlin; 1950-1958: ohne Saarland. Bis 1990 nur<br />

B<strong>und</strong>esgebiet West Ab Januar 1990: Arbeitslose in Prozent der abhängig beschäftigten<br />

zivilen Erwerbspersonen (sozialversicherungspflichtig <strong>und</strong> geringfügig Beschäftigte,<br />

Beamte, Arbeitslose, ohne Soldaten). 2004 für den Monat August, ansonsten Jahresduichschnitte.<br />

8.8 Arbeitslosenquoten in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

1949 bis 2004 (Quelle: Fuchs, M. N a tio n a la tla s B <strong>und</strong>esrepublik<br />

D eutschland. A rb e it u n d Lebensstandard. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 2006, S. 42).<br />

der Industrie <strong>und</strong> der Landwirtschaft zu einem Wegfall<br />

vieler Arbeitsplätze geführt hat <strong>und</strong> andererseits<br />

kein wachsender Dienstleistungssektor diese Verluste<br />

aufgefangen hat (Abbildung 8.9).<br />

Altersspezifische Frauenerwerbstätigkeit<br />

Alterspezifische Erwerbstätigenquoten weisen besonders<br />

bei Frauen große regionale <strong>und</strong> qualifikationsspezifische<br />

Disparitäten auf Die altersspezifischen<br />

Erwerbstätigenkurven von Männern werden von<br />

deutlich weniger Faktoren beeinflusst als die von<br />

Frauen. Sie steigen nach Beendigung der Schulpflicht<br />

an, bleiben im Haupterwerbsalter auf einem hohen<br />

Niveau <strong>und</strong> sinken mit Erreichen des Pensionsalters<br />

ab. Die Verteilung ist also eingipfelig <strong>und</strong> nur gering<br />

asymmetrisch. Die altersspezifischen Erwerbsquoten<br />

der Frauen steigen ebenfalls mit Beendigung der<br />

Schulpflicht an, sinken dann jedoch aufgr<strong>und</strong> der<br />

Kleinkinder- oder Familienphase (Heirat, Geburt<br />

von Kindern) wieder ab, um dann nach Beendigung<br />

der Familienphase beziehungsweise mit dem Wiedereinstieg<br />

in die Erwerbstätigkeit wieder anzusteigen.<br />

Bei Frauen ist die altersspezifische Kurve der Erwerbstätigkeit<br />

also zweigipfelig <strong>und</strong> deutlich asymmetrisch<br />

(Abbildung 8.10)<br />

Bei der Analyse von altersspezifischen Erwerbstätigenquoten<br />

sind sowohl für Männer als auch für<br />

Frauen drei Phasen von besonderem Interesse, die<br />

im Folgenden näher erläutert werden: der Übergang<br />

vom Schulsystem ins Berufsleben, die Kleinkinderphase<br />

(Familienphase) <strong>und</strong> der Übergang vom Erwerbsleben<br />

in die Pension.<br />

Der Beginn einer Erwerbstätigkeit hängt in erster<br />

Linie vom Bildungsverhalten beziehungsweise der<br />

Länge der Ausbildungszeit ab <strong>und</strong> wird besonders<br />

bei Frauen noch durch eine Reihe von anderen demographischen<br />

Faktoren, wie zum Beispiel dem durchschnittlichen<br />

Heiratsalter, dem Alter der Frauen bei<br />

der Geburt des ersten Kindes <strong>und</strong> der Fertilität beeinflusst.<br />

Je niedriger das erreichte Ausbildungsniveau,<br />

desto früher beginnt im Allgemeinen die Erwerbstätigkeit.<br />

Diese Tendenz kann allerdings durch demographische<br />

Verhaltensweisen abgeschwächt werden.<br />

Je niedriger das Heiratsalter der Frauen ist, je jünger<br />

die Frauen bei der Geburt des ersten Kindes sind <strong>und</strong><br />

je höher die Fertilität der Frauen ist, umso niedriger<br />

sind die Erwerbstätigenquoten der Frauen nach Beendigung<br />

der Schulpflicht.<br />

Die Unterbrechung oder Beendigung der Erwerbstätigkeit<br />

während der Kleinkinder- <strong>und</strong> Familienphase.<br />

Die Begriffe Kleinkinderphase <strong>und</strong> Familienphase<br />

werden in der Literatur vielfach synonym verwendet.<br />

Falls die entsprechenden statistischen Daten<br />

verfügbar sind, empfiehlt es sich jedoch, die beiden<br />

Begriffe für unterschiedliche Sachverhalte vorzusehen,<br />

Als Kleinkinderphase sollte jene Periode bezeichnet<br />

werden, in der die Mütter nach Geburt eines<br />

Kindes ihre Erwerbstätigkeit für jenen Zeitraum unterbrechen,<br />

in dem sie Knderpflegegeld oder Karenzgeld<br />

(Mutterschaftsgeld <strong>und</strong> so weiter) erhalten.<br />

Wenn mehrere Geburten in kurzen Abständen folgen,<br />

kann sich diese Keinkinderphase über einen längeren<br />

Zeitraum erstrecken (Abbildung 8.11). Für die<br />

Messung der Dauer der Keinkinderphase wird der<br />

Indikator „Empfänger von Kinderpflegegeld“ (Karenzgeld)<br />

verwendet. Als Familienphase wird ein länger<br />

andauernder Zeitraum bezeichnet, der über das<br />

Säuglingsalter des Kindes beziehungsweise die Auszahlung<br />

des Kinderpflegegeldes (Karenzgeldes) hinausgeht.<br />

In diesem Falle unterbrechen die Frauen<br />

ihre Erwerbstätigkeit also nicht nur für die kurze<br />

Zeit, in der sie Kinderpflegegeld (Karrenzgeld) erhalten<br />

(je nach Land 1 bis 3 Jahre), sondern so lange, bis<br />

das jüngste Kind in die Schule geht oder sogar die<br />

Schule abschließt (Abbildung 8.12). Die Familienphase<br />

kann aber auch einen endgültigen Abschied<br />

der Frauen aus der Erwerbstätigkeit bedeuten. Sie<br />

kann in der Regel nur graphisch anhand des Verlaufs<br />

der Erwerbstätigenquoten abgegrenzt werden. Die<br />

Tiefe <strong>und</strong> Dauer der Familienphase hängt unter an-


436 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Unternehmensgründungen<br />

Die zunehmende Beachtung neugegründeter Unternehmen<br />

durch die Wirtschaftspolitik <strong>und</strong> die Öffentlichkeit ist darauf<br />

zurückzuführen, dass gerade von jungen Unternehmen ein<br />

wesentlicher Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung, zur<br />

Schaffung neuer Arbeitsplätze sowie zur Unterstützung der<br />

regionalen Entwicklung <strong>und</strong> des wirtschaftsstrukturellen<br />

Wandels erwartet wird <strong>und</strong> der Anteil der Selbständigen an<br />

der Erwerbsbevölkerung in den letzten Jahren wieder leicht<br />

gestiegen ist.<br />

Das Gründungsaufkommen in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland weist deutliche regionale Disparitäten auf. Die<br />

Gründungsraten für die Jahre 2002 <strong>und</strong> 2003 zeigen insbesondere<br />

im süddeutschen Raum <strong>und</strong> in den Stadtkreisen eine<br />

höhere Gründungsaktivität. Das Gründungsgeschehen fällt in<br />

Fünfjährige Uberlebensraten in der privaten Wirtschaft 2002/2003<br />

Nal<br />

Ol Autoren: J. Schmude, K. Wagner<br />

«<br />

0 25 50 75 100 km<br />

Abbildung 1 Unternehmensgründungen<br />

<strong>und</strong> Überlebensraten<br />

2002/2003<br />

Fünfjährige Überlebensraten<br />

in der privaten Wirtschaft.<br />

(Quelle: Schmude J.; Wagner,<br />

K. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Arbeit <strong>und</strong><br />

Lebensstandard. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag)<br />

2006, S. 73, Karte 4.)


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 437<br />

den neuen B<strong>und</strong>esländern - wie im ersten Nachwendejahrzehnt<br />

insgesamt - auch 2002 <strong>und</strong> 2003 noch höher aus<br />

als in den westdeutschen Kreisen. Allerdings waren die Überlebensraten<br />

der gegründeten Unternehmen in Ostdeutschland<br />

zu Beginn dieses Jahrzehnts deutlich niedriger als in Westdeutschland<br />

(Abbildung 1).<br />

Von Unternehmensgründungen wird im Allgemeinen erwartet,<br />

dass sie das Arbeitsplatzangebot erhöhen. Die Arbeitsmarkteffekte<br />

neugegrürideter Unternehmen werden allerdings<br />

etwas überschätzt. Denn einerseits werden durch Neugründungen<br />

Arbeitsplätze in bestehenden Unternehmen verdrängt<br />

(crowding-out-Effekt), andererseits haben neugegründete Unternehmen<br />

nur eine relativ geringe Überlebensrate. Es stellt<br />

sich daher die Frage, inwieweit es innerhalb einer Region<br />

einen Zusammenhang zwischen der Gründungsrate <strong>und</strong> der<br />

Überlebensrate gibt. Geht man davon aus, dass Unternehmensgründungen<br />

einem sich selbst verstärkenden Prozess<br />

unterliegen, ist zu erwarten, dass regional hohe Gründungsraten<br />

auch hohe Überlebensraten zur Folge haben. Berücksichtigt<br />

man jedoch, dass eine hohe Gründungsaktivität eine verstärkte<br />

Wettbewerbssituation hervorruft, ist ein negativer Zusammenhang<br />

zu erwarten. Dieser Wettbewerbsdruck betrifft<br />

insbesondere junge Unternehmen, in deutlich geringerem<br />

Maße auch Unternehmen, die bereits im Markt etabliert<br />

sind. Gr<strong>und</strong>sätzlich gilt jedoch, dass sich nur ein kleiner<br />

Teil der neugegründeten Unternehmen langfristig im Markt behaupten<br />

kann.<br />

Für das Entstehen, die Entwicklung, den Erfolg <strong>und</strong> das<br />

Überleben eines Unternehmens sind vielfältige Faktoren verantwortlich.<br />

Der Prozess der Unternehmensgründung umfasst<br />

verschiedene Aktivitäten, die in eine Vorgründungsphase, den<br />

Markteintritt selbst (Gründungsphase) sowie die Etablierung<br />

des Unternehmens am Markt (Nachgründungsphase) unterteilt<br />

werden können (Abbildung 2). Die Faktoren, welche diesen<br />

Prozess beeinflussen, weisen verschiedene Dimensionen<br />

Abbildung 2<br />

(Quelle: keiner 2007)<br />

Fördermaßnahmen<br />

regionalwirtschaftliche Wirkungen<br />

regionale<br />

Fördereffekte<br />

Rahmenmodell der Gründungsforschung<br />

auf: personenspezifische Wirkungen seitens der Gründerperson<br />

werden unter anderem durch psychologische <strong>und</strong> soziale<br />

Merkmale (zum Beispiel Humankapital des Gründers) verursacht;<br />

unternehmenszentrierte Wirkungen durch das neue Unternehmen<br />

sind unter anderem durch die Branchenzugehörigkeit<br />

oder Größe des Unternehmens zu erklären. Schließlich<br />

werden raumwirtschaftliche Wirkungen unter anderem durch<br />

Komponenten der Gründungsforschung<br />

------- Subjekt-orientierte Komponente--------<br />

die Gründungsinfrastruktur am gewählten Standort des Untera;<br />

c<br />

0)<br />

c<br />

o<br />

a<br />

E<br />

o<br />

CD<br />

Objekt-orientierte Komponente ■<br />

o<br />

3<br />

"O o<br />

Abbildung 3 Ausrichtungen<br />

der Gründungsforschung<br />

(Quelle: Schmude<br />

1994)


438 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

nehmens beeinflusst. Auf den individuellen Gründungsverlauf<br />

wirken darüber hinaus auch Fördermaßnahmen (zum Beispiel<br />

durch die Bereitstellung von Krediten zur Unternehmensgründung<br />

durch das Eigenkapitalhilfeprogramm (EKH) des B<strong>und</strong>es),<br />

die auf der regionalen Ebene sichtbare Fördereffekte<br />

nach sich ziehen können (zum Beispiel Erhöhung der Gründungsquote).<br />

Als Folge der Vielzahl unterschiedlicher Einflussfaktoren,<br />

die auf unterschiedlichen Ebenen (Person, Unternehmen, Region)<br />

auf den Gründungsprozess wirken, stellt sich die Gründungsforschung<br />

als interdisziplinäre Aufgabe dar. Zwar bilden<br />

ökonomische Fragestellungen noch immer den Schwerpunkt<br />

in der Gründungsforschung - <strong>und</strong> entsprechend stammen die<br />

meisten Forschungsarbeiten aus dem Bereich der Betriebswirtschafts-<br />

<strong>und</strong> Volkswirtschaftslehre. Es werden aber<br />

auch zunehmend Fragen aufgegriffen, die von Vertretern<br />

der Soziologie, Psychologie, Wirtschaftsgeographie oder<br />

Rechtswissenschaften behandelt werden. Gr<strong>und</strong>sätzlich unterscheiden<br />

sich die Arbeitsschwerpunkte primär danach,<br />

ob die Gründerperson (zum Beispiel hinsichtlich persönlicher<br />

Merkmale) oder das von ihr gegründete Unternehmen (zum<br />

Beispiel in Bezug auf seine Rechtsform) Untersuchungsgegenstand<br />

sind (Abbildung 3). In beiden Fällen ist dann eine weitere<br />

Schwerpunktsetzung möglich: Einerseits ist eine temporal<br />

ausgerichtete Betrachtungsweise unter Berücksichtigung gesellschaftlicher<br />

<strong>und</strong>/oder ökonomischer Prozesse denkbar,<br />

andererseits kann auch die Einbeziehung regionalspezifischer<br />

Faktoren vor dem Hintergr<strong>und</strong> der sozio-demographischen<br />

<strong>und</strong>/oder wirtschaftssektoralen Strukturen erfolgen. Die<br />

durchaus wünschenswerte Berücksichtigung mehrerer Faktoren<br />

<strong>und</strong> Prozesse muss oft aus forschungsökonomischen<br />

Gründen unterbleiben, ebenso weisen die Untersuchungen<br />

eine unterschiedlich tiefe fachliche (zum Beispiel hinsichtlich<br />

der Branchendifferenzierung) <strong>und</strong>/oder regionale Gliederung<br />

(zum Beispiel Kreis- oder Länderebene) auf.<br />

Bei der Berechnung von Gründungsraten ergeben sich je<br />

nach Datenbasis unterschiedliche Ergebnisse. Bei Verwendung<br />

der Beschäftigungsstatistik kann es zu einer Unterschätzung<br />

der Anzahl der Gründungen kommen, da in dieser Statistik<br />

nur die Betriebe registriert sind, die mindestens einen<br />

sozialversicherungspflichtigen Mitarbeiter beschäftigen. Der<br />

Rückgriff auf Gewerbemeldedaten kann hingegen zu einer<br />

Überschätzung des Gründungsgeschehens führen, da in dieser<br />

Datenquelle unter anderem auch Kümmerexistenzen<br />

<strong>und</strong> Scheingründungen erfasst werden, die wirtschaftlich<br />

keine Relevanz aufweisen. Unabhängig von der Datenproblematik<br />

existieren zwei Ansätze zur Berechnung von Gründungsquoten:<br />

beim labour market approach wird die Zahl der<br />

Gründungen in einer Region auf die Zahl der Erwerbstätigen<br />

bezogen. Der ecological approach hingegen setzt die Zahl<br />

der Gründungen ins Verhältnis zur Zahl der bestehenden<br />

Unternehmen. Die Wahl des Ansatzes erfolgt häufig nicht<br />

nach inhaltlichen Kriterien, sondern nach der Verfügbarkeit<br />

der Daten.<br />

j. Schmude<br />

derem vom Beruf <strong>und</strong> dem Ausbildungsniveau der<br />

Frauen (Abbildung 8.13) ab, wird aber auch vom Einkommen<br />

des (Ehe-)Partners, von den sozialen Normen<br />

<strong>und</strong> Einstellungen (Familienrollenmodelle), von<br />

kulturellen <strong>und</strong> politischen Einflüssen <strong>und</strong> dem Angebot<br />

an Einrichtungen zur Kinderbetreuung etc. beeinflusst.<br />

Die dritte „sensible“ Phase altersspezifischer Erwerbsquoten<br />

ergibt sich aus dem Übergang in den<br />

Ruhestand. In Abhängigkeit von den gesetzlichen<br />

Bestimmungen für die Auszahlung von Pensionen<br />

(Renten) <strong>und</strong> je nach der Höhe der Pensionen,<br />

kann die Erwerbstätigkeit beim Übergang in das<br />

gesetzlich vorgesehene Pensionsalter abrupt enden<br />

oder allmählich abflauen. Während in Deutschland<br />

<strong>und</strong> Österreich eine Erwerbstätigkeit von unselbstständig<br />

Beschäftigten nach Überschreiten des Pensionsalters<br />

zu einer Kürzung der Pensionen führt,<br />

sodass mit dem Pensionsalter auch die Erwerbstätigkeit<br />

abrupt endet, waren in den sozialistischen Ländern<br />

viele Pensionisten auch „im Ruhestand“ weiter<br />

berufstätig. Diese Erwerbstätigkeit im Ruhestand<br />

wurde deshalb nicht durch gesetzliche Maßnahmen<br />

eingeschränkt, weil den Regierungen der sozialistischen<br />

Länder bewusst war, dass die Höhe der Pensionen<br />

in den meisten Fällen für den Lebensunterhalt<br />

nicht ausgereicht hat. In den sozialistischen Ländern<br />

ist deshalb die Erwerbstätigenkurve der unselbstständig<br />

Erwerbstätigen langsamer abgeflacht, der<br />

Übergang von der Erwerbsarbeit in die Pension<br />

war weniger scharf <strong>und</strong> schichtspezifisch uneinheitlicher<br />

als in den sozialen Wohlfahrtsstaaten westlicher<br />

Prägung. Das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit<br />

wird außerdem noch durch zwei weitere Strukturmerkmale<br />

bestimmt. Einerseits bewirkt ein hoher<br />

Anteil von Selbstständigen ein durchschnittlich<br />

längeres Verbleiben in der Erwerbstätigkeit; andererseits<br />

lässt sich beobachten, dass Personen mit<br />

höherer Schulbildung <strong>und</strong> in leitenden Funktionen<br />

ebenfalls später in den Ruhestand treten. Deshalb<br />

ist die Erwerbstätigkeit nach der Pensionsgrenzc<br />

(zum Beispiel bei den 65- bis 70-jährigen Männern)<br />

im städtischen Arbeitsmarkt höher als im ländlichen<br />

Bereich.<br />

Die drei Phasen altersspezifischer Erwerbstätigenquoten<br />

werden erst dann sichtbar, wenn eine entsprechend<br />

feine Unterteilung der Altersgruppen vorgenommen<br />

wird. Bei einer Differenzierung der Erwerbstätigenquoten<br />

nach Einjahresgruppen lässt<br />

sich eine markant ausgeprägte Kleinkinderphase


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 439<br />

Arbeitslosenquote im April 2005<br />

nach Kreisen<br />

A utor Atlasredaktion<br />

Häufigkeitsverteilung der<br />

Arbeitslosenquote<br />

Arbeitslosenquote in %<br />

351<br />

439 Kreise<br />

Arbeitslosenquote<br />

in Prozent<br />

| B | 25,0 - 32,2<br />

2 0 .0 - 25,0<br />

i m i l 15,0-20,0<br />

12,5-15,0<br />

1 0 .0 - 12,5<br />

7,5-10,0<br />

5,0- 7,5<br />

\ Nalnnalallas B<strong>und</strong>ssrapubliK Deutschland<br />

O Leibnc-lnettuI für Länderk<strong>und</strong>e 2005 0 25 50 75 100 km<br />

8.9 Arbeitslosenquote im<br />

April 2005 Auch 16 Jahre nach<br />

der Wende ist die Arbeitslosigkeit<br />

in Ostdeutschland wesentlich<br />

höher als im Westen. (Quelle:<br />

Fuchs, M. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Arbeit <strong>und</strong><br />

Lebensstandard. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag)<br />

2006, S. 42.)


440 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Erw erbstätigenquote in %<br />

Erw erbstätigenquote in %<br />

8.10 Altersspezifische Erwerbskurven von Männern <strong>und</strong><br />

Frauen - das Beispiel Ungarn 1980 (Quelle: Meusburger, P.<br />

Zur Veränderung der Frauenerwerbstätigkeit in Ungarn beim<br />

Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft.<br />

In: Meusburger, P.; Klinger, A. (Hrsg.). Vom Plan zum<br />

Markt. Eine Untersuchung am Beispiel Ungarns. Heidelberg<br />

(Physica Verlag) 1995, 138)<br />

8.12 Die Familienphase von ungarischen Universitätsabsolventinnen<br />

1990 (Quelle: Meusburger, P. Lexikon der<br />

Geographie, Bd. 1. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag)<br />

2001, S. 361)<br />

Erw erbstätigenquote in %<br />

Anteil der Frauen, die Kindergeld beziehen, in %<br />

ä !<br />

8.11 Die Kleinkinderphase in Ungarn nach der Größe<br />

des Wohnorts der Frauen (Quelle: Meusburger, P. (1997):<br />

Spatial and Social Inequality in Communist Countries and in the<br />

First Period o f the Transformation Process to a Market Economy:<br />

The Example o f Hungary. In: Geographical Review o f Japan 70<br />

(Ser. B.), 137)<br />

nachweisen, während bei der Verwendung von Fünfjahres-<br />

oder gar Zehnjahresgruppen das Ausmaß der<br />

Unterbrechung der Erwerbstätigkeit verschleiert wird.<br />

Die Erwerbsneigung der ostdeutschen Frauen ist<br />

nach wie vor höher als die der westdeutschen. Ostdeutsche<br />

Frauen arbeiten zu einem größeren Anteil<br />

in Vollzeit <strong>und</strong> versuchen, dieses Beschäftigungsverhältnis<br />

auch aufrechtzuerhalten, wenn sie Kinder bekommen,<br />

Teilzeitarbeit spielt bei ostdeutschen<br />

Frauen eine geringere Rolle als in Westdeutschland<br />

(Abbildung 8.14). In Ostdeutschland ist die Erwerbstätigkeit<br />

der Frauen insgesamt noch wesentlich höher<br />

als in Westdeutschland. Dies ist vor allem auf den hö-<br />

8.13 Altersspezifische Erwerbskurven nach dem Ausbildungsniveau<br />

der Frauen in Ungarn 1980 (Quelle: Meusburger,<br />

P. Zur Veränderung der Frauenerwerbstätigkeit in Ungarn<br />

beim Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft zur<br />

Marktwirtschaft. In: Meusburger, P.; Klinger, A. (Hrsg.). Vom Plan<br />

zum Markt. Eine Untersuchung am Beispiel Ungarns. Heidelberg<br />

(Physica Verlag) 1995, 140)<br />

heren Anteil von vollbeschäftigten Frauen in Ostdeutschland<br />

zurückzuführen. Während der Lehrkörper<br />

an allgemeinbildenden Schulen in ganz Deutschland<br />

stark feminisiert ist, gibt es in einigen anderen<br />

hoch qualifizierten Berufen sehr große Unterschiede<br />

zwischen West- <strong>und</strong> Ostdeutschland. In den neuen<br />

Ländern ist der Frauenanteil an den niedergelassenen<br />

Ärzten deutlich höher (54,6 Prozent) als in den alten<br />

Ländern (30,3 Prozent). In der Allgemeinmedizin<br />

zeigt sich das Gefälle des Frauenanteils zwischen<br />

West- <strong>und</strong> Ostdeutschland besonders deutlich. Die<br />

Maxima des Frauenanteils werden in den Agglomerationsräumen<br />

<strong>und</strong> Kernstädten erreicht (Abbildung<br />

8.15)


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 441<br />

Vollzeitbeschäftigung von Frauen 2001<br />

8.14 Vollzeitbeschäftigung<br />

von Frauen 2001 (Quelle:<br />

Besenthal, A. et al. Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2006, S. 85)<br />

Während Ostdeutschland von 1991 bis 2003 fast<br />

tlächendeckend von einem Rückgang der Erwerbstätigen<br />

betroffen war, hat in vielen Kreisen Westdeutschlands<br />

die Zahl der Erwerbstätigen um mehr<br />

als 20 Prozent zugenommen (Abbildung 8.16).<br />

Größer als der aktuelle West-Ost-Unterschied ist<br />

der, der zwischen den wirtschaftlich starken süddeutschen<br />

Ländern <strong>und</strong> den übrigen west- <strong>und</strong> ostdeutschen<br />

Ländern besteht (Abbildung 8.17).<br />

Ressourcen <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

, Entwicklung___________________<br />

Die regionalen Besonderheiten wirtschaftlicher Entwicklung<br />

sind das Ergebnis zahlreicher Faktoren.<br />

In früheren Zeiten waren das Vorhandensein oder<br />

der Zugang zu primären Ressourcen wie Ackerland,<br />

Energiequellen oder Bodenschätzen von größter Bedeutung.<br />

Diese Einflussfaktoren spielten nicht nur für<br />

sich allein genommen eine wesentliche Rolle für die<br />

wirtschaftliche Entwicklung, sondern es war vor allem<br />

eine günstige Kombination dieser Faktoren, welche<br />

die wirtschaftliche Entwicklung förderte. Denn<br />

die Nutzung der Bodenschätze ist beispielsweise


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 443<br />

8.16 Veränderung der Zahl der Erwerbstätigen 1991 bis 2003 (Quelle: Faßmann, H.; Klagge B.; Meusburger, P. Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 2006, S. 16)


444 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

0c7 ?<br />

o<br />

/_Flensborg’ y<br />

Erwerbstätigkeit im Juni 2003<br />

anhand der sv Beschäftigten<br />

nach Arbeitsamtsbezirken<br />

i<br />

'Neu-<br />

'<br />

I<br />

Bo. Bochum .- u<br />

Do. Dortm<strong>und</strong> Emdei<br />

- —^haven<br />

Dü. Düsseldorf<br />

)■haven?<br />

Es. Essen (<br />

Gel. Gelsenkirchen<br />

O<br />

Ob. Oberhausen / Leer<br />

Reck. Recklinghausen<br />

So. Solingen J ^<br />

Wu.<br />

Wuppertal<br />

Nordhorn C<br />

'<br />

U c<br />

6 - ^ 0 , .<br />

Oldenburg ^rem ^n<br />

o '<br />

o<br />

Lüneburg<br />

o<br />

,. -Jt.'-'.ÜU-.<br />

Braunscliir»argV « M MO<br />

detju-, „<br />

W .'H a m e ln 5 k j i<br />

^ — /^DetmolcL<br />

O K<br />

n<br />

o<br />

o<br />

Stendal<br />

o<br />

o<br />

Neubrandenburg<br />

-» v 'im fa e rB d jT D o S T ^ O s o ^ t Pad erb orn/ T<br />

\ Göttingen'^ ^ Sangerhaus'en<br />

^ T ^ A 'sK " W 'C ^ - H a iie ^ ^ ^ ^ ^<br />

^Kreschede Y ? — \ V Nb«dhAu^f»n rtorthausenr, fs \ x _ d rt r # Wv V .<br />

O^.'escrteae<br />

o , ^ ,<br />

Q^r6x'--2^^QKo<br />

Bad<br />

Hcrsfeii<br />

Marburg<br />

o<br />

i . i<br />

kNeuwied -^TWetztarJ l f w f )<br />

O r l n t O "o f w ( F^r ^<br />

J.tayen f M o o tab au rK ________ _ _ _<br />

l^iser^aulern^ i ¿ j ,<br />

aartouis ^ A t ü T<br />

l O i 'O E S S j O ^ O ^ ^ * ^ ®<br />

j n \ *9sf'ai<br />

Staatsgrenze<br />

Ländergrenze<br />

Arbeitsamts-<br />

bezirksgrenze f (K )<br />

___<br />

^<br />

D<br />

■' o,<br />

o.<br />

- ■s<br />

AcsW<br />

K jr K<br />

^Hot<br />

p<br />

r ^r^<br />

^ b u rg ir? r^ f^ ^ «'a i ^ i<br />

Kassel Name des ___ HEP'!<br />

Arbeitsamts- /" ___<br />

Q<br />

ye -i, \ i A-jgsl^g<br />

bezirks<br />

Leipzig l<br />

o<br />

O<br />

\ A n ^ c h '^iS cT w aado*<br />

l } c* ' \ iT^ '' ^'ß eo r-.tjig<br />

■<br />

V—^ O ' ^<br />

^ r ^ G o b " ^ x - 4 ^ 0 ) ( O ,<br />

n L r ^ ' ^ ' ' - 0 ' '<br />

Freiburg<br />

Vii<br />

-'Schi^<br />

Autoren: D. Sogar "i^Lörrac^<br />

F. Hirschenauer<br />

7"^Ö, ort o<br />

\ . - ' / - - - V ^ 0,ryen J ^ 'a u ^ m d h ,>. Jngoisladt > Q ^<br />

ßodensee\^<br />

\ 0 - 4 ^<br />

o y O ;<br />

o<br />

V__ r ^VteKheirrif' Roseftfwti<br />

o<br />

o<br />

Traunstein«.<br />

o<br />

rEberswaldet<br />

o<br />

Frankfurt<br />

(Oder)<br />

o<br />

Erwerbstätigenquote*<br />

in Prozent<br />

' Q . .<br />

52.5- 54,9<br />

50.0- 52,5<br />

47.5- 50,0<br />

45.0- 47,5<br />

42.5- 45,0<br />

40,3-42,5<br />

* Anteil d er sv Seschäftigten<br />

an<br />

allen Einwohnern<br />

im Alter von 15<br />

bis 64 Jahre-<br />

Anzahl der<br />

SV Beschäftigten<br />

979548<br />

500000<br />

200000<br />

100000<br />

34961<br />

Im m ^ = 15000 Beschäftigten<br />

S-kA Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

© Leibniz-Institut für Länderk<strong>und</strong>e 2005<br />

0 25 50 75 100 km<br />

8.17 Erwerbstätigenquoten im Juni 2003 (Quelle: Bogai, D.; Hirschenauer, F. Nationeldtlds B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 2006, S. 31)


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 445<br />

Chile ist der w eltw eit größte Produzent<br />

von Kupfer, das mehr als ein<br />

Drittel zum Bruttosozialprodukt des<br />

Landes beiträgt. Der Tagebau von<br />

Chuquicamata ist mit mehr als<br />

drei Kilom eter Länge, über zwei<br />

Kilometer Breite <strong>und</strong> fast 800 M eter<br />

Tiefe das größte künstliche Loch<br />

der Erde.<br />

Die Ö lreserven der Vereinigen<br />

Staaten belaufen sich auf 22 352<br />

M illionen Barrel. Dennoch gehört<br />

das Land zu den Ölim porteuren.<br />

Die weltw eit größten<br />

Reserven von mehr<br />

als 15 w ichtigen<br />

M ineralien, darunter<br />

M olybdän, Titan <strong>und</strong><br />

W olfram, liegen<br />

in China.<br />

/ '<br />

In der brasilianischen<br />

Carajäs-Region, einem<br />

Bergbaugebiet inmitten des<br />

Am azonasbeckens, lagern<br />

18 Milliarden Tonnen<br />

hochw ertiges Eisenerz.<br />

kuKivierbare Fiäche<br />

EUROPA<br />

Indonesien verfügt über<br />

bedeutende Ölreserven<br />

<strong>und</strong> ist der w eltw eit<br />

größte Exporteur<br />

flüssigen Erdgases. D as<br />

Land besitzt außerdem<br />

bedeutende Kohle-,<br />

Bauxit- <strong>und</strong><br />

Nickelvorkomm en.<br />

Indien verfügt über die viertgrößten<br />

Chrom- <strong>und</strong> Graphitvorkomm en, die<br />

fünftgrößten Bauxitreserven <strong>und</strong> die<br />

sechstgrößten Eisenerzlagerstätten der<br />

Erde.<br />

Sam bia ist der fünftgrößte<br />

Kupferproduzent der W elt. 90 Prozent<br />

der Exporteinnahm en stamm en aus<br />

den staatseigenen Kupferminen.<br />

In Südafrika lagern etw a 50<br />

Prozent der bekannten G oldreserven<br />

<strong>und</strong> 85 Prozent der<br />

Platinvorkom m en. Hier finden<br />

sich die w eltw eit reichsten<br />

Chrom- <strong>und</strong> M anganlagerstätten.<br />

Insgesam t entfallen r<strong>und</strong> zehn<br />

Prozent des Bruttosozialprodukts<br />

<strong>und</strong> 60 Prozent der<br />

Exporterlöse auf die Ausbeute<br />

m ineralischer Rohstoffe.<br />

Fast 80 Prozent d er Exporteinnahmen<br />

der Republik Kongo stamm en aus<br />

dem Export von Kupfer, Kobalt <strong>und</strong><br />

Diamanten. Dennoch beträgt die Kupfer<strong>und</strong><br />

Kobaltproduktion heute nur noch ein<br />

Zehntel des ursprünglichen Um fangs.<br />

Ethnische Konflikte <strong>und</strong> kriegerische<br />

Auseinandersetzungen führten zur<br />

Abwanderung spezialisierter Fachkräfte,<br />

zur Verschuldung der Unternehmen <strong>und</strong><br />

zur Verwahrlosung der technischen<br />

Anlagen.<br />

8.18 Ungleiche Verteilung der globalen Ressourcen Einige Länder sind in der vorteilhaften Lage, über eine breite Basis an<br />

eigenen Energievorkommen, mineralischen Lagerstätten <strong>und</strong> landwirtschaftlichen Nutzflächen zu verfügen. Andere Länder haben nur<br />

begrenzte natürliche Ressourcen, sodass ihre wirtschaftliche Entwicklung im Wesentlichen auf der Produktion von Gütern oder der<br />

Bereitstellung von Dienstleistungen basiert <strong>und</strong> sie ihren Bedarf an fossilen Brennstoffen, mineralischen Rohstoffen <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />

überwiegend aus Exporteinnahmen decken müssen. (Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion<br />

Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung „Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion^^ Map Design sind eingetragene<br />

Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967, 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

ohne ausreichende Deckung des Energiebedarfs unmöglich<br />

{Abbildung 8.18). Die Rohstoffbasis ist<br />

eine wichtige Voraussetzung wirtschaftlicher Entwicklung<br />

<strong>und</strong> hat ganz wesentlich die Entstehung früher<br />

Standorte der Eisen- <strong>und</strong> Stahlindustrie beeinflusst<br />

(Abbildung 8.19). Ein Mangel an eigenen Ressourcen<br />

kann jedoch durch Rohstoffimporte ausgeglichen<br />

werden. Spätestens Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde<br />

deutlich, dass sogenannte Humanressourcen, also<br />

eine gut ausgebildete Bevölkerung, kompetente Eliten<br />

<strong>und</strong> ein hohes Niveau von Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

mindestens gleich wichtig sein können wie Bodenschätze.<br />

Sonst hätten Länder wie die Schweiz, Japan,<br />

Singapur oder Liechtenstein, denen fast alle Rohstoffe<br />

für eine erfolgreiche Industrialisierung <strong>und</strong><br />

auch Kohle oder Erdöl fehlen, nicht ein derart hohes<br />

wirtschaftliches Niveau erreichen können. Wenn<br />

wirklich Rohstoffe <strong>und</strong> Energiereserven die entscheidende<br />

Rolle spielen würden, hätte die Sowjetunion<br />

einer der reichsten Staaten der Welt sein müssen.


446 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

-r .<br />

8.19 Braunkohletagebau in Deutschland Braunkohle entsteht unter mäßigem Druck aus Torf. Sie macht etwa 45 Prozent aller<br />

Kohlevorkommen der Erde aus. Ein großer Teil der Reserven blieb bisher unberührt, da die Braunkohle im Vergleich zur Steinkohle<br />

einen geringeren Heizwert hat. In einigen Regionen wird die Braunkohle aber aus Mangel an alternativen Brennstoffen intensiv<br />

abgebaut. Vor allem in Deutschland, wo sie in mächtigen, bis zu 30 Meter dicken Schichten dicht unter der Erdoberfläche lagert, kann<br />

sie leicht <strong>und</strong> kostengünstig gewonnen werden.<br />

•>sU<br />

• -tifi<br />

Rückblickend muss wohl festgestellt werden, dass<br />

die Wirtschaftswissenschaften <strong>und</strong> auch einige Wirtschaftsgeographen<br />

zu lange auf den Reichtum an natürlichen<br />

Rohstoffen geblickt <strong>und</strong> die Bedeutung von<br />

hoch qualifizierten Erwerbstätigen <strong>und</strong> kompetenten<br />

funktionalen Eliten unterschätzt haben. An diesem<br />

Defizit nicht ganz unschuldig sind die neoklassischen<br />

ökonomischen Theorien <strong>und</strong> jene Wirtschaftsgeographen,<br />

welche zu lange an diesen Theorien festgehalten<br />

haben, welche bekanntlich vom Homo oeconomicus<br />

<strong>und</strong> der Ubiquität (allgemeinen Zugänglichkeit)<br />

des Wissens ausgegangen sind. Dabei hat schon der<br />

deutsche Reformator Philipp Melanchthon (1497-<br />

1565) daraufhingewiesen, dass, wer Schulen gründet<br />

<strong>und</strong> die Wissenschaften pflegt, sich um sein Volk <strong>und</strong><br />

die ganze Nachwelt besser verdient macht, als wenn er<br />

neue Silber- <strong>und</strong> Goldadern fände.<br />

Die Wechselbeziehung zwischen Wissen <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Entwicklung war immer vorhanden, hat<br />

sich aber in Europa seit dem 13. Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend<br />

verstärkt. Ab der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

wurde die Wirtschaft, vor allem die Chemie-, Elektro<strong>und</strong><br />

Maschinenindustric zunehmend „verwissenschaftlicht“,<br />

weil nun Forschungsergebnisse, neue<br />

Technologien <strong>und</strong> Patente zunehmend über die<br />

Wettbewerbsfähigkeit entschieden. Innovationen<br />

wurden zum Schlüssel für den wirtschaftlichen Erfolg,<br />

zumal die Produkt- <strong>und</strong> Profitzyklen immer<br />

kürzer wurden. Seit den 1980er-Jahren sind das Wissen<br />

<strong>und</strong> die Qualifikationen der Mitarbeiter zum<br />

wichtigsten strategischen Wettbewerbsfaktor geworden.<br />

Diese Zusammenhänge zwischen Humanressourcen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Entv^cklung sind allerdings<br />

nicht linear, sondern sehr komplex.<br />

Tabelle 8.1<br />

Länder vom Weltmarkt<br />

Die Abhängigkeit verschiedener afrikanischer<br />

Anteil der<br />

Primärgüter<br />

an den Exporteinnahmen<br />

(in Prozent)<br />

Anteil des wichtigster;<br />

mineralischen<br />

Rohstoffs<br />

an den Exporteinnahmen<br />

(in Prozent)<br />

Mauretanien 99,9 Eisenerz (45,0)<br />

Namibia 95,0 Diamanten (40,0)<br />

Niger 97,7 Uran (85,0)<br />

Sierra Leone 63,2 Diamanten (32,0)<br />

Togo 83,3 Phosphat (47,0)<br />

Demokratische<br />

Republik Kongo<br />

68,7 Kupfer (58,0)<br />

Sambia 99,7 Kupfer (98,0)


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 447<br />

Der Hinweis auf die große Bedeutung der Humanressourcen<br />

soll nicht den Eindruck erwecken, dass<br />

Rohstoffvorkommen unwichtig sind. Insbesondere<br />

für die Handelsbilanz spielen sie eine wichtige Rolle<br />

(Tabelle 8.1). Periphere Staaten wie Saudi-Arabien,<br />

die Vereinigten Arabischen Emirate <strong>und</strong> andere Erdöl<br />

exportierende Länder verdanken ihren Reichtum,<br />

ihre rasche wirtschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> ihre<br />

im globalen Maßstab bedeutsame strategische <strong>und</strong><br />

politische Position vor allem ihren Rohstoffvorkommen.<br />

Die Humanressourcen der rohstoffreichen Länder<br />

beeinflussen jedoch die Frage, wer die wichtigsten<br />

Nutznießer dieser Vorkommen sind, ob ausländische<br />

Konzerne <strong>und</strong> korrupte einheimische Eliten den<br />

Hauptgewinn einstreichen, oder ob ein größerer<br />

Teil der Einkommen aus dem Ressourcenabbau in<br />

die Entwicklung des eigenen Landes fließen.<br />

Energie<br />

Ein wirtschaftlich besonders bedeutender Rohstoff ist<br />

Energie. Die weltweit wichtigsten Energierohstoffe -<br />

Erdöl, Erdgas <strong>und</strong> Kohle - sind sehr ungleich auf der<br />

Erde verteilt. Die meisten Volkswirtschaften der<br />

Kernregion sind hinsichtlich der Energiegewinnung<br />

in einer günstigen Position, problematischer ist die<br />

Situation in Japan <strong>und</strong> einigen anderen Regionen,<br />

ln den am wenigsten entwickelten Ländern der Peripherie<br />

dagegen ist Energie Mangelware. Die wichtigsten<br />

Ausnahmen sind die Erdöl produzierenden Länder<br />

Algerien, Ecuador, Gabun, Indonesien, Libyen,<br />

Nigeria, Venezuela <strong>und</strong> die Golfstaaten. Wegen ihrer<br />

ungleichen Verteilung sind Energierohstoffe zu<br />

einem wichtigen Bestandteil des Welthandels geworden.<br />

Herausgehobene Bedeutung besitzt das Erdöl,<br />

das im Jahr 2004 bezogen auf den Wert 12 Prozent<br />

des gesamten Handelsvolumens ausmachte.<br />

Für viele Länder der Peripherie stellen RohstofFimporte<br />

zur Energieerzeugung eine schwere Bürde dar.<br />

Man vergegenwärtige sich etwa das Dilemma, in dem<br />

Indien, Ghana, Paraguay, Ägypten oder Armenien<br />

stecken. In diesen Ländern betrugen im Jahr 2004<br />

die Ausgaben für die Einfuhr von Energierohstoffen<br />

mehr als ein Viertel des Werts aller exportierten Waren<br />

<strong>und</strong> Güter. Wenige Staaten der wirtschaftlichen<br />

Peripherie können sich den Energieverbrauch von Industriestaaten<br />

leisten, sodass das räumliche Verteilungsmuster<br />

des Energieverbrauchs recht genau<br />

die innerhalb der Weltwirtschaft bestehende Kluft<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie abbildet. Im<br />

Jahr 2004 war der Pro-Kopf-Energieverbrauch in<br />

Nordamerika mehr als dreißig Mal so hoch wie in Indien<br />

<strong>und</strong> fast sechzig Mal so hoch wie in den afrikanischen<br />

Ländern südlich der Sahara (Abbildung<br />

8.20). Die reichen Länder der Erde, in denen 15 Prozent<br />

der Weltbevölkerung leben, verbrauchen zusammen<br />

die Hälfte der Energie <strong>und</strong> pro Kopf zehn Mal<br />

mehr als die ärmeren Staaten.<br />

In diesen Zahlen nicht berücksichtigt ist der Gebrauch<br />

von Holz oder anderen traditionellen Brennstoffen,<br />

die zum Kochen, Heizen, für Licht <strong>und</strong> teilweise<br />

auch in der Industrie verwendet werden. Insgesamt<br />

dürfte die Nutzung solcher Energieträger r<strong>und</strong><br />

ein Fünftel des weltweiten Energieverbrauchs ausmachen.<br />

In Teilen von Afrika <strong>und</strong> Asien beläuft sich ihr<br />

Anteil auf bis zu 80 Prozent der insgesamt genutzten<br />

Energie. Dies unterstreicht einen weiteren Unterschied<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie. Während<br />

hohe Investitionen in die Exploration <strong>und</strong> Ausbeutung<br />

von Rohstoffen zur Energiegewinnung viele Industrieländer<br />

in die Lage versetzen, den eigenen Energiebedarf<br />

durch einen Mix aus Kohle, Erdöl, Erdgas,<br />

8.20 Rush bour-Verkehr in Alameda County In den USA ist<br />

der Benzinverbrauch pro Kopf der Bevölkerung extrem hoch,<br />

auch weil die Regierung den Benzinpreis niedrig hält.


448 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Wasserkraft <strong>und</strong> Atomenergie vollständig zu decken,<br />

sind 1,5 Milliarden Menschen in peripheren Ländern<br />

auf das Sammeln von Holz als hauptsächliche Energiequelle<br />

angewiesen. Das Sammeln <strong>und</strong> Schlagen<br />

von Brennholz trägt in großem Umfang zur Entwaldung<br />

bei. Besonders gravierend ist das Problem in<br />

dicht bevölkerten, ariden <strong>und</strong> semiariden Gebieten<br />

sowie in Bergregionen in kühleren Klimaten, wo Wälder,<br />

Strauch- <strong>und</strong> andere Gehölzformationen nur<br />

langsam nachwachsen. Fast 100 Millionen Menschen<br />

in 22 Ländern (16 davon in Afrika) können trotz<br />

Übernutzung <strong>und</strong> Abholzung der verbleibenden Wälder<br />

noch nicht einmal ihren geringsten Energiebedarf<br />

decken.<br />

Landwirtschaftlich nutzbare Flächen<br />

Die räumliche Verteilung landwirtschaftlich nutzbarer<br />

Flächen ist ein weiterer wichtiger Faktor ökonomischer<br />

Entwicklung. Weit mehr als die Hälfte der<br />

Landfläche ist für jegliche Art von Ackerbau ungeeignet,<br />

wie die Abbildung 8.21 veranschaulicht. Nährstoffarme<br />

Böden, kurze Vegetationsperioden, arides<br />

Klima, bergiges Gelände, Wälder <strong>und</strong> Schutzgebiete<br />

limitieren die Landwirtschaft in weiten Teilen der<br />

Erde. Kultivierbare Flächen sind folglich höchst ungleich<br />

verteilt, sie konzentrieren sich in Europa, in der<br />

Mitte <strong>und</strong> im Westen Russlands, im östlichen Nordamerika,<br />

den Küstenregionen Australiens, in Lateinamerika,<br />

Indien, Ostchina <strong>und</strong> in Teilen Afrikas südlich<br />

der Sahara. Natürlich spielen bei genauer Betrachtung<br />

manche dieser Regionen nur eine geringe<br />

Rolle für die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte,<br />

seien es Marschgebiete aufgr<strong>und</strong> salzhaltiger<br />

Böden oder wegen anderen ungünstigen Bedingungen.<br />

Andererseits können die Grenzen produktiven<br />

Ackerbaus zum Beispiel mithilfe von Bewässerung<br />

lokal überschritten oder ausgeweitet werden.<br />

Zu berücksichtigen ist ferner, dass kultivierbares<br />

Land nicht überall gleich gut für Ackerbau geeignet<br />

ist. Dieser Umstand führt zum Konzept der Tragfähigkeit<br />

landwirtschaftlicher Flächen: der maximalen<br />

Bevölkerung, die an einem bestimmten Ort in einer<br />

Weise langfristig ernährt werden kann, dass die Nutzung<br />

der Ressourcen <strong>und</strong> die Erzeugung von Abfall<br />

nachhaltig geschieht, das heißt die Produktion dieser<br />

<strong>und</strong> aller anderen Orte <strong>und</strong> Regionen nicht beeinträchtigt.<br />

Die Beschäftigung mit damit zusammenhängenden<br />

Fragen hat zu einer Betonung der nachhaltigen<br />

Entwicklung geführt. Das Konzept der nachhaltigen<br />

Entwicklung (sustainable development) zielt<br />

darauf ab, ein Gleichgewicht zwischen Wirtschaftswachstum,<br />

Umwelteinwirkungen <strong>und</strong> sozialer Gerechtigkeit<br />

herzustellen, ln der Praxis bedeutet nachhaltige<br />

Entwicklung, dass wirtschaftliches Wachstum<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Wandel nur erfolgen sollten,<br />

wenn keine gravierenden Umwelteinwirkungen damit<br />

verb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> die sozialen Auswirkungen<br />

zwischen allen Bevölkerungsgruppen <strong>und</strong> Regionen


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 449<br />

gerecht verteilt sind. Nachhaltige Entwicklung heißt,<br />

die Ansprüche <strong>und</strong> Bedürfnisse der heutigen Generation<br />

in einer Weise zu befriedigen, die es zukünftigen<br />

Generationen erlaubt, ihre Bedürfnisse in der gleichen<br />

Weise zu befriedigen. Das Konzept geht von<br />

der Vorstellung einer Zukunft aus, in der höhere Lebensqualität<br />

erreicht wird, ohne die Grenzen der<br />

Tragfähigkeit lokaler <strong>und</strong> regionaler Ökosysteme zu<br />

überschreiten (Exkurs 8.3 „Geographie in Beispielen<br />

- Nachhaltige Entwicklung“).<br />

Industrielle Ressourcen<br />

Ein großer Teil der weltweit wichtigsten Energierohstoffe<br />

findet sich konzentriert in Russland, den USA,<br />

Kanada, Südafrika <strong>und</strong> Australien. In den Vereinigten<br />

Staaten lagern beispielsweise 42 Prozent der bekannten<br />

Kohlenwasserstoffvorräte (Öl, Gas <strong>und</strong> Ölschiefer),<br />

38 Prozent der Braunkohlevorkommen (Kraftwerke),<br />

38 Prozent der Molybdänreserven (Legierungen)<br />

<strong>und</strong> 21 Prozent der Bleilagerstätten (Batterien,<br />

Benzin. Maschinenbau), außerdem 19 Prozent des<br />

Kupfers (Elektroindustrie, Münzen), 18 Prozent<br />

der Steinkohlevorräte (Kraftwerke, chemische Industrie)<br />

<strong>und</strong> 15 Prozent der Zinklagerstätten. Russland<br />

verfügt über 68 Prozent des Vanadiums (Legierungen),<br />

50 Prozent der Braunkohle, 38 Prozent der<br />

Steinkohle, 35 Prozent des Mangans, 25 Prozent<br />

des Eisens <strong>und</strong> 19 Prozent der globalen Kohlenwasserstoffvorräte.<br />

Die Konzentration von Rohstoffen in einigen wenigen<br />

Ländern hat vor allem geologische Ursachen,<br />

sie ist aber auch an die nationale politische <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Entwicklung geknüpft. Die politischen Instabilitäten<br />

in vielen der postkolonialen Länder Afrikas,<br />

Asiens <strong>und</strong> Südamerikas haben die Erk<strong>und</strong>ung<br />

<strong>und</strong> den Abbau von Rohstoffen stark behindert.<br />

Demgegenüber waren Wohlstand <strong>und</strong> die politische<br />

Stabilität in den Vereinigten Staaten der Gr<strong>und</strong> für<br />

die weitaus intensivere Nutzung der Rohstoffe. Ebenso<br />

wichtig ist, dass die Bedeutung gewisser Rohstoffe<br />

immer an bestimmte Technologien geb<strong>und</strong>en ist. Infolge<br />

eines technologischen Wandels kann sich die<br />

Nachfrage nach bestimmten Rohstoffen verringern<br />

oder erhöhen, sodass die Landkarte des wirtschaftlichen<br />

Rohstoffpotenzials von Zeit zu Zeit neu gezeichnet<br />

werden muss. Dies geschah beispielsweise in den<br />

1950er- <strong>und</strong> 1960er-Jahren in der Textilindustrie. Als<br />

die massenhaft verarbeiteten Naturfasern Wolle <strong>und</strong><br />

Baumwolle von synthetischen Produkten abgelöst<br />

wurden, mussten sich viele Baumwollfarmer im Süden<br />

der USA auf den Anbau anderer Feldfrüchte verlegen.<br />

Für Orte <strong>und</strong> Regionen, die wirtschaftlich stark<br />

von einem einzelnen Rohstoff abhängig sind, kann<br />

ein Technologiewandel besonders einschneidende<br />

Konsequenzen haben; sie besitzen außerdem eine<br />

hohe Vulnerabilität hinsichtlich der Schwankungen<br />

von Preisen für ihre wenigen Haupterzeugnisse<br />

auf dem Weltmarkt. Beides ist von besonderer Bedeutung<br />

für Länder, deren Volkswirtschaften in hohem<br />

Maß von Nicht-Brennstoff-Mineralen abhängig<br />

sind, zum Beispiel die Demokratische Republik<br />

Kongo (Kupfer), Mauretanien (Eisenerz), Namibia<br />

(Diamanten), Niger (Uran; Abbildung 8.22), Sierra<br />

Leone (Diamanten), Togo (Phosphat) <strong>und</strong> Sambia<br />

(Kupfer).<br />

8.22 Abhängigkeit von Rohstoffen<br />

Uranabbau in Arlit, Niger. Der<br />

größte Teil der Exporterlöse von<br />

Niger kommt aus dem Uranbergbau.


4 5 0 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.3<br />

Geographie in Beispielen - Nachhaltige Entwicklung<br />

Im Jahr 1987 veröffentlichte die World Commission on Environment<br />

and Development unter dem Vorsitz der früheren<br />

norwegischen Premierministerin Gro Harlem Br<strong>und</strong>tland einen<br />

Bericht, Our common Future, in dem auf die Zunahme <strong>und</strong> den<br />

Zusammenhang von ökologischen <strong>und</strong> ökonomischen Krisen<br />

hingewiesen wird <strong>und</strong> der ein eindringliches Plädoyer für die<br />

Gr<strong>und</strong>sätze nachhaltiger Entwicklung enthält - einer Entwicklung,<br />

welche die gegenwärtigen Bedürfnisse <strong>und</strong> Ansprüche<br />

befriedigt, ohne die Fähigkeit zukünftiger Generationen einzuschränken,<br />

dies in gleicher Weise tun zu können.<br />

Die Bedeutung von Nachhaltigkeit ist überzeugend in dem<br />

Konzept „Ökologischer Fußabdruck“ beschrieben, der ein Maß<br />

für die Einwirkungen des Menschen auf seine natürliche Umwelt<br />

ist. In dieses Konzept werden auch die Nutzung erneuerbarer<br />

Energiequellen <strong>und</strong> Aktivitäten, die zur Verschmutzung<br />

beitragen, einbezogen. Es handelt sich um eine quantitative<br />

Schätzung der biologisch produktiven Gebiete, die erforderlich<br />

sind, um die notwendigen Ressourcen (Nahrungsmittel, Energie<br />

<strong>und</strong> Materialien) zu gewinnen <strong>und</strong> die Abfallprodukte jedes<br />

Einzelnen, einer Stadt, einer Region oder eines Landes aufzunehmen<br />

<strong>und</strong> umzuwandeln. Der ökologische Fußabdruck eines<br />

Landes oder einer Region ändert sich in Abhängigkeit von der<br />

Bevöikerungszahl, dem durchschnittlichen Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch<br />

<strong>und</strong> der Ressourcenintensität der verwendeten<br />

Technologien. In den späten 1970er-jahren überschritt der<br />

ökologische Fußabdruck der Menschheit erstmals die Nachhaltigkeitsmarke<br />

<strong>und</strong> ist seither als nicht nachhaltig einzustufen;<br />

im Jahr 2003 war er r<strong>und</strong> 30 Prozent größer als die Kapazität<br />

der Erde, die biologische Produktion dauerhaft aufrechtzuerhalten.<br />

Mit 9,57 Flektar pro Person haben die USA<br />

derzeit den größten ökologischen Fußabdruck des Planeten.<br />

Andere Länder mit extrem großen ökologischen Fußabdrücken<br />

sind unter anderem die Vereinigten Arabischen Emirate, Kanada,<br />

Norwegen, Neuseeland, Kuwait, Schweden <strong>und</strong> Australien.<br />

Länder mit dem kleinsten ökologischen Fußabdruck, zwischen<br />

0,5 <strong>und</strong> 0,75 Flektar pro Person, sind Bangladesch, Bur<strong>und</strong>i,<br />

Äthiopien, Flaiti, Malawi, Nepal <strong>und</strong> Pakistan.<br />

Nachhaltige Entwicklung bedeutet:<br />

• die natürlichen Vorräte so zu nutzen, dass diese nicht erschöpft<br />

oder degradiert werden, zum Beispiel durch den<br />

verstärkten Einsatz von Sonnenenergie, Erdwärme <strong>und</strong> wiedergewonnener<br />

(recycelter) Materialien;<br />

• Wirtschaftssysteme so auszulegen, dass alle - physikalischen<br />

<strong>und</strong> menschlichen - Ressourcen optimal genutzt<br />

werden, <strong>und</strong> diese Systeme so zu regulieren, dass der Nutzen<br />

von Entwicklung möglichst gerecht verteilt ist (<strong>und</strong> zumindest<br />

keine Armut als Folge von Umweltschädigungen<br />

entsteht);<br />

• die Gesellschaft so zu organisieren, dass bessere Schulbildung,<br />

Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge <strong>und</strong> soziales Wohlergehen zu<br />

einem gesteigerten Bewusstsein <strong>und</strong> einer erhöhten Sensibilität<br />

gegenüber Umweltfragen sowie zu mehr Lebensqualität<br />

beitragen können.<br />

Ein weiterer, radikalerer Aspekt nachhaltiger Entwicklung ist<br />

die Abwendung von einer umfassenden Globalisierung <strong>und</strong><br />

die Flinwendung zu einer verstärkten „Lokalisierung“: einem<br />

Bedürfnis, zu stärker lokal verankerten Wirtschaftsformen,<br />

1<br />

Die ökonomische Struktur von<br />

I Ländern <strong>und</strong> Regionen_______<br />

Unter der ökonomischen Struktur versteht man die<br />

relativen Anteile der primären, sek<strong>und</strong>ären, tertiären<br />

<strong>und</strong> quartären Wirtschaftsbereiche eines Landes oder<br />

einer Region. Der primäre Sektor bezieht sich direkt<br />

auf die Nutzung natürlicher Ressourcen einschließlich<br />

Landwirtschaft, Bergbau, Fischereiwesen <strong>und</strong><br />

Forstwirtschaft. Dem sek<strong>und</strong>ären Sektor werden<br />

die Aufbereitung, die Be- <strong>und</strong> Verarbeitung von Rohstoffen<br />

des Primärsektors zugeordnet. Dazu gehören<br />

auch die Produktion, Veredlung <strong>und</strong> Verpackung industrieller<br />

Güter. Der sek<strong>und</strong>äre Sektor umfasst beispielsweise<br />

die Stahlherstellung, die Produktion von<br />

Automobilen, von Möbeln, Textilien <strong>und</strong> Bekleidungen<br />

oder auch die Erzeugung von Nahrungsmitteln.<br />

Zum tertiären Sektor gehören der Groß- <strong>und</strong> Einzelhandel,<br />

persönliche Dienstleistungen, zum Beispiel<br />

Friseure, die Unterhaltungsindustrie <strong>und</strong> kommerzielle<br />

Dienstleister wie Buchhaltung oder Werbung.<br />

Im quartären Sektor sind Wirtschaftsklassen, in denen<br />

vorwiegend Wissen <strong>und</strong> Information ausgetauscht<br />

werden. Als Beispiele wären hier Datenverarbeitung,<br />

Informationsberufe, Bildungssysteme sowie<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung zu nennen. So wichtig<br />

diese Gliederung nach Sektoren für manche wirtschaftsgeographische<br />

Fragestellungen ist, so problematisch<br />

ist ihre statistische Erfassung. Optima!<br />

wäre eine statistische Erfassung der Tätigkeit der Erwerbstätigen,<br />

vielfach wird jedoch nur der Betrieb als<br />

ganzer einer Wirtschaftsklasse zugeordnet.


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 451<br />

in welchen Produktion, Verbrauch <strong>und</strong> Entscheidungen sich an<br />

lokalen Bedürfnissen <strong>und</strong> Bedingungen orientieren können. So<br />

gesehen, scheint nachhaltige Entwicklung ein ausgesprochen<br />

vernünftiges, gleichzeitig aber utopisches Konzept zu sein. In<br />

den frühen 1990er-Jahren wurde intensiv über Nachhaltigkeit<br />

diskutiert, <strong>und</strong> auch beim „Erdgipfel“ (der Konferenz der Vereinten<br />

Nationen für Umwelt <strong>und</strong> Entwicklung) 1992 in Rio de<br />

Janeiro standen Fragen der nachhaltigen Entwicklung im Mittelpunkt.<br />

Das Treffen von 128 Staatschefs löste ein enormes<br />

Medieninteresse aus. Auf der Konferenz wurden zahlreiche<br />

Beispiele für erfolgreiche nachhaltige Entwicklungsprogramme<br />

auf der lokalen Ebene vorgestellt. Manche dieser Beispiele bezogen<br />

sich auf den Fin.satz erneuerbarer Energiequellen wie<br />

den Bau kleinerer Wasserkraftwerke zur Modernisierung von<br />

Dörfern in Nepal, andere auf den Tourismus in ökologisch sensiblen<br />

Gebieten, etwa der Phang-Nga-Bucht in Thailand, wo<br />

täglich eine begrenzte Zahl von Touristen auf geführten Bootstouren<br />

spektakuläre Lagunen zu sehen bekommt (die Touristen<br />

werden zum Schutz der Umwelt strikt angehalten, nichts<br />

zu verzehren, nicht zu rauchen <strong>und</strong> nichts wegzuwerfen). Außerdem<br />

wird soziale Verantwortung großgeschrieben (Respekt<br />

gegenüber dem Personal sowie der lokalen Bevölkerung <strong>und</strong><br />

ihrer Kultur, gute Ausbildung <strong>und</strong> angemessene Bezahlung).<br />

Die meisten auf dem Treffen vorgestellten Beispiele bezogen<br />

sich jedoch auf nachhaltige Anbauverfahren in peripheren Ländern,<br />

wie ertragssteigernde Flügelbeete (raised fields) <strong>und</strong><br />

Feldterrassen im peruanischen Titicaca-Becken - Methoden,<br />

die vor der europäischen Kolonisation über Jahrh<strong>und</strong>erte erfolgreich<br />

praktiziert wurden. Nach der Konferenz zeigten<br />

sich viele Seiten bitter enttäuscht über die großen Interessenskonflikte<br />

zwischen Industrie- <strong>und</strong> Entwicklungsländern, die auf<br />

dem Treffen deutlich geworden waren.<br />

Eines der größten Flindernisse für die Zukunft nachhaltiger<br />

Entwicklung ist das Festhalten an fossilen Brennstoffen als<br />

Energiequelle <strong>und</strong> „Motor“ für Modernisierung. Dadurch bleibt<br />

nicht nur die internationale Ungleichheit weiter bestehen, sondern<br />

es entstehen auch Probleme, die nicht vor Grenzen haltmachen:<br />

saurer Regen, globale Erwärmung, Klimawandel, Abholzung,<br />

Ges<strong>und</strong>heitskatastrophen <strong>und</strong>, wie viele warnen, kriegerische<br />

Konflikte. Die nachhaltige Alternative, Energie aus<br />

Sonnenlicht, Gezeiten, Wellen, Wind, Flüssen <strong>und</strong> geothermischen<br />

Anlagen zu gewinnen, wurde wegen wirtschaftlicher<br />

Interessen seitens der mächtigen Gesellschaften <strong>und</strong> Regierungen,<br />

welche die fossilen Energieressourcen kontrollieren,<br />

nur halbherzig verfolgt.<br />

Ein zweite Flerausforderung hinsichtlich des Ziels nachhaltiger<br />

Entwicklung ist die rasche Bevölkerungszunahme in peripheren<br />

Ländern. Nachhaltige Entwicklung ist nur zu erreichen,<br />

wenn Bevölkerungszahl <strong>und</strong> -Wachstum im Einklang stehen<br />

mit der veränderlichen Produktionskapazität des Ökosystems.<br />

Man schätzt, dass 1,2 der insgesamt 6,5 Milliarden<br />

auf der Erde lebenden Menschen an Unterernährung leiden.<br />

Das größte Flindernis für nachhaltige Entwicklung sind jedoch<br />

die unzulänglichen institutionellen Rahmenbedingungen.<br />

Nachhaltige Entwicklung setzt voraus, dass finanzielle <strong>und</strong><br />

wirtschaftspolitische Entscheidungen mit ökologischen <strong>und</strong><br />

Umweltentscheidungen ein harmonisches Ganzes bilden. Tatsache<br />

ist aber, dass die nationalen <strong>und</strong> lokalen institutionellen<br />

Strukturen eher dazu angetan sind, dass Entscheidungen darüber,<br />

was ökonomisch vernünftig <strong>und</strong> was mit Blick auf die<br />

Umwelt wünschenswert ist, unabhängig voneinander getroffen<br />

werden. Internationale Organisationen sind zwar eher in der<br />

Lage, die verschiedenen Politikfelder miteinander zu verknüpfen<br />

<strong>und</strong> ökologische „Überschüsse“ gewissermaßen zwischen<br />

den Ländern umzuverteilen, sie verfügen aber (mit der bemerkenswerten<br />

Ausnahme der Europäischen Union) nicht über die<br />

notwendige Macht, um eine ganzheitliche, harmonisch aufeinander<br />

abgestimmte Politik durchzusetzen. Ohne einen<br />

gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> weitreichenden Wertewandel <strong>und</strong> ohne<br />

den Willen zur Neubestimmung der politischen Ziele wird<br />

der Begriff „nachhaltige Entwicklung“ wohl ein Widerspruch<br />

in sich bleiben.<br />

I Regionale Arbeitsteilung<br />

Die räumlichen Unterschiede in der ökonomischen<br />

Struktur, also der ungleichen Bedeutung der verschiedenen<br />

Sektoren, sind in erster Linie eine Folge der internationalen<br />

<strong>und</strong> regionalen Arbeitsteilung, die<br />

von zahlreichen politischen, technologischen, historischen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Faktoren beeinflusst wird<br />

(Kapitel 2). Länder, deren Wirtschaft im Wesentlichen<br />

vom Primärsektor geprägt ist, haben in der Regel<br />

ein vergleichsweise niedriges Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt.<br />

Eine Ausnahme stellen einige reiche<br />

Ölstaaten wie Saudi-Arabien, Katar oder Venezuela<br />

dar. In Volkswirtschaften, die im Wesentlichen auf<br />

dem sek<strong>und</strong>ären Sektor beruhen, zum Beispiel Argentinien<br />

<strong>und</strong> Südkorea, ist das Pro-Kopf-Bruttosozialprodukt<br />

schon um einiges höher. Die höchsten<br />

Pro-Kopf-Bruttosozialprodukte finden sich in den<br />

postindustriellen Volkswirtschaften, in welchen der<br />

sek<strong>und</strong>äre Sektor seinen Höhepunkt schon vor längerer<br />

Zeit überschritten hat <strong>und</strong> wo der Arbeitsmarkt<br />

zunehmend vom tertiären <strong>und</strong> quartären Sektor bestimmt<br />

wird. Es muss darauf hingewiesen werden,<br />

dass sich die Bedeutung dieser vier Sektoren auf<br />

die Zahl der Arbeitskräfte <strong>und</strong> nicht auf die Produktionsleistung<br />

bezieht. So gehört etwa die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland, in der nur noch unter 3 Prozent<br />

der Beschäftigten im primären Sektor tätig sind <strong>und</strong><br />

der sek<strong>und</strong>äre Sektor seit langem abnimmt, zu den<br />

führenden Lebensmittelexporteuren sowie den führenden<br />

Produzenten <strong>und</strong> Exporteuren von Industrieprodukten.<br />

Die Abbildung 8.23 veranschaulicht, dass die ökonomische<br />

Struktur in weiten Teilen der Welt vom


452 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

8.23 Die Geographie des primären Sektors Der primäre Sektor umfasst die Wirtschaftsbereiche Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft,<br />

Fischerei <strong>und</strong> Bergbau (ohne Aufbereitung). Der weitaus größte Teil der Weltbevölkerung - konzentriert in China, Indien, Südostasien<br />

<strong>und</strong> Afrika - ist immer noch im primären Sektor beschäftigt. Die Karte zeigt den prozentualen Anteil der Arbeitskräfte, die im<br />

primären Bereich beschäftigt sind (Stand 1998). In einigen Ländern, darunter auch China, liegt er bei über 70 Prozent. In den<br />

Ländern des Zentrums beträgt der Anteil der im Primärsektor beschäftigten Arbeitskräfte hingegen gr<strong>und</strong>sätzlich unter zehn,<br />

oft sogar unter fünf Prozent.<br />

H<br />

Primärsektor - Landwirtschaft, Bergbau, Fischerei<br />

<strong>und</strong> Forstwirtschaft - bestimmt ist. In den meisten<br />

Ländern Afrikas <strong>und</strong> Asiens sind 50 bis 75 Prozent<br />

der erwerbstätigen Bevölkerung in diesen Bereichen<br />

beschäftigt. Im Gegensatz dazu spielt dieser Sektor<br />

in den Ländern des Zentrums nur noch eine untergeordnete<br />

Rolle <strong>und</strong> betrifft lediglich 5 bis 10 Prozent<br />

der Arbeitskräfte. Innerhalb Europas bestehen allerdings<br />

immer noch bemerkenswerte regionale Unterschiede<br />

hinsichtlich des Anteils der in der Land- <strong>und</strong><br />

Forstwirtschaft erwerbstätigen Bevölkerung (Abbildung<br />

8.24)<br />

Der sek<strong>und</strong>äre Sektor ist in den Ländern des Zentrums<br />

sowie in peripheren Ländern mit spezialisierten<br />

Herstellungsbetrieben sehr viel stärker ausgebildet<br />

(Abbildung 8.25). Im fahr 2004 entfielen auf die<br />

Länder der Kernregion fast drei Viertel der industriellen<br />

Wertschöpfung. Dieser Anteil verringert sich jedoch<br />

langsam. Während die Industriestaaten in den<br />

fahren von 1990 bis 2004 einen durchschnittliches<br />

jährliches Wachstum der industriellen Wertschöpfung<br />

von etwa 2 Prozent verzeichneten, tendierten<br />

die Wachstumsraten in allen übrigen Ländern gegen<br />

7 Prozent. Dieses Wachstum konzentrierte sich in<br />

Schwellenländern - semiperipheren Ländern, in denen<br />

die Industrialisierung in jüngerer Zeit begonnen<br />

hat. Als Schwellenländer bezeichnet man Staaten, die<br />

vormals der wirtschaftlichen Peripherie des Weltsystems<br />

angehörten <strong>und</strong> mittlerweile - gewöhnlich<br />

mithilfe ausländischer Direktinvestitionen - einen<br />

bedeutenden Industriesektor aufgebaut haben. Boi<br />

7 der 20 größten Industrienationen im Jahr 2004<br />

handelt es sich um ehemalige Schwellenländer:<br />

China, Südkorea, Mexiko, Brasilien, Indien, Argentinien<br />

<strong>und</strong> Thailand (in der Reihenfolge ihrer Bedeutung).<br />

Die überwiegende Mehrheit der peripheren<br />

Länder hat nur eine geringe Industrieproduktion<br />

aufzuweisen. Der Anteil Afrikas von 1 Prozent an<br />

der weltweiten industriellen Wertschöpfung ist in<br />

den vergangenen zwei Jahrzehnten nahezu unverändert<br />

geblieben.<br />

Auf der Ebene der Staaten waren die LISA im lahr<br />

2004 nach wie vor der mit Abstand bedeutendste Produzent<br />

industrieller Erzeugnisse. Auf nur fünf Länder


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 453<br />

8.24 Der Agrarsektor in Europa In Polen, Litauen, der Ukraine, in Rumänien, dem Balkan (mit Ausnahme der Fremdenverkehrsregionen<br />

der adriatischen Küste), in Griechenland, der Türkei <strong>und</strong> Island sowie mit Einschränkungen in Portugal, Spanien,<br />

Südfrankreich, Irland <strong>und</strong> Teilen Skandinaviens ist noch ein großer Teil der Bevölkerung in der Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft sowie<br />

der Fischerei tätig. (Quelle: Schüler, M.; Dessemontet, P.; Jemlin, C. Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz. Zürich (Nzz Libro)<br />

2007, S. 44.)<br />

- die USA, Japan, Deutschland, China <strong>und</strong> Großbritannien<br />

- entfielen mehr als 60 Prozent der weltweiten<br />

Industrieproduktion. Produktivität ist ein weiterer<br />

wichtiger Aspekt wirtschaftlicher Aktivitäten im<br />

sek<strong>und</strong>ären Sektor. Im Allgemeinen haben es die kapitalkräftigen<br />

Industrieländer geschafft, die Arbeitsproduktivität<br />

auf einem hohen Niveau zu halten, sodass<br />

der Beitrag des Industriesektors zum Bruttoinlandsprodukt<br />

auch dann relativ hoch blieb, als die<br />

Zahl industrieller Arbeitskräfte zurückging.<br />

Innerhalb der von der anhaltenden Dominanz der<br />

entwickelten Industriestaaten geprägten Gr<strong>und</strong>struktur<br />

der Weltwirtschaft sind einige interessante Entwicklungen<br />

zu beobachten. Wenngleich die Vereinigten<br />

Staaten ihre Position als weltweit größter Produzent<br />

industrieller Waren <strong>und</strong> Güter behaupten konnten,<br />

ist der Abstand zu anderen Ländern deutlich geringer<br />

geworden. In den 1960er-Jahren erzielten die<br />

USA 40 Prozent der weltweiten Industrieproduktion;<br />

2004 waren es nur noch 25 Prozent. Unterdessen<br />

konnte Japan seinen Anteil von weniger als sechs Prozent<br />

in den 1960er-Jahren auf mehr als 18 Prozent<br />

2004 erhöhen. Der Aufstieg von r<strong>und</strong> einem Dutzend<br />

peripherer Staaten zu Schwellenländern ist besonders<br />

bemerkenswert. Mehrere dieser Länder befinden sich<br />

in Lateinamerika (Brasilien, Mexiko <strong>und</strong> Argentinien),<br />

was die Wachstumsraten des Industriesektors<br />

betrifft, beeindrucken aber vor allem die asiatischen<br />

Schwellenländer.<br />

Die enorme Steigerung der Industrieproduktion<br />

im asiatisch-pazifischen Raum hat dazu geführt,<br />

dass manche Verdichtungsräume dieser Region nationale<br />

Grenzen überschreiten. Beispiele sind das<br />

Dreieck China-Hongkong-Taiwan <strong>und</strong> der Raum<br />

Singapur-Batam-Johor (Abbildung 8.26). Das sich<br />

über 1 500 Kilometer erstreckende Siedlungsband<br />

in Nordostasien, das von Peking über Pjönjang<br />

<strong>und</strong> Seoul bis Tokio reicht, verbindet 80 Großstädte,<br />

in denen insgesamt fast 100 Millionen Menschen<br />

leben.


454 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.4<br />

Fenster zur Welt - Chinas wirtschaftliche Entwicklung<br />

Unter der Führung Deng Xiaopings (1978-1997) begann China,<br />

seine Wirtschaft gr<strong>und</strong>legend neu auszurichten. Privates<br />

Unternehmertum <strong>und</strong> Marktmechanismen traten an die Stelle<br />

der zentralistischen Planwirtschaft kommunistischer Prägung,<br />

<strong>und</strong> das Land begann sich in die Weltwirtschaft zu integrieren.<br />

Getreu dem Motto „egal ob die Katze schwarz oder weiß ist,<br />

Hauptsache sie fängt Mäuse“ etablierte Deng Xiaoping ein Programm<br />

der „Vier Modernisierungen“ (Industrie, Landwirtschaft,<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Verteidigung) sowie eine „Politik<br />

der offenen Türen“, die China die Beteiligung am freien Kreislauf<br />

der Weltwirtschaft ermöglichte. Durch die komplette Neuausrichtung<br />

kam es zu einer Wiederbelebung der chinesischen<br />

Wirtschaft. In der Landwirtschaft wurde die Kollektivierung<br />

aufgehoben <strong>und</strong> die Betriebe so umgebaut, dass in gewissem<br />

Umfang private Gewinne erzielt werden konnten. Viele Staatsbetriebe<br />

wurden geschlossen oder privatisiert, <strong>und</strong> die staatliche<br />

zentralistische Planung wurde zurückgefahren, um privatem<br />

Unternehmertum Raum zu geben.<br />

In den 1980er- <strong>und</strong> frühen 1990er-Jahren, in einer Phase<br />

allgemeiner wirtschaftlicher Flaute, wuchs Chinas Industriesektorjährlich<br />

um fast 15 Prozent. Fast alle vorher in Südkorea<br />

oder Taiwan gefertigten Schuhe wurden jetzt im eigenen Land<br />

hergestellt. Mehr als 60 Prozent des weltweit produzierten Kinderspielzeugs<br />

kamen aus China <strong>und</strong> schlugen mit einem Handelsvolumen<br />

von mehr als 10 Milliarden Dollar zu Buche. Seit<br />

1992 weitete China seine Politik der offenen Türen weiter aus,<br />

die einheimischen Märkte wurden für direkte Auslandsinvestitionen<br />

geöffnet, <strong>und</strong> die Handelsbeziehungen mit den USA <strong>und</strong><br />

der Europäischen Union normalisierten sich. Im Jahr 2001 wurde<br />

China in die Welthandelsorganisation aufgenommen, dadurch<br />

konnte das Land so frei wie nie zuvor Handel mit der<br />

übrigen Welt betreiben.<br />

Die verstärkte Teilnahme Chinas am Welthandel schuf eine<br />

völlig neue Situation innerhalb der Weltwirtschaft. Chinesische<br />

Betriebe, die mit niedrigen Lohnkosten arbeiten, trieben die<br />

Preise nach unten <strong>und</strong> bewirkten weltweit deflationäre Entwicklungen<br />

im Gewerbe. Die Größe der chinesischen Wirtschaft<br />

macht das Land zum wichtigsten Produzenten, <strong>und</strong><br />

seine Arbeitskosten blieben über Jahre niedrig, weil ein<br />

Heer von Menschen bereitsteht, um für 60 Cent in der St<strong>und</strong>e<br />

zu arbeiten. Inzwischen beginnt die rasche Zunahme der Verbrauchernachfrage<br />

die Preise für Waren <strong>und</strong> Güter auf dem<br />

Weltmarkt in die Höhe zu treiben. Chinas Volkswirtschaft ist<br />

heute die drittgrößte weltweit, nach jener der USA <strong>und</strong> Japans.<br />

Nirgendwo waren die Auswirkungen von Chinas Politik der<br />

offenen Türen so groß wie im Südosten des Landes, wo die<br />

Regierung bewusst auf den Wohlstand der früheren Kolonie<br />

Hongkong baute, die 1997 wieder in das Mutterland zurückgekehrt<br />

ist. Die Küsten Südostchinas verfügen überzahlreiche<br />

geschützte Buchten, in welchen unter anderem die Häfen<br />

Quanzhou, Shantou, Xiamen <strong>und</strong>, beiderseits der Mündung<br />

des Zhu Jiang (Perfluss), Macao <strong>und</strong> Hongkong entstanden.<br />

Diese Häfen waren eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung<br />

Südostchinas zu einer bedeutenden Industrieregion<br />

<strong>und</strong> stellten das Bindeglied zur Weltwirtschaft dar. Handel <strong>und</strong><br />

Gewerbe der ehemaligen portugiesischen Kolonie Macao, das<br />

seit 1999 wieder zu China gehört, waren weitere wichtige Faktoren<br />

des wirtschaftlichen Aufschwungs. Als Deng Xiaoping<br />

seine Politik der Öffnung umzusetzen begann, erhielt die Region<br />

zusätzlichen wirtschaftlichen Auftrieb durch Kapitalinvestitionen<br />

aus Hongkong <strong>und</strong> Taiwan sowie durch Investitionen<br />

von im Ausland lebenden Chinesen. Im Jahr 1993 hatten sich<br />

15 000 Gewerbetreibende allein aus Hongkong in der benachbarten<br />

Provinz Guandong niedergelassen, <strong>und</strong> eine ähnlich<br />

große Zahl unterhielt Geschäftsbeziehungen in Form von Aufträgen<br />

an chinesische Unternehmen der verarbeitenden Industrie.<br />

Heute stellen die Städte <strong>und</strong> Sonderwirtschaftszonen an<br />

Südchinas „Goldküste“ blühende Exportplattformen dar, deren<br />

Wirtschaft in den vergangenen zwei Jahrzehnten meist um Beträge<br />

im zweistelligen Bereich wuchs. Die Bevölkerung der<br />

Stadt Shenzhen (Abbildung 8.4.1) vergrößerte sich seit<br />

1975 von 19 000 auf über 1 Million im Jahr 2000, mit weiteren<br />

2 Millionen Menschen, die in den umliegenden Gemeinden leben.<br />

Das Wachstum von Industrie <strong>und</strong> Gewerbe in China fußte zu<br />

einem erheblichen Teil auf der Strategie der Importsubstitution.<br />

Trotz Chinas Mitgliedschaft in der Welthandelsorganisation,<br />

die strenge Regeln hinsichtlich geistigem Eigentum hat, basiert<br />

die Industrie des Landes in erheblichem Umfang auf kopierten<br />

oder gefälschten Produkten, die unter geändertem<br />

Auf der Ebene der Staaten hat China besonders<br />

starke Zuwächse der Industrieproduktion zu verzeichnen,<br />

die in den 1970er- bei 8 Prozent, in den<br />

1980er- bei 11 Prozent <strong>und</strong> in den 1990er-Jahren<br />

bei 14 Prozent lagen (Exkurs 8.4 „Fenster zur Welt<br />

- Chinas wirtschaftliche Entwicklung“). Unter den<br />

vier asiatischen „Tigerstaaten“ - Südkorea, Hongkong,<br />

Taiwan <strong>und</strong> Singapur - ist Südkorea das<br />

Land mit den spektakulärsten Steigerungsraten der<br />

Industrieproduktion von jährlich fast 8 Prozent in<br />

den 1960er-Jahren auf 17 Prozent in den 1970er-<br />

Jahren, 12 Prozent in den 1980er-Jahren <strong>und</strong> mehr<br />

als 7 Prozent in den 1990er-Jahren (trotz einer<br />

Finanzkrise in Asien Ende des vergangenen lahrzehnts).<br />

Die asiatischen „Tigerstaaten“ haben in der<br />

Tat einen bemerkenswerten Aufstieg an die Spitze


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 455<br />

8.4.1 Shenzhen<br />

Die Einwohnerzahl der<br />

jenseits der Grenze von<br />

Hongkong liegenden<br />

Stadt ist zwischen<br />

1970 <strong>und</strong> 2000 von<br />

5 000 auf mehr als<br />

1 Millionen Einwohner<br />

angestiegen.<br />

Markennamen verkauft werden, sowie auf Marken- <strong>und</strong> Produktpiraterie<br />

(der Herstellung <strong>und</strong> dem Verkauf nachgemachter,<br />

vom Original kaum zu unterscheidender Produkte). DVDs,<br />

Filme, Designerkleidung <strong>und</strong> -schuhe, Medikamente, Motorräder,<br />

Autos oder Magnetschwebebahnen - durch illegale Nachahmungen<br />

oder Fälschungen spart die chinesische Industrie<br />

enorme Summen an Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungskosten sowie<br />

Lizenzgebühren <strong>und</strong> noch größere Beträge beim Import<br />

ein.<br />

Ausländische Investoren entwickelten großen Eifer, an<br />

Chinas rasch wachsenden <strong>und</strong> zunehmend finanzkräftigen<br />

Märkten teilzuhaben. Der Markt für Automobile ist für Hersteller<br />

aus dem Westen besonders interessant. Volkswagen w arim<br />

Jahr 1985 - als erster Autokonzern in China präsent. 2003<br />

liefen etwa 40 Prozent der etwa 4 Millionen in China produzierten<br />

Pkw <strong>und</strong> Transporter von den Bändern des deutschen Autobauers.<br />

General Motors hat zusammen mit dem Partner Shanghai<br />

Automotive Inoustry Corporation einen Marktanteil von 10<br />

Prozent, Honda, Toyota, Nissan sowie seit kurzem BMW <strong>und</strong><br />

Mercedes sind ebenfalls in China aktiv.<br />

Insgesamt jedoch kommen die größten Investitionen aus<br />

dem ostasiatischen Raum selbst. Japan, Taiwan <strong>und</strong> Südkorea,<br />

die früher den USA Konkurrenz gemacht hatten, erleben aufgr<strong>und</strong><br />

des unaufhaltsamen Prozesses der „kreativen Destruk­<br />

tion“ heute selbst Deindustrialisierung. Mehr als 50 000 taiwa-<br />

nesische Firmen engagieren sich in China <strong>und</strong> investieren dort<br />

nach Schätzungen r<strong>und</strong> 80 Milliarden US-Dollar. Pusan, das im<br />

Jahr 1990 als Zentrum der südkoreanischen Schuhindustrie<br />

noch Schuhe im Wert von 4,3 Milliarden US-Dollar exportierte,<br />

ist heute voll von stillgelegten Fabriken. Die südkoreanischen<br />

Schuhexporte sind auf weniger als 700 Millionen US-Dollar<br />

eingebrochen, während das Volumen der chinesischen Schuhindustrie<br />

von 2,1 Milliarden US-Dollar 1990 auf 13 Milliarden<br />

Dollar im Jahr 2002 gestiegen ist. Mehrere japanische Elektronikriesen<br />

wie Toshiba, Sony, Matsushita Electric Industrial <strong>und</strong><br />

Canon weiteten ihr Geschäft in China aus, ungeachtet Tausender<br />

Entlassungen in Japan. Olympus fertigt seine Digitalkameras<br />

in Shenzhen <strong>und</strong> Guangzhou, Pioneer hat die Herstellung<br />

von DVD-Spielern nach Schanghai <strong>und</strong> Donguan verlagert. Das<br />

Toshiba-Werk in Dalian verdeutlicht die Logik. Toshiba ist eines<br />

von etwa 40 Unternehmen, die Anfang der 1990er-Jahre mit<br />

großzügiger finanzieller Unterstützung durch Japans Regierung<br />

<strong>und</strong> große japanische Firmen umfangreiche Produktionsstätten<br />

in einer von Dalian eingerichteten „export-processing<br />

Zone“ gebaut haben. Durch die Verlagerung der Produktion<br />

von Digitalfernsehgeräten vom japanischen Saitama im Jahr<br />

2001 reduzierten sich die Arbeitskosten je Arbeiter um 90 Prozent.<br />

der Exportländer geschafft. Im weltweiten Vergleich<br />

lagen im Jahr 2003 Hongkong auf dem 11. Platz (1980<br />

noch auf dem 26.), Taiwan auf Rang 15 (vorher 22),<br />

Südkorea auf Position 12 (vorher 27) <strong>und</strong> Singapur<br />

an 15. Stelle (vorher 30). In jüngster Zeit erlebten<br />

andere Schwellenländer des pazifischen Raums, unter<br />

ihnen Malaysia <strong>und</strong> Thailand, einen raschen Zuwachs<br />

der Industrieproduktion.<br />

Die tertiären <strong>und</strong> quartären Dienstleistungssektoren<br />

spielen nur in den reichen Ländern des Zentrums<br />

eine bedeutende Rolle. In den USA verteilten sich die<br />

Arbeitskräfte 2004 wie folgt: Primärsektor weniger als<br />

4 Prozent; Sek<strong>und</strong>ärsektor 22 Prozent; Tertiärsektor<br />

gut 50 Prozent <strong>und</strong> im quartären Sektor 22 Prozent.<br />

In Deutschland waren im Jahr 1999 in der Land- <strong>und</strong><br />

Forstwirtschaft 2,8 Prozent, im produzierenden Ge-


456 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

I « ,5 -4 9 ,9<br />

3 7.5- 42,4<br />

3 2 .5 - 37,4<br />

I 27,5 - 32,4<br />

22,5 - 27,4<br />

17.5- 22,4<br />

1 2 .5 - 17,4<br />

56 K , 7,5-12.4<br />

44 ü ' 2,3 - 7,4<br />

O V<br />

/<br />

A "<br />

r ®<br />

Ö':<br />

‘V<br />

nach NUTS-Regionen 2 /^ o^l^r_ÄquivalenteQ,''<br />

-•<br />

250 500 km |A-_/<br />

8.25 Die Geographie des sek<strong>und</strong>ären Sektors Der sek<strong>und</strong>äre Sektor umfasst alle Wirtschaftszweige, in denen Rohstoffe<br />

be- <strong>und</strong> verarbeitet werden. Hierunter fallen vor allem die Industrie (einschließlich Energiegewinnung) <strong>und</strong> die Aufbereitung von<br />

Bergbauprodukten. (Quelle: Schüler, M.; Dessemontet, P.; Jemlin, C. Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz. Zürich (Nzz Libro)<br />

2007, S. 45.)<br />

werbe 33,4 Prozent <strong>und</strong> im Tertiärsektor 63 Prozent<br />

der Arbeitskräfte beschäftigt. Ein quartärer Sektor<br />

wird in den amtlichen Statistiken der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland nicht gesondert ausgewiesen. In allen<br />

Ländern der Kernregion hat der tertiäre Sektor in<br />

den vergangenen Jahrzehnten stark an Bedeutung zugenommen,<br />

vor allem aufgr<strong>und</strong> der verstärkten Hinwendung<br />

zu Konsum <strong>und</strong> Freizeitaktivitäten sowie<br />

des Ausbaus des Ges<strong>und</strong>heitswesens. In der darauffolgenden<br />

Phase des Globalisierungsprozesses entwickelten<br />

sich Aktivitäten, die mit Bildung, Wissensvermittlung,<br />

Forschung <strong>und</strong> Datenverarbeitung zu tun<br />

haben, zu einem wesentlichen Faktor wirtschaftlicher<br />

Entwicklung, was zu einer raschen Zunahme des<br />

quartären Sektors führte.<br />

In den Staaten des Zentrums wird heute mehr als<br />

die Hälfte des Bruttosozialprodukts durch die Produktion<br />

<strong>und</strong> Vermittlung von Wissen erwirtschaftet.<br />

In den USA sind inzwischen mehr Arbeitnehmer<br />

in solchen Branchen der Informationsverarbeitung<br />

<strong>und</strong> Wissensvermittlung tätig als im produzierenden<br />

Gewerbe.<br />

Für die peripheren Länder sind Wissensdefizite -<br />

fehlende Möglichkeiten, Wissen zu erwerben <strong>und</strong><br />

auszutauschen - ein zunehmendes Hindernis für<br />

die wirtschaftliche Entwicklung. Arme Länder haben<br />

geringere Möglichkeiten, in das Schulwesen, in Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung oder in den Ausbau von Informationstechnologien<br />

zu investieren. Außerdem<br />

verfügen sie in geringerem Umfang über Institutionen,<br />

die Standards <strong>und</strong> Leistungen festlegen, <strong>und</strong><br />

kaum über Organisationen für das Sammeln <strong>und</strong><br />

Verbreiten von Daten <strong>und</strong> Informationen, die in<br />

der Geschäftswelt benötigt werden. Aus diesen Gründen<br />

bleibt die Produktivität immer weiter hinter den<br />

Leistungen der Länder der Kernregion zurück, wo<br />

fortwährend neues Wissen generiert sowie rasch<br />

<strong>und</strong> effizient verbreitet wird.


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 457<br />

das Siebenfache des Wachstums der Weltbevölkerung.<br />

Die Gr<strong>und</strong>struktur des internationalen Handels<br />

beruht auf wenigen Handelsblöcken - Staatengruppen<br />

mit formalisierten Handelsabkommen <strong>und</strong> -bestimmungen.<br />

Der größte Teil des Welthandels findet<br />

innerhalb von vier Handelsblöcken statt:<br />

• Westeuropa mit einigen ehemaligen europäischen<br />

Kolonien in Afrika, Südasien, der Karibik <strong>und</strong><br />

Australien<br />

• Nordamerika mit einigen lateinamerikanischen<br />

Staaten<br />

• die Nachfolgestaaten der Sowjetunion<br />

• Japan, mit anderen ostasiatischen Staaten <strong>und</strong> den<br />

Erdöl exportierenden Ländern Saudi-Arabien <strong>und</strong><br />

Bahrain<br />

8.26 Wachstumszonen in Ost- <strong>und</strong> Südostasien Die Globalisierung<br />

der Industrie hat in Ost- <strong>und</strong> Südostasien mehrere<br />

Wachstumspole entstehen lassen. (Quelle: Dicken, P. Global<br />

Shift, 4. Aufl. New York (Guilford) 2003, Abbildung 3.28, S. 78.)<br />

Internationaler Handel, Entwick-<br />

I lungshilfe <strong>und</strong> Verschuldung<br />

Die Strukturen des internationalen Handels sind infolge<br />

der internationalen Arbeitsteilung äußerst komplex<br />

(Abbildung 8.27). Ein besonderes Kennzeichen<br />

der zunehmenden wirtschaftlichen Integration des<br />

Weltsystems ist, dass der internationale Handel in<br />

den vergangenen Jahrzehnten schneller zugenommen<br />

hat als die globale (Industrie-)Produktion. In den<br />

lahren von 1985 bis 2005 betrug der Wert der Waren<br />

<strong>und</strong> Güter, die im Jahr weltweit exportiert wurden,<br />

durchschnittlich das Doppelte der Produktion <strong>und</strong><br />

Eine erhebliche Zahl von Ländern besitzt ein hohes<br />

Maß an Autarkie gegenüber der Weltwirtschaft,<br />

das heißt sie tragen nicht nennenswert zu den Strömen<br />

des Imports <strong>und</strong> Exports bei, welche die Geographie<br />

des Handels prägen. Gewöhnlich sind dies kleinere,<br />

periphere Staaten wie Bolivien, Burkina Faso,<br />

Ghana, Malawi, Samoa <strong>und</strong> Tansania.<br />

Die räumlichen Strukturen des Welthandels haben<br />

sich jedoch infolge mehrerer Einflussfaktoren sehr<br />

rasch gewandelt. Allgemein verstärkte sich die Tendenz<br />

einer anhaltenden Dominanz des Handels innerhalb<br />

<strong>und</strong> zwischen den Industriestaaten auf Kosten<br />

des Handels zwischen entwickelten <strong>und</strong> weniger<br />

entwickelten Ländern - mit der großen Ausnahme<br />

des Handels mit Erdöl. Zweitens verringerte sich aufgr<strong>und</strong><br />

von technologischen Innovationen in den<br />

Bereichen Transport <strong>und</strong> Verkehr, Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Fertigung die Bedeutung der distanzbedingten<br />

Faktoren, welche den Fortbestand traditioneller Handelsblöcke<br />

lange Zeit untermauerten. Und drittens<br />

haben sich die Veränderungen der internationalen<br />

Politik (zum Beispiel die Auflösung der früheren Sowjetunion<br />

<strong>und</strong> die Abkehr Chinas vom Maoismus)<br />

auf die Geographie des Handels ausgewirkt. Eine andere<br />

wichtige geopolitische Veränderung ist die zunehmende<br />

politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Integration<br />

Europas <strong>und</strong> die wachsende Bedeutung Chinas in der<br />

Weltwirtschaft. Die vielleicht wichtigste Veränderung<br />

in der internationalen, auf den Welthandel bezogenen<br />

Politik war jedoch die zunehmende Öffnung der<br />

Märkte <strong>und</strong> die Etablierung eines freien Handels<br />

als Folge einer von den Ländern der Kernregion propagierten<br />

neoliberalen Politik. Weiter hat die<br />

Globalisierung der Wirtschaft neue Ströme von<br />

Materialien, Komponenten, Informationen <strong>und</strong> Endprodukten<br />

erzeugt. Es entstand ein globales System


458 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Westeuropa<br />

Mitteleuropa,<br />

Osteuropa<br />

<strong>und</strong> GUS<br />

gesamter Warenhandel<br />

(Milliarden US-Dollar)<br />

2500<br />

Binnenhandel<br />

Außenhandel<br />

Handelsströme<br />

(Milliarden US-Dollar)<br />

300<br />

150<br />

50<br />

10<br />

Afrika<br />

andere asiatische<br />

Staaten <strong>und</strong> Ozeanien<br />

8.27 Internationale Handelsnetze im Jahre 2003 Überraschend groß ist die Bedeutung von Westeuropa als Handeisregion.<br />

Zwei Drittel des westeuropäischen Handels ist intra-regional, also zwischen den europäischen Staaten. Asien ist die zweitwichtigste<br />

Handelsregion <strong>und</strong> Nordamerika die drittwichtigste (Quelle: ergänzt nach Dicken, P. Global Shift, 4. Aufl., New York (Guilford)<br />

2003, Abbildung 3.7, S. 41.)<br />

des produzierenden Gewerbes, in dem bedeutende<br />

Mengen industrieller Erzeugnisse mittels komplexer<br />

Produktketten über große Teile der Welt importiert<br />

<strong>und</strong> exportiert werden <strong>und</strong> nicht mehr die entwickelten<br />

Staaten Exporteure <strong>und</strong> die weniger entwickelten<br />

Länder die Importeure von Industrieprodukten sind.<br />

Eine Ausnahme bilden afrikanische Länder, von denen<br />

viele kaum am Welthandel mit Fertigerzeugnissen<br />

partizipieren.<br />

Ein auffälliges Merkmal der gegenwärtigen Handelsstrukturen<br />

ist die Persistenz der Abhängigkeit peripherer<br />

Länder vom Handel mit Staaten der Kernregion,<br />

die geographisch oder geopolitisch nahe sind.<br />

So stellen etwa die Vereinigten Staaten für Mittelamerika<br />

das wichtigste Zielgebiet für Exporte <strong>und</strong> das<br />

wichtigste Herkunftsland von Importen dar, während<br />

die von Frankreich ausgehenden <strong>und</strong> darauf gerichteten<br />

Warenströme vor allem in ehemalige französische<br />

Kolonien wie Algerien, Kambodscha, Benin <strong>und</strong><br />

Elfenbeinküste fließen oder dort ihren Ursprung haben.<br />

Diese Ströme von Waren <strong>und</strong> Gütern bilden jedoch<br />

nur einen Teil der Aktivitäten in den Volkswirtschaften<br />

der Kernländer, deren Handelsverflechtungen<br />

von Beziehungen mit anderen Staaten der Kernregion<br />

geprägt sind.<br />

Diese Situation bewirkt, dass kleinere, periphere<br />

Partner hinsichtlich ihrer Handelsbeziehungen in hohem<br />

Maß von der Nachfrage <strong>und</strong> dem allgemeinen<br />

Wirtschaftsklima in den entwickelten Ländern abhängig<br />

sind. Ein anderer, in diesen Kontext gehörender<br />

Aspekt von Abhängigkeit ist die unterschiedlich<br />

stark ausgeprägte Diversifizierung in Bezug auf die<br />

Exportbasis. Abhängigkeit bedeutet, in hohem Maß<br />

auf ausländische Unternehmen, Investitionen oder<br />

Technologie angewiesen zu sein. Die Abhängigkeit<br />

eines peripheren Landes kann eine schmale wirtschaftliche<br />

Basis zur Folge haben, in welcher das<br />

Gleichgewicht zwischen staatlichen Einnahmen <strong>und</strong><br />

Ausgaben sowie die Beschaffung von Devisen vom<br />

Export von einem oder zwei landwirtschaftlichen


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 459<br />

8.28 Index der Konzentration des Außenhandels auf einzelne Produkte im Jahr 2002<br />

Produkten oder mineralischen Rohstoffen abhängt.<br />

Die Abbildung 8.28 zeigt Abhängigkeit anhand des<br />

Index der Konzentration von Exportprodukten. Länder<br />

mit niedrigen Index-Werten besitzen eine diversifizierte<br />

Exportbasis; dazu zählen Argentinien, Brasilien,<br />

China, Indien, sowie Nord- <strong>und</strong> Südkorea ebenso<br />

wie die meisten Industriestaaten. Am anderen<br />

Ende des Skala stehen periphere Staaten mit einem<br />

wenig entwickelten Produktionssektor <strong>und</strong> einer starken<br />

Abhängigkeit vom Export eines oder zweier<br />

.^grarprodukte oder Rohstoffe, wie Angola, Tschad,<br />

die Dominikanische Republik, Iran, Irak, Libyen<br />

oder Nigeria.<br />

_Das Problem der Auslandsverschuldung<br />

In vielen peripheren Ländern fließen 20 Prozent oder<br />

mehr der Exporteinnahmen in den Schuldendienst -<br />

die jährlichen Zinsen für Ausländsanleihen (Abbildung<br />

8.29). Im Jahr 2002 waren in neun Ländern, darunter<br />

Angola, Bur<strong>und</strong>i, Sierra Leone <strong>und</strong> Sambia, die<br />

Staatsschulden höher als die Produktion.<br />

Das Problem der Auslandsverschuldung hat seine<br />

Wurzel in der strukturellen Ungleichheit der Weltwirtschaft.<br />

Die ererbte Rolle der meisten peripheren<br />

Länder innerhalb der internationalen Arbeitsteilung<br />

(der Spezialisierung von Ländern auf bestimmte Exporterzeugnisse)<br />

war es, Primärgüter <strong>und</strong> -produkte<br />

herzustellen, die eine geringe Elastizität sowohl hinsichtlich<br />

der Nachfrage als auch des Preises besitzen.<br />

Nachfrage-Elastizität bezeichnet das Maß, in dem<br />

die Nachfrage nach einem Produkt auf Preisänderungen<br />

reagiert. Führen geringe Preisänderungen zu<br />

einer nennenswerten Änderung der Nachfrage, ist<br />

die Elastizität hoch. Bleibt die Nachfrage trotz Preisschwankungen<br />

konstant, spricht man von geringer<br />

Elastizität. Die Nachfrage nach Produkten aus peripheren<br />

Ländern besitzt auf deren wichtigsten Märkten<br />

(den entwickelten Staaten) eine geringe Elastizität:<br />

Sie nimmt auch bei einer deutlichen Steigerung<br />

der Einkommen auf K<strong>und</strong>enseite nur in geringem<br />

Umfang zu. Ähnlich führen deutliche Senkungen<br />

der Preise für Produkte peripherer Länder nur zu geringen<br />

Steigerungen der Nachfrage. Man denke zum<br />

Beispiel an die Kakao produzierenden Regionen in<br />

Westafrika (Abbildung 8.30). Unabhängig von Produktivitätssteigerungen<br />

zur Preissicherung auf niedrigem<br />

Niveau <strong>und</strong> unabhängig vom wachsenden Wohlstand<br />

der Abnehmerländer in der Kernregion existiert<br />

eine obere Grenze für die Nachfrage nach Kakaoprodukten.<br />

Im Gegensatz dazu besitzen hochwertige Industrieerzeugnisse<br />

<strong>und</strong> stark nachgefragte Dienstleistungen<br />

(auf welche die Industrieländer innerhalb der


460 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

. 180 -<br />

m<br />

fA<br />

m<br />

Brasilien häufte in den 1970er- <strong>und</strong> 1980er-Jahren<br />

einen derart hohen Schuldenberg auf, d ass es die<br />

Zinsen nicht m ehr zahlen konnte. Von 1983 bis 1989<br />

übernahm der IW F G arantien für d as Land, erlegte<br />

ihm aber gleichzeitig strenge M aßnahm en auf, die<br />

darauf ausgerichtet w aren, die Im porte zu beschränken.<br />

Dazu gehörten eine Erhöhung des Benzinpreises<br />

um 60 Prozent sow ie die Verringerung d es m onatlichen<br />

M indestlohns auf 50 US-Dollar. Damit verm inderte<br />

sich für A rbeiter die Kaufkraft auf die H älfte des<br />

W ertes von 1940. Trotz d ieser M aßnahm en w ar die<br />

Verschuldung des Lan des Im Ja h r 2002 auf fast 228<br />

M illiarden D ollar angew achsen, die jährlichen Inflationsraten<br />

lagen in den 1990er-Jahren zw ischen 500<br />

<strong>und</strong> 2000 Prozent.<br />

1980 1982 1984 1986 1988 1990 1992 1994 1996 1998 2000<br />

M exiko sah sich im Ja h r 1982 gezw ungen, seine Rückzahlungen von A uslandsschulden<br />

auszusetzen, <strong>und</strong> löste damit eine internationale Finanzkrise<br />

aus, die im folgenden Ja h r zu Ausfällen der Rückzahlungen durch Argentinien,<br />

Brasilien , Venezuela, den Philippinen, G hana, N igeria <strong>und</strong> viele andere periphere<br />

Länder führte. Im Ja h r 1996, als M exiko erneut in eine Sch uldenkrise<br />

geraten war, kamen die Kreditgeber dem Land unter der Bedingung entgegen,<br />

d ass es seine W ährung abw ertet. D adurch verschlech terte sich d ie ohnehin<br />

schw ierige Situation eines großen Teils der Bevölkerung zusätzlich.<br />

Eine Bö rsenkrise außerhalb der Philippinen führte im Ja h r<br />

1983 dazu, d ass das Land seine Auslandsschulden nicht<br />

m ehr bedienen konnte. Seitdem m usste die philippinische<br />

Regierung m ehrere M ale den Fahrplan zur Schuldentilgung<br />

mit den G eberländern neu abstim m en. Im Ja h r 2002<br />

hatten die Philippinen ihre A uslandsschulden auf gut 59<br />

M illionen US-D ollar verringert, bei einem Anteil des<br />

Sch uld en d ienstes am Bruttoinlandsprodukt von weniger<br />

als zwölf Prozent.<br />

I<br />

N ach einer schw eren Sch ulden krise im Ja h r 1983 richtete<br />

G hana seine Politik nach den Em pfehlungen des IW F aus.<br />

Dazu gehörten eine Abw ertung der Landeswährung, der<br />

m assive Abbau von Staatsb ed iensteten <strong>und</strong> die Errichtung<br />

von Handelsbeschränkungen. Im Ja h r 2002 hatte G hana<br />

knapp sieben M illiarden U S-D ollar A uslandsschulden, die<br />

fast 70 Prozent seines Bruttonationaleinkom m ens ausm achten<br />

Für die Bedienung der nationalen<br />

A uslandsschulden geben afrikanische<br />

Länder im D urchschnitt vier<br />

M al m ehr au s als für Ges<strong>und</strong>heit<br />

<strong>und</strong> Bildung zusamm en. Die A uslandsschulden<br />

der Länder Afrikas<br />

sind insgesam t auf m ehr als 340<br />

M illiarden US-D ollar (2002) gestiegen.<br />

8.29 Auslandsverschuldung In manchen Ländern belaufen sich die jährlichen Zinsen für Auslandsschulden (der „Schuldendienst“)<br />

auf mehr als ein Fünftel des Wertes der Exporte von Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen im gleichen Zeitraum. Viele Länder gerieten<br />

erstmals Mitte der 1970er-Jahren in Schuldenprobleme, als westliche Banken, die in ihren Sitzländern mit wirtschaftlicher Rezession<br />

konfrontiert waren, es vorzogen, den Regierungen peripherer Länder billige Darlehen anzubieten, statt Kapital brachliegen zu lassen.<br />

Als die Weltwirtschaft wieder anzog, stiegen auch die Zinsen, <strong>und</strong> viele Länder rutschten in eine Schuldenkrise. Die Weltbank <strong>und</strong><br />

der Internationale Währungsfond (IWF) bemühten sich gemeinsam mit westlichen Staaten darum, eine globale Finanzkrise zu<br />

vermeiden, indem sie Programme zur Erleichterung der Schuldenlast für arme Länder organisierten <strong>und</strong> garantierten. Westliche<br />

Banken wurden ermutigt, Schulden in Kapitalbeteiligungen an verstaatlichten Industrien umzuwandeln, gleichzeitig wurden die<br />

Regierungen der Schuldnerländer zu einer konsequenten Sparpolitik angehalten. Diese Sparpolitik hat zwar dazu beigetragen, die<br />

Schuldenkrise zu entschärfen, sie war jedoch oft mit großen Härten für die breite Bevölkerung verb<strong>und</strong>en. Anhänger radikaler<br />

Entwicklungstheorien bezeichnen den IWF deshalb sarkastisch als Institution, die „Elend <strong>und</strong> Hunger“ über die Menschen bringt.


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 461<br />

8.30 Kakaoproduktion Arbeiter öffnen Kakaobohnen auf<br />

einer Pflanzung an der Elfenbeinküste. Das afrikanische Land<br />

ist der weltweit größte Produzent von Kakao <strong>und</strong> hängt beim<br />

Export in hohem Maß von diesem einen Erzeugnis ab. Aber auch<br />

wenn sich der Kakaoexport in der Zukunft positiv entwickeln<br />

sollte, wird die Situation unter den Bedingungen des internationalen<br />

Wettbewerbs mit hoher Wahrscheinlichkeit angespannt<br />

bleiben oder noch schwieriger werden.<br />

internationalen Arbeitsteilung spezialisiert sind) eine<br />

hohe Nachfrage- <strong>und</strong> Preiselastizität. Die Handelsbedingungen<br />

oder Spielregeln des internationalen Wettbewerbs<br />

(terms of trade) lassen Erzeugerländern von<br />

Priinärprodukten folglich kaum Chancen. Die Handelsbedingungen<br />

werden bestimmt von dem Verhältnis<br />

der Preise, zu denen Waren <strong>und</strong> Güter durch Exporte<br />

<strong>und</strong> Importe zwischen Ländern ausgetauscht<br />

werden. Steigt der Preis von Exportprodukten relativ<br />

zu den Preisen für Importe, bedeutet dies eine Verbesserung<br />

der Handelsbedingungen für das exportierende<br />

Land. Egal, wie sehr Primärproduzenten die Effizienz<br />

ihrer Erzeugung steigern oder die Kaufkraft<br />

der Konsumenten zunimmt - die Waage des internationalen<br />

Handels wird sich immer zuungunsten dieser<br />

Länder neigen; oder um ein anderes Bild zu gebrauchen:<br />

Sie treten auf der Stelle.<br />

Eine naheliegende Gegenstrategie peripherer Länder<br />

ist es, eine neue Rolle innerhalb des Systems der<br />

internationalen Arbeitsteilung anzustreben, indem sie<br />

versuchen, anstelle der Spezialisierung auf Primärerzeugnisse<br />

eine stärker diversifizierte industrielle Basis<br />

aufzubauen. Diese Strategie bezeichnet man als Importsubstitution.<br />

Sie ist jedoch schwer umzusetzen,<br />

denn der Aufbau einer diversifizierten industriellen<br />

Basis erfordert enorme Summen an Startkapital.<br />

Da die terms of trade gegen diese Länder arbeiten,<br />

ist es für sie extrem schwierig, solches Kapital zu bilden.<br />

Im Jahr 2002 beliefen sich die Schulden, die Länder<br />

niedrigen <strong>und</strong> mittleren Einkommens bei reichen<br />

Staaten hatten, auf mehr als 2,3 Billionen US-Dollar.<br />

Von dieser Summe werden zumindest jene Länder,<br />

die zu den „Zonen der Hoffnungslosigkeit“ gezählt<br />

werden (Abbildung 8.31) kaum je etwas zurückzahlen<br />

können, aber solange nordamerikanische, europäische<br />

<strong>und</strong> japanische Banken Zinszahlungen aus den<br />

gewährten Krediten erhalten, werden die Geldinstitute<br />

mit der Situation zufrieden sein, <strong>und</strong> auch die<br />

Länder der Kernregion können mit ihr ausgesprochen<br />

gut leben. Im Jahr 2002 flössen aus dem Schuldendienst<br />

300 Milliarden US-Dollar in die Kassen der<br />

Industrieländer, die nur 50 Milliarden US-Dollar an<br />

neuen Krediten vergaben. Dennoch besteht für die<br />

Zukunft immer die Gefahr, dass die Schuldnerländer<br />

sich zusammenschließen <strong>und</strong> gemeinschaftlich die<br />

Zinszahlungen einstellen könnten, was zu erheblichen<br />

Störungen im globalen Finanzwesen führen<br />

würde.<br />

Das Problem der Verschuldung hat Forderungen<br />

gegenüber reichen Gläubigerstaaten laut werden lassen,<br />

einigen der ärmsten Länder die Schulden zu erlassen.<br />

Im Jahr 2005 einigten sich die reichsten Länder<br />

der Erde - die Gruppe der Acht (G8) - darauf,<br />

den 18 ärmsten Ländern, zumeist afrikanische Staaten,<br />

Schulden in Höhe von 40 Milliarden US-Dollar<br />

zu erlassen. Will man jedoch das Verschuldungsproblem<br />

der am wenigsten entwickelten Länder in<br />

vollem Umfang angehen <strong>und</strong> die ärmsten Länder<br />

von ihren angehäuften Schulden befreien, wird dies<br />

substanzielle <strong>und</strong> anhaltende Anstrengungen erfordern.<br />

I<br />

Internationale Entwicklungshilfe<br />

Abgesehen vom Weg zu wirtschaftlicher Autarkie,<br />

den zum Beispiel Tansania <strong>und</strong> Burma zu gehen versucht<br />

haben, oder der Abwendung von der kapitalistischen<br />

Weltwirtschaft wie in Kuba, besteht für viele<br />

Länder die einzige Alternative zur erdrückenden Verschuldung<br />

darin, das Kapital durch Staatsanleihen zu


462 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

4 $<br />

Ä<br />

Auslandsverschuldung<br />

in Prozent des<br />

Bruttonationaleinkommens<br />

H ^-20<br />

I I 20-50<br />

□ 50-100<br />

m 100-175<br />

H 175-700<br />

keine Angaben<br />

• nach den Kriterien der Weltbank hoch verschuldete Länder Stand: 2003<br />

8.31 Zonen der Hoffnungslosigkeit Auslandsverschuldung in Prozent des Bruttonationalprodukts. Im Jahr 2003 betrugen die<br />

Auslandsschulden der Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer etwa 2,53 Billionen US-Dollar. Viele Entwicklungsländer sind so hoch<br />

verschuldet, dass sie aus diesem Teufelskreis nicht mehr herauskommen können <strong>und</strong> sie nur noch die Option des Schuldennachlasses<br />

haben. (Quelle: Atlas der Globalisierung. Berlin 2006, S. 109.)<br />

I'M<br />

erhöhen. Internationale Hilfsprogramme gewähren<br />

solche Anleihen zu einem niedrigen Zinssatz.<br />

Wenn jedoch die mit geliehenem Kapital finanzierten<br />

Projekte zur Entwicklung der Wirtschaft keine ausreichenden<br />

Rückflüsse erzielen, müssen weitere Kredite<br />

aufgenommen werden, um die bestehenden Schulden<br />

zu bedienen <strong>und</strong>/oder neue Entwicklungsprojekte zu<br />

finanzieren. Auf diese Weise häufen die Länder weitere<br />

Auslandsschulden an, sodass sie immer tiefer in<br />

die Schuldenfalle geraten.<br />

Erste umfangreiche Programme internationaler<br />

Entwicklungshilfe gab es kurz nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg im Rahmen des von den USA finanzierten<br />

Marshall-Plans, der dem Wiederaufbau Europas<br />

westlich des Eisernen Vorhangs diente. In den<br />

1950er- <strong>und</strong> 1960er-Jahren, als immer mehr Länder<br />

ihre Unabhängigkeit erlangten <strong>und</strong> in den Zeiten des<br />

Kalten Kriegs von den Großmächten umworben wurden,<br />

wurde die Entwicklungshilfe zu einer wirksamen<br />

„Waffe“, um international politischen Einfluss zu gewinnen<br />

<strong>und</strong> aufrechtzuerhalten. Ende der 1960er-<br />

Jahre standen auf der Liste der Geberländer neben<br />

den Supermächten auch zunehmend kleinere Staaten<br />

wie Deutschland, Dänemark oder Schweden. Deren<br />

Motive waren weniger politisch begründet, sondern<br />

entsprangen eher dem Bedürfnis zu helfen. Internationale<br />

Entwicklungshilfe wurde auch vom Internationalen<br />

Währungsfond <strong>und</strong> der Weltbank geleistet.<br />

Nichtstaatliche Entwicklungshilfeorganisationen hatten<br />

ihre Anstrengungen vorwiegend auf Soforthilfen<br />

bei akuten Notlagen, Naturkatastrophen, Kampagnen<br />

für Entschuldungsprogramme <strong>und</strong> Praktiken des fairen<br />

Handels konzentriert (Exkurs 8.5 „Geographie in<br />

Beispielen - Fairer Handel“).<br />

Dennoch haftet internationaler Hilfe immer noch<br />

stark der Geruch politischer Einflussnahme an, weil<br />

Auslandshilfe oft als flankierende Maßnahme zur<br />

Umsetzung von politischen Zielen gewährt wird. In<br />

der Vergangenheit äußerte sich dies zum Beispiel<br />

in der überproportional großen Unterstützung einiger<br />

weniger, strategisch wichtiger Länder, durch die<br />

beispielsweise die USA den Einfluss der Staaten des<br />

ehemaligen sowjetischen Machtblocks zu begrenzen<br />

versuchten. Hauptnutznießer von US-Hilfen ist heute<br />

Israel, das im Jahr 2002 r<strong>und</strong> 2 Milliarden Dollar Militärhilfe<br />

<strong>und</strong> 720 Millionen Dollar Wirtschaftshilfe<br />

empfing. Große Teile der britischen <strong>und</strong> französischen<br />

Hilfe fließen in deren ehemalige Kolonien in<br />

Afrika, während sich Japan vor allem in Asien engagiert<br />

<strong>und</strong> Hilfen der OPEC-Staaten überwiegend in<br />

arabische Länder gehen.<br />

Mit dem Ende des Kalten Kriegs verringerte sich<br />

das Engagement in der Entwicklungshilfe. Während<br />

die Länder der OECD ihren Beitrag im Jahr 1965<br />

auf fast 0,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts aller<br />

beteiligten Länder erhöht hatten, waren es 2003<br />

nur noch 0,25 Prozent. Am stärksten fuhren die<br />

USA ihre internationale Hilfe in Übersee zurück:


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 463<br />

8.32 Nahrungsmittelhilfe für somalische Kinder Nach einer Schätzung der Vereinten Nationen waren im Jahr 2004 r<strong>und</strong><br />

750000 Somalier regelmäßig auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die zwei Jahrzehnte dauernden Kämpfe zwischen verfeindeten,<br />

von wariords angeführten Gruppen hatten das Land mit Hunger <strong>und</strong> Gewalt überzogen, bis im Jahr 2004 aus einer Konferenz für<br />

Frieden <strong>und</strong> Aussöhnung eine neue Staatsregierung hervorging. Seitdem wurde die internationale Hilfe zurückgefahren <strong>und</strong> auf<br />

Notprogramme bei akuter Nahrungsmittelknappheit beschränkt.<br />

von 0,58 Prozent auf 0,15 Prozent des Bruttoinlandprodukts.<br />

Japans Hilfe überstieg zu keiner Zeit 0,33<br />

Prozent des Bruttoinlandprodukts. Demgegenüber<br />

haben Dänemark, Luxemburg, die Niederlande,<br />

Schweden <strong>und</strong> Norwegen ihrer Hilfsleistungen stetig<br />

erhöht. Sie sind die einzigen Länder, die das von den<br />

Vereinten Nationen vorgegebene Ziel von 0,7 Prozent<br />

des Bruttoinlandprodukts erreicht oder überschritten<br />

haben (Tabelle 8.2). Noch alarmierender ist die von<br />

der Weltbank getroffene Feststellung, die von zahlreichen<br />

Industrieländern zugesicherten Unterstützungsleistungen<br />

seien „Scheinhilfen“, weil sie letztlich in<br />

den Taschen internationaler Beratungsunternehmen<br />

oder bei Firmen der Geberländer landeten. Insgesamt<br />

„verschwinden“ auf diese Weise etwa 60 Prozent der<br />

internationalen Hilfen; in Frankreich <strong>und</strong> den USA,<br />

dürften es sogar fast 90 Prozent sein.<br />

Dennoch ist ausländische Hilfe für manche Empfängerländer<br />

von erheblicher Bedeutung. Mosambik<br />

empfing beispielsweise im Jahr 2002 Hilfen in Höhe<br />

von 57 Prozent seines Bruttoinlandprodukts, <strong>und</strong><br />

neun weitere Länder - unter ihnen Bur<strong>und</strong>i, Mauretanien,<br />

Ruanda <strong>und</strong> Sierra Leone - erhielten ausländische<br />

Hilfen von mehr als einem Fünftel ihrer Brut-<br />

Tabelle 8.2 Globale Energiereserven: Die größten Kohle-, Rohöl- <strong>und</strong> Erdgasvorkommen (Stand 1998)<br />

Kohlereserven<br />

(in Millionen Tonnen)<br />

Rohölreserven<br />

(in Millionen Barrel)<br />

Erdgasreserven<br />

(in Billionen Kubikmeter)<br />

Russland 241 000 Saudi-Arabien 261 500 Russland 48 334<br />

USA 240 558 Russland 155 146 Iran 21 000<br />

China 114 500 Irak 112 000 Katar 7 079<br />

Australien 90 940 Kuwait 96 500 Ukraine 5 686<br />

Indien 69 947 Vereinigte Arabische<br />

Emirate<br />

93 800 Saudi-Arabien 5 355<br />

Deutschland 67 300 Iran 93 000 USA 4 670<br />

Südafrika 55 333 Venezuela 64 878 Venezuela 4 010<br />

Polen 42 100 Mexiko 48 796 Algerien 3 690<br />

Indonesien 32 063 Libyen 29 500 Irak 3 341<br />

Kasachstan 25 000 China 24 000 Nigeria 2 965


464 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.5<br />

Geographie in Beispielen - Fairer Handel<br />

IJ<br />

Die Fair-Trade-Bewegung bildet ein weltweites Netzwerk von<br />

Produzenten, Händlern, Vermarktern, Rechtsanwälten <strong>und</strong><br />

Verbrauchern, die sich für gerechte Handelsbeziehungen zwischen<br />

den Konsumenten auf der einen <strong>und</strong> den wirtschaftlich<br />

am stärksten benachteiligten Handwerkern <strong>und</strong> Bauern auf der<br />

anderen Seite einsetzen. Damit ist sie im Gr<strong>und</strong>e eine Strategie<br />

zur Armutsbekämpfung <strong>und</strong> zu nachhaltiger Entwicklung.<br />

Diese Bewegung des „Fairen Handels“ unterstreicht die wechselseitigen<br />

Abhängigkeiten im internationalen Handel. Sie ist<br />

das Ergebnis eines innerhalb der Industrieländer wachsenden<br />

Bewusstseins der schwachen Position vieler kleiner Produzenten,<br />

die am Beginn der Wertschöpfungsketten stehen, welche<br />

die Weltwirtschaft bestimmen. Fairer Handel ist zu einem Teil<br />

der „Mobilmachung gegen die Globalisierung“ (Kapitel 2) geworden,<br />

ein Versuch, die Verbraucher für die Beziehungen<br />

zu sensibilisieren, die hinter ihren Kaufentscheidungen stehen.<br />

Die Gr<strong>und</strong>prinzipien des fairen Handels sind:<br />

• Möglichkeiten für wirtschaftlich benachteiligte Produzenten<br />

zu schaffen<br />

• Beratung <strong>und</strong> technische Unterstützung (capacity building)<br />

anzubieten<br />

• sicherzustellen, dass die Arbeit von Frauen angemessen<br />

bewertet <strong>und</strong> entlohnt wird<br />

• sichere <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Arbeitsbedingungen für Produzenten<br />

zu gewährleisten<br />

• faire Preise zu bezahlen, die nicht nur die Herstellungskosten<br />

decken, sondern eine sozial gerechte <strong>und</strong> ökologisch<br />

verträgliche Produktion ermöglichen<br />

Erreicht werden kann dies bereits mit moderat erhöhten Preisen<br />

für fair gehandelte Produkte in den Industrieländern. So<br />

gehen nur etwa neun Cent der 3,10 US-Dollar, die eine fair<br />

gehandelte 100-Gramm-Tafel Schokolade durchschnittlich<br />

kostet, an die Erzeuger in Entwicklungsländern, der Rest verteilt<br />

sich auf die verarbeitenden Betriebe, Entwickler, Verpakkungsfirmen,<br />

Fotografen, Marketingbüros, Werbeagenturen,<br />

Ladeninhaber <strong>und</strong> Steuerbehörden. Dennoch kann fairer Handel<br />

den Erzeugern in geringer entwickelten Ländern helfen <strong>und</strong><br />

demokratische Entscheidungsprozesse darüber bewirken, wie<br />

die zusätzlichen Einnahmen verteilt werden.<br />

Es gibt verschiedene Arten von Fair-Trade-Organisationen,<br />

die verschiedene Funktionen innerhalb der Wertschöpfungsketten<br />

erfüllen, welche Erzeuger <strong>und</strong> Verbraucher verbinden.<br />

Am Beginn der Wertschöpfungskette stehen Erzeugerorganisationen<br />

- beispielsweise ländliche Gruppen oder Kooperativen,<br />

die oft unter größeren Export- <strong>und</strong> Vermarktungsorganisationen<br />

zusammengeschlossen sind. Ende 2004 gab es 422<br />

nach den Prinzipien des fairen Handels zertifizierte Erzeugergemeinschaften<br />

{eingeschlossen die vielen Dachorganisationen)<br />

in 49 Ländern. Diese Organisationen verkaufen gewöhnlich<br />

ihre Produkte an eine zweite Art von Fair-Trade-Organisation;<br />

registrierte Importeure <strong>und</strong> Großhändler in den höher entwickelten<br />

Staaten. 2004 existierten solche Organisationen in<br />

19 Ländern. Diese wiederum verkaufen an Fair-Trade-Einzel<br />

händler: „Weltläden“ oder Händler, die solche Produkte<br />

über den Katalog oder das Internet anbieten (Abbildung<br />

8.5.1). In manchen Ländern sind Fair-Trade-Produkte alltäglich<br />

geworden, man bekommt sie in Supermärkten <strong>und</strong> gewöhnlichen<br />

Läden, <strong>und</strong> ihr Marktanteil beginnt zu wachsen. In der<br />

Schweiz machen fair gehandelte Bananen 20 Prozent sämtlicher<br />

über den Einzelhandel verkauften Bananen aus. In den<br />

USA ist Kaffee das wichtigste zertifizierte Fair-Trade-Prcduki<br />

mit Verkaufsumsätzen von 131 Millionen US-Dollar im Jahr<br />

2002.<br />

Die vierte Kategorie von Fair-Trade-Organisationen sind<br />

Kennzeichnungsorganisationen, welche den Weg bestimmter<br />

Waren vom Erzeuger bis zum Verbraucher zertifizieren, um<br />

die Einhaltung der Fair-Trade-Prinzipien zu gewährleisten.<br />

toinlandprodukte. Daran wird jedoch auch deutlich,<br />

wie extrem niedrig das Bruttoinlandprodukt dieser<br />

Länder ist. Insgesamt empfangen die ärmsten Länder<br />

keineswegs die größten Hilfen, der Pro-Kopf-Umfang<br />

der Hilfe ist in der Regel sehr gering, <strong>und</strong> ein großer<br />

Teil sind Nahrungsmittelhilfen in akuten Krisensituationen<br />

(Abbildung 8.32). Im Jahr 2002 erhielten finanzschwache<br />

Länder wie Bur<strong>und</strong>i, Tschad <strong>und</strong><br />

Uganda Pro-Kopf-Auslandshilfen von etwa 26 US-<br />

Dollar, finanziell etwas besser gestellte Länder wie<br />

die Dominikanische Republik, Ägypten <strong>und</strong> Sri Lanka<br />

r<strong>und</strong> 18 US-Dollar pro Kopf ihrer Bevölkerung. Hilfen<br />

in solchen Größenordnungen können nicht<br />

ernsthaft als Katalysator für Entwicklung oder als<br />

ein Instrument zum Ausgleich des wirtschaftlichen<br />

Ungleichgewichts zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie<br />

angesehen werden.<br />

Stadien wirtschaftlicher<br />

I Entwicklung__________<br />

Der Zusammenhang zwischen Wirtschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> Wohlstandsniveau legt nahe, wirtschaftliche Entwicklung<br />

als stufenweisen Prozess zu interpretieren.


Die Bedeutung des Begriffs „wirtschaftliche Entwicklung“ 465<br />

8.5.1 Fairer Handel Der<br />

Gründer <strong>und</strong> Vorsitzende der<br />

amerikanischen Organisation<br />

Transfair, Paul Rice, inspiziert<br />

„Fairer-Handel-Etiketten“ auf<br />

ausländischem Kaffee in den<br />

Geschäftsräumen seiner Organisation<br />

in Oakland, Kalifornien.<br />

Die Kennzeichnung fair gehandelter Produkte wurde in den<br />

Niederlanden eingeführt, als Max Havelaar aus Mexiko eingeführten<br />

Kaffee 1986 erstmals mit dem Label „garantiert fair<br />

gehandelt“ auszeichnete. Heute gibt es 19 Organisationen,<br />

die gemeinsam die internationale Standards festlegende<br />

<strong>und</strong> deren Einhaltung überwachende Gruppe Fairtrade Labeling<br />

Organizations International (FLO) betreiben. FLO-geprüfte<br />

<strong>und</strong> registrierte Produzenten erhalten einen Mindestpreis, der<br />

die Herstellungskosten deckt, <strong>und</strong> eine zusätzliche Prämie, die<br />

in die lokalen Gemeinschaften investiert wird.<br />

Und schließlich gibt es auf die Arbeitsbedingungen fokussierte<br />

Organisationen wie die Ethical Trading Initiative (ETI), die<br />

aus Fair-Trade-Kampagnen britischer Hilfsorganisationen hervorgegangen<br />

ist. ETI besteht aus einer Gruppierung aus Unternehmen,<br />

Nichtregierungsorganisationen (NGOs) <strong>und</strong> Handelsverbänden,<br />

die sich gemeinsam auf einen Gr<strong>und</strong>kanon von Arbeitsbedingungen<br />

verständigt haben, der das Recht auf Mitsprache,<br />

sichere <strong>und</strong> hygienische Arbeitsbedingungen, angemessene<br />

Löhne <strong>und</strong> eine Wochenarbeitszeit nicht über 48<br />

St<strong>und</strong>en beinhaltet.<br />

Der Verkauf fair gehandelter Erzeugnisse verzeichnet zweistellige<br />

Zuwächse, <strong>und</strong> die Bewegung breitet sich gegenwärtig<br />

sehr rasch aus. in den USA bieten ungefähr 12 000 Geschäfte<br />

mit dem Fair-Trade-Etikett gekennzeichnete Produkte an. Im<br />

Mai 2000 erklärte sich die Stadt Garstang im englischen Lancashire<br />

zur ersten Fair-Trade-Stadt weltweit, <strong>und</strong> im Jahr 2005<br />

setzten sich mehr als 200 größere <strong>und</strong> kleinere Städte in<br />

Großbritannien für Fair-Trade-Prinzipien <strong>und</strong> -produkte ein. Fairer<br />

Handel erfährt auch von Universitäten Unterstützung, zum<br />

Beispiel von der University of Birmingham, der University of<br />

Bristol, der University of Edinburgh, der London School of Economics<br />

and Political Science <strong>und</strong> der Scheffield University.<br />

Dennoch ist der Anteil von Fair Trade am internationalen Handel<br />

verschwindend gering. Großbritannien ist mit einem Umsatz<br />

von 300 Millionen Dollar der größte Fair-Trade-Markt weltweit.<br />

In Nordamerika betrug der Umsatz in der Fair-Trade-Industrie<br />

gerade einmal 200 Millionen US-Dollar, <strong>und</strong> weltweit<br />

liegt der Umsatz bei weniger als 1 Milliarde Dollar.<br />

Nach diesem Modell führt jedes Stadium zu einer höheren<br />

Stufe des Entwicklungsstands, ausgehend von<br />

einer starken Orientierung auf den Primärsektor<br />

<strong>und</strong> relativ niedrigem Wohlstandsniveau in den frühen<br />

Stadien über eine Phase der Industrialisierung bis<br />

zum Erreichen eines „Reifestadiums“ postindustrieller<br />

Entwicklung mit einer diversifizierten Wirtschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> einem relativ hohen Wohlstandsniveau.<br />

Dieses Modell wirtschaftlicher Entwicklung,<br />

welches auf den Wirtschaftswissenschaftler W.W.<br />

Rostow zurückgeht, hat lange Zeit eine hohe Akzeptanz<br />

erfahren (Abbildung 8.33).<br />

Von der <strong>Humangeographie</strong> wurde an solchen Modernisierungstheorien<br />

allerdings heftige Kritik geübt.<br />

Das Modell ist viel zu einfach <strong>und</strong> übersieht<br />

die Konsequenzen der funktionalen Arbeitsteilung,<br />

der asymmetrischen Verteilung von Macht <strong>und</strong> Wissen,<br />

die Rollen der Eliten <strong>und</strong> die Mechanismen des<br />

Wettbewerbs. In der Realität sind Standorte <strong>und</strong> Regionen<br />

miteinander verflochten. Das Schicksal jeder<br />

einzelnen Region hängt in zunehmendem Maße<br />

von der Entwicklung anderer Regionen ab. Rostows<br />

Modell propagiert den Mythos der „aufholenden<br />

Entwicklung“, nach dem jedes Land <strong>und</strong> jede Region<br />

irgendwann wirtschaftlich erfolgreich sein <strong>und</strong> das


466 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

M assenproduktion<br />

t<br />

Mehr als zehn Prozent des<br />

nationalen Einkommens werden<br />

in die Produktion investiert;<br />

Gründung moderner sozialer,<br />

ökonom ischer <strong>und</strong>'<br />

politischer Institutionen<br />

Reifung<br />

Entwicklung einer<br />

vielfältigen industriellen <strong>und</strong><br />

kommerziellen Basis<br />

<br />

Traditionelle<br />

Gesellschaft<br />

Einrichtung einer materiellen<br />

Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen<br />

etc.) <strong>und</strong> Herausbildung<br />

einer wirtschaftlichen, sozialen<br />

<strong>und</strong> politischen Elite<br />

V<br />

Voraussetzungen für<br />

den Aufschwung<br />

Kommerzialisierung der<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> Ausbeutung<br />

m ineralischer<br />

Rohstoffe<br />

Aufschwung<br />

Entwicklung eines<br />

Industriesektors<br />

eingeschränkteTechnologien,<br />

statische<br />

G esellschaft<br />

8.33 Stadien wirtschaftlicher Entwicklung Das Diagrannm veranschaulicht ein Modell wirtschaftlicher Entwicklung, dem die<br />

Idee sukzessiver Stadien der Modernisierung zugr<strong>und</strong>e liegt. Jedes Stadium führt zu einer höheren Stufe des Entwicklungsstandes,<br />

wobei verschiedene Regionen oder Länder diese Stadien mit unterschiedlicher Geschwindigkeit durchlaufen. Der Wirtschaftswissenschaftler<br />

W.W. Rostow, auf den dieses Modell zurückgeht, ging davon aus, dass Standorte <strong>und</strong> Regionen in einer sich<br />

stetig weiterentwickelnden Welt ähnlich verlaufende Entwicklungspfade beschreiten. Auch eine späte oder langsame Entwicklung<br />

werde schließlich zum Erfolg führen, wobei angenommen wurde, dass die Geschwindigkeit der Entwicklung (Modernisierung)<br />

unter anderem von den Ressourcen, der Produktivität sowie den Kompetenzen <strong>und</strong> der Weitsicht der politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Entscheidungsträger bestimmt sei. Diese Modernisierungstheorie hat in der Politik <strong>und</strong> in den Wirtschaftswissenschaften<br />

eine hohe Akzeptanz erfahren, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Hoffnung weckte, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis<br />

schließlich alle Länder einmal die höchste Stufe der Entwicklung erreichen würden.<br />

Stadium des „Massenkonsums“ erreichen wird, vorausgesetzt,<br />

es bringt sich - so gut es eben geht - im<br />

globalen Wettbewerb ein. Die größte Schwäche dieser<br />

Theorie besteht darin, dass es unrealistisch <strong>und</strong> unfair<br />

ist, die Bedeutung eines zeitlichen Vorsprungs oder<br />

eines Wissensvorsprungs für den Wettbewerb einfach<br />

auszublenden <strong>und</strong> so zu tun, als ob die Nachzügler<br />

genau dieselben Startchancen <strong>und</strong> Wettbewerbsbedingungen<br />

hätten wie jene Standorte, Regionen<br />

<strong>und</strong> Länder, in denen die wirtschaftliche Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Modernisierung schon weit fortgeschritten ist.<br />

Für die Frühstarter gab es weniger Wettbewerb, Konkurrenz<br />

<strong>und</strong> Einschränkungen sowie höhere Gewinne<br />

als für die Nachzügler. Wer relativ spät nach<br />

Wegen der ökonomischen Entwicklung sucht, findet<br />

eine völlig andere Situation vor als die Pioniere. Die<br />

heute wenig entwickelten Regionen müssen sich gegen<br />

zahlreiche überlegene Konkurrenten behaupten,<br />

welche die Spielregeln des internationalen Wettbewerbs<br />

(terms of trade) bereits zu ihren eigenen Gunsten<br />

festgelegt haben <strong>und</strong> ihre Machtstellung gegenüber<br />

den Schwächeren ausnutzen.<br />

Tatsächlich sind viele internationale Entwicklungsexperten<br />

der Überzeugung, dass der Wohlstand<br />

in den wirtschaftlich starken Ländern der Kernregion<br />

auf dem Rücken der unterentwickelten Länder der<br />

Peripherie erworben wurde. Periphere Länder, so<br />

wird argumentiert, konnten die historischen Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> die stufenweisen Entwicklungsschritte<br />

der Industrieländer nicht selbst „nachvollziehen“,<br />

da ihre Unterentwicklung eine strukturelle Voraussetzung<br />

für die Entwicklung andernorts war. Mit<br />

anderen Worten, die Entwicklung <strong>und</strong> Modernisierung<br />

Europas <strong>und</strong> Nordamerikas erforderte geradezu<br />

die systematische Unterentwicklung peripherer Staaten.<br />

Als Folge ungleicher Handelsbeziehungen, der<br />

Ausbeutung von Arbeitskraft <strong>und</strong> des Abschöpfens<br />

von Gewinnen ging die Armut der unterentwickelten


Alles an seinem Platz: Die Prinzipien des Standorts 467<br />

Länder nicht zurück, sondern sie nahm eher noch<br />

zu.<br />

André G<strong>und</strong>er Frank wies die Vorstellung zurück,<br />

Unterentwicklung sei ein quasi „naturgegebener“ Zustand,<br />

gleichbedeutend mit „Traditionalismus“ <strong>und</strong><br />

„Rückwärtsgewandtheit“. Vielmehr, so behauptet<br />

er, sei Unterentwicklung ein Zustand, der durch<br />

die Integration in das kapitalistische System des Austauschs<br />

erst geschaffen wurde. Die Weltwirtschaft, so<br />

Frank, ist von Ungleichheit geprägt, seit im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

die ersten Europäer auf Entdeckungsreisen<br />

in die Welt hinausfuhren. Zwar habe sich die Art<br />

der Dominanz des Zentrums über die Peripherie<br />

von Kolonialismus <strong>und</strong> Imperialismus zu Neokolonialismus<br />

gewandelt, dennoch seien aber auch weiterhin<br />

Ressourcen aus der Peripherie in das Zentrum<br />

geflossen <strong>und</strong> hätten dort Wachstum auf Kosten anderer<br />

Regionen ermöglicht <strong>und</strong> beschleunigt.<br />

Das Konzept von Frank, das sich den sogenannten<br />

Dependenztheorien zuordnen lässt, war lange Zeit<br />

ein viel beachteter Ansatz zur Erklärung der globalen<br />

Verteilung von Entwicklung <strong>und</strong> Unterentwicklung.<br />

Es geht gr<strong>und</strong>sätzlich davon aus, dass Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Unterentwicklung zwei gegensätzliche Seiten<br />

ein <strong>und</strong> desselben Prozesses sind: Entwicklung in<br />

einer Region setzt Unterentwicklung anderswo voraus.<br />

Heute wird jedoch auch Kritik an den Dependenztheorien<br />

geübt, weil sie die Abhängigkeitsverhältnisse<br />

sehr <strong>und</strong>ifferenziert sehen, nicht der Frage<br />

nachgehen, warum einige Entwicklungsländer mit<br />

ähnlichen Ausgangsbedingungen den Aufstieg in<br />

die Semiperipherie oder zu sogenannten Schwellenländern<br />

geschafft haben <strong>und</strong> andere nicht, Abhängigkeitsverhältnisse<br />

zum beiderseitigen Vorteil ausschließen<br />

<strong>und</strong> vor allem, weil sie die Rolle der nationalen<br />

Eliten unterschätzt haben.<br />

Alles an seinem Platz:<br />

Die Prinzipien des Standorts<br />

Als Geographen <strong>und</strong> Ökonomen begannen, nach<br />

Erklärungen für die lokal unterschiedlichen wirtschaftlichen<br />

Entwicklungen zu suchen, stießen sie<br />

auf eine Reihe von f<strong>und</strong>amentalen Prinzipien, welche<br />

die Entscheidungsprozesse bei der Auswahl eines<br />

Standorts stark beeinflusst haben. Mit der bewussten<br />

Entscheidung für einen konkreten Standort entstehen<br />

charakteristische geographische Beziehungen <strong>und</strong><br />

räumliche Strukturen.<br />

Standortprinzipien für Industrie<br />

<strong>und</strong> Handel<br />

Die Entscheidungen für Standorte von Unternehmen<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen erfolgen auf der Basis verschiedener<br />

Schlüsselfaktoren:<br />

• Erreichbarkeit aller notwendigen Materialien wie<br />

Rohstoffe, Energie <strong>und</strong> so weiter<br />

• Verfügbarkeit von Arbeitskräften mit unterschiedlichen<br />

Qualifikationen<br />

• akzeptable Produktionskosten, wozu die Ausgaben<br />

für Gr<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> Gebäude, Maschinenparks,<br />

Instandhaltung, Löhne <strong>und</strong> Gehälter <strong>und</strong> die Steuerlast<br />

gehören<br />

• ausreichende Nachfrage nach dem erzeugten Produkt<br />

oder der angebotenen Dienstleistung auf dem<br />

Markt, die unter anderem von der Nähe zum K<strong>und</strong>en<br />

abhängt<br />

• Transferkosten, die an alternativen Standorten<br />

entstünden, wozu neben den Transportkosten<br />

für eingehende Rohstoffe <strong>und</strong> ausgehende Produkte<br />

auch Versicherung, Lagerung, Verladung<br />

<strong>und</strong> Verpackung von Produkten gehören<br />

• Einfluss kultureller <strong>und</strong> institutioneller Rahmenbedingungen,<br />

wobei verschiedene politische Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftliche Einstellungen<br />

zu Unternehmertum <strong>und</strong> Marktwirtschaft die<br />

Hauptrolle spielen (So ist es durchaus üblich,<br />

dass die Investition in einen Standort erst durch<br />

Steuervergünstigungen attraktiv wird oder dass<br />

das politische Klima, zum Beispiel die Häufigkeit<br />

von Streiks, bei einer Standortentscheidung einen<br />

höheren Stellenwert hat als die Transportkosten.)<br />

• Kontakt- <strong>und</strong> Kommunikationspotenzial des<br />

Standorts (Entscheidungsträger, die ein hohes<br />

Maß an Ungewissheit, also eine instabile, wettbewerbsintensive,<br />

sich ständig verändernde Umwelt<br />

bewältigen müssen, oder deren Entscheidungen<br />

für die Organisation langfristige Konsequenzen<br />

haben, benötigen nicht nur selbst hohe Qualifikationen,<br />

sondern ihr Erfolg hängt weitgehend davon<br />

ab, ob sie kurzfristig <strong>und</strong> spontan direkte Kontakte<br />

mit anderen hoch qualifizierten Entscheidungsträgern<br />

in Wirtschaft, Politik, Verwaltung <strong>und</strong> den<br />

Medien aufhehmen können <strong>und</strong> sich so einen Informationsvorsprung<br />

verschaffen oder erhalten<br />

können.)<br />

» Image von Standorten (Das gute oder schlechte<br />

Image von Standorten wird häufig auf die dort ansässigen<br />

Unternehmen übertragen, sodass die<br />

„richtige Adresse“ über Erfolg oder Misserfolg verschiedener<br />

Dienstleistungen entscheiden kann.)


468 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

8.34 Die Industrieregion Sheffield Das Wachstum Sheffields basierte vor allem auf den lokal vorhandenen Gewichtsverlustmaterialien<br />

für die Eisen- <strong>und</strong> Stahlverarbeitung: Kalk, Kohle, Eisenerz <strong>und</strong> Wasser. Für die Eisengewinnung wurden ursprünglich<br />

Toneisensteine abgebaut, die sich in den nahe gelegenen Kohlevorkommen fanden. Das Wasser entnahm man dem Fluss Sheaf,<br />

der magnesiumreiche Kalkstein war einige Kilometer östlich verfügbar. Die wachsende Stahlindustrie konnte sich im breiten<br />

Don-Tal ausbreiten <strong>und</strong> nutzte die großen Kohle- <strong>und</strong> Kalkvorkommen im Osten sowie die hochwertigen Eisenerze r<strong>und</strong> 6 bis<br />

9 Meter unter der Oberfläche in der Region um Scunthorpe. In Sheffield selbst entstanden zahlreiche Betriebe, in denen der<br />

hochwertige Stahl zu Ankern, Bestecken, Feilen, Nägeln, Nadeln <strong>und</strong> Drähten verarbeitet wurde.<br />

• gr<strong>und</strong>sätzliche Einstellungen <strong>und</strong> Präferenzen individueller<br />

Entscheidungsträger<br />

Die Bedeutung <strong>und</strong> Tragweite dieser Faktoren ist je<br />

nach Branche, Betriebsgröße, Wettbewerbssituation<br />

<strong>und</strong> Lebenszyklusphase eines Unternehmens verschieden.<br />

Für den Einzelhandel ist die Nähe zum<br />

K<strong>und</strong>en beispielsweise fast immer von ausschlaggebender<br />

Bedeutung. Aber eben nur fast immer,<br />

denn einige Einzelhandelsbetriebe wickeln ihre Geschäfte<br />

per Post oder Internet ab. Einzelhandelsbetriebe<br />

des höheren oder spezialisierten Bedarfs (Juweliere,<br />

Geschäfte für Brautausstattung) tendieren zur<br />

Konzentration in Zentren, weil nur dort die notwendige<br />

Zahl an K<strong>und</strong>en zu erwarten ist. Geschäfte des<br />

täglichen Bedarfs (Lebensmittelgeschäfte) streben<br />

eher eine flächenhafte, dezentrale Verbreitung an<br />

(Exkurs „Einzelhandel <strong>und</strong> Einzelhandelsstandorte“).<br />

Großhändler werden dagegen versuchen, das Kosten-<br />

Nutzen-Verhältnis zu optimieren. Dies kann mithilfe<br />

umfangreicher Marktforschung oder auf der Basis<br />

Geographischer Informationssysteme (Kapitel 3) erfolgen.<br />

Auch die Wahl industrieller Standorte ist je nach<br />

Branche von zahlreichen unterschiedlichen Parametern<br />

abhängig. Wo bei der Erzeugung hochwertiger<br />

Produkte schwere <strong>und</strong> sperrige Rohmaterialien verarbeitet<br />

werden, liegt es auf der Hand, dass die Nähe zu<br />

den Rohstoffquellen zum wichtigsten Standortfaktor<br />

wird. Stahlwerke benötigen beispielsweise große<br />

Mengen von Eisenerz, Kalkstein, Koks <strong>und</strong> Wasser.<br />

Diese Rohstoffe verlieren im Laufe der Produktion<br />

an Volumen <strong>und</strong> Gewicht. Wenn die Herstellung<br />

von Produkten auf Gr<strong>und</strong>lage solcher Rohmaterialien<br />

erfolgt, ist es wirtschaftlich am günstigsten, den<br />

Standort möglichst in deren Nähe zu verlegen, wobei<br />

oft die Entscheidung zu treffen war, ob Kohle zu<br />

Eisenerzen oder Eisenerze zu Kohlevorkominen<br />

transportiert oder ein verkehrsgünstiger Standort in<br />

der Mitte der Rohstoffvorkommen gewählt werden<br />

sollte. Bei solchen Entscheidungen spielten auf jeden<br />

Fall Transportkosten eine entscheidende Rolle. Aus<br />

solchen Überlegungen heraus entstand einst die<br />

Industrieregion um den englischen Ort Sheffield<br />

(Abbildung 8.34) oder die Schwerindustrie im Ruhrgebiet.<br />

Bei anderen Produkten, wie zum Beispiel Bier,<br />

wird die Marktnähe zum entscheidenden Kriterium.<br />

Selbstverständlich spielt auch die Verfügbarkeit von<br />

Gr<strong>und</strong>materialien eine wichtige Rolle. Einige Rohstoffe<br />

wie Bauxit, Schwefel oder Zink sind relativ selten<br />

<strong>und</strong> ihre Vorkommen auf wenige Lagerstätten he-


Alles an seinem Platz: Die Prinzipien des Standorts 469<br />

grenzt. Im Gegensatz dazu ist Wasser, abgesehen von<br />

ariden Gebieten, fast überall verfügbar. Wie können<br />

diese komplizierten Zusammenhänge nun derart generalisiert<br />

werden, dass sie Aufschluss geben über die<br />

f<strong>und</strong>amentalen Strukturen <strong>und</strong> Prozesse räumlicher<br />

Organisation?<br />

Ökonomische Interdependenz:<br />

, Agglomerationseffekte______<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich ist festzuhalten, dass die unterschiedlichen<br />

kommerziellen <strong>und</strong> industriellen Standortfaktoren<br />

Teil eines komplexen Netzwerks funktionaler<br />

Interdependenzen sind. Industriebetriebe, Transportunternehmen,<br />

Groß- <strong>und</strong> Einzelhandelsbetriebe<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen sind untereinander eng vernetzt.<br />

Diese Netzwerke basieren auf Verbindungen<br />

<strong>und</strong> Beziehungen, denen ganz bestimmte Prinzipien<br />

zugr<strong>und</strong>e liegen. Eines der wichtigsten Prinzipien, das<br />

die lokalen Muster wirtschaftlichen Handelns bestimmt,<br />

ist das der räumlichen Agglomeration. Unter<br />

Agglomeration versteht man die Häufting funktional<br />

ähnlicher Aktivitäten. Als Beispiel kann die räumliche<br />

Konzentration von Hightech-Unternehmen in Silicon<br />

Valley genannt werden, einem Gebiet zwischen<br />

den kalifornischen Städten Santa Clara <strong>und</strong> San<br />

Jose. Agglomerationseffekte führen dazu, dass Betriebe,<br />

die sich innerhalb eines solchen räumlichen<br />

Clusters ansiedeln, Kosten- beziehungsweise Informationsvorteile<br />

genießen. Derlei Vorteile werden<br />

auch als positive externe Effekte oder Standortvorteile,<br />

bezeichnet. Solche Einsparungen sind also nicht<br />

das Ergebnis interner Strukturen oder Produktionsweisen,<br />

sondern sind einzig den Umständen innerhalb<br />

eines spezifischen räumlichen Umfeldes zuzurechnen.<br />

Eine Drahtzieherei wird also allein davon<br />

profitieren, dass sie sich in der Nähe eines Stahlwerks<br />

ansiedelt. Und zwar nicht nur wegen der minimalen<br />

Transportkosten, sondern auch aufgr<strong>und</strong> der Erfahrung,<br />

über welche die Fachkräfte des Zulieferers - in<br />

diesem Falle des Stahlwerks - verfügen. Überdies<br />

muss der Stahl vor der Verarbeitung nicht erneut erhitzt<br />

werden. Wenn sich in der 47. Straße von New<br />

York zahlreiche Diamantenhändler oder in der Universitätsstadt<br />

Heidelberg viele Verlage konzentrieren,<br />

so bestehen deren Agglomerationsvorteile unter anderem<br />

darin, dass sie durch Beobachtung der Konkurrenten<br />

früher von neuen Entwicklungstrends erfahren,<br />

schneller an neue Informationen über die<br />

Marktentwicklung herankommen, häufiger mit potenziellen<br />

K<strong>und</strong>en Zusammentreffen, durch Nachahmung<br />

der Erfolgreichen Fehlentwicklungen im eigenen<br />

Unternehmen vermeiden können <strong>und</strong> am Standort<br />

ein hohes Kommunikationspotenzial mit K<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Konkurrenten vorfinden.<br />

Solche Umstände führen zur Herausbildung komplexer<br />

Verbindungen zwischen den Wirtschaftsunternehmen<br />

eines Standorts. Rückwärtige Beziehungen<br />

(backward linkages) ergeben sich aus Verflechtungen<br />

mit Zulieferbetrieben. Die erwähnte Drahtzieherei<br />

unterhält eine rückwärts gerichtete Verbindung<br />

zum Stahlwerk. Das Stahlwerk unterhält wiederum<br />

Zulieferbeziehungen zu den Betrieben, von denen<br />

es Eisenerz <strong>und</strong> Maschinen bezieht, oder die eine spezielle<br />

Instandhaltung anbieten. Durch die Kooperation<br />

mit der Drahtzieherei - <strong>und</strong> vielen anderen Betrieben<br />

- profitiert das Stahlwerk hingegen von vorwärts<br />

gerichteten Verflechtungen (forward linkages). Zu den<br />

anderen K<strong>und</strong>en des Stahlwerks können Automobilhersteller<br />

(Autobleche), Dosenfabriken, Röhrenwerke<br />

oder Hersteller von Essbestecken gehören. Auch<br />

diese Firmen verfügen ihrerseits über weitere Absatzbeziehungen.<br />

Die Drahtzieherei wird Großhändler,<br />

Montage-, Produktions- <strong>und</strong> Verpackungsbetriebe<br />

beliefern. In ihrer Kombination können diese Kopplungseffekte<br />

in einem Maße an Bedeutung gewinnen,<br />

dass sie komplementäre Dienstleistungen anziehen.<br />

Dabei handelt es sich beispielsweise um Firmen für<br />

Wartung <strong>und</strong> Reparatur, private Sicherungsdienste,<br />

Steuerberater, Buchprüfer oder Transportunternehmer.<br />

Die Abbildung 8.35 zeigt solche wechselseitigen<br />

Beziehungen am Beispiel eine Stahlwerks.<br />

Wo sich externe Effekte <strong>und</strong> lokale Wirtschaftsbeziehungen<br />

auf Firmen eines bestimmten Industriezweigs<br />

beschränken, spricht man von branchenspezifischen<br />

Fühlungsvorteilen. Von diesen Einsparungen<br />

profitieren ganz bestimmte Betriebe, weil sie sich<br />

gemeinsam an einem Ort angesiedelt haben. Sie können<br />

auf einen gemeinsamen Pool qualifizierter Arbeitskräfte<br />

zurückgreifen, teilen sich die Förderung<br />

spezialisierter Bildungseinrichtungen, kooperieren<br />

in Verbänden oder gründen gemeinsame Forschungsinstitute<br />

<strong>und</strong> profitieren von erfahrenen Subunternehmern,<br />

Instandhaltungsfirmen, Zulieferern,<br />

Handelsvertretungen <strong>und</strong> Rechtsanwälten. Wo solche<br />

Standortvorteile den Ruf hoher Produktqualität begründen,<br />

wird die Agglomeration weiter zunehmen,<br />

da auch andere Unternehmen von dieser Reputation<br />

profitieren wollen. Unter vielen Beispielen können<br />

die Elektronik- <strong>und</strong> Softwareunternehmen in Silicon<br />

Valley, die Filmstudios in Los Angeles, die Stahl produzierende<br />

<strong>und</strong> verarbeitende Industrie (vor allem<br />

Essbestecke) im Raum Sheffield oder Solingen, die<br />

Vorarlberger Stickereiindustrie, die oberitalienische<br />

Modeindustrie, die süddeutsche Automobilindustrie,


470 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Thünen’sche Ringe<br />

Die nach Johann Heinrich von Thünen (1783- 1850) benannten<br />

Ringe eines Kreismodells sollen den Zusammenhang von<br />

Gr<strong>und</strong>rente <strong>und</strong> Standort der landwirtschaftlichen Produktion<br />

verdeutlichen. Generelles Merkmal der Thünen’schen Ringe<br />

ist die vom Marktzentrum aus abnehmende Intensität der Nutzungsweise.<br />

Thünen konzipierte seine Theorie noch vor dem<br />

Aufkommen moderner Verkehrsmittel, also in einer Zeit extrem<br />

hoher Transportkosten. Dies verbietet es, in der Gegenwart<br />

nach Beweisen für die empirische Brauchbarkeit des Modells<br />

zu suchen. Thünen (1826) macht für sein Modell zudem<br />

folgende restriktiven Annahmen;<br />

• Existenz eines von der übrigen Welt abgeschlossenen<br />

Staates<br />

• keine natur- <strong>und</strong> anthropogeographische Differenzierung<br />

dieser Fläche<br />

• Dominanz einer einzigen großen Stadt, auf welche die<br />

Agrarwirtschaft ausgerichtet ist<br />

• Gewinnmaximierung durch die Landwirte angestrebt<br />

• Anstieg der Transportkosten proportional zur (Luftlinien-)<br />

Entfernung zwischen Produktionsstandort <strong>und</strong> Absatzort<br />

<strong>und</strong> zum Gewicht des Produkts<br />

Thünen sucht aufgr<strong>und</strong> dieses abstrahierenden Modells nach<br />

der optimalen Ordnung der Bodennutzung, die den höchstmöglichen<br />

Reinertrag (Lagerente) abwirft:<br />

R = E(p - a) - Efk,<br />

wobei R = Lagerente Je Flächeneinheit, p = Marktpreis pro Produkteinheit,<br />

f = Transportkosten pro Produkt- <strong>und</strong> Entfernungseinheit,<br />

E = Produktionsmenge je Flächeneinheit,<br />

a = Produktionskosten je Produkteinheit, k = Distanz zwischen<br />

Produktionsstandort <strong>und</strong> Markt ist.<br />

Aus dieser Formel ergibt sich, dass in Marktnähe infolge<br />

geringer Transportkosten ein höherer Gewinn erzielt wird<br />

als in Marktferne. Der marktnahe Landwirt kann somit seinen<br />

Betrieb durch erhöhten Kapital- <strong>und</strong> Arbeitseinsatz stärker intensivieren<br />

als der marktferne, der seine Produktionskosten<br />

infolge hoher Transportkosten senken <strong>und</strong> demnach extensiver<br />

wirtschaften muss. Die höhere Intensität der marktnahen<br />

Bewirtschaftung ergibt sich auch zwangsweise aus den höheren<br />

Löhnen, Boden- <strong>und</strong> Pachtpreisen. Wendet man dieses<br />

Prinzip auf mehrere Nutzungsarten an, so ergeben sich je<br />

nach Transporteigenschaften der Produkte unterschiedliche<br />

Standortbereiche. Im Modell Thünens entstehen auf diese<br />

Weise um das Marktzentrum konzentrische Ringe (oft auch<br />

„Kreise“) verschiedener Nutzung.<br />

Die ringförmige Nutzungsanordnung ist nach Thünen ebenso<br />

auf der Wirtschaftsfläche der einzelnen landwirtschaftlichen<br />

Betriebe zu beobachten. So folgen in mitteleuropäischen<br />

Betrieben häufig von innen nach außen Gartenland <strong>und</strong> Weiden<br />

für das Milchvieh, Feldland <strong>und</strong> Wald. In subtropischen<br />

Gebieten werden Agrumen-, Wein- <strong>und</strong> Olivenkulturen von extensiverem<br />

Weizenbau <strong>und</strong> ortsfernen Weiden umgeben. In<br />

wechselfeucht-tropischen Räumen folgen ortsnaher intensiver<br />

Bewässerungsreisbau, extensiver Regenfeldbau <strong>und</strong> periphere<br />

Naturweiden aufeinander.<br />

Allgemein lässt sich aus dem Thünen’schen Modell die Intensitätsregel<br />

ableiten, nach der extensive Betriebszweige mit<br />

zunehmender Marktentfernung der Betriebe umso überlegener<br />

sind <strong>und</strong> umgekehrt die intensiven Betriebszweige an<br />

Überlegenheit mit zunehmender Marktnähe gewinnen.<br />

Als Sonderfall behandelt schon Thünen die Beschränkungen<br />

der Marktbelieferung durch zu hohe Transportkosten.<br />

Eine Lösung des Problems stellt die Veredelung von Agrarprodukten<br />

dar (Milchprodukte, Trockenfrüchte, Branntwein).<br />

Klassische Beispiele im Thünen’schen Sinne sind die Erzeugung<br />

von Bourbon-Whisky in Kentucky <strong>und</strong> Tennessee, die<br />

schottischen Whisky-Standorte um Inverness <strong>und</strong> auf der Insel<br />

Islay oder auch die Branntweinherstellung im emsländischen<br />

Haselünne. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

findet die normative Aussage der Thünen’schen Theorie<br />

ihre faktische Bestätigung: Im Umland der Großstädte gewinnen<br />

die landwirtschaftlichen Betriebe durch Spezialisierung<br />

auf Milchproduktion, Anbau von Feldgemüse, Kartoffeln <strong>und</strong><br />

Obst eine besonders hohe Intensität. Dazu kommt es zur Ausbildung<br />

besonderer Gartenbaugebiete. Diese Entwicklung erklärt<br />

sich aus den rasch wachsenden städtischen Absatzmärkten<br />

<strong>und</strong> aus dem Fehlen geeigneter Transporttechnologie.<br />

Kritik an Thünen zielt vor allem auf die Realitätsferne seines<br />

abstrahierenden <strong>und</strong> isolierenden Modells.<br />

Heute hat sich die Bedeutung räumlicher Distanzen in vielen<br />

Teilen des Agrarraums durch technologische Fortschritte<br />

(Geschwindigkeit, Kapazität, Kühlmöglichkeit), gestaffelte<br />

Frachtraten <strong>und</strong> durch eine komplexe Agrarpolitik unter anderem<br />

mit Zollbarrieren <strong>und</strong> dirigistischer Preissteuerung verändert.<br />

Der zahlenmäßige Anstieg der Weltbevölkerung <strong>und</strong> die<br />

Steigerung der Nachfrage nach Nahrungsgütern hat die unbebauten<br />

Landreserven aufgezehrt. Der Getreidebau endet<br />

heute an seinen klimatischen Grenzen <strong>und</strong> nicht mehr an<br />

einem Lagerrenten-Nullpunkt. Die Gültigkeit der Theorien<br />

kann allerdings in Entwicklungsländern mit mangelhafter (Verkehrs-)lnfrastruktur<br />

weiterhin belegt werden. In Entwicklungsländern<br />

mit starker Subsistenzwirtschaft (vornehmlich in Afrika)<br />

ist eine Anbauzonierung aber nur bei Marktfrüchten (cash<br />

crops) zu finden. Dabei erfolgt die Zonierung nicht zwingend,<br />

denn die Bauern gewichten hinsichtlich der Standortwahl für<br />

den Anbau von Agrarprodukten die Versorgungssicherheit höher<br />

als die Erzielung einer maximalen Bodenrente. Erstere ist<br />

von Bodenqualität <strong>und</strong> der Reduzierung von Naturrisiken abhängig,<br />

letztere von niedrigen Transportkosten. Dieses Verhalten<br />

kann in der Regel nicht zu einem Ringmuster führen.<br />

Vereinzelt kann das räumliche Ordnungsmuster wiedergef<strong>und</strong>en<br />

werden bei der Anordnung der agraren Nutzung um<br />

einen alleinstehenden Bauernhof oder ein Dorf (hausnahe Gemüse-,<br />

Obst- <strong>und</strong> Blumengärten - intensive Portionsweiden<br />

<strong>und</strong> Wiesen - Ackernutzung - Wald). In Industrieländern haben<br />

Reste Thünen’scher Ringe oft fossilen Charakter, sie verdanken<br />

ihr Fortbestehen nicht aktuellen Distanzeinflüssen,<br />

sondern anderen Ursachen (beispielsweise hat der stadtnahe<br />

Wald des zweiten Ringes heute Naherholungsfunktion, der<br />

marktnahe Dauerkulturbau, auch manche intensiven Glashauskulturen<br />

- zum Beispiel in Simmering bei Wien - besitzen<br />

eine hohe Persistenz, möglicherweise verb<strong>und</strong>en mit einem


Alles an seinem Platz: Die Prinzipien des Standorts 471<br />

^ Hauptstadt<br />

^11111111<br />

Freie W irtschaft {leichtverderbliche Produkte (z.B. Trinkmilch)<br />

oder transportkostenempfindliche Güter (Stroh, Kartoffeln)<br />

E U<br />

[• Y n<br />

Forstwirtschaft<br />

Fruchtwechselwirtschaft<br />

Koppelwirtschaft (Feldgroßwirtschaft mit abwechselnd Acker<br />

<strong>und</strong> W eide)<br />

D reifelderw irtschaft (exte nsiver G etreidebau m it Brache)<br />

m ] Viehzucht<br />

20 30 40 Meilen<br />

nens, dass aus ökonomischer Sicht die optimale räumliche<br />

Anordnung der landwirtschaftlichen Bodennutzung von der Jeweils<br />

günstigsten Aufwands-, Kosten- <strong>und</strong> Ertragsrelation bestimmt<br />

wird.<br />

Quelle: K. Baldenhofer. In: Lexikon der Geographie<br />

Herkunfts-Goodwill). Die Bedeutung der Transportkosten zeigt<br />

sich aber selbst in Deutschland mit seinem effizienten Verkehrssystem,<br />

zum Beispiel bei der Massierung von Veredelungsbetrieben<br />

im Südoldenburgischen, also im unmittelbaren<br />

Hinterland von Einfuhrhäfen <strong>und</strong> in der Nähe von Absatzgebieten.<br />

Allgemeine Gültigkeit behalten hat das Gr<strong>und</strong>prinzip Thüindustriestandorttheorien<br />

Theorien der Standortwahl industrieller Betriebe wurden seit<br />

etwa 100 Jahren vor allem von der Volks- <strong>und</strong> Betriebswirtschaft,<br />

kaum von der Geographie, entwickelt. Die Reihe führt<br />

dabei von ersten Ansätzen einzelbetrieblicher Standortmodelle<br />

im Sinne der klassischen Standorttheorie Webers<br />

(1909) <strong>und</strong> ihrer Modifikationen in späterer Zeit (zum Beispiel<br />

bei Rüschenpöhler[1958] <strong>und</strong> Behrens [1971]) über volkswirtschaftliche<br />

Partial- <strong>und</strong> Landschaftstrukturmodelle (Lösch<br />

1940) bis zu Ansätzen einer integrierten Raumwirtschaftstheorie,<br />

die insbesondere in den USA interdisziplinär zur/•e,g/bnal<br />

Science fortentwickelt wurde (Isard 1960, von Böventer<br />

1979).<br />

Zusammengefasst lassen sich Standorttheorien beziehungsweise<br />

Standortmodelle zum einen nach ihrer „Reichweite“<br />

<strong>und</strong> dem Grad ihres Modellcharakters, zum anderen nach<br />

ihrer inhaltlichen Zielsetzung charakterisieren.<br />

Hinsichtlich der Reichweite lassen sich unterscheiden:<br />

• traditionelle einzelwirtschaftliche Modelle, die sich<br />

vornehmlich mit der Frage des optimalen Standorts eines<br />

einzelnen Betriebs beziehungsweise eines zusätzlichen Betriebs<br />

beschäftigen<br />

• gesamtwirtschaftliche Partialmodelle (Landschaftsstrukturmodelle),<br />

welche für den Primär-, Sek<strong>und</strong>är- <strong>und</strong><br />

Tertiärsektor die sich unter idealtypischen Bedingungen<br />

(völlige Homogenität des Raumes, allein ökonomische<br />

Einflussgrößen) herausbildenden Raumstrukturen untersuchen<br />

• gesamtwirtschaftliche Totalmodelle, die für alle Wirtschaftssektoren<br />

gelten sollen, indem eine Verbindung zwischen<br />

herkömmlicher Gleichgewichtstheorie, Standortproblematik<br />

<strong>und</strong> allgemein formulierter Außenhandelstheorie<br />

hergestellt wird.<br />

Hinsichtlich ihrer inhaltlichen Zielsetzung lassen sich unterscheiden:<br />

1. Standorttheorien mit Transportkostenprimat<br />

Ziel von Standorttheorien ist die Bestimmung des optimalen<br />

Produktionsortes für einen Einzelbetrieb oder des Standortmusters<br />

der Gesamtheit von Betrieben eines Raums. Den<br />

bis heute bekanntesten Entwurf einer einzelbetrieblichen<br />

Standorttheorie legte Alfred Weber (Heidelberg) 1909 vor.<br />

Dabei sind zahlreiche vereinfachende Vorannahmen Voraussetzung<br />

für das Funktionieren des Modells:<br />

• die Standorte der Rohmaterialien sind bekannt <strong>und</strong> gegeben<br />

• die räumliche Verteilung des Konsums ist bekannt <strong>und</strong> gegeben<br />

• das Transportsystem ist einheitlich, die Transportkosten<br />

sind eine Funktion von Gewicht <strong>und</strong> Entfernung


472 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

1<br />

Tr<br />

! I'<br />

• die räumliche Verteilung der Arbeitskräfte ist bekannt <strong>und</strong><br />

gegeben<br />

• die Arbeitskräfte sind immobil, die Lohnhöhe ist konstant,<br />

aber räumlich differenziert, bei einer gegebenen Lohnhöhe<br />

sind die Arbeitskräfte unbegrenzt verfügbar<br />

• die Homogenität des wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Systems wird unterstellt<br />

Auf der Basis dieser Vorannahmen sind es nur drei Standortfaktoren,<br />

welche die Standortwahl bestimmen: die Transportkosten<br />

(optimaler Produktionsort ist der transportkostenminimale<br />

Produktionsort), die Arbeitskosten <strong>und</strong> die<br />

Agglomerationswirkungen. Weber ermittelt dabei sukzessive<br />

zunächst den Transportkostenminimalpunkt <strong>und</strong> untersucht<br />

dann die Einflüsse von Arbeitskosten <strong>und</strong> Agglomerationswirkungen<br />

als „Derivationen“, das heißt Abweichungen<br />

vom Transportkostenminimalpunkt.<br />

Transportkosten hängen bei Weber ausschließlich vom Gewicht<br />

des Materials beziehungsweise des Fertigerzeugnisses<br />

<strong>und</strong> von der räumlichen Verteilung (genauer: Entfernung) zwischen<br />

Material <strong>und</strong> Verbrauch ab. Er unterscheidet Ubiquitäten<br />

(überall vorkommende Materialien) <strong>und</strong> lokalisierte Materialien,<br />

die mit ihrem gesamten Gewicht in das Fertigerzeugnis<br />

eingehen (Reingewichtsmaterialien) oder nur zum Teil in ihm<br />

enthalten sind (Gewichtsverlustmaterialien). Die F<strong>und</strong>orte von<br />

Produktionsmaterialien <strong>und</strong> der Konsumort ergeben, je nach<br />

Art <strong>und</strong> Menge an eingesetzten Rohstoffen, geometrische Figuren<br />

in Form von Standortdreiecken oder Standortpolygonen.<br />

August Lösch hat in seinem 1940 erschienenen Werk<br />

„Die räumliche Ordnung der Wirtschaft“ eine Theorie entwickelt,<br />

die sowohl die räumliche Verteilung der Produktionsstandorte<br />

als auch ihre Spezialisierung zu erklären versucht.<br />

Sein Ansatz weist in methodischer Hinsicht einige Parallelen<br />

zu Christallers „Zentralen Orten“ auf (Christaller 1933), nur<br />

dass es hier nicht um zentralörtliche, also tertiärwirtschaftliche<br />

Funktionen geht, sondern um Güterproduzenten mit entsprechend<br />

zugeordneten Marktgebieten.<br />

Auch die von Lösch entwickelte Theorie arbeitet mit der<br />

Annahme zahlreicher Homogenitäts- <strong>und</strong> Gleichgewichtsbedingungen:<br />

Gleichverteilung von Produktionsfaktoren <strong>und</strong> Bevölkerung,<br />

von Kaufkraft <strong>und</strong> Transportmöglichkeiten; ökonomisch-rationales<br />

Verhalten, also Nutzenmaximierung bei den<br />

Anbietern wie den Nachfragern, sind Vorbedingungen.<br />

Produzenten eines durch gleich verteilte kleinste Siedlungen<br />

geprägten Marktgebiets erzeugen über den Eigenbedarf<br />

hinaus n Güter (oder Gütergruppen), die unterschiedlich<br />

weit verkauft werden. Jedes Gut hat also eine produktionsspezifische<br />

Größe des Marktgebiets, die letztendlich definiert wird<br />

als Kostendeckung bei einer notwendigen Mindestnachfrage.<br />

Es entsteht für verschiedene Güter ein Netz von Marktgebieten<br />

mit einer je nach Gut charakteristischen Maschengröße.<br />

Legt man die unterschiedlichen Marktnetze übereinander <strong>und</strong><br />

rotiert das ganze um einen Mittelpunkt (die zentrale Großstadt)<br />

so, dass sich eine möglichst große Zahl an Produktionsstandorten<br />

überlagern, ergibt sich das Bild einer idealen Wirtschaftslandschaft<br />

im Sinne von Lösch, die geprägt ist durch<br />

eine Maximierung der örtlich wirksamen Nachfrage bei gleichzeitiger<br />

Minimierung der Transportkosten.<br />

Neoklassische Standorttheorien reduzieren zwangsläufig<br />

die Fülle an Einflussvariablen für konkrete Standortentscheidungen<br />

auf einige wenige <strong>und</strong> überschaubare. Sie gehen von<br />

ökonomischer Rationalität, wirtschaftsräumlicher Homogenität<br />

<strong>und</strong> Konstanz der Faktoren aus; historische, psychologische<br />

oder individuelle Komponenten werden meist außer<br />

Acht gelassen. Kritisiert an den Theorien wird daher zu Recht,<br />

dass Unternehmen nicht der Fiktion des „homo oeconomicus“<br />

folgen, sondern dass sie allenfalls subjektiv rational innerhalb<br />

eines begrenzten Informationshorizonts entscheiden - als<br />

„satisfizer“, nicht als „optimizer“. Die jüngere entscheidungstheoretische<br />

beziehungsweise handlungsorientierte Wirtschaftsgeographie<br />

wendet sich daher verstärkt dem Problem<br />

unternehmerischer Slandortentscheidungen <strong>und</strong> dem Ablauf<br />

entsprechender Entscheidungsfindungsprozesse zu.<br />

2. Vom Transportkostenprimat zu empirischen Standortfaktorenkatalogen<br />

Wenn es auch gelungen ist, Standorttheorien im Laufe ihrer<br />

Entwicklung in wachsendem Maße der Realität anzunähern,<br />

so blieb doch immer das Problem ihres hohen Abstraktionsgrades.<br />

Dem Postulat mathematischer Exaktheit wurde häufig<br />

die Realitätsbezogenheit geopfert, das heißt kulturräumliche<br />

<strong>und</strong> geographische Besonderheiten einer Region finden ebenso<br />

wenig Berücksichtigung wie staatliche Regulierungen.<br />

In den letzten Jahrzehnten, vor allem in den 1970er-Jahren,<br />

sind daher vielfach betriebswirtschaftlich orientierte, „empirisch-realistische“<br />

Standortuntersuchungen gegenüber weiterer<br />

Theoriebildung in den Vordergr<strong>und</strong> getreten. Ziel solcher<br />

Arbeiten ist, „zu ermitteln, wie - in einem bestimmten<br />

Raum, zu einer bestimmten Zeit - Unternehmen ihren geeigneten<br />

Standort tatsächlich auswählten“ (Fürst 1971). Gr<strong>und</strong>lage<br />

solcher Untersuchungen bildet meist die schriftliche oder<br />

mündliche Befragung aller Unternehmen im jeweiligen Untersuchungsraum<br />

oder einer repräsentativen Auswahl.<br />

Empirische Untersuchungen über betriebliche Standortentscheidungen<br />

haben zum Ziel, in der Realität zu überprüfen,<br />

inwieweit sich Unternehmen bei der Standortwahl tatsächlich<br />

von den Gesichtspunkten leiten lassen, welche die Standorttheorie<br />

postuliert. Im Mittelpunkt steht die Frage, aufgr<strong>und</strong><br />

welcher Überlegungen sich Unternehmen für ihren jetzigen<br />

Standort entschieden haben.<br />

Neben „harten“ Standortfaktoren wie Qualifikation der Arbeitskräfte,<br />

verfügbare Flächen, Verkehrsanbindung <strong>und</strong> öffentliche<br />

Förderung spielen zunehmend „weiche“ Standortfaktoren<br />

wie Wohn- <strong>und</strong> Freizeitwert der Standortregion, politisches<br />

Klima, kulturelle Attraktivität, Image des Wirtschaftsstandorts<br />

<strong>und</strong> so weiter für Standortentscheidungen eine Rolle<br />

(Exkurs „Harte <strong>und</strong> weiche Standortfaktoren“).<br />

3. Decision Making in Industry. Entscheidungstheoretische<br />

<strong>und</strong> handlungsorientierte Standorterklärungen<br />

Raumrelevante Unternehmenstätigkeit steht, wie die Regulationstheorie<br />

deutlich macht, in Wechselbeziehung zur Wirtschafts-<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftsordnung <strong>und</strong> den Normen <strong>und</strong><br />

Steuerungsmechanismen, unter denen das Unternehmen tätig<br />

ist. In marktwirtschaftlich-kapitalistischen Wirtschafts- <strong>und</strong><br />

Gesellschaftssystemen werden Arbeit, Einzelleistungen <strong>und</strong> -


Alles an seinem Platz: Die Prinzipien des Standorts 473<br />

rechte, Privateigentum <strong>und</strong> Selbstverantv\/ortung überwiegend<br />

positiv bewertet, in sozialistischen Staaten hingegen eher die<br />

kollektive Verantwortung. Damit können sich Struktur <strong>und</strong> Ablauf<br />

betrieblicher Entscheidungsprozesse ganz erheblich unterscheiden.<br />

Die Schwierigkeiten bei der wirtschaftlichen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichen Transformation in den ehemals planwirtschaftlichen<br />

Staaten, zum Beispiel in Ungarn, Polen <strong>und</strong><br />

der früheren DDR, resultieren nicht zuletzt aus einem anderen<br />

Ablauf von Unternehmensentscheidungen, weniger aus unterschiedlichen<br />

Zielfunktionen der Betriebe.<br />

Auch in einem marktwirtschaftlich-kapitalistischen System<br />

sind Handlungsautonomie einerseits <strong>und</strong> betriebliche Hierarchien<br />

andererseits in ihrer Bedeutung für Entscheidungen<br />

nicht immer einfach zu durchschauen. Viele Standortmodelle<br />

unterstellen ja implizit, dass Industrieunternehmen nur von<br />

einer Person geleitet würden. Dies ist aber allenfalls bei Kleinunternehmen<br />

die Regel, wo der Eigentümer zugleich der einzige<br />

Geschäftsführer ist. Ansonsten teilt sich die Entscheidungsbefugnis<br />

auf unter den Eigentümern <strong>und</strong> deren Familien,<br />

Geschäftsführern <strong>und</strong> Managern, Vorstandsmitgliedern, Aktionären<br />

<strong>und</strong> so weiter. Definiert sind deren Positionen durch<br />

eine rechtlich festgelegte Entscheidungs- <strong>und</strong> Anordnungsbefugnis,<br />

mitunter aber auch durch informelle Absprachen oder<br />

„gewachsene“ Strukturen.<br />

Vor allem die angloamerikanische Industriegeographie<br />

(Krumme 1972, Hamilton 1974) hat sich seit den 1970er-Jahren<br />

mit dem Thema decision making in großen, industriellen<br />

Mehrbetriebsunternehmen genauer auseinandergesetzt. Im<br />

Mittelpunkt entsprechender Erörterungen steht meist die<br />

Frage, wie die offen gelegten oder uneingestandenen Konzernstrategien<br />

aussehen, welche nicht ökonomisch-rationalen<br />

Machtkämpfe, Vorselektionen <strong>und</strong> Beeinflussung von<br />

Informationsströmen raumrelevante Entscheidungen bestimmen.<br />

In einer handlungs- beziehungsweise entscheidungsorientierten<br />

Sicht werden betriebliche Problemsituationen<br />

wie eine Ansiedlungs- oder eine Persistenzentscheidung,<br />

vor die sich ein Unternehmen gestellt sieht, als standortspezifischer<br />

oder standortunabhängiger Stress interpretiert.<br />

Unabhängig vom Standort sind unter anderem der Einfluss<br />

der Wirtschaftspolitik, das Auf <strong>und</strong> Ab der Konjunkturzyklen<br />

sowie andere „überlokale“ (regionale, nationale <strong>und</strong> supranationale)<br />

Bestimmungsgründe. Standortspezifische Stressfaktoren<br />

hingegen sind zum Beispiel fehlende Expansionsmöglichkeiten,<br />

ein unzureichender Arbeitsmarkt (fehlende Qualifikationen),<br />

Überalterung von Produktionsanlagen, schlechte<br />

örtliche Verkehrsanbindung oder Umweltauflagen für die Betriebe.<br />

Betriebe reagieren auf Standortstress mit Anpassungshandlungen,<br />

wobei der Ablauf der Entscheidungsfindungsprozesse<br />

durch im Einzelnen komplexe innerbetriebliche Informationsströme<br />

bestimmt wird (siehe oben). Ziel ist in der Regel<br />

der Erhalt des Unternehmens, seltener die Auflösung oder<br />

Stilllegung. Unter den auf Firmenerhalt gerichteten Anpassungshandlungen<br />

spielen innerbetriebliche Anpassungen<br />

wie Ersatz-, Rationalisierungs- <strong>und</strong> Erweiterungsinvestitionen<br />

die wichtigste Rolle. Nicht selten sind auch betriebliche Funktionsteilungen,<br />

das heißt Persistenz des alten Betriebsstandorts<br />

bei gleichzeitiger Teilverlagerung einzelner Funktionen<br />

(zum Beispiel arbeitsintensiver Produktionen in Länder mit geringeren<br />

Lohnkosten oder forschungs- <strong>und</strong> verwaltungsintensiver<br />

Funktionen in die Verdichtungsräume) nötig.<br />

H. Gebhardt<br />

Harte <strong>und</strong> weiche Standortfaktoren<br />

Standortentscheidungen gehören zu den eher seltenen, dann<br />

aber konstitutiven Entscheidungen in einem Unternehmen.<br />

Die Standortfaktoren als solche haben sich dabei im Laufe<br />

der Industriegeschichte kaum geändert: Unternehmen suchen<br />

heute wie früher zunächst vor allem Gr<strong>und</strong>stücke mit<br />

angemessener Verkehrsanbindung <strong>und</strong> qualifizierte Arbeitskräfte.<br />

Die Qualität <strong>und</strong> Bewertung der Standortfaktoren<br />

jedoch hat sich im Laufe der Zeit verändert. Aus heutiger<br />

Sicht überbetont wurden in den klassischen Standortvorstellungen,<br />

zum Beispiel bei Weber <strong>und</strong> Lösch (Exkurs „Industriestandorttheorien“),<br />

die Transportkosten, während beispielsweise<br />

Wissen <strong>und</strong> Innovationsfähigkeit sowie die so<br />

genannten weichen Standortfaktoren kaum berücksichtigt<br />

wurden.<br />

Neben harten Faktoren wie Lage zu Zulieferern <strong>und</strong> Absatzmärkten,<br />

Flächenverfügbarkeit <strong>und</strong> Verkehrsanbindung bestimmen<br />

auch weiche, das heißt schwerer exakt messbare<br />

Faktoren wie Image als Wirtschaftsstandort, Freizeit- <strong>und</strong><br />

Wohnwert von Regionen <strong>und</strong> so weiter in steigendem Maße<br />

Standortentscheidungen. Insbesondere gehen sie in das Präferenzsystem<br />

von Managern zumindest indirekt ein, wenn<br />

diese über einen Firmenstandort zu befinden haben.<br />

H. Gebhardt<br />

die Schweizer Uhrenindustrie, englische Kammgarne<br />

aus Bradford <strong>und</strong> Huddersfield, die Spielwarenindustrie<br />

im Erzgebirge oder französisches Parfüm aus<br />

Grasse genannt werden.<br />

Externe Effekte können auf dreierlei Weise genutzt<br />

werden. Erstens durch externe Größenvorteile (economies<br />

of scale). Durch die räumliche Clusterbildung<br />

können Firmen gemeinsam ein Umfeld schaffen, in<br />

dem sich Zulieferbetriebe <strong>und</strong> Serviceunternehmen<br />

ansiedeln. Für diese ist die Ansiedlung nur dann wirtschaftlich<br />

interessant, wenn sie sich auf einen festen<br />

<strong>und</strong> ausreichend großen K<strong>und</strong>enkreis verlassen kön-


Alles an seinenn Platz: Die Prinzipien des Standorts 475<br />

erhaft lokalisierten Verkaufsstellen (Ladengeschäft), der ambulante<br />

Handel mit temporären Standorten (zum Beispiel<br />

Marktstände, Verkaufswagen), der Versandhandel mit Bestellung<br />

in entfernten Zentralen (zum Beispiel durch Kataloge, Internet)<br />

<strong>und</strong> Auslieferung an die K<strong>und</strong>en.<br />

Auf den stationären Einzelhandel entfallen in Deutschland<br />

über 90 Prozent Umsatzanteil. Gegenwärtig verzeichnet E-<br />

Commerce (Warenangebot im Internet, Bestellung per elektronische<br />

Medien, Auslieferung an den Wohnstandort) als spezielle<br />

Form des Versandhandels hohe Zuwächse, der Anteil<br />

des ambulanten Handels stagniert <strong>und</strong> der des klassischen<br />

Versandhandels sinkt. Die Ladengeschäfte des stationären<br />

Einzelhandels lassen sich verschiedenen Betriebsformen zuordnen.<br />

Üblicherweise erfolgt eine Untergliederung ihres Sortiments<br />

nach der Art der verkauften Waren (Lebensmittel/<br />

food <strong>und</strong> Nicht-Lebensmittel//70/7-fbod), nach ihrer Wertigkeit<br />

(Gr<strong>und</strong>bedarf: zum Beispiel Nahrungsmittel; Ergänzungsbedarf:<br />

zum Beispiel Bekleidung; hochwertiger Bedarf: zum Beispiel<br />

Foto, Uhren, Unterhaltungselektronik) beziehungsweise<br />

nach der Häufigkeit ihres Erwerbs (kurzfristig: Lebensmittel;<br />

mittelfristig: Bekleidung, Schuhe; langfristig: Unterhaltungselektronik,<br />

Möbel). Betriebe mit einem breiten Sortiment verkaufen<br />

Artikel aus verschiedenen Warengruppen, jene mit<br />

einem schmalen Sortiment konzentrieren sich auf eine Warengruppe.<br />

Innerhalb dieser Warengruppe werden bei einem tiefen<br />

Sortiment vielfältige Auswahlmöglichkeiten zwischen artähnlichen<br />

Artikeln geboten, während bei einem flachen Sortiment<br />

nur sehr wenige artähnliche Artikel vorhanden sind.<br />

Vorindustrielle Gesellschaften mit geringem Nachfragevolumen<br />

<strong>und</strong> niedriger Angebotsdiversifizierung besitzen ein Einzelhandeissystem<br />

mit hohem Marktanteil von Gr<strong>und</strong>bedarfsgütern<br />

(zum Beispiel Lebensmittel, einfache Haushaltsartikel).<br />

Das Standortsystem ist wenig vielfältig; der Verkauf erfolgt<br />

über kleine stationäre Ladengeschäfte, Ladenhandwerksbetriebe<br />

(zum Beispiel Bäcker, Schuhmacher) <strong>und</strong> ambulante<br />

Verkaufsformen (zum Beispiel Marktstände, fahrende Händler).<br />

Mit zunehmendem Entwicklungsstand steigt das Nachfragevolumen,<br />

vor allem nach oo/r-ZbocAArtikeln des Ergänzungsbeziehungsweise<br />

höherwertigen Bedarfs, <strong>und</strong> es entwickelt<br />

sich ein differenziertes stationäres Angebotssystem. In Gesellschaften<br />

mit hohem Einkommen wird zwischen einem primären<br />

Standortsystem <strong>und</strong> einem sek<strong>und</strong>ären Standortsystem<br />

unterschieden. Das primäre Standortsystem besteht aus<br />

dem wohnstandortnahen Netz von Ladengeschäften, die kurzfristig<br />

benötigte Gr<strong>und</strong>bedarfsgüter anbieten (zum Beispiel Lebensmittel),<br />

<strong>und</strong> dem hierarchischen System von innerstädtischen<br />

Zentren, in welchen sich mehrere Betriebe mit einem<br />

mittel-<strong>und</strong> langfristigen Non-Food-Angebot konzentrieren. Betriebe,<br />

die gleichartige Gr<strong>und</strong>bedarfsgüter verkaufen <strong>und</strong> Konsumenten<br />

aus der unmittelbaren Umgebung versorgen, vermeiden<br />

die unmittelbare Nachbarschaft zu artähnlichen Konkurrenten<br />

(Konkurrenzmeidung). Artungleiche Ladengeschäfte<br />

des Gr<strong>und</strong>bedarfs (zum Beispiel Backwaren, Getränke, Wurstwaren)<br />

<strong>und</strong> Betriebe mit einem mittel- beziehungsweise langfristigen<br />

Angebot <strong>und</strong> großem Einzugsbereich suchen dagegen<br />

die Nähe zueinander (Konkurrenzanziehung), da sie gemeinsam<br />

eine größere Attraktivität für K<strong>und</strong>enbesuche erzielen.<br />

K<strong>und</strong>en können während eines Besuchs dieser Standorte zeitsparend<br />

Besorgungen in mehreren Ladengeschäften koppeln.<br />

Als sek<strong>und</strong>äres Standortsystem gelten alle Standorte außerhalb<br />

der geschlossenen Bebauung von Siedlungen; diese<br />

Standorte können erst bei hoher Individualverkehrsmobilität<br />

der K<strong>und</strong>en (zum Beispiel durch Pkw) entstehen. Es befinden<br />

sich dort vor allem großflächige eingeschossige Ladengeschäfte<br />

(zum Beispiel Verbrauchermarkt, Fachmarkt), die<br />

eine hohe eigene Angebotsattraktivität für K<strong>und</strong>en (zum Beispiel<br />

durch niedrigen Preis <strong>und</strong> hohes internes Kopplungspotenzial,<br />

durch vielfältiges Angebot) besitzen. Auf das sek<strong>und</strong>äre<br />

Standortsystem entfallen in Westdeutschland etwa 30 Prozent<br />

Umsatzanteil <strong>und</strong> in Ostdeutschland über 40 Prozent.<br />

Quelle: E. Kulke 1998<br />

nen. Diese Standortvorteile sind selbst für jene Betriebe<br />

von Nutzen, die in Konkurrenz zueinander stehen.<br />

Ein Beispiel ist die wechselseitige Abhängigkeit von<br />

Spezialunternehmen des Maschinenbaus, der Wartung<br />

<strong>und</strong> Instandhaltung mit den Produktionsstätten<br />

eines Standorts.<br />

Die zweite Gr<strong>und</strong>lage positiver externer Effekte<br />

liegt in Fühlungs- oder Kontaktvorteilen, das heißt<br />

in der Herausbildung einer besonderen Atmosphäre,<br />

die aus der räumlichen Nähe funktional verflochtener<br />

Aktivitäten resultiert. In New York, Tokio oder London<br />

konzentrieren sich deshalb so viele Headquarters<br />

internationaler Banken <strong>und</strong> großer Unternehmen,<br />

weil sie hier das höchste Potenzial von persönlichen<br />

Kontakten (Jace-to-face-Kontakten) mit hochrangigen<br />

Entscheidungsträgern aus einer Vielfalt von<br />

Branchen, internationalen Behörden <strong>und</strong> hoch spezialisierten<br />

Beratungsunternehmen (spezialisierte<br />

Anwälte, Versicherungsunternehmen, Werbeagenturen)<br />

vorfinden. Häufig ermöglichen die starke räumliche<br />

Konzentration <strong>und</strong> die kurzen Wege spontane,<br />

nicht geplante Kontakte, die für den schnellen Erwerb<br />

von Orientierungswissen, die frühzeitige Kenntnis<br />

von Gerüchten über neue politische oder technologische<br />

Entwicklungen oft vsdchtiger sind als lange im<br />

Voraus geplante Termine. Ein entsprechendes Kontaktpotenzial<br />

mit hochrangigen Entscheidungsträgern<br />

ist das beste Mittel, um einen Wissensvorsprung<br />

zu erreichen <strong>und</strong> damit die Unsicherheit in einer<br />

wettbewerbsintensiven Situation zu verringern. Das<br />

gilt gleichermaßen für die Börsenmakler in New<br />

York oder Frankfürt, die Modehäuser in Paris oder<br />

Mailand, die jungen Unternehmen der Biotechnologie<br />

im Raum Heidelberg oder Dresden oder die Softwareunternehmen<br />

in Silicon Valley.<br />

Eine dritte Quelle für positive externe Effekte ist<br />

die Infrastruktur eines Standorts. Sie resultiert aus<br />

öffentlichen <strong>und</strong> privaten Investitionen <strong>und</strong> umfasst


komplementäre<br />

Dienstleistungen<br />

8.35 Rückwärts <strong>und</strong> vorwärts<br />

gerichtete Verflechtungen<br />

Das Diagramm zeigt nur einige<br />

der komplexen wirtschaftlichen<br />

Verflechtungen im Umfeld eines<br />

Stahlwerks. In der Realität sind<br />

diese Netzwerke noch wesentlich<br />

umfangreicher. (Quelle: Nach<br />

M.J. Healey Location and Change:<br />

Perspectives on the Economic<br />

Geography. Oxford University Press,<br />

Oxford. 1990. Genehmigt von<br />

Oxford University Press.)<br />

• r \<br />

/ -<br />

A r-<br />

N<br />

‘ /<br />

K i<br />

r<br />

1 ^<br />

p<br />

" V i : . L id<br />

N<br />

i V i<br />

,<br />

i, ■•<br />

4<br />

/ * ■*. "i<br />

, ' ; / ■M<br />

• 1<br />

* * • • II<br />

i<br />

Flugplätze, Autobahnen, Eisenbahnverbindungen,<br />

Schulen, Krankenhäuser, Einkaufsmöglichkeiten,<br />

Sportanlagen, kulturelle Einrichtungen <strong>und</strong> vieles andere<br />

mehr. Wenn Betriebe unterschiedlichster Wirtschaftszweige<br />

von den externen Vorteilen profitieren,<br />

dann führen das damit verb<strong>und</strong>ene vielfältige <strong>und</strong><br />

spezialisierte Angebot an Arbeitskräften, die hoch<br />

entwickelten Infrastruktur-, Bildungs- <strong>und</strong> Fortbildungseinrichtungen,<br />

die Forschungsstätten <strong>und</strong> Finanzdienstleistungen<br />

zu einem weiteren Anwachsen<br />

der städtischen Agglomeration. Aus diesem Gr<strong>und</strong><br />

werden die externen Effekte häufig auch als Urbanisationsvorteile<br />

bezeichnet.<br />

, Wege der Entwicklung<br />

Die räumlichen Muster unterschiedlicher wirtschaftlicher<br />

Entwicklung sind eine Folge von Standortmechanismen<br />

<strong>und</strong> gegenseitiger wirtschaftlicher Abhängigkeit,<br />

sie haben jedoch auch historische Wurzeln.<br />

Deshalb interessieren sich Geographen für die geographischen<br />

Pfadabhängigkeiten. Der path-dependence-Ansatz<br />

geht davon aus, dass die modernen<br />

Strukturen der Wirtschaft auf historischen Entwicklungspfaden<br />

aufbauen beziehungsweise sich aus diesen<br />

dynamisch entwickelt haben.<br />

Der Anfangs- oder Startvorteil ist ein Sonderfall<br />

der externen Effekte <strong>und</strong> kann die wirtschaftliche<br />

Entwicklung langfristig (nachhaltig) bestimmen. Bei<br />

gleichen Gr<strong>und</strong>voraussetzungen werden neue wirtschaftliche<br />

Entwicklungen (Innovationen) dort als<br />

Erstes einsetzen oder am erfolgreichsten sein, wo bereits<br />

externe Vorteile wie ein Reservoir an qualifizierten<br />

Arbeitskräften <strong>und</strong> kompetenten Entscheidungsträgern,<br />

große Absatzmärkte oder internationale Beziehungen<br />

bestehen. Die Anfangsvorteile festigen sich<br />

durch die Standortvorteile - Kostenersparnisse von<br />

Firmen aufgr<strong>und</strong> eines gemeinsamen Standorts - <strong>und</strong><br />

bilden so die Basis anhaltenden wirtschaftlichen<br />

Wachstums. Standvorteile ergeben sich beispielsweise<br />

aus vorhandenen Arbeitskräften mit besonderen Fähigkeiten<br />

oder Erfahrungen, aus spezialisierten technischen<br />

Ausbildungseinrichtungen, vorhandenen Ver-


Wege der Entwicklung 477<br />

marktungsstrukturen oder Forschungseinrichtungen,<br />

spezialisierten Subunternehmen, Instandsetzungsfirmen<br />

oder spezialisierten <strong>und</strong> international vernetzten<br />

Rechtsanwälten. Wo solche Standortvorteile vorhanden<br />

sind, werden sich weitere Betriebe ansiedeln, die<br />

von diesem Image profitieren wollen. Als Beispiele<br />

kann man die Elektronik- <strong>und</strong> Softwareindustrie in<br />

Silicon Valley, Filmstudios in Los Angeles, die Produktion<br />

von Besteck in Sheffield oder Solingen, die<br />

Automobilindustrie in Detroit, die Schweizer Uhrenindustrie,<br />

belgische Spitzen aus Brügge, Brüssel <strong>und</strong><br />

Mechelen, englisches Kammgarn in Bradford <strong>und</strong><br />

Huddersfield, Porzellan in Stoke-on-Trent, Leinen<br />

aus dem irischen Athlone oder die Parfümherstellung<br />

im französischen Grasse anführen.<br />

Wirtschaftliche Entwicklung an Standorten <strong>und</strong> in<br />

Regionen mit einem substanziellen Startvorteil wird<br />

daher meist durch nachhaltiges Wachstum gekennzeichnet<br />

sein, wodurch das wirtschaftliche Gefälle<br />

zwischen Kernregion <strong>und</strong> Peripherie auf unterschiedlichen<br />

räumlichen Maßstabsebenen sehr stabil bleibt<br />

<strong>und</strong> in vielen Fällen weiter zunimmt. Deshalb glauben<br />

Geographen auch nicht an einen einzig möglichen<br />

Pfad der wirtschaftlichen Entwicklung, wie es<br />

die Modernisierungstheorie behauptet. Die Ursachen<br />

<strong>und</strong> Konsequenzen der Startvorteile für Regionen des<br />

Zentrums <strong>und</strong> der Peripherie werden immer wieder<br />

verändert, frühere Zentrum-Peripherie-Strukturen<br />

können sich verändern, <strong>und</strong> neue Beziehungen können<br />

entstehen, stabil bleibt lediglich die Bedeutung<br />

eines Wissens- <strong>und</strong> Technologievorsprungs. Spätestens<br />

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind ein<br />

Vorsprung an Wissen, bessere Technologien, neue<br />

Forschungsergebnisse sowie Patente <strong>und</strong> hochqualifizierte<br />

Entscheidungsträger zu den wichtigsten Wettbewerbsfaktoren<br />

geworden, weshalb manche Sozial<strong>und</strong><br />

Wirtschaftswissenschaftler nun von einer „Wissensgesellschaft“<br />

sprechen.<br />

Das Ende des Zweiten Weltkriegs stellt insofern<br />

eine historische Zäsur dar, als nun erstmals in der Geschichte<br />

nicht Goldreserven oder Rohstoffe, sondern<br />

Forschungsergebnisse, Wissenschaftler <strong>und</strong> Patente<br />

zur wichtigsten Kriegsbeute der Sieger bzw. als „intellektuelle<br />

Reparationen“ angesehen wurden.<br />

Bildung regionaler W lrtschafts-<br />

I Zentren_______________________<br />

Regionale Zentren wirtschaftlicher Entwicklung ent<br />

stehen kumulativ als Folge eines gewissen Startvor<br />

teils <strong>und</strong> auf der Basis der zuvor beschriebenen wirt<br />

schaftsgeographischen Prinzipien. Standortentscheidungen<br />

in Gewerbe <strong>und</strong> Industrie werden innerhalb<br />

eines komplexen Gefüges funktionaler Verflechtungen<br />

getroffen. Diese schließen die Verflechtungen<br />

<strong>und</strong> Verknüpfungen zwischen verschiedenen Industriezweigen,<br />

zwischen verschiedenen Arten von Geschäften<br />

sowie zwischen verschiedenen Arten von Büros<br />

oder Verwaltungen ein. Von herausgehobener Bedeutung<br />

sind in diesem Zusammenhang Agglomerationseffekte,<br />

die aus verschiedenen wirtschaftlichen<br />

Verflechtungen <strong>und</strong> Interdependenzen resultieren.<br />

Dabei handelt es sich um Kostenvorteile von Firmen<br />

oder Unternehmen aufgr<strong>und</strong> ihres Standorts in Bereichen<br />

funktional miteinander verknüpfter Aktivitäten.<br />

Diese Agglomerationswirkungen können ausgelöst<br />

werden durch den Bau eines Fiafens, durch die<br />

frühe Installation einer Wachstumsindustrie, durch<br />

die Nähe <strong>und</strong> engen Beziehungen zu auswärtigen Innovationszentren,<br />

durch privilegierte Beziehungen zu<br />

ausländischen Märkten, durch einen Vorsprung an<br />

Technologie <strong>und</strong> wissenschaftlicher Forschung <strong>und</strong><br />

vieles andere mehr. Die sich daraus ergebenden Vorteile<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Bindungen stellen den Anfangs-<br />

oder Startvorteil dar, der den sich selbst verstärkenden<br />

Prozess lokaler Wirtschaftsentwicklung<br />

in Gang setzt. Dieser Prozess muss ständig durch<br />

neue Impulse (neue Beziehungen, Innovationen,<br />

Vorsprung an Wissen) genährt werden, weil sonst<br />

die Position wieder verloren geht. Die Flansestädte<br />

wurden von den oberitalienischen Städten unter anderem<br />

auch deshalb überholt, weil Letztere früher<br />

neue Organisationsformen wie beispielsweise die<br />

doppelte Buchführung eingeführt haben. Der wirtschaftliche<br />

Abstieg Großbritanniens, der einst führenden<br />

Weltmacht, ist auf den ausbleibenden „Nachschub“<br />

solcher Impulse nach dem Zerfall des Commonwealth<br />

zurückzuführen. Ebenso ist der Aufstieg<br />

der USA <strong>und</strong> Japans darauf zurückzuführen, dass<br />

es diesen Ländern gelungen ist, in vielen Bereichen<br />

einen Wissens- <strong>und</strong> Technologievorsprung zu erreichen.<br />

Dasselbe spielt sich auf der räumlichen Meso<strong>und</strong><br />

Mikroebene innerhalb eines Staates ab.<br />

Mit der Ansiedlung neuer Betriebe etablieren sich<br />

rückwärts gekoppelte Effekte. Die neuen Industriebetriebe<br />

suchen Beziehungen zu anderen Betrieben,<br />

von denen sie Rohmaterialien <strong>und</strong> Maschinen beziehen<br />

oder spezielle Dienstleistungen erhalten <strong>und</strong> Einrichtungen<br />

nutzen können. In gleichem Maße bilden<br />

sich vorwärts gekoppelte Effekte heraus, indem andere<br />

Firmen die Produkte der neu angesiedelten Firma<br />

be- <strong>und</strong> verarbeiten, verpacken, transportieren<br />

oder verteilen (Abbildung 8.35). Sobald das gemeinsame<br />

Wachstum eine bestimmte Schwelle überschrei-


478 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Forschungsergebnisse <strong>und</strong> Wissenschaftler als Kriegsbeute<br />

Beginn der Wissensgesellschaft?<br />

Da das Wissen schon immer das Handeln der Menschen beeinflusst<br />

hat <strong>und</strong> seit frühester Menschheitsgeschichte regionale<br />

<strong>und</strong> soziale Unterschiede des Wissens nachweisbar sind,<br />

ist es wenig sinnvoll, einen Zeitpunkt festzulegen, zu dem die<br />

„Wissensgesellschaft“ entstanden ist. Man kann sich allerdings<br />

die Frage stellen, wann das Faktorenbündel Wissen, Humanressourcen,<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung politisch <strong>und</strong><br />

ökonomisch so wichtig wurde, dass es andere, früher sehr<br />

wichtige Faktoren in den Hintergr<strong>und</strong> drängte. Einer von vielen<br />

Indikatoren, welche einen solchen Bedeutungswandel signali<br />

sieren, ist die Frage, was von den Siegern in verschiedenen<br />

Zeitepochen als Kriegsbeute bevorzugt wurde. Nach Sklaven,<br />

Landbesitz, Bodenschätzen, Kunstschätzen oder Goldreserven<br />

erhielten nach dem Zweiten Weltkrieg erstmals Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Forschungsergebnisse höchste Priorität. Das<br />

im Herbst 1945 gestartete Document Program hatte die Aufgabe,<br />

in etwa 20 000 deutschen Industrieunternehmen alle<br />

wichtigen Dokumente, Pläne <strong>und</strong> Forschungsergebnisse zu<br />

fotografieren. Nach zwei Monaten stellte sich heraus, dass<br />

3 Milliarden Seiten durchgesehen <strong>und</strong> 33 Millionen Seiten<br />

kopiert werden müssten, sodass das Programm auf realistischere<br />

Ziele eingeschränkt wurde. Immerhin wurden bei Leitz<br />

in Wetzlar 198 000 Seiten auf Mikrofilm aufgenommen, bei<br />

der Firma Merck in Darmstadt 4 000 Seiten, bei Degussa in<br />

Konstanz 14 000 Seiten, bei IG Farben in Höchst 311 000 Seiten,<br />

bei Krupp in Essen 60 000 Seiten <strong>und</strong> im Berliner Patentamt<br />

1 018 000 Seiten. Allein im Berliner Patentamt haben<br />

über 70 Leute 34 000 Patentanwendungen <strong>und</strong> 140 000 deutsche,<br />

österreichische <strong>und</strong> japanische „hängende“ Patentanmeldungen<br />

auf „more than i 7 miles microfilm" aufgenommen<br />

(Gimbel 1990).<br />

Der Entwurf einer Presseaussendung vom 11. März 1946<br />

belegt, dass d\e „Operation Paperclip“ JeW eines größeren Programms<br />

war, mit welchem die USA den Plan verfolgten, „to<br />

use vacuum cleaner methods to acquire all the technical<br />

and scientific information the Germans have" {Gimbel 1990).<br />

Diese deutschen Spezialisten wurden zum Teil auch deshalb<br />

gebraucht, weil viele US-amerikanische Unternehmen<br />

mit den aus Deutschland mitgebrachten Plänen <strong>und</strong> Patenten<br />

wenig anfangen konnten. Ein Beamter des Commerce Department’s<br />

Office of Technical Services schrieb im Dezember<br />

1947: „... it has been to our experience that the worthwhile<br />

developments cannot be exploited successfully or without considerable<br />

expense unless the German technicians familiar with<br />

all of the details of such developments are brought to this country"<br />

{G\mhe\ 1990).<br />

Quelle: P. Meusburger 1998<br />

tet, wird der Standort für weitere komplementäre<br />

Dienstleistungsbetriebe attraktiv (Wartungen, Reparaturen,<br />

Recycling, Sicherheitsdienste, Finanzdienstleistungen<br />

<strong>und</strong> so weiter).<br />

Im weiteren Verlauf entsteht am betreffenden<br />

Standort ein vielseitiger Arbeitsmarkt, der immer<br />

mehr Firmen anzieht. Gleichzeitig intensivieren<br />

sich die Kooperationen zvdschen den Betrieben.<br />

Schließlich werden gemeinsame Einrichtungen für<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung gefördert, was wiederum<br />

die lokale Innovationsfreudigkeit anregt <strong>und</strong> die Attraktivität<br />

des Standorts ein weiteres Mal steigert.<br />

Auch der Zuzug von Arbeitskräften hat Anteil an<br />

der Spirale wirtschaftlicher Entwicklung. Die Familien<br />

der Mitarbeiter schaffen eine hohe Nachfrage<br />

nach Wohnungen, öffentlicher Versorgung, Verkehrsanbindung,<br />

Einzelhandel, Dienstleistungen,<br />

Schulen <strong>und</strong> so weiter, sodass neue Arbeitsplätze<br />

entstehen. Schließlich führt die steigende Beschäftigung<br />

auf kommunaler Ebene zu höheren Steuereinnahmen.<br />

Es steht somit mehr Geld für öffentliche<br />

Einrichtungen, Straßen, Schulen, Ges<strong>und</strong>heitsdienste<br />

<strong>und</strong> Freizeiteinrichtungen zur Verfügung. All das<br />

verstärkt die bestehenden Agglomerationseffekte,<br />

zieht weitere Investitionen an <strong>und</strong> führt zu einem<br />

Wettbewerbsvorteil der Region gegenüber anderen<br />

Standorten.<br />

Die Selbstverstärkung des Start- oder Anfangsvorteils<br />

durch den Agglomerationseffekt wurde erstmals<br />

von dem schwedischen Wirtschaftswissenschaftler<br />

Gunnar Myrdal beschrieben, der 1974 den Nobelpreis<br />

für seine richtungsweisenden Arbeiten erhielt.<br />

Von ihm stammt der Begriff der Selbstverstärkung<br />

(Abbildung 8.36), der den Prozess der spiralförmigen<br />

Steigerung von Vorteilen in spezifischen räumlichen<br />

Umfeldern als Folge von zunehmenden externen Vorteilen,<br />

Agglomerationseffekten <strong>und</strong> externen Ersparnissen<br />

beschreibt. Myrdal hob auch hervor, dass diese<br />

lokale Wachstumsspirale vor allem junge <strong>und</strong> risikofreudige<br />

Menschen sowie Investitionen aus anderen<br />

Regionen anzieht. Entsprechend der Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />

räumlicher Interaktion werden diese „Ströme“ (flows)<br />

vor allem nahe gelegene Regionen sowie Regionen mit<br />

niedrigem Lohnniveau, geringen Beschäftigungs- oder<br />

mangelnden Investitionsmöglichkeiten betreffen.<br />

Es kann jedoch genauso eine Abwärtsspirale elntreten<br />

(Abbildung 8.37). Wenn Unternehmer ihre<br />

Innovationskraft verlieren, funktionale Eliten nicht<br />

mehr nach dem meritokratischen Prinzip (also<br />

nach Leistung <strong>und</strong> Qualifikation) rekrutiert wer-


Wege der Entwicklung 479<br />

8.36 Prozesse des regionalen<br />

wirtschaftlichen Wachstums<br />

Sobald sich in einer Region ausreichend<br />

viele Industrien angesiedelt<br />

haben, kommt es häufig zu einer<br />

sich selbst verstärkenden wirtschaftlichen<br />

Entwicklung. Die<br />

ursprünglich vorhandenen Standortvorteile<br />

für ein industrielles<br />

Wachstum werden also durch die<br />

sogenannten Agglomerationsvorteile<br />

noch verstärkt.<br />

den, sondern Nepotismus <strong>und</strong> Parteibuchwirtschaft<br />

dominieren, wenn Gewerkschaften einen notwendigen<br />

Wandel blockieren, Politiker ein wirtschaftsfeindliches<br />

Klima schaffen. Schulen <strong>und</strong> Universitäten<br />

über längere Zeit unterfinanziert werden -<br />

beziehungsweise eine Überlast an Studierenden zu<br />

bewältigen haben - <strong>und</strong> wenn über einen längeren<br />

Zeitraum die Abwanderung von hoch Qualifizierten<br />

die Zuwanderung übertrifft, ist ein wirtschaftlicher<br />

Abstieg eines früheren Zentrums unausweichlich.<br />

Die Folge einer Abwärtsentwicklung sind geringere<br />

Steuereinnahmen, sodass die Infrastruktur vernachlässigt<br />

wird. Schulen <strong>und</strong> Universitäten nicht mehr<br />

konkurrenzfähig sind <strong>und</strong> Kultureinrichtungen nicht<br />

mehr finanziert werden können. Daraufhin ziehen<br />

sich Investoren zurück, wegen der geringeren Attraktivität<br />

wandern hoch Qualifizierte ab, <strong>und</strong> es entstehen<br />

zunehmend billig entlohnte Routinearbeitsplätze,<br />

was die Abhängigkeit von externen Unternehmen<br />

erhöht <strong>und</strong> die Steuereinnahmen weiter<br />

senkt. Myrdal nannte dies die zentripetalen Entzugseffekte<br />

<strong>und</strong> beschrieb damit die negativen Einflüsse<br />

auf eine oder mehrere Regionen durch das Wirtschaftswachstum<br />

einer anderen. Derlei zentripetale<br />

Entzugseffekte (backwash effects) sind auf allen Maßstabsebenen<br />

überaus bedeutsam, denn sie sind ein


480 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Die Spirale der Deindustriealisierung<br />

lokale Agglomerationsnachteile<br />

(zu hohe Dichte,<br />

hohe Gr<strong>und</strong>stückspreise,<br />

Verkehrschaos,<br />

Inflation etc.)<br />

<strong>und</strong>/<br />

oder<br />

Sättigung der Märkte<br />

lokaler Industrien<br />

<strong>und</strong>/<br />

oder<br />

Verlust von Marktanteilen<br />

an Konkurrenten,<br />

welche an Standorten mit<br />

geringeren Kosten<br />

angesiedelt sind<br />

!<br />

V e rlu s t von A ro e its -<br />

plätzen in den großen<br />

lokalen Industriezweigen<br />

(Deindustrialisierung)<br />

♦<br />

Verlust von Arbeitskräften<br />

in der lokalen Bauindustrie<br />

<strong>und</strong> bei Dienstleistern<br />

Verlust von Arbeitskräften<br />

im Bereich der komplementären<br />

Dienstleistungen<br />

sinkende<br />

Steuereinnahmen<br />

16000<br />

14 000<br />

12 000<br />

G)<br />

I 10000<br />

8 000<br />

0) 6000<br />

00<br />

4 000<br />

2 000<br />

Großbritannien<br />

Dienstleistungen<br />

0<br />

1960 1970 1980 1990<br />

Beschäftigungswandel in<br />

der Industrie (1960 bis1990)<br />

♦<br />

Verfall der Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> sinkende Lebens-<br />

Qualität<br />

M itte lm e e r<br />

_ — ,<br />

proze n tu a le r D eschäftigungsw and el in d e r Industrie<br />

(1960-1990)<br />

133 bis 4 8 % I ' - J 1 b is 1 6 % I [unvollständige<br />

la b n e h m e n d I • « a b n e h m e n d I_____ [Angaben<br />

117 bis 3 2 % I [O b is. 3 0 %<br />

labnehmend I--- Izu J zunehmend<br />

8.37 Regionaler wirtschaftlicher<br />

Abschwung<br />

Wenn aus irgendeinem<br />

Gr<strong>und</strong> die lokalen Standortvorteile<br />

wegfallen, nehmen<br />

Gewinn <strong>und</strong> Beschäftigung<br />

ab. Daraus kann eine Spirale<br />

des wirtschaftlichen Abschwungs<br />

entstehen, so wie<br />

es in vielen altindustrialisierten<br />

Regionen Europas<br />

während der 1960er-,<br />

1970er-<strong>und</strong> 1980er-Jahre<br />

geschah. In Frankreich,<br />

Belgien, den Niederlanden,<br />

Norwegen, Schweden <strong>und</strong><br />

Großbritannien sank die Zahl<br />

der Industriebeschäftigten<br />

zwischen 1960 <strong>und</strong> 1990<br />

um 30 bis 50 Prozent.<br />

Am deutlichsten zeigte sich<br />

die Deindustrialisierung in<br />

Großbritannien, wo der<br />

Einbruch der Industrie von<br />

einem ebenso kräftigen<br />

Boom der Anbieter von<br />

Dienstleistungen begleitet<br />

wurde. (Quelle: Abdruck mit<br />

fre<strong>und</strong>licher Genehmigung<br />

von Prentice Hall, aus <strong>Knox</strong>,<br />

P. L. Urbanization. © 1994,<br />

S. 55.)


Wege der Entwicklung 481<br />

wichtiger Gr<strong>und</strong> dafür, warum sich die Wirtschaft so<br />

ungleichmäßig entwickelt <strong>und</strong> warum zwischen<br />

Kernregion <strong>und</strong> Peripherie ein so deutliches Gefälle<br />

besteht.<br />

Die Veränderlichkeit<br />

der Beziehungen zwischen<br />

I Zentrum <strong>und</strong> Peripherie<br />

Bei aller Bedeutung von Selbstverstärkungsprozessen<br />

<strong>und</strong> zentripetalen Entzugseffekten gibt es auch noch<br />

andere Faktoren, welche die Geographie wirtschaftlicher<br />

Entwicklung beeinflussen. Andernfalls wären die<br />

Disparitäten innerhalb der globalen Wirtschaft noch<br />

sehr viel deutlicher ausgeprägt. Regionen jungen<br />

Wachstums, wie die südostchinesische Guangdong-<br />

Provinz, hätten kaum Aussichten auf einen Aufstieg,<br />

<strong>und</strong> das einst boomende Nordengland hätte weder<br />

Stagnation noch Abstieg fürchten müssen.<br />

Schon Myrdal erkannte, dass die Peripherie bisweilen<br />

aus diesem Teufelskreis ausbrechen kann<br />

<strong>und</strong> neue Wachstumsregionen hervorbringt. Er<br />

führte dies vor allem auf eine Erscheinung zurück,<br />

die er als zentrifugale Ausbreitungseffekte bezeichnete.<br />

Ausbreitungseffekte {spread- oder trickle-down-<br />

Effekte) sind die Folge positiver Einflüsse einer Wirtschaftsentwicklung<br />

in der einen Region (zumeist im<br />

Zentrum) auf eine andere. Durch die Aufwärtsentwicklung<br />

im Zentrum steigt die Nachfrage nach Lebensmitteln,<br />

Konsumgütern <strong>und</strong> anderen Produkten<br />

auf ein Maß, das durch lokale Hersteller nicht befriedigt<br />

werden kann. Diese Nachfragelücke beziehungsweise<br />

der hohe Preis- <strong>und</strong> Lohnanstieg im Zentrum<br />

können dadurch umgangen werden, dass in Ländern<br />

oder Regionen der Peripherie investiert wird <strong>und</strong> dort<br />

neu geschaffene Arbeitsplätze einen Teil der Produkte<br />

oder einzelne arbeitsintensive Komponenten hersteilen.<br />

Wenn dieser Einfluss groß genug ist <strong>und</strong> entsprechende<br />

qualifizierte Erwerbstätige vorhanden sind,<br />

kann es in diesen peripheren Regionen schließlich<br />

auch zu einer Spirale wirtschaftlichen Aufschwungs<br />

kommen, wodurch sich die überregionalen wirtschaftsgeographischen<br />

Verflechtungen verändern.<br />

So ist der wirtschaftliche Aufstieg Südkoreas zumindest<br />

teilweise auf zentrifugale Ausbreitungseffekte<br />

durch die prosperierende Ökonomie Japans zurückzuführen.<br />

Ob <strong>und</strong> wie intensiv eine solche Aufschwungspirale<br />

in einer Peripherie einsetzt, hängt allerdings<br />

in hohem Maße von den gesellschaftlichen<br />

Strukturen, vor allem vom Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsniveau<br />

der Bevölkerung <strong>und</strong> vom „Innovationsklima“<br />

ab.<br />

Eine Wachstumsspirale kann sich in den Regionen<br />

der Peripherie auch durch den Prozess der Im portsubstitution<br />

ausbilden. Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen,<br />

die zuvor aus Ländern des Zentrums importiert wurden,<br />

stellen diese Länder nun selber her. In einigen<br />

Fällen gestaltet sich dies aufgr<strong>und</strong> von Rohstoff-<br />

Altindustrialisierte Räume<br />

Altindustrialisierte Räume sind solche, in denen die industrielle<br />

Entwicklung besonders früh einsetzte, die ihr Wachstum<br />

einer lang andauernden Branchenkonjunktur verdanken <strong>und</strong><br />

die daher heute am Ende ihres lange Zeit dominanten Produktlebenszyklus<br />

angekommen sind. In diesen früheren, meist<br />

überregional wichtigen Wachstumsregionen der Industriegesellschaft<br />

ist bis heute viel Investitionskapital geb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> die Infrastruktur entsprechend gut ausgebaut. Beispiele<br />

sind unter anderem die Woll- <strong>und</strong> Baumwollindustriegebiete<br />

um Manchester oder Lille, die Montanreviere der Midlands,<br />

Oberschlesiens, Lothringens oder des Ruhrgebiets, <strong>und</strong> es gehören<br />

hierzu die Hafenstandorte Englands wie Liverpool oder<br />

Cardiff.<br />

In der Diskussion um die Stabilisierung beziehungsweise<br />

„Revitalisierung“ von Altindustriegebieten bündeln sich eine<br />

ganze Reihe von Problemkreisen: zunächst ökologische Probleme,<br />

vor allem eine exzessive Umweltbelastung in Räumen<br />

paläotechnischer Industrie, wie sie sich exemplarisch in der<br />

früheren DDR oder im oberschlesischen Kohlerevier, aber<br />

auch in Nordostfrankreich <strong>und</strong> Wallonien oder in Nordengland<br />

beobachten lässt. Es geht hierbei um die Frage der Bewältigung<br />

von Altlasten <strong>und</strong> der Entgiftung kontaminierter Industriestandorte,<br />

die als zentrales Problem der kommenden<br />

Jahrzehnte erkannt worden ist, sowie generell um die Frage<br />

der Folgenutzung stillgelegter Industrieareale im regionalen<br />

<strong>und</strong> städtebaulichen Kontext (Industrieflächen-Recycling).<br />

Ferner werden zahlreiche ökonomische Probleme berührt,<br />

das heißt Fragen des Strukturwandels von Regionen beziehungsweise<br />

Industriebranchen, die am Ende ihres Produktlebenszyklus<br />

angekommen sind. Hierzu sind vor allem die Eisen<strong>und</strong><br />

Stahlregionen oder die Werftindustrie mit den anderen<br />

traditionellen Hafenindustrien zu rechnen. Schließlich geht<br />

es um sozialgeographische Probleme, die Dauerarbeitslosigkeit,<br />

eine steigende Zahl an Sozialhilfeempfängern <strong>und</strong> die<br />

hieraus resultierenden bevölkerungs- <strong>und</strong> sozialgeographischen<br />

Folgen, sowie um psychologisch-politische Erscheinungen,<br />

die etwas ironisch als „mentale Altlasten“ bezeichnet<br />

werden <strong>und</strong> Innovationen <strong>und</strong> dem damit verflochtenen Strukturwandel<br />

entgegenstehen.<br />

H. Gebhardt


482 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

I p<br />

knappheit <strong>und</strong> Klimaverhältnissen schwierig, dennoch<br />

werden viele Produkte <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

auch durch lokale Unternehmen zur Verfügung gestellt.<br />

So wird eigenes Kapital geb<strong>und</strong>en, die Situation<br />

auf dem Arbeitsmarkt verbessert sich, lokale Ressourcen<br />

werden besser genutzt <strong>und</strong> die Profite fördern<br />

weitere Investitionen. Japan ist das klassische Beispiel,<br />

wo beim Übergang von einer peripheren Volkswirtschaft<br />

zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht Ende<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Importsubstitution, besonders<br />

bei Textilien <strong>und</strong> in der Schwerindustrie, eine wichtige<br />

Rolle spielte. Auch im Zusammenhang mit Japans<br />

„Wirtschaftsw<strong>und</strong>er“ nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

war Importsubstitution von herausragender Bedeutung,<br />

damals vor allem in der Automobilindustrie<br />

<strong>und</strong> in der Unterhaltungselektronik. Derzeit verfolgen<br />

Länder wie Brasilien, Peru oder Ghana ähnliche<br />

Strategien, indem sie heimische Industrien subventionieren<br />

<strong>und</strong> durch Steuern <strong>und</strong> Zölle vor der internationalen<br />

Konkurrenz zu schützen versuchen.<br />

Durch negative Auswirkungen einer extremen<br />

Verstädterung können sich auch Agglomerationsnachteile<br />

ergeben. Mit zunehmender Nachfrage steigen<br />

die Kosten für Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden ebenso wie die<br />

Ausgaben für Löhne <strong>und</strong> Gehälter. Die Verkehrssysteme<br />

werden zunehmend überlastet, infolge fehlender<br />

Deponiekapazitäten erhöhen sich die Entsorgungsgebühren,<br />

<strong>und</strong> die finanzielle Belastung der öffentlichen<br />

Hand wiegt aufgr<strong>und</strong> des hohen Infrastrukturniveaus<br />

immer schwerer. Schließlich müssen<br />

die im Zuge der Entwicklung gewachsenen Einrichtungen<br />

wie Verkehrspolizei, Stadtplanung <strong>und</strong> Nahverkehrssysteme<br />

aufrecht erhalten werden. Die hohen<br />

Kosten werden vor allem solche Funktionen <strong>und</strong> Betriebe<br />

zum Wegzug aus einer Agglomeration veranlassen,<br />

die nicht auf das Kontaktpotenzial des Zentrums<br />

angewiesen sind.<br />

Nachteile, die sich durch die höhere Steuerlast ergeben,<br />

werden von den Firmen meist über höhere<br />

Preise an die Abnehmer in anderen Regionen oder<br />

Ländern weitergegeben. Dadurch sinkt allerdings deren<br />

Wettbewerbsfähigkeit gegenüber der Konkurrenz<br />

an anderen Standorten. Andere Agglomerationsnachteile<br />

wie Lärm, Luftverschmutzung, hohe Kriminalität<br />

<strong>und</strong> steigende Lebenshaltungskosten können<br />

hingegen nicht „exportiert“ werden. In Kalifornien<br />

hat dies solche Ausmaße angenommen, dass eine Studie<br />

des B<strong>und</strong>esstaates in Zusammenarbeit mit der<br />

Bank of America, der Greenbelt Alliance <strong>und</strong> dem<br />

Low Income Housing F<strong>und</strong> zu dem Schluss kommt,<br />

dass „kalifornische Unternehmen dem globalen<br />

Wettbewerb infolge der Kosten zunehmender Verstädterung<br />

nicht mehr standhalten können. [...]<br />

Wenn die Lebensqualität weiterhin absinkt <strong>und</strong> die<br />

Kosten für Häuser <strong>und</strong> Wohnungen eskalieren,<br />

wird man das attraktive Wirtschaftsklima in Zukunft<br />

nicht aufrecht erhalten können.“^ Als Konsequenz<br />

führte Kalifornien einige der strengsten Verkehrs<strong>und</strong><br />

Umweltschutzvorschriften des Landes ein.<br />

I<br />

Deindustrialisierung <strong>und</strong> kreative<br />

Destruktion_____________________<br />

Die Hauptursache für Verschiebungen im Verhältnis<br />

zwischen Startvorteilen <strong>und</strong> Selbstverstärkungsprozessen<br />

liegt in der langfristigen Veränderung technologischer<br />

Systeme <strong>und</strong> dem globalen zwischenstaatlichen<br />

Wettbewerb, der zumindest langfristig in hohem<br />

Maß durch die Entwicklung der Humanressourcen<br />

bestimmt wird. Neue technische Entwicklungen<br />

bedingen neue Industrien, die noch nicht durch die<br />

enormen Investitionen in Fabrikgebäude oder feste<br />

Beziehungen mit anderen Unternehmen an einen<br />

Standort geb<strong>und</strong>en sind. Zusammen mit neuen Entwicklungen<br />

in den Bereichen Transport <strong>und</strong> Kommunikation<br />

eröffnen sich an bestimmten Standorten<br />

neue Möglichkeiten, die eventuell zur Bildung neuer<br />

Industriegebiete führen.<br />

Gleichermaßen bedeutsam für die Veränderungen<br />

im Muster globaler Zentren <strong>und</strong> Peripherien sind abnehmende<br />

Gewinne traditioneller Industriezweige<br />

oder die Verschiebungen der Gewinne von transnationalen<br />

Unternehmen zwischen ihren Standorten in<br />

verschiedenen Staaten <strong>und</strong> Regionen. Wenn die Unternehmen<br />

eine gewisse Größe überschritten haben,<br />

kommt es in den Regionen des Zentrums zu verschiedenen<br />

Formen der Deinvestition. Betriebe können<br />

beispielsweise die Lohnkosten senken, indem sie<br />

auf die Herstellung bestimmter Produkte verzichten,<br />

Teile der Produktion stilllegen, Betriebsgelände <strong>und</strong><br />

Maschinen verkaufen, Arbeitsplätze an die Peripherien<br />

mit niedrigen Lohnkosten verlagern oder die<br />

Ausgaben für Forschung <strong>und</strong> Entwicklung einschränken.<br />

Auf diese Weise kommt es in den einst prosperierenden<br />

Industrieländern der Kernregion zur Deindustrialisierung.<br />

Wenn Firmen sich aus weniger profitablen Geschäftsfeldern<br />

zurückziehen, die das Arbeitsplatzange<br />

bot einer Region wesentlich bestimmen, kann die<br />

Deindustrialisierung massive Auswirkungen auf den<br />

regionalen Arbeitsmarkt haben (Abbildung 8.38).<br />

Einen solchen Rückzug der Industrie gab es beispiels-<br />

Beyond Sprawl Sacramento, CA (State of California - Resources Agency)<br />

1995


Wege der Entwicklung 483<br />

8.38 Deindustrialisierung. In den letzten<br />

Jahrzehnten wurden sowohl in der alten<br />

B<strong>und</strong>esrepublik wie in den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

zahlreiche aus der Zeit des industriellen<br />

Aufbaus Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

stammende Industrieanlagen abgerissen.<br />

Die Aufnahme oben zeigt eine inmitten von<br />

Wohnbebauung gelegene große chemische<br />

Fabrik in Köln, welche inzwischen neuen<br />

Verwaltungs- <strong>und</strong> Bürobauten weichen<br />

musste. Unten; In den neuen B<strong>und</strong>esländern<br />

kam es nach der Wende zu einer massiven<br />

Deindustrialisierung, vor allem im Bereich der<br />

Kohlechemie; zahlreiche Fabrikanlagen<br />

wurden stillgelegt <strong>und</strong> abgerissen (wie hier<br />

im Leipziger Süden), <strong>und</strong> es ging in vielen<br />

Regionen die Mehrzahl der Arbeitsplätze<br />

verloren. Viele ehemalige Mitarbeiter<br />

mussten sich an anderer Stelle, nicht selten<br />

in den alten B<strong>und</strong>esländern, nach einem<br />

neuen Arbeitsplatz umsehen.<br />

weise in den 1960er- <strong>und</strong> 1970er-Jahren im Bereich<br />

des amerikanischen Manufacturing Belt, der deshalb<br />

später gelegentiich auch als Rustbelt bezeichnet wurde.<br />

Von ähnlichen Entwicklungen waren in den<br />

1960er-, 1970er- <strong>und</strong> 1980er-Jahren viele der altindustrialisierten<br />

Regionen Europas betroffen. In Frankreich,<br />

Belgien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden<br />

<strong>und</strong> Großbritannien ging die Zahl der Industriearbeitsplätze<br />

zwischen 1960 <strong>und</strong> 1990 um ein Drittel<br />

bis um die Hälfte zurück. Am stärksten von der Deindustrialisierung<br />

betroffen war Großbritannien, wo<br />

das Wegbrechen von Arbeitsplätzen in der Industrie<br />

durch die starke Zunahme der Beschäftigtenzahlen<br />

im Dienstleistungssektor weitgehend kompensiert<br />

werden konnte. Das durch Deinvestition frei werdende<br />

Kapital nutzen Unternehmer stattdessen für Investitionen<br />

in neue Geschäftsfelder im Bereich innovativer<br />

Produkte <strong>und</strong> Technologien. Alte Industrien<br />

<strong>und</strong> manchmal auch ganze Standorte verlieren an Bedeutung<br />

<strong>und</strong> müssen schließlich ganz aufgegeben<br />

werden. Nur so kann der Strukturwandel eingeleitet<br />

werden, der zur Bildung neuer Zentren hoher Effektivität<br />

<strong>und</strong> Beschäftigung führt. Dieser Prozess wird<br />

häufig als kreative Destruktion bezeichnet <strong>und</strong> ist<br />

fester Bestandteil des Kapitalismus. Kreative Destruktion<br />

ist ein drastischer Begriff, der das unternehmerische<br />

Bedürfnis beschreibt, sich finanziell aus den alten<br />

<strong>und</strong> wenig profitablen Geschäftsfeldern <strong>und</strong> Regionen<br />

zurückzuziehen, um in neue Technologien -<br />

<strong>und</strong> bisweilen auch Standorte - zu investieren. In den<br />

USA floss beispielsweise das im Zuge der<br />

Deindustrialisierung des Manufacturing Belt frei werdende<br />

Kapital in die südlichen B<strong>und</strong>esstaaten des<br />

Sunbelt <strong>und</strong> in periphere Länder wie Mexiko <strong>und</strong><br />

Südkorea.<br />

Doch dieser Prozess ist damit noch nicht abgeschlossen.<br />

Die Deindustrialisierung kann so weit gehen,<br />

dass in einer Region die relativen Kosten für<br />

Gr<strong>und</strong> <strong>und</strong> Boden, Arbeit <strong>und</strong> Infrastruktur so stark<br />

sinken, dass die deindustrialisierte Region erneut das


484 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Interesse von Investoren weckt. Über lange Zeiträume<br />

betrachtet, schwappt das Kapital einer Welle<br />

gleich von den entwickelten in die weniger entwickelten<br />

Regionen - <strong>und</strong> wieder zurück, sobald der Niedergang<br />

einer vormals florierenden Region ein bestimmtes<br />

Maß überschritten hat. Deindustrialisierte<br />

Standorte können saniert <strong>und</strong> revitalisiert werden<br />

<strong>und</strong> durch Investitionen in neue Betriebe einen neuerlichen<br />

Aufschwung erfahren. Einen solchen Strukturwandel<br />

haben in den 1980er-Jahren die Region um<br />

Pittsburgh im US-B<strong>und</strong>esstaat Pennsylvania sowie in<br />

den 1980er- <strong>und</strong> 1990er-Jahren das Ruhrgebiet erfahren.<br />

Aus heruntergekommenen Industriebrachen<br />

entstanden hier wieder Zentren der postindustriellen<br />

Ökonomie. In den Jahren von 1975 bis 1995 reduzierte<br />

der Stahlgigant USX seine Belegschaft in der Gegend<br />

von Pittsburgh von 20 000 auf 5 000 Mitarbeiter.<br />

Diese Verluste sind mittlerweile durch die Neuschaffung<br />

von Arbeitsplätzen in der Hightech-Elektronik,<br />

im Spezialmaschinenbau <strong>und</strong> bei Finanzdienstleistungen<br />

mehr als ausgeglichen worden. Auch im<br />

Ruhrgebiet haben sich auf dem Gelände der früheren<br />

Schwerindustrie <strong>und</strong> Kohlegruben Unternehmen<br />

verschiedener Branchen angesiedelt.<br />

, Staatliche Interventionen<br />

Neben Deindustrialisierung <strong>und</strong> kreativer Destruktion<br />

können sich die Gleichgewichte zwischen den<br />

Zentren <strong>und</strong> Peripherien auch durch staatliche Eingriffe<br />

verändern. Politische <strong>und</strong> raumplanerische Argumente<br />

sind wichtige Bestandteile einer übergeordneten<br />

Lenkung zur Stabilisierung, Neuorganisation<br />

<strong>und</strong> Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit einer<br />

Volkswirtschaft <strong>und</strong> begleiten meist die Prozesse<br />

der kreativen Destruktion. Ohne Raumplanung<br />

<strong>und</strong> politische Rahmenbedingungen bleiben die Ressourcen<br />

von alt- <strong>und</strong> deindustrialisierten Räumen sowie<br />

der Peripherie ungenutzt, während im Zentrum<br />

die Gefahr von Agglomerationsnachteilen wächst. In<br />

vielen Fällen hat der Staat auch ein politisches Interesse<br />

an der Förderung einer bestimmten Region.<br />

Gleichzeitig sind auch die Gemeinden an der Förderung<br />

der Wirtschaft vor Ort interessiert, weil sie entsprechende<br />

Steuereinnahmen benötigen.<br />

Art <strong>und</strong> Umfang staatlicher Interventionen sind<br />

zeitlich <strong>und</strong> räumlich unterschiedlich. In einigen<br />

Ländern gibt es für die Steuerung regionaler wirtschaftlicher<br />

Entwicklung <strong>und</strong> zur Verminderung<br />

der Ungleichheiten zwischen Kernraum <strong>und</strong> Peripherie<br />

eigens zuständige Behörden. Zu den bekannten<br />

Beispielen gehören das japanische MITI (Ministry<br />

of International Trade and Industry), die italienische<br />

Cassa del Mezzogiorno (dieser südliche Entwicklungsdienst<br />

zerfiel 1987 in verschiedene kleinere<br />

Dienste) <strong>und</strong> die U. S. Economic Development Administration.<br />

Einige Regierungen unterstützten im Niedergang<br />

begriffene Regionen durch den Ausbau der<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> die Subventionierung privater Investitionen,<br />

andere versuchten mit Steuervergünstigungen<br />

die Lohnkosten peripherer Regionen zu reduzieren;<br />

wieder andere begegneten den Agglomerationsnachteilen<br />

durch höhere Steuern <strong>und</strong> restriktive<br />

Landnutzung.<br />

Die meisten Regierungen favorisieren das Prinzip<br />

der selbstverstärkenden Entwicklung, indem sie sogenannte<br />

Wachstumspole schaffen. Dabei handelt es<br />

sich um sektorale oder regionale Ansatzpunkte,<br />

von denen wirtschaftliche Impulse auf andere Sektoren<br />

beziehungsweise das Umland ausgehen sollen.<br />

Allerdings wissen die Ökonomen, dass sich nicht<br />

jede Industriebranche dazu eignet, das wirtschaftliche<br />

Wachstum einer Region <strong>und</strong> deren Selbstvei Stärkungsprozesse<br />

zu stimulieren. Die größten Auswirkungen<br />

sind von wachstumsstarken Industrien zu<br />

erwarten. In den 1920er-Jahren gehörte dazu der<br />

Schiffbau, in den 1950er- <strong>und</strong> 1960er-Jahren war<br />

es die Automobilindustrie <strong>und</strong> heute wird es der Biotechnologiesektor.<br />

Die gr<strong>und</strong>legende Idee bei der<br />

Förderung regionalen Wachstums ist die Ansiedlung<br />

solcher wachstumsstarker Branchen an bevorzugten<br />

Standorten. Auf diese Weise sollen Wachstumspole<br />

(Regionen) entstehen, in denen es aufgr<strong>und</strong> solcher<br />

Maßnahmen zur Ausbildung einer sich selbst erhaltenden<br />

Spirale wirtschaftlichen Aufschwungs kommt.<br />

Das Konzept der Wachstumspole wurde schon in<br />

vielen Ländern mit größerem oder geringerem Erfolg<br />

erprobt. In Frankreich entstanden auf diese Weise die<br />

„Technopole“, Ansiedlungen von Hightech-Betrieben<br />

der Computer- <strong>und</strong> Biotechnologiebranche. Sie<br />

sollen den Aufschwung ganzer Regionen gewährleisten.<br />

In den Randlagen Süditaliens wurden zahlreiche<br />

Unternehmen der Schwerindustrie mit dem Ziel angesiedelt,<br />

die Entwicklung der Zulieferbetriebe <strong>und</strong><br />

Dienstleistungen zu fördern. In der Appalachenregion<br />

der Vereinigten Staaten entstand eine ganze Reihe<br />

von Wachstumspolen, in denen sich Gewerbegebiete<br />

entwickelten. Diese Konzepte waren allerdings<br />

von unterschiedlichem Erfolg gekrönt. Die französischen<br />

Technopole waren erfolgreich, weil die Regierung<br />

die Ansiedlung wachstumsstarker Industrien an<br />

bevorzugten Standorten mit hohem Subventionsaufwand<br />

förderte. Die italienischen <strong>und</strong> amerikanischen<br />

Bemühungen waren jedoch - wie viele andere auch -<br />

letztlich erfolglos. Viele Regierungen investierten aus


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 485<br />

politischen Gründen nicht in neue Wachstumsindustrien,<br />

sondern versuchten bestehende, aber wenig<br />

zukunftsträchtige Industriebranchen zu subventionieren.<br />

In aller Regel fehlte es an der finanziellen Ausdauer,<br />

die bis zum Einsetzen von Selbstverstärkungsprozessen<br />

letztlich nötig ist.<br />

Globalisierung <strong>und</strong> regionale<br />

Wirtschaftsentwicklung<br />

Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, kommt es im<br />

Rahmen der Globalisierung zur Schaffung internationaler<br />

Arbeits- <strong>und</strong> Finanzmärkte, zur Bildung neuer<br />

Technologien in den Bereichen Automatisierung, Telekommunikation<br />

oder Biotechnologie <strong>und</strong> zur Homogenisierung<br />

der Märkte für Konsumgüter. Die erste<br />

Welle der Globalisierung von Unternehmen wurde<br />

in den 1970er-Iahren von Industriegiganten wie General<br />

Motors <strong>und</strong> General Electric ausgelöst, deren<br />

globale Reichweiten drei Ziele verfolgten: die Arbeitskosten<br />

zu vermindern, dem Einfluss nationaler Gewerkschaften<br />

auszuweichen <strong>und</strong> wachsende Auslandsmärkte<br />

zu erobern. In den 1980er-Iahren, als<br />

die Globalisierung der Industrie voranschritt <strong>und</strong><br />

die Informationswirtschaft zu wachsen begann, bauten<br />

führende Firmen im Bereich innovativer Unternehmensdienstleistungen<br />

- Verwaltung, Werbung,<br />

Finanzen <strong>und</strong> Recht - eigene globale Netzwerke<br />

auf. Die Globalisierung im Finanz- <strong>und</strong> Dienstleistungssektor<br />

war anfänglich eine Reaktion auf die<br />

Praktiken der wichtigsten K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Klienten:<br />

der international agierenden Industrieunternehmen.<br />

Wollte beispielsweise ein Anwaltsbüro weiter mit<br />

einem größeren Unternehmen im Geschäft bleiben,<br />

musste es in der Lage sein, seine Dienstleistungen<br />

dort anzubieten, wo sie von dem Unternehmen benötigt<br />

wurden. Firmen gehobener Unternehmensdienstleistungen<br />

folgten also ihren K<strong>und</strong>en auf deren<br />

Globalisierungskurs in den späten 1970er- <strong>und</strong> insbesondere<br />

in den 1980er-Iahren nach. Auf diese Weise<br />

entstand ein Netzwerk von Büros, das sich an die Bedürfnisse<br />

der K<strong>und</strong>en beziehungsweise Auftraggeber<br />

anpasste. Nach <strong>und</strong> nach nutzten manche dieser Firmen<br />

ihre internationalen Netzwerke, um neue K<strong>und</strong>en<br />

in anderen Geschäftssegmenten zu gewinnen. In<br />

den 1990er-Iahren wurden die führenden Unternehmensdienstleister<br />

selbst globale Unternehmen, die<br />

einen lückenlosen Service mit Niederlassungen in<br />

den wichtigsten Städten der Welt anbieten konnten<br />

<strong>und</strong> heute mehrere Zehntausend Beschäftigte zählen.<br />

Die Dynamik wirtschaftlicher Globalisierung beruht<br />

vor allem auf den internationalen Transfers<br />

von Kapital, Wissen <strong>und</strong> Dienstleistungen. Im fahr<br />

2004 investierten Firmen weltweit mehr als 651 Milliarden<br />

US-Dollar in ausländische Unternehmungen.<br />

Die direkten Auslandsinvestitionen (ausländische<br />

Direktinvestitionen) stiegen damit im Vergleich zu<br />

den 1970er-Iahren um das Zehnfache an. Ungefähr<br />

40 Prozent aller direkten Auslandsinvestitionen erfolgten<br />

in den Ländern der Peripherie <strong>und</strong> Semiperipherie,<br />

der Rest des Kapitals floss in Regionen des<br />

Zentrums, vor allem in die Transformationsländer<br />

Mittel- <strong>und</strong> Osteuropas. In der Folge stieg der Welthandel<br />

mit Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen, was allein<br />

im Zeitraum von 1975 bis 2004 zu einer Verdreifachung<br />

des Exports von Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

führte.<br />

Gr<strong>und</strong>sätzlich kann man davon ausgehen, dass<br />

Auslandsinvestitionen für die entsprechenden Länder<br />

<strong>und</strong> Regionen vorteilhaft sind. Der Wettbewerb lokaler<br />

Unternehmen wird angeregt, was wiederum die<br />

Produktivität steigert. Indem sich in den Zielregionen<br />

neue Arbeitskräfte <strong>und</strong> Betriebe der Zulieferbranchen<br />

ansiedeln, halten neue Geschäftsmethoden <strong>und</strong> Produktionstechnologien<br />

Einzug. Außerdem erhalten<br />

diese neuen Betriebe vom Mutterunternehmen<br />

Know-how <strong>und</strong> neue Technologien. Da sie sich auf<br />

die Beziehungen <strong>und</strong> das Prestige des Mutterunternehmens<br />

stützen können, setzen sich diese von Auslandskapital<br />

errichteten Betriebe auch auf dem Weltmarkt<br />

besser durch (Abbildung 8.39). Dies wurde in<br />

den 1990er-Iahren besonders am Beispiel der zentral<strong>und</strong><br />

osteuropäischen Transformationsländer deutlich.<br />

Länder wie Ungarn, die sich früh dem Auslandskapital<br />

öffneten, waren Ende der 1990er-Iahre auf<br />

den Weltmärkten viel erfolgreicher als jene Länder,<br />

die Auslandsinvestitionen zurückhaltender begegneten.<br />

Die Muster lokaler <strong>und</strong> regionaler Entwicklung<br />

reagieren im Zeitalter der Globalisierung gegenüber<br />

äußeren Einflüssen sehr viel sensibler als in früheren<br />

Zeiten, in denen die Verflechtungen <strong>und</strong> gegenseitigen<br />

Abhängigkeiten noch nicht so groß waren. Indem<br />

die Dimensionen von Raum <strong>und</strong> Zeit „schrumpfen“<br />

<strong>und</strong> mancherlei Grenzen ihre ökonomische Bedeutung<br />

verlieren, werden die Beziehungen zwischen<br />

Menschen aus aller Welt immer enger. Es folgen<br />

drei Beispiele von Menschen, deren Leben der World<br />

Development Report der Weltbank von 1995 nachzeichnet.'^<br />

World Bank: World Development Report 1995; Worker in an Integrating<br />

World. New York (Oxford University Press) 1995. S. 50


•i'f 486 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

8.39 Ausländische Investitionen <strong>und</strong> regionale Wirtschaftskraft Infolge der wirtschaftlichen Globalisierung stiegen die<br />

ausländischen Investitionen in Regionen der Semiperipherie <strong>und</strong> Peripherie stark an. Dadurch kommt es in den Empfängerländern<br />

der Investitionen zu neuen Organisationsstrukturen, einer Zunahme des Außenhandels (vor allem zwischen Tochter- <strong>und</strong> Mutterbetrieb),<br />

einem größeren Wettbewerb <strong>und</strong> in vielen Fällen auch zu einer Höherqualifizierung der regional verfügbaren Arbeitskräfte.<br />

(Quelle: Florida, R. Regional creative destruction: Production organization, globalization, and the economic transformation of the<br />

Midwest In: Economic Geography. 1996. Abbildung 1, S. 317.)<br />

'i<br />

„Joe lebt in einem kleinen Ort im südlichen Texas.<br />

Viele Jahre lang arbeitete er als Finanzbuchhalter in<br />

einer Textilfabrik. Der Job war nicht sehr sicher,<br />

Joe verdiente 50 Dollar pro Tag <strong>und</strong> hatte keine Aufstiegschancen.<br />

Schließlich war die Firma dem wachsenden<br />

Druck mexikanischer Importe nicht mehr gewachsen<br />

<strong>und</strong> musste schließen. Joe ging zurück an die<br />

Universität, studierte Betriebswirtschaft <strong>und</strong> bekam<br />

vor kurzem eine Stelle bei einer der neuen Banken<br />

in der Gegend. Jetzt genießt er ein Leben in Wohlstand,<br />

wenngleich er nun die Kredite für sein Studium<br />

zurückzahlen muss.<br />

Maria verließ vor kurzem ihr Dorf im Herzen Mexikos,<br />

um in einer in amerikanischem Besitz befindlichen<br />

Firma im Maquila-Sekior zu arbeiten. Ihr Ehemann<br />

Juan betreibt eine kleine Autopolsterei <strong>und</strong><br />

verdingt sich während der Erntesaison bei kalifornischen<br />

Bauern als illegale Arbeitskraft. Nachdem Maria,<br />

Juan <strong>und</strong> ihr Sohn die Subsistenzwirtschaft hinter<br />

sich gelassen hatten, erhöhte sich ihr Lebensstandard.<br />

Marias Einkommen hat sich seit Jahren nicht verändert,<br />

sie verdient immer noch gerade zehn Dollar pro<br />

Tag.<br />

Xiao Zhi arbeitet in einer Fabrik in der Sonderwirtschaftszone<br />

von Shenzhen in Südchina. Nachdem er<br />

sich, wie viele andere Chinesen auch, drei Jahre lang<br />

ohne festen Wohnsitz durchs Leben schlug, um der<br />

Armut in der nahe gelegenen Sichuan-Provinz zu entfliehen,<br />

bekam er schließlich eine Arbeitsstelle bei<br />

einer Firma aus Hongkong. Sie produziert Bekleidungen<br />

für den amerikanischen Markt. Jetzt verdient er<br />

zwei Dollar pro Tag, kann sich mehr als eine Schale<br />

Reis leisten <strong>und</strong> ist für die Zukunft guter Dinge.“<br />

Diese Beispiele machen deutlich, dass die gegenseitigen<br />

Abhängigkeiten in einem Maße komplex <strong>und</strong><br />

schnelllebig sind, wie es noch vor 15 oder 20 Jahren<br />

<strong>und</strong>enkbar war. Joe verlor seinen Job aufgr<strong>und</strong> der<br />

Konkurrenz durch arme Mexikaner wie Maria. Ihr<br />

Lohn wird indes durch Billigimporte aus China begrenzt.<br />

Immerhin hat sich Joes Position letztlich verbessert,<br />

<strong>und</strong> die Vereinigten Staaten profitierten von<br />

den zunehmenden Exporten nach Mexiko. Auch Marias<br />

Lebensstandard hat sich verbessert, <strong>und</strong> ihr Sohn<br />

kann einer besseren Zukunft entgegenblicken. Durch<br />

Investitionen in Wachstumsmärkte in aller Welt profitiert<br />

Joes Rentenversicherung von höheren Gewinnen,<br />

<strong>und</strong> Xiao Zhi hofft auf einen besseren Lohn, um<br />

sich einmal Konsumgüter leisten zu können. Aber<br />

natürlich profitierten nicht alle Menschen von der<br />

neuen internationalen Arbeitsteilung. In einigen Industrieländern<br />

dämpfen zunehmende Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> unsichere Einkommensverhältnisse die Zukunftsaussichten<br />

Einzelner. Immer mehr Arbeitsplätze<br />

sind hier durch Billigimporte aus Niedriglohnländern<br />

gefährdet. Außerdem folgen einheimische Firmen<br />

dem Trend <strong>und</strong> verlagern ihre Produktionen<br />

in Länder mit niedrigen Löhnen <strong>und</strong> geringer Steuerlast.<br />

Die meisten Menschen leben derzeit in Ländern,<br />

die entweder bereits fest in den globalen Güter<strong>und</strong><br />

Finanzhandel eingeb<strong>und</strong>en sind oder sich auf<br />

dem besten Wege dahin befinden. Noch Ende der<br />

1970er-Jahre hatten nur ganz wenige Länder peripherer<br />

Regionen ihre Grenzen für Handel <strong>und</strong> Investitionen<br />

geöffnet. R<strong>und</strong> ein Drittel der Weltbevölkerung<br />

lebte noch in den Planwirtschaften der Sowjetunion<br />

<strong>und</strong> Chinas, <strong>und</strong> mindestens ein weiteres Drittel unter<br />

Handels- <strong>und</strong> Devisenbeschränkungen. Heute<br />

drängen mit China, Indien <strong>und</strong> den Nachfolgestaaten<br />

der ehemaligen Sowjetunion drei überaus bevölke-


Globalisierung<br />

<strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 487<br />

rungsstarke Regionen auf den Weltmarkt. Von Mexiko<br />

bis Thailand verfügen schon jetzt zahlreiche<br />

Länder über intensive Handelsbeziehungen. Die<br />

Weltbank schätzt, dass im Jahr 2004 weniger als<br />

10 Prozent des internationalen Arbeitsmarktes vom<br />

globalen Wirtschaftssystem ausgeschlossen bleiben.<br />

In den folgenden Abschnitten werden einige spezifische<br />

Auswirkungen dreier zentraler Größen globaler<br />

Wirtschaft beleuchtet:<br />

• weltweit integrierte Fertigungsprozesse (global assembly<br />

Unes) als Folge transnationaler Produktionen<br />

• globale Verwaltungen (global offices) durch die Internationalisierung<br />

der Banken, Finanz- <strong>und</strong> Wirtschaftsdienstleister;<br />

• der zunehmender (Fern-)Tourismus in periphere<br />

Regionen<br />

I Die globale Fertigungsstraße<br />

Die Globalisierung der Weltwirtschaft steht am Ende<br />

einer langen Geschichte der Internationalisierung.<br />

Am Anfang standen private Firmen, die nicht nur<br />

am Welthandel teilnahmen, sondern auch Teile ihrer<br />

Produktionsstätten <strong>und</strong>/oder Handelsvertretungen<br />

ins Ausland verlegten. So leben <strong>und</strong> arbeiten fast<br />

80 Prozent aller Beschäftigten des Ford-Konzerns außerhalb<br />

der USA, 55 Prozent seiner Einnahmen erwirtschaftet<br />

der Automobilhersteller im Ausland.<br />

Bei IBM sind mehr als die Hälfte der Mitarbeiter<br />

im Ausland beschäftigt, wo 61 Prozent der Einkünfte<br />

erzielt werden. Der niederländische Konzern Philips<br />

rekrutiert 82 Prozent seiner Arbeitskräfte außerhalb<br />

seines Heimatiandes <strong>und</strong> erwirtschaftet dort 95 Prozent<br />

der Einnahmen. Viele dieser transnationalen<br />

Unternehmen wurden im Laufe der Zeit durch Übernahmen<br />

<strong>und</strong> Fusionen so groß, dass sie mittlerweile<br />

in einer ganzen Reihe von Wirtschaftsbereichen tätig<br />

sind. Transnationale Konzerne sind große Unternehmen,<br />

die nicht nur im internationalen Handel aktiv<br />

sind, sondern sich in vielen Ländern auch in den<br />

Bereichen Produktion, Gewerbe <strong>und</strong>/oder Vertrieb<br />

beziehungsweise Verkauf betätigen.<br />

Wenn sich Firmen in sehr unterschiedlichen Bereichen<br />

engagieren, werden sie auch als konglomerate<br />

Unternehmen oder Mischkonzerne bezeichnet. Altria<br />

(vorher Philip Morris), ursprünglich als Zigarettenhersteller<br />

(Marlboro) bekannt, kontrolliert mittlerweile<br />

die größte Gruppe der Getränkehersteller,<br />

unter anderem Miller Brewing. Außerdem ist der<br />

Konzern zunehmend an Nahrungsmittelproduzenten<br />

wie Kraft, General Foods, Tobler, Terry’s <strong>und</strong> Suchard<br />

beteiligt, handelt mit Immobilien (Mission Viejo<br />

Company in Kalifornien), ist im Import-Export-Geschäft<br />

aktiv (Duracell do Brasil) <strong>und</strong> betätigt sich als<br />

Verleger (E.Z. Editions, Zürich). Allein die Marke<br />

Kraft umfasst Produkte wie Cheese Whiz, Cool<br />

Whip, Country Time, Cream of Wheat, DiGiorno,<br />

Jell-0, Kool-Aid, Life Savers, Miracle Whip, Oscar<br />

Meyer, Nabisco, Oreo, Planters, Post cereals, Ritz,<br />

Sanka, Shake'n Bake, Triscuit <strong>und</strong> Yuban. Nestle


488 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Wissen <strong>und</strong> wirtschaftliche Entwicklung<br />

Der Zusammenhang zwischen Wissen <strong>und</strong> wirtschaftlicher<br />

Entwicklung ist schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten sehr eng <strong>und</strong> an<br />

zahlreichen Beispielen nachzuweisen. Lediglich die Art <strong>und</strong><br />

der Umfang der benötigten Qualifikationen <strong>und</strong> Wissensbestände<br />

haben sich im Laufe der Jahrh<strong>und</strong>erte geändert. In<br />

den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung in zunehmendem Maße zu einer<br />

Gr<strong>und</strong>lage der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. In der<br />

Informations- <strong>und</strong> Wissensgesellschaft, die sich in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in den Regionen des Zentrums zu<br />

entwickeln begann, wurden Wissen, Kompetenzen, Qualifikationen<br />

<strong>und</strong> technische Erfindungen zu den wichtigsten Produktionsfaktoren<br />

<strong>und</strong> Wettbewerbsvorteilen. Das Wachstum<br />

quartärer Wirtschaftszweige führte zu einer großen Nachfrage<br />

nach gut ausgebildeten Erwerbstätigen.<br />

Für die peripheren Länder sind Wissensdefizite - fehlende<br />

Möglichkeiten, Wissen zu erwerben <strong>und</strong> anzuwenden - ein zunehmendes<br />

Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung.<br />

Arme Länder haben nicht nur sehr hohe Analphabetenquoten<br />

(„Alphabetisierung“ in Kapitel 5), sondern auch geringe Möglichkeiten,<br />

in das Schulwesen, in Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

oder in den Ausbau von Informationstechnologien zu investieren.<br />

Außerdem leiden diese Länder unter einem hohen<br />

brain-drain (Exkurs „brain drain" in Kapitel 3). Ein großer<br />

Teil der höher Qualifizierten, die in diesen Ländern ausgebildet<br />

werden, wandert in die Regionen des Zentrums aus, sodass<br />

die finanziellen Investitionen in das Bildungswesen den Entwicklungsländern<br />

nur in geringem Maße zugute kommen<br />

<strong>und</strong> die zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie bestehenden Unterschiede<br />

in der wirtschaftlichen Produktivität immer größer<br />

werden.<br />

Im World Development Report von 1999^ maß die Weltbank<br />

der Informationsverarbeitung <strong>und</strong> Wissensproduktion für die<br />

heutige ungleiche Wirtschaftsentwicklung eine besondere Bedeutung<br />

zu. Der Bericht stellt die missliche Lage derjenigen<br />

Länder <strong>und</strong> Regionen heraus, in denen wenig Kapital in Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung fließt <strong>und</strong> die in eine zunehmende<br />

ökonomische <strong>und</strong> technologische Abhängigkeit von den reichen<br />

Ländern <strong>und</strong> transnationalen Unternehmen geraten. Einigen<br />

semiperipheren Ländern wie Südkorea <strong>und</strong> Singapur gelang<br />

es, ihre Abhängigkeit <strong>und</strong> ihren Entwicklungsrückstand zu<br />

verringern, indem sie Kenntnisse <strong>und</strong> technologische Entwicklungen<br />

in Form von Lizenzen kauften <strong>und</strong> so in ihre eigenen<br />

Industrien <strong>und</strong> Dienstleistungsgewerbe übernahmen. Der Kauf<br />

von Lizenzen beziehungsweise die Produktion mithilfe von<br />

ausländischen Lizenzen kann unter Umständen sehr viel effektiver<br />

sein, weil sich die peripheren Länder eigene Ausgaben für<br />

Forschungen <strong>und</strong> Entwicklungen sparen können. Weltweit<br />

stiegen die Ausgaben für Lizenzen zwischen 1976 <strong>und</strong><br />

1996 von 6,8 auf 60 Milliarden US-Dollar.<br />

Für regionale Ökonomien sind die Gr<strong>und</strong>versorgung mit Bildungseinrichtungen,<br />

Ausbildungsstätten für Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Ingenieure sowie berufliche Weiterbildungsmöglichkeiten<br />

zwar überaus bedeutsam, in der Realität verfügen indes nur<br />

wenige Länder der Peripherie über diese Voraussetzungen.<br />

Die große Verbreitung des Internets hat die Illusion aufkommen<br />

lassen, dass die benachteiligten Regionen nun einen besseren<br />

Zugang zum vorhandenen Wissen erhalten würden. Der<br />

Zugang zu Informationen allein ist allerdings nur von begrenztem<br />

Nutzen, wenn das Vorwissen fehlt, um das Wissen anderer<br />

zu verstehen, zu übernehmen <strong>und</strong> umzusetzen. In der Regel<br />

verbesserte sich durch das Internet nur der Zugang zum<br />

sogenannten Routinewissen oder Jedermannswissen, das<br />

ökonomisch am wenigsten wert ist. In vielen Ländern ist<br />

noch ein großer Teil der erwachsenen Bevölkerung Analphabeten<br />

<strong>und</strong> können weniger als die Hälfte der Kinder eine höhere<br />

Schule besuchen. So notwendig die Beseitigung des<br />

Analphabetismus in der Dritten Welt ist (Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gab es weltweit noch fast eine Milliarde Analphabeten),<br />

so sehr muss jedoch vor übertriebenen Erwartungen hinsichtlich<br />

der schnellen Auswirkungen einer Alphabetisierung auf<br />

die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit im globalen System<br />

gewarnt werden. Qb <strong>und</strong> wie sehr Wissen <strong>und</strong> Qualifikationen<br />

die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes oder die Berufskarriere<br />

einer Person beeinflussen, hängt ganz entscheidend vom<br />

Zeitpunkt ab, zu dem diese erworben oder eingesetzt werden.<br />

Wer zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts lese- <strong>und</strong> schreibk<strong>und</strong>ig<br />

wird, kann sich davon nicht so viele wirtschaftliche oder gesellschaftliche<br />

Vorteile erwarten, wie jemand, der zu Beginn<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts lese- <strong>und</strong> schreibk<strong>und</strong>ig wurde. Außerdem<br />

kann es zwischen dem Zeitpunkt, zu dem in das Bildungswesen<br />

investiert wird, <strong>und</strong> dem Zeitpunkt, in welchem sich<br />

diese Bildungsinvestitionen ökonomisch auswirken, einen<br />

time lag von bis zu 20 Jahren geben. Nicht zuletzt hat auch<br />

die Entwicklung in Europa gezeigt, dass die ökonomischen<br />

Auswirkungen einer Alphabetisierung von einer Vielzahl gesellschaftlicher,<br />

kultureller <strong>und</strong> politischer Rahmenbedingungen<br />

abhängt.<br />

P. Meusburger<br />

kleinen oder mittelgroßen Staaten überlegen (Abbildung<br />

8.40). Der Umsatz von General Motors übertrifft<br />

die Volkswirtschaft Portugals, Toyota setzt<br />

mehr um als Irland, <strong>und</strong> die jährlichen Verkaufserlöse<br />

von Wal-Mart sind höher als das Bruttosozialprodukt<br />

Norwegens.<br />

Der Gr<strong>und</strong>, warum immer mehr <strong>und</strong> immer größere<br />

multinationale Mischkonzerne entstehen, liegt<br />

in den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedin-


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 489<br />

Verkäufe 2003 (Milliarden US-Dollar)<br />

0<br />

Wal-Mart<br />

BP<br />

Exxon<br />

Royal Dutch Shell<br />

General Motors<br />

Ford<br />

DaimlerChrysler<br />

Toyota<br />

General Electric<br />

Total<br />

Irland<br />

Portugal<br />

Südafrika<br />

Griechenland<br />

Dänemark<br />

Türkei<br />

Norwegen<br />

Australien<br />

Schweden<br />

Schweiz<br />

0 50 100 150 200 250 300<br />

BNE 2003 (Milliarden US-Dollar)<br />

350<br />

8.40 Die Wirtschaftskraft von transnationalen<br />

Konzernen Der jährliche Umsatz der großen transnationalen<br />

Konzerne übersteigt das Bruttonationaleinkommen<br />

vieler kleiner <strong>und</strong> mittlerer Staaten.<br />

gungen. Nach der Ölkrise im Jahr 1973 <strong>und</strong> der nachfolgenden<br />

Rezession war es für Firmen in aller Welt<br />

an der Zeit, ihre Strategien zu überdenken. Zur gleichen<br />

Zeit entstanden neue Entwicklungen im Transport-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationswesen, welche die Konzerne<br />

in die Lage versetzten, die enormen Unterschiede<br />

bei den Lohnkosten zwischen den Regionen des<br />

Zentrums <strong>und</strong> der Peripherie für sich zu nutzen. Aufgr<strong>und</strong><br />

dieser technischen Fortschritte wuchs aber<br />

auch der internationale Wettbewerb, der die Firmen<br />

zur Entwicklung effektiverer <strong>und</strong> profitablerer Produktions-<br />

<strong>und</strong> Vermarktungsstrategien zwang. Mit<br />

der zunehmenden Globalisierung <strong>und</strong> infolge neuer<br />

Kommunikationstechnologien glichen die K<strong>und</strong>enbedürfnisse<br />

sich immer weiter an. Einzelnen Konzernen<br />

steht somit der ganze Weltmarkt zur Verfügung.<br />

Erst durch die konsequente Entwicklung multinationaler<br />

Firmengeflechte konnte die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

die derzeitige Globalisierung der Weltwirtschaft geschaffen<br />

werden. Große Konzerne hatten ihre Geschäftsbereiche<br />

neu zu organisieren, sie mussten<br />

ihre Aktivitäten restrukturieren <strong>und</strong> ihre Ressourcen<br />

zwischen den Ländern, Regionen <strong>und</strong> Orten neu ordnen.<br />

Die lokalen wirtschaftlichen Strukturen mussten<br />

umgestaltet werden <strong>und</strong> unterlagen erneut f<strong>und</strong>amentalen<br />

Veränderungen, sobald die Prozesse der<br />

Umstrukturierung, Reorganisation <strong>und</strong> Standortverlagerung<br />

abgeschlossen waren.<br />

Globale Fertigungsstraßen bedeuten für die Hersteller<br />

eine Reihe von Vorteilen:<br />

1. Die Herstellung eines Standardprodukts für den<br />

gesamten Weltmarkt ermöglicht das Ausschöpfen<br />

von Größenvorteilen.<br />

2. Bei der weltweiten Produktion lassen sich regionale<br />

Kostenunterschiede viel besser nutzen. So liegen<br />

die durchschnittlichen Arbeitslöhne der Fertigungsindustrien<br />

in den zentralen Ländern um<br />

25 bis 75 Prozent über denen der peripheren Regionen.<br />

Die globalen Produktketten erlauben die<br />

Verlagerung arbeitsintensiver Prozesse in Niedrig-


490 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Strategien der Unternehmenssicherung<br />

Ä<br />

In Zeiten schleppender Konjunktur beziehungsweise in Rezessionsphasen<br />

spielen Strategien der Unternehmenssicherung<br />

gegenüber Standortentscheidungen eine weitaus zentralere<br />

Rolle. Standortveränderungen bilden hier oft nur eine Art ultima<br />

ratio, in der Regel wird versucht, durch unternehmensinterne<br />

oder -externe Anpassungshandlungen das Überleben<br />

des Betriebs am bestehenden Standort zu sichern. Solche Anpassungsstrategien<br />

können sein: Kapazitätsabbau <strong>und</strong> Konzentration<br />

auf Kerngeschäfte <strong>und</strong> Kernkompetenzen, aber<br />

auch Aufkäufe, Beteiligungen <strong>und</strong> Fusionen; Umstrukturierungen<br />

des Unternehmens; Produkt- <strong>und</strong> Prozessinnovationen<br />

<strong>und</strong> neue Managementkonzepte; Veränderungen der Beziehungen<br />

zwischen Unternehmen (veränderte Formen der Zusammenarbeit<br />

zwischen Unternehmen).<br />

Konzentration auf Kerngeschäfte <strong>und</strong> Kernkompetenzen<br />

Im Laufe der jüngeren Industriegeschichte entstanden nicht<br />

selten große, sehr stark diversifizierte Konglomerate von Industrieunternehmen,<br />

die kaum noch effizient gesteuert werden<br />

konnten. Seit r<strong>und</strong> 15 Jahren setzte daher zunehmend eine<br />

kritische Diskussion ein, ausgelöst durch Megafusionen wie<br />

sie beispielsweise Daimler-Benz <strong>und</strong> andere Konzerne in<br />

den letzten Jahrzehnten vorexerziert haben. Gefordert wurde<br />

nunmehr eine Konzentration auf Kerngeschäfte oder Kernkompetenzen.<br />

In der Praxis heißt dies, dass „historisch zufällige<br />

oder räumlich verstreute Tätigkeiten <strong>und</strong> Standorte aufgegeben,<br />

ausgegliedert oder verselbstständigt [werden], wenn<br />

sie nicht in das Unternehmensprofil passen oder andere Unternehmen<br />

hier kompetenter sind“ (Gaebe 1998).<br />

Verschlankung von Unternehmen <strong>und</strong> le a n p r o d u c t io n<br />

Neben dem outsourcing, das heißt, einer Verringerung der Fertigungstiefe<br />

durch Abgabe von Aufgaben an externe Unternehmen,<br />

erfolgt in Industrieunternehmen derzeit auch eine Reorganisation<br />

in der Weise, dass bisher hierarchisch organisierte<br />

Unternehmensaufgaben durch flachere Hierarchien ersetzt<br />

<strong>und</strong> Arbeitsgruppen eigenverantwortlich Arbeitsplanung, Ablaufsteuerung,<br />

Programmierung, Materialbeschaffung <strong>und</strong><br />

Qualitätskontrolle übertragen wird. Zugleich wird häufig versucht,<br />

auch die Produktion zu „verschlanken“, das heißt,<br />

mit weniger Kapital, weniger Beschäftigten, weniger Materialverbrauch<br />

<strong>und</strong> Produktionszeit dasselbe Produktionsergebnis<br />

zu erreichen.<br />

Veränderte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen<br />

Ein zentrales Thema der jüngeren Industriegeographie seit gut<br />

20 Jahren sind industrieräumliche Verflechtungen, das heißt<br />

Material- <strong>und</strong> Absatzbeziehungen ebenso wie innerbetriebliche<br />

Verflechtungen <strong>und</strong> Kommunikationsbeziehungen. Neue<br />

Formen der Zusammenarbeit von Unternehmen durch outsourcing,<br />

durch die Schaffung von Unternehmensnetzwerken<br />

sowie strategische Allianzen mit Konkurrenten werden damit<br />

zu einem interessanten Thema für die Industriegeographie.<br />

Wettbewerbsvorteile versprechen sich Industrieunternehmen<br />

derzeit auch durch die Organisation in Netzwerken<br />

<strong>und</strong> die Einbettung (embeddedness) in innovative („kreative“)<br />

Milieus.<br />

Im Mittelpunkt des Begriffs „innovatives Milieu“ steht die<br />

Idee, dass innovative Unternehmen in einer Region das Ergebnis<br />

eines kollektiven, dynamischen Prozesses vieler Akteure<br />

dieser Region darstellen, die ein Netzwerk Synergie erzeugender<br />

Verflechtungen bilden. Ein innovatives oder kreatives Milieu<br />

einer Region „resultiert demnach aus den Interaktionen<br />

von Unternehmern, Institutionen <strong>und</strong> Arbeitskräften, die durch<br />

gemeinsames, kooperatives Lernen die Unsicherheiten während<br />

technologischer Paradigmenwechsel reduzieren. Dieses<br />

Lernen von- <strong>und</strong> miteinander erfolgt insbesondere durch die<br />

Mobilisierung von Arbeitskräften, durch Lieferverflechtungen<br />

<strong>und</strong> in Form von face-fo-face-Kontakten, welche durch räumliche<br />

Nähe begünstigt werden. Den größten Nutzen aus der<br />

Integration in regionale Netzwerke haben kleine Unternehmen“<br />

(Sternberg 1995).<br />

H. Gebhardt<br />

lohnländer, Rohstoffe werden in der Nähe der Lagerstätten<br />

verarbeitet, Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

werden vorwiegend in den Zentren durchgeführt,<br />

während die Endfertigung des Produkts im Bereich<br />

der großen Absatzmärkte erfolgt.<br />

3. Die Konzerne sind für die Produktion bestimmter<br />

Komponenten nicht mehr von einem einzigen Zulieferer<br />

abhängig <strong>und</strong> sind deshalb immer weniger<br />

anfällig gegenüber Arbeitskämpfen <strong>und</strong> anderen<br />

„Störungen“.<br />

Zudem erhalten die transnationalen Mischkonzerne<br />

durch ihre internationalen Einkaufsstrategien (global<br />

sourcing) einen besseren Zugang zu den lokalen<br />

Märkten. So bezog der Flugzeughersteller Boeing<br />

einen großen Teil seiner Komponenten aus China<br />

- <strong>und</strong> schuf sich auf diese Weise einen Zugang<br />

zum dortigen Markt für Verkehrsflugzeuge.<br />

Die Automobilhersteller gehörten zu den Ersten,<br />

die sich an den globalen Fertigungsstraßen einfanden.<br />

Der 1976 der Öffentlichkeit vorgestellte Ford Fiesta<br />

war für den europäischen, südamerikanischen, asiatischen<br />

<strong>und</strong> nordamerikanischen Markt gedacht. Seine<br />

Einzelteile wurden von zahlreichen Zulieferbetrieben<br />

bezogen, <strong>und</strong> seine Montage erfolgte an verschiedenen<br />

Standorten. So wurde der Fiesta zu Fords erstem<br />

World car. Mittlerweile sind nach diesem Vorbild auch<br />

die Modelle Focus, Mondeo <strong>und</strong> Contour entstanden.<br />

Die Teile des Ford Escort beispielsweise werden<br />

in 15 verschiedenen Ländern auf drei Kontinenten


8.41 Toyotas globale Fertigungsstraße Diese Karte zeigt die<br />

Ströme von Teilen, Baugruppen <strong>und</strong> kompletten Autos (in Einzelteilen<br />

oder fertig montiert) zwischen den Ländern <strong>und</strong> Regionen, die in die<br />

globale Fertigungsstrategie von Toyota involviert sind. (Karte nach:<br />

<strong>Knox</strong>, P.; Agnew, J.; McCarthy, L. The Geography o f the World Economy,<br />

4. Ed. London (Arnold) 2003.<br />

hergestellt <strong>und</strong> montiert. Die weltweiten Tochterfirmen,<br />

die einst unabhängig operierten, wurden durch<br />

Computernetzwerke <strong>und</strong> Internetkonferenzen zu<br />

funktionalen Bestandteilen des Mutterkonzerns.<br />

Mittlerweile schufen sich auch andere Automobilhersteller<br />

ihre eigenen globalen Fertigungsstraßen (Abbildung<br />

8.41). Aufgr<strong>und</strong> dieser globalen Produktionsnetzwerke<br />

können Firmen die Rohstoffe dort verarbeiten,<br />

wo sie gefördert werden oder am billigsten<br />

sind, arbeitsintensive Fertigungen in Niedriglohnländer<br />

verlagern, die Autos in der Nähe der Absatzmärkte<br />

hersteilen <strong>und</strong> die Zahl der Zulieferbetriebe<br />

erhöhen (was bei lokalen Arbeitskämpfen von Vorteil<br />

ist). Für ihre weltweit angebotenen Modelle verwenden<br />

sie modulare Konstruktionen <strong>und</strong> Bauteile, die<br />

nach dem Baukastenprinzip auf einer gemeinsamen<br />

Plattform basieren, die so ausgelegt ist, dass Chassis,<br />

Ausstattung <strong>und</strong> Fahreigenschaften leicht an die Bedingungen<br />

<strong>und</strong> Erfordernisse in den jeweiligen Ländern<br />

angepasst werden können. Ford konnte zum<br />

Beispiel den Focus mit unterschiedlichen Motoren,<br />

Antriebssystemen <strong>und</strong> so weiter anbieten. Honda<br />

hat drei verschiedene Varianten desselben Autos<br />

auf der Basis des Accord produziert - ein größeres,<br />

familientaugliches Modell für den amerikanischen<br />

Markt, den kleineren, sportlicheren Accord für<br />

jung-dynamische Japaner <strong>und</strong> den kürzeren <strong>und</strong><br />

schmaleren Accord, der mit seinem straffen Fahrwerk<br />

die Wünsche europäischer K<strong>und</strong>en mit sportlichem<br />

Fahrverhalten befriedigt. Laut dem Magazin „Fortune“<br />

entstehen zwei Drittel der 50 bis 60 Millionen<br />

Autos, die jährlich vom Band rollen, in den Fabriken<br />

von nur sechs globalen Konzerngruppen (nach Größe,<br />

mit zugehörigen Konzernen): General Motors<br />

(Daewoo, Saab, Vauxhall, Opel <strong>und</strong> Fuji Heavy Industrie,<br />

die Subaru-Suzuki sowie Isuzu produzieren),<br />

Ford (Aston Martin, Volvo, Jaguar, Land-Rover <strong>und</strong><br />

Mazda), Daimler-Chrysler (Mercedes-Benz, Chrysler<br />

<strong>und</strong> Jeep mit Mitsubishi <strong>und</strong> Hy<strong>und</strong>ai), Toyota (Daihatsu<br />

<strong>und</strong> Lexus), Volkswagen (SEAT, Skoda, Bentley<br />

<strong>und</strong> Audi) sowie Renault <strong>und</strong> Nissan (Samsung Motors).<br />

Indem die multinationalen Konzerne ihre Vorteile<br />

in den regionalen Unterschieden suchen <strong>und</strong> Arbeitskräfte<br />

wie Konsumenten einer Region auf die Konsequenzen<br />

der Globalisierung reagieren, unterliegen die


492 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

globalen Wertschöpfungsketten permanenten Änderungen.<br />

Dies lässt sich am Beispiel des Sportartikelherstellers<br />

Nike verdeutlichen. Ursprünglich besaß<br />

das Unternehmen eigene Fabriken in den USA <strong>und</strong><br />

Großbritannien. Heute lässt Nike seine Produkte<br />

größtenteils in Süd- <strong>und</strong> Ostasien fertigen. Das räumliche<br />

Geflecht dieses Subunternehmertums entstand<br />

infolge der veränderten Lohnkosten in Asien. Die ersten<br />

Schuhe produzierte Nike noch in Japan, bis die<br />

Firma Subunternehmer in Südkorea <strong>und</strong> Taiwan verpflichtete.<br />

Als die Lohnkosten in diesen Regionen anstiegen,<br />

engagierte Nike sich in immer mehr Ländern<br />

der Peripherie - China, Indonesien, Malaysia <strong>und</strong><br />

Vietnam. Im Jahr 2004 beschäftigten die Zulieferbetriebe<br />

von Nike mehr als 620 000 Menschen in mehr<br />

als 700 Fabriken. In Vietnam war Nike der größte<br />

ausländische Arbeitgeber <strong>und</strong> erreichte einen Anteil<br />

von 5 Prozent am gesamten Export des Landes.<br />

Auch China, Indonesien <strong>und</strong> Thailand gehören zu<br />

den wichtigen Standorten an der globalen Fertigungsstraße<br />

von Nike - <strong>und</strong> zwar allein aufgr<strong>und</strong> der niedrigen<br />

Lohnkosten: In diesen Ländern verdient ein Arbeiter<br />

r<strong>und</strong> 60 US-Dollar im Monat. Eine solche Flexibilität<br />

der Produktion ist allerdings nur bei Produkten<br />

möglich, die auch von niedrig Qualifizierten hergestellt<br />

werden können. Im Maschinensektor <strong>und</strong><br />

einigen anderen Bereichen hat bereits wieder eine<br />

Rückkehr von Produktionsstätten in die Kernländer<br />

eingesetzt, weil nur hier das hohe Qualitätsniveau<br />

aufrecht erhalten werden kann.<br />

Flexible Produktionssysteme<br />

Die Strategien multinationaler Konzerne sind ein<br />

wichtiges Element beim Übergang von der fordistischen<br />

Produktion zu einem neo-fordistischen System,<br />

der sich in weiten Teilen der Welt vollzieht.<br />

Die Bezeichnung „Fordismus“ bezieht sich auf den<br />

Autofabrikanten Henry Ford, der als erster das System<br />

der Fließbandproduktion zur Massenfertigung<br />

entwickelte, auf „wissenschaftliche“ Unternehmensführung<br />

setzte <strong>und</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer zunehmend<br />

kaufkräftigeren K<strong>und</strong>schaft ausgeklügelte<br />

Werbemaßnahmen zur Steigerung des - ebenfalls<br />

massenhaften - Absatzes erfand. Im „Neo-Fordismus“<br />

wurde die Logik der Massenfertigung in Verbindung<br />

mit Massenverbrauch modifiziert beziehungsweise<br />

um flexible Produktions-, Verteilungs<strong>und</strong><br />

Vermarktungssysteme erweitert, die es Herstellern<br />

ermöglichen, schnell <strong>und</strong> effizient die Produktionsmenge<br />

zu ändern <strong>und</strong>, was noch wichtiger ist, die<br />

Produktion von einem Erzeugnis auf ein anderes umzustellen.<br />

Flexible Produktionssysteme sind gekennzeichnet<br />

durch Flexibilität sowohl innerhalb als auch zwischen<br />

Unternehmen. Innerhalb von Unternehmen erlauben<br />

heute neue Technologien große Flexibilität. Computergesteuerte<br />

Maschinen sind zum Beispiel in der<br />

Lage, eine ganze Anzahl verschiedener Produkte zu<br />

fertigen. Sie müssen dazu lediglich neu programmiert<br />

werden, was oft innerhalb kürzester Zeit zwischen<br />

den Produktionsläufen für verschiedene Erzeugnisse<br />

geschehen kann. Verschiedene Produktionsstufen<br />

(teilweise an unterschiedlichen Standorten) können<br />

mittels CAD {Computer aided des/^n/computergeslüLzte<br />

Entwicklung beziehungsweise Konstruktion)<br />

<strong>und</strong> CAM (Computer aided manufacturing/computergesteuerte<br />

Fertigung) integriert <strong>und</strong> aufeinander abgestimmt<br />

werden. Mittels rechnergestützten Informationssystemen<br />

lassen sich Einzelhandelsverkauf<br />

sowie Großhandelsbestellungen exakt verfolgen, sodass<br />

die Kosten für die Bevorratung von Ausgangsmaterialien,<br />

für Bestandsinventuren <strong>und</strong> Lagerhaltung<br />

durch exakt auf den Bedarf abgestimmte justzVz-fime-Produktion<br />

gesenkt werden können. }ustzn-fzme-Produktion<br />

bedeutet eine vertikale Entkoppelung<br />

innerhalb großer, vorher funktional integrierter<br />

Unternehmen, zum Beispiel der Automobilindustrie,<br />

in welchen heute täglich oder sogar stündlich<br />

Teile <strong>und</strong> andere Lieferungen von Subunternehmen<br />

<strong>und</strong> Zulieferbetrieben „genau zur richtigen Zeit“ eintreffen<br />

<strong>und</strong> so last-minute- <strong>und</strong> „Null“-Lagerbestände<br />

möglich werden. Die Verbindung von computergestützten<br />

Informationssystemen, CAD/CAM-Systemen<br />

<strong>und</strong> rechnergesteuerten Fertigungsmaschinen<br />

hat Firmen auch die Flexibilität gegeben, spezielle<br />

Nischenmärkte zu bedienen, sodass Größenvorteile<br />

der Produktion auf hochpreisige, räumlich disperse<br />

Märkte übertragen werden können.<br />

Am Beispiel des Bekleidungskonzerns Benetton<br />

lässt sich sehr gut aufzeigen, wie flexible Produktionssysteme<br />

innerhalb eines einzelnen Unternehmens genutzt<br />

werden können. Benetton begann im Jahr 1965<br />

mit einer einzigen Firma in der Nähe von Venedig.<br />

1968 erwarb die Firma ein erstes Verkaufsgeschäft<br />

in der Alpenstadt Belluno, womit der Anfang einer<br />

bemerkenswerten Expansion des Unternehmens gemacht<br />

war. Heute ist Benetton ein weltweit agierender<br />

Konzern mit mehr als 5 000 Geschäften in über<br />

120 Ländern, einer eigenen Investmentbank <strong>und</strong><br />

eigenen Finanzdienstleistern. Gr<strong>und</strong>lage dieses<br />

Wachstums war der konsequente Einsatz von Computern,<br />

neuer Kommunikations- <strong>und</strong> Transportsysteme,<br />

flexibler Ausgliederungsstrategien (outsourcing)<br />

sowie neuer Produktionsverfahren <strong>und</strong> -technologien<br />

(Automatisierung <strong>und</strong> CAD/CAM-Systeme).


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 493<br />

8.42 Hauptquartier der Benetton-Gruppe, Villa Menelli,<br />

Treviso (Italien)<br />

Nur 400 aller bei Benetton beschäftigten Arbeitskräfte<br />

verrichten ihre Tätigkeit am Stammsitz des Unternehmens<br />

im italienischen Treviso (Abbildung<br />

8.42). Von Treviso aus koordinieren die Benetton-<br />

Manager die Aktivitäten von mehr als 250 Zulieferbetrieben,<br />

um das weltweite Netz der über ein Franchising-System<br />

betriebenen Verkaufsstellen mit Ware zu<br />

versorgen. In Treviso entwerfen die bei der Firma angestellten<br />

Modedesigner Hemden <strong>und</strong> Pullover an<br />

CAD-Terminals, wobei die neuen Entwürfe nur auf<br />

Bestellung produziert werden, sodass Produktion<br />

<strong>und</strong> Materialbeschaffung aufeinander abgestimmt<br />

werden können. In den Fabriken laufen Stoffe von<br />

großen, mit dem Zentralcomputer verb<strong>und</strong>enen<br />

Rollen <strong>und</strong> werden entsprechend der aus den Benetton-Läden<br />

in allen Teilen der Welt eingehenden Bestellungen<br />

zugeschnitten. Pullover, Handschuhe <strong>und</strong><br />

Schals werden in Bahnen aus weißem Garn gewoben<br />

oder gestrickt <strong>und</strong> von ähnlich programmierten<br />

Maschinen je nach bestellter Ware gefärbt. Die fertigen<br />

Kleidungsstücke werden nur für kurze Zeit (von<br />

Robotern) eingelagert <strong>und</strong> gehen dann (mittels privater<br />

Paketdienste) an die Läden, wo sie spätestens<br />

zehn Tage nach ihrer Herstellung in den Regalen<br />

liegen.<br />

Das Erfolgsrezept von Benetton besteht jedoch in<br />

einem sensiblen Reagieren auf die Nachfrage. Niche<br />

marketing, das Bedienen von Nischenmärkten, <strong>und</strong><br />

Produktdifferenzierung waren dazu die zentralen Elemente,<br />

die ein hohes Maß an Flexibilität hinsichtlich<br />

neuer Produktlinien erfordern. Ausgewählte, von<br />

einer trendbewussten <strong>und</strong> Trends begründenden Klientel<br />

frequentierte Benetton-Geschäfte (wie das an<br />

der Rue Faubourg St. Honoré in Paris oder der Megastore<br />

an der Omotesando-Straße in Tokio) werden<br />

aufmerksam beobachtet, <strong>und</strong> viele Registrierkassen<br />

in Benetton-Läden funktionieren als point-of-sales-<br />

Terminals, sodass in der Unternehmenszentrale aktuelle<br />

Verkaufszahlen ohne Zeitverzögerung abgerufen<br />

werden können. Eine weitere Besonderheit der Unternehmensführung<br />

bei Benetton ist die Art <strong>und</strong> Weise,<br />

wie verschiedene Marktnischen mit den gleichen<br />

Basisprodukten erobert werden. In Italien werden Benetton-Artikel<br />

über mehrere Ladenketten verkauft,<br />

die aufgr<strong>und</strong> ihres unterschiedlichen Images <strong>und</strong> ihres<br />

unterschiedlichen Designs jeweils ganz verschiedene<br />

Käufergruppen ansprechen (Exkurs 8.6 „Geographie<br />

in Beispielen - Die wechselhafte Geographie<br />

der Bekleidungsindustrie“).<br />

Zwischen Firmen wird die dem neofordistischen<br />

System eigene Flexibilität durch die Externalisierung<br />

oder Ausgliederung bestimmter Funktionen erreicht.<br />

Eine Möglichkeit ist die Umstrukturierung von Verwaltungs-,<br />

Management- <strong>und</strong> technischen Funktionen<br />

zu effizienteren, schlankeren <strong>und</strong> flexibleren Organisationsformen,<br />

in welche sich in größerem Umfang<br />

unabhängige Berater, Spezialisten <strong>und</strong> Subunternehmer<br />

einbeziehen lassen. Dies hat zu einem gewissen<br />

Grad von vertikaler Desintegration unter Firmen<br />

geführt. Unter vertikaler Desintegration versteht<br />

man die Entwicklung großer, funktional integrierter<br />

Firmen eines bestimmten Industriezweigs hin zu<br />

einem Netzwerk aus spezialisierten Firmen, Vertragspartnern<br />

<strong>und</strong> Zulieferbetrieben. Ein anderer Weg zur<br />

Ausgliederung bestand für Firmen darin, sich an joint<br />

ventures zu beteiligen, Lizenzen zu vergeben oder Vertragspartner<br />

zu beauftragen oder auch strategische<br />

Allianzen einzugehen, die Partnerschaften im Bereich<br />

Planung, gemeinsame Projekte in den Bereichen Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung <strong>und</strong> dergleichen beinhalten.<br />

Strategische Allianzen sind Geschäftsvereinbarungen<br />

zwischen multinationalen Unternehmen, meist<br />

über die gemeinsame Nutzung von Technologie<br />

<strong>und</strong> Vermarktungsnetzwerken, über die Zusammenarbeit<br />

in den Bereichen Marktforschung oder Produktentwicklung.<br />

Solche Allianzen sind ein wichtiger<br />

Motor der Globalisierung der Wirtschaft.<br />

So unterhält beispielsweise der Nahrungsmittelkonzern<br />

Nestlé eine ganze Anzahl strategischer Allianzen,<br />

darunter ein joint venture mit General Mills


494 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

unter der Bezeichnung „Cereal Partners Worldwide“<br />

(CPW), eine Partnerschaft mit der Walt Disney Company<br />

in Europa, den Vereinigten Staaten, Lateinamerika<br />

<strong>und</strong> anderen Märkten, die Nestlé unter anderem<br />

zum wichtigsten Lebensmittelunternehmen für Disneyland<br />

Paris machen; <strong>und</strong> seit 1999 unter der Namen<br />

„Ice Cream Partners USA“ ein joint marketing<br />

venture mit Pillsbury Häagen-Dazs. Nestlé hat seit<br />

1991 außerdem eine Unternehmenspartnerschaft<br />

mit der Coca-Cola Company, im Rahmen derer<br />

das Schweizer Unternehmen Austauschbeziehungen<br />

mit Coca-Cola in den Bereichen Technologie <strong>und</strong><br />

Marketing unterhält. Beispielsweise nutzt Nestlé<br />

das Vertriebsnetz von Coca-Cola für Produkte wie<br />

Nescafe.<br />

I<br />

Maquiladoras <strong>und</strong> freie Exportzonen<br />

Die Strategie von Nike, mit einer Vielzahl von Subunternehmern<br />

zusammenzuarbeiten, findet bei vielen<br />

Regierungen der peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Regionen große Zustimmung, schließlich erhoffen sie<br />

sich dadurch eine Stärkung ihrer eigenen Exportwirtschaft.<br />

So können transnationale Konzerne mit verschiedenen<br />

Vergünstigungen rechnen, bisweilen werden<br />

sie für bestimmte Zeiträume ganz von Steuerzahlungen<br />

befreit. In den 1960er-Jahren ermöglichte die<br />

mexikanische Regierung ausländischen Firmen innerhalb<br />

eines 19 Kilometer breiten Streifens entlang<br />

der Grenze zu den USA die Gründung von Schwesterfirmen,<br />

den sogenannten Maquiladoras. Hier sollten<br />

Produkte für die zollfreie Wiederausfuhr hergestellt<br />

werden (Abbildungen 8.43 <strong>und</strong> 8.44). Bis zum Jahr<br />

2005 wurden mehr als 3 500 solcher Produktions<strong>und</strong><br />

Montagebetriebe gegründet. Sie beschäftigen<br />

r<strong>und</strong> eine Million Mexikaner, die meisten Frauen,<br />

<strong>und</strong> erzielen einen Anteil von mehr als 30 Prozent<br />

am mexikanischen Exportgeschäft. Seit dem Jahr<br />

2000 wurden allerdings mehr als 350 Maquiladora-<br />

Betriebe wieder geschlossen, wodurch allein in Ciudad<br />

Juárez r<strong>und</strong> 60 000 Arbeitsplätze verlorengingen.<br />

Die zeitlich befristeten Steuerbefreiungen, welche<br />

die Gründung der Maquiladoras begünstigt hatten,<br />

verloren nach den Regelungen des Nordamerikanischen<br />

Freihandelsabkommens (North Americam<br />

Free Trade Agreement, NAFTA) ihre Wirksamkeit.<br />

Gleichzeitig erwiesen sich die niedrigen Löhne <strong>und</strong><br />

steuerlichen Anreize in anderen Ländern, vor allem<br />

in China, als attraktiver für die Unternehmen.<br />

Freie Exportzonen (Export Processing Zones,<br />

EPZ) sind bestimmte Standorte, an denen Regierunt<br />

8.43 Die Zentren der Maquiladora-Industrie an der Grenze zwischen Mexiko <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten Ein großes<br />

Angebot billiger Arbeitskräfte sowie Zollfreiheit <strong>und</strong> Steuervergünstigungen für ausländische Firmen, die Waren für die Wiederausfuhr<br />

produzieren, hat viele mexikanische Grenzstädte für US-amerikanische Unternehmen attraktiv werden lassen. Etwa 500 000 Arbeiter<br />

stellen in den Fabriken der Maquiladora-Industrie elektronische Geräte, Textilien, Möbel, Leder- <strong>und</strong> Spielwaren oder Autoteile her.<br />

Die Bezeichnung Maquiladora leitet sich von dem spanischen Begriff maquila her. So hieß in der Kolonialzeit das Mahlgeld, das<br />

der Müller für seine Arbeit nahm. (Quelle: Dicken, P. Global Shift. 2. Aufl. London (Paul Chapman) 1998.)


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 495<br />

i<br />

8.44 Hy<strong>und</strong>ai Maquiladora-<br />

Fabrik in Tijuana (Mexiko)<br />

gen besondere Rahmenbedingungen für Handel <strong>und</strong><br />

Investitionen schaffen, um auf diese Weise die Ansiedlung<br />

exportorientierter Firmen zu fördern.<br />

Dazu minimieren sie den Verwaltungsaufwand für<br />

Importe <strong>und</strong> Exporte, verzichten auf Devisenkontrollen,<br />

verpachten Fabrikgelände <strong>und</strong> Lagerhäuser zu<br />

günstigen Tarifen, gewähren Steuervorteile <strong>und</strong> verzichten<br />

auf Zölle <strong>und</strong> Gebühren. Im Jahr 1985 gab es<br />

weltweit schätzungsweise 173 EPZ mit insgesamt<br />

1,8 Millionen Beschäftigten. Im Jahr 1998, so schätzt<br />

die International Labor Organization (ILO), arbeiteten<br />

bereits 27 Millionen Menschen, davon 90 Prozent<br />

Frauen, in 850 EPZs. Allein in China befanden sich<br />

124 solcher freien Exportzonen, in denen 18 Millionen<br />

Menschen beschäftigt waren. Die ILO kritisiert in<br />

einem Bericht^ diese vehicles of globalization, weil die<br />

heimische Wirtschaft nur in Ausnahmefällen davon<br />

profitiert <strong>und</strong> zahllose Menschen in die Abhängigkeit<br />

unqualifizierter Arbeit <strong>und</strong> niedriger Löhne geraten.<br />

Neben Steuervergünstigungen <strong>und</strong> der Einrichtung<br />

zollfreier Exportzonen sorgen viele Regierungen<br />

auch dafür, dass jederzeit ausreichend billige <strong>und</strong><br />

kontrollierbare Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.<br />

Teilweise stehen diese Länder unter dem Druck der<br />

Industriestaaten <strong>und</strong> von diesen unterstützten transnationalen<br />

Organisationen. So förderten die USA gemeinsam<br />

mit der Weltbank in der Vergangenheit Regierungen,<br />

welche die globale Produktion unterstützten,<br />

indem sie das niedrige Lohnniveau in den peripheren<br />

Ländern mithilfe von Sparprogrammen sichei<br />

stellten. Allerdings wollen die Länder, die das<br />

International Labour Organizatio: Labour and Social Issues Relating to<br />

Export Processing Zones. Genf, International Labour Office. 1998<br />

Ziel einer exportorientierten Industrialisierung zur<br />

Ankurbelung ihrer wirtschaftlichen Entwicklung verfolgen,<br />

nicht auf Dauer Anbieter billiger Arbeitskräfte<br />

für ausländische Konzerne sein. Sie hoffen vielmehr,<br />

von arbeitsintensiven Industriezweigen wegzukommen<br />

<strong>und</strong> verstärkt kapitalintensive Hochtechnologiegüter<br />

produzieren zu können, um so dem Beispiel semiperipherer<br />

Länder wie Singapur oder Südkorea zu<br />

folgen.<br />

Das globale Büro<br />

Die Globalisierung der Produktion <strong>und</strong> das Wachstum<br />

transnationaler Konzerne hatte eine weitere<br />

wichtige Veränderung in den Netzwerken wirtschaftlicher<br />

Entwicklung zur Folge: Banken, Finanzierungsgesellschaften<br />

<strong>und</strong> Beratungsdienste sind nicht mehr<br />

lokal agierende Zulieferer, sondern entwickeln sich<br />

selbst zu eigenständigen, weltweit tätigen Konzernen.<br />

Ihre spezifische räumliche Verbreitung wurde zu<br />

einer bedeutsamen Einflussgröße der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung einer Region.<br />

Die neue Bedeutung der Banken, Versicherungen,<br />

Finanzierungsgesellschaften <strong>und</strong> unternehmensorientierten<br />

Dienstleistungen war ursprünglich eine<br />

Folge der globalisierten Produktionsbetriebe, des ansteigenden<br />

Welthandels <strong>und</strong> der Entstehung transnationaler<br />

Industriegiganten. Hinzu kamen neue Entwicklungen<br />

in den Bereichen der Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> Datenverarbeitung. Satellitensysteme <strong>und</strong><br />

Glasfasernetze ermöglichten den großen Finanzhäusern<br />

den weltweiten Handel r<strong>und</strong> um die Uhr. Computer<br />

halfen, die große Zahl an Transaktionen zu ko-


496 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.6<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Die w echselhafte Geographie der Bekleidungsindustrie<br />

Die Bekleidungsindustrie ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr<br />

die Globalisierung zu einer Verlagerung von Wirtschaftsstandorten<br />

beiträgt. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelte sich dieses Gewerbe<br />

in den Städten der frühen Industriestaaten. Viele Firmen<br />

nutzten die billigen Arbeitskräfte aus den Reihen der Ausländer<br />

<strong>und</strong> Einwanderer. Für die Bekleidungsindustrie <strong>und</strong> viele andere<br />

Branchen brachte die erste Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts eine<br />

Fülle von Neuerungen mit sich. Es entstanden größere Betriebe,<br />

die ihren Erfolg der Massenproduktion <strong>und</strong> der räumlichen<br />

Organisation innerhalb nationaler Märkte verdankten. So zogen<br />

beispielsweise zahllose kleine Betriebe aus New York in<br />

große neue Fabriken in kleineren Städten im Süden, wo die<br />

Löhne billiger <strong>und</strong> nur wenige Arbeiter gewerkschaftlich organisiert<br />

waren.<br />

Die internationale Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsindustrie hat seit<br />

den 1950er-Jahren mehrere Verlagerungen ihrer Produktionsstandorte<br />

erlebt. Die erste war eine von Nordamerika <strong>und</strong><br />

Westeuropa nach Japan in den 1950er-<strong>und</strong> frühen 1960er-Jah-<br />

ren, als die westliche Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsproduktion zunehmend<br />

durch Importe aus Japan ersetzt wurde. Die zweite Verlagerung<br />

erfolgte von Japan nach Hongkong, Taiwan <strong>und</strong> Korea,<br />

den größten Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsexporteuren in den<br />

1970er- <strong>und</strong> frühen 1980er-Jahren. In den späten 1980er-<br />

<strong>und</strong> den 1990er-Jahren gab es eine dritte Verlagerung von diesen<br />

in andere Entwicklungsländer. In den 1980er-Jahren ging<br />

die Produktion hauptsächlich nach China, aber auch nach Indonesien,<br />

Malaysia, die Philippinen, Sri Lanka <strong>und</strong> Thailand, in<br />

den 1990er-Jahren kamen Indien <strong>und</strong> Mexiko dazu. Der größte<br />

Aufsteiger war Jedoch die Türkei, die mit Bekleidungsexporten<br />

in der Höhe von 3,4 Milliarden US-Dollar auf Platz fünf der Welt<br />

aufrückte. Im Jahr 2000 waren neue Bekleidung produzierende<br />

Länder (mit Exporten im Wert von 1 Milliarde Dollar <strong>und</strong> mehr)<br />

Bangladesch, die Tschechische Republik, Ungarn, Mauritius,<br />

Marokko, Polen, Rumänien <strong>und</strong> Vietnam.<br />

Fast alle diese Verlagerungen der Produktionsstandorte<br />

waren zu einem guten Teil durch Einkäufer wie Wal-Mart, Sears<br />

and JC Penny <strong>und</strong> Modehäuser wie Liz Claiborne, Gap <strong>und</strong> The<br />

Limited gesteuert. Deren Strategien der Kostenminimierung<br />

führten dazu, dass Design- <strong>und</strong> Marketingfunktionen weiter<br />

in den Unternehmen verblieben, die Produktion der Bekleidungsartikel<br />

aber ausgegliedert <strong>und</strong> in Niedriglohnländer verlagert<br />

wurde. Dadurch wurden sie zu „Herstellern ohne Fabriken“.<br />

Um die inländischen Hersteller zu schützen, traten die<br />

USA, Kanada <strong>und</strong> 13 europäische Länder im Jahr 1974 einem<br />

Pakt namens Multifiber Arrangement (MFA) bei. Dieser setzte<br />

Quoten ein, um den Zugang zu den heimischen Textil- <strong>und</strong> Bekleidungsmärkten<br />

zu regulieren, indem die Importe in jedem<br />

der Länder beschränkt wurden. Eingeführt mit der Absicht,<br />

die Unterzeichnerländer vor Wettbewerbern aus Japan, Hongkong,<br />

Taiwan <strong>und</strong> der Republik Korea zu schützen, bewirkten<br />

die Importquoten letztlich eine Art Aktionsprogramm zur bevorzugten<br />

Behandlung (affirmative action) von Ländern mit<br />

großem Arbeitskräfteangebot <strong>und</strong> niedrigen Löhnen<br />

<strong>und</strong> damit<br />

die Ausbreitung der Produktion über den Globus.<br />

Das Ergebnis war, dass im Jahr 1980 mehr als die Hälfte<br />

aller in den USA verkauften Bekleidungsartikel importiert wurde<br />

(gegenüber weniger als 7 Prozent im Jahr 1960). Freizeitbekleidung<br />

wie Jeans, Shorts, T-Shirts oder Polohemden hatten<br />

wesentlichen Anteil an der damaligen weltweiten Vereinheitlichung<br />

des Verbrauchergeschmacks. Zudem konnte man<br />

diese Artikel am kostengünstigsten mithilfe der billigen Arbeitskraft<br />

junger Frauen in den Städten peripherer Regionen<br />

produzieren. Dies gilt heute für legere Freizeitbekleidung ebenso<br />

wie für höherwertige Modebekleidung. Während Arbeiter ¡n<br />

der US-amerikanischen Bekleidungsindustrie 8 bis 10 Dollar<br />

brutto pro St<strong>und</strong>e bei einer 37-St<strong>und</strong>en-Woche verdienen, werden<br />

in Hongkong nur etwa 5 US-Dollar bei einer 60-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche <strong>und</strong> in vielen Gegenden Chinas sogar nur 20 Cent pro<br />

St<strong>und</strong>e bei Arbeitszeiten von 10 bis 12 St<strong>und</strong>en täglich an 6<br />

Tagen der Woche gezahlt. Es überrascht deshalb nicht, das die<br />

Gewinnspannen bei den nach Europa oder in die USA exportierten<br />

beziehungsweise dort verkauften Produkten der Bekleidungsindustrie<br />

um 70 Prozent betragen, während sie bei Im<br />

portware aus Indonesien oder Thailand zwischen 100 <strong>und</strong> 250<br />

Prozent liegen.<br />

Die Globalisierung des produzierenden Gewerbes hat komplexe<br />

Produktionsketten für Massenwaren hervorgebracht. So<br />

basiert die Produktion der größten Bekleidungshersteller auf<br />

Vereinbarungen mit mehreren Zulieferern, die jeweils nur<br />

einen bestimmten Anteil am Gesamtausstoß eines Konzerns<br />

ausmachen. Die Bekleidungsindustrie gehört zu den Produktionszweigen,<br />

in denen die Globalisierung am weitesten fortgeschritten<br />

ist (Abbildung 8.6.1). In manchen Ländern hat sich<br />

die Bekleidungsindustrie zum wichtigsten Wirtschaftszweig<br />

entwickelt. Beispielsweise erzielt Sri Lanka die Hälfte seiner<br />

Exporteinnahmen aus diesem Sektor, in Bangladesch, El Salvador<br />

<strong>und</strong> Mauritius sind es 63 Prozent <strong>und</strong> in Kambodscha 76<br />

Prozent. Wie wir gesehen haben, sind die Wertschöpfungsketten<br />

innerhalb der Bekleidungsindustrie heute räumlich in hohem<br />

Maß variabel, Produktions- <strong>und</strong> Verarbeitungsbetriebe<br />

werden ständig verlagert, je nachdem, welcher Standort gerade<br />

die günstigsten Voraussetzungen bietet.<br />

Während billige Freizeitbekleidungen am kostengünstigsten<br />

durch Beziehungen mit mehreren Zulieferern in den peripheren<br />

Niedriglohnländern produziert werden können, bedingt<br />

die Belieferung des Weltmarkts mit hochwertigen Erzeugnissen<br />

eine andere geographische Aufteilung. Produkte wie<br />

Damenmode, Oberbekleidung <strong>und</strong> Unterwäsche, Kinderbekleidung<br />

<strong>und</strong> Herrenanzüge unterliegen ständigen Wechseln der<br />

Mode. Dies erfordert kurze Produktionsabläufe, schnelle Umstellungen<br />

<strong>und</strong> enge Kontakte zwischen Herstellern <strong>und</strong> Abnehmern.<br />

Als Standorte werden deshalb die großen Städte<br />

%


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 497<br />

in den zentralen Regionen bevorzugt. In London, Paris, Stuttgart,<br />

Mailand, New York <strong>und</strong> Los Angeles sind es wiederum die<br />

Einwanderer <strong>und</strong> Migranten, die in dieser Branche Arbeit finden.<br />

„Designerkleidung“ lässt sich in kleinen Mengen an die<br />

noblen Geschäfte in aller Welt verschicken.<br />

Deshalb gibt es in der Bekleidungsindustrie ganz unterschiedliche<br />

Produktketten, je nachdem, wo die Erzeugnisse<br />

für bestimmte Marktsegmente ihren Ursprung haben. Einzelhändler<br />

in Europa oder den Vereinigten Staaten, die „Designerkleidung“<br />

für gehobene Ansprüche anbieten, beziehen ihre<br />

Ware aus einer kleinen Zahl von Ländern mit hoher Wertschöpfung,<br />

zum Beispiel aus Frankreich, Italien, Japan, Großbritannien<br />

oder den USA. Kaufhäuser, die auf Produkte eigener<br />

oder großer nationaler Marken setzen, kaufen ihre Ware größtenteils<br />

bei Herstellern in semiperipheren Ländern Ostasiens.<br />

Händler von Massenware, die billigere Markenprodukte anbie-<br />

95 Prozent der in den U S A verkauften Kleidung<br />

wird importiert. Das Verbreitungsgebiet der<br />

Kletdungsfabriken verschob sich auf der Suche<br />

nach billigen Arbeitskräften von New England über<br />

Carolina bis ins südliche Texas. Viele Fabriken<br />

konnten im Wettbewerb mit Mexico <strong>und</strong> Asien<br />

jedoch nicht mithalten <strong>und</strong> mussten schließen.<br />

Zwischen ¡970 <strong>und</strong> 2000 verringerte sich die<br />

Anzahl der Arbeitsplätze in der Textilindustne<br />

in den U SA um 1,16 Millionen.<br />

Von den geschätzten 100000<br />

Beschäftigten in der Textilindustrie<br />

von Los Angeles sind<br />

oind 80 Prozent lateinamerikanischf<br />

Immigranten. Die<br />

meisten stammen aus Mexiko,<br />

Guatemala <strong>und</strong> El Salvador.<br />

Mit einem Exportvolumen<br />

von 75 Milliarden US-Dollar<br />

war China 2003 der weltweit<br />

größte Exporteur von<br />

Bekleidungsartikeln. Heute<br />

beträgt Chinas Anteil am<br />

weltweiten Textilexport<br />

beinahe 25 Prozent.<br />

Wal-Mart ist der führende<br />

Importeur von chinesischen<br />

Waren in die U S A mit<br />

geschätzten 18 Milliarden<br />

US-Dollar im Ja h r 2005.<br />

Hongkong ist gegenüber den<br />

Niedriglohnländern nicht mehr<br />

konkurrenzfähig <strong>und</strong> produziert<br />

nunmehr für den gehobenen<br />

Markt. Zu den Abnehmern zählen<br />

Firmen wie Giorgio Armani, Hugo<br />

Boss, Perry Ellis, Calvin Klein,<br />

Ralph Lauren, Ungaro <strong>und</strong> Uz<br />

Claiborne. Viele der früheren<br />

Billighersteller Hongkongs sind<br />

heute Subunternehmer der<br />

Produzenten in der angrenzenden<br />

Guangdong-Provinz <strong>und</strong><br />

dem weiteren Inland.<br />

Seit einigen Jahren geht<br />

Taiwans Bekleidungsindustrie<br />

zurück, nachdem die geschützten<br />

Exportquoten durch die<br />

Liberalisierung des Weltmarktes<br />

gelockert wurden. Aufgr<strong>und</strong><br />

fehlender Arbeitskräfte <strong>und</strong><br />

steigender Löhne sind viele<br />

taiwanesische Firmen zur A usführung<br />

ihrer Aufträge nach<br />

China <strong>und</strong> Südostasien ausgewichen.<br />

Wal-Mart <strong>und</strong> J. C.<br />

Penney sind die größten Abnehmer<br />

der taiwanesischen<br />

Textilindustrie.<br />

Die Textilbranche ist der wichtigste<br />

Industriezweig in Bangladesch mit<br />

Exporteinnahmen von mehr als 5<br />

M r arden US-Dollar im Ja h r 2003<br />

(mehr als 40 Prozent ging dabei in die<br />

USA). Dies entspricht zwei Dritteln des<br />

jährlichen Exports. Zu den Abnehmern<br />

gehören i vi Strauss, H&M, Wal-Mart,<br />

The Gap <strong>und</strong> Nike. Der Textilexport in<br />

Bangladesch stieg zwischen 1990 <strong>und</strong><br />

2003 um mehr als 500 Prozent.<br />

Mauritius entwickelte seine Textil- <strong>und</strong><br />

Kleidungsindustrie während der Ära<br />

der Einfuhrkontingente. Diese half den<br />

kleinen Ländern, im W ettbewerb um<br />

Aufträge von Abnehmern in Nordam e­<br />

rika <strong>und</strong> Europa zu bestehen. Die<br />

Nachteile von Mauritius’ abgeschiedener<br />

Lage wurden durch die Qualität<br />

der Waren wettgemacht, wie beispielsweise<br />

„Schottische“ Strickkleidung<br />

{hauptsächlich Pullover). Im<br />

Ja h r 2000 hat der Textilexport 1 Milliarde<br />

US-Dollar erreicht <strong>und</strong> betrug<br />

damit 63 Prozent des Landesexportgewinns.<br />

Das Ende der Ära der Einfuhrkontingente<br />

bedeutet für Mauritius<br />

jedoch einen raschen Verlust von<br />

Ärbeitsplätzen nach Indien <strong>und</strong> China.<br />

Zw ischen 1970 <strong>und</strong> 2000 beläuft<br />

sich der Wegfall von<br />

Ärbeitsplätzen in der Textilbranche<br />

in Frankreich, Deutschland<br />

<strong>und</strong> Großbritannien auf<br />

etwa 70 Prozent.<br />

Italien ist ein hochspezialisierter<br />

Exporteur<br />

von Kleidung <strong>und</strong><br />

produziert vor allem<br />

hochwertige Waren für<br />

den gehobenen Markt<br />

in anderen europäischen<br />

Ländern (v.a.<br />

Deutschland <strong>und</strong><br />

Frankreich), den U S Ä<br />

<strong>und</strong> Japan .<br />

8.6.1 Der Wandel in der geographischen Verteilung der Bekleidungsindustrie Der Großteil der weltweiten Bekleidungsexporte<br />

-iimmt aus wenigen Ländern. Als Reaktion auf die sich ändernden Kosten <strong>und</strong> Chancen innerhalb der Weltwirtschaft<br />

ändert sich die Geographie der Bekleidungsindustrie allerdings sehr schnell.


498 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

— Fortsetzung Exkurs 8.6<br />

ten, beziehen ihre Artikel meist zu niedrigen Preisen von drittklassigen<br />

Herstellern. Andere Handelsketten kaufen dagegen<br />

bei preisgünstigen Anbietern in peripheren Ländern wie China,<br />

Bangladesch oder der Dominikanischen Republik ein.<br />

Als Reaktion auf die seit Mitte der 1990er-Jahre auslaufenden<br />

MFA-Importquoten richtet sich die internationale Produktion<br />

gegenwärtig abermals neu aus. Die letzte Quotenregelung<br />

verlor ihre Wirksamkeit am 1. Januar 2005, was<br />

prompt die vielleicht größte Welle von Standortverlagerungen,<br />

jetzt nach China <strong>und</strong> Indien, auslöste. Die beiden Länder<br />

bieten hinsichtlich der Lohnkosten die größten komparativen<br />

Standortvorteile - wodurch H<strong>und</strong>erttausende Arbeitsplätze<br />

in der Bekleidungsindustrie in Bangladesch, Kambodscha,<br />

El Salvador, Lesotho, Mauritius <strong>und</strong> anderen Ländern, die<br />

unter dem Quotensystem einen Aufschwung erlebten, in Gefahr<br />

geraten.<br />

a<br />

¡1<br />

ordinieren <strong>und</strong> die enormen Datenmengen zu archivieren.<br />

Der viertgrößte Aktienhandel der Welt erfolgt<br />

über das National Associated Automated Dealers<br />

Quotation System (NASDAQ). Weltweit sind mehr<br />

als 500000 Händler über Telefonleitungen <strong>und</strong> Glasfaserkabel<br />

mit dem System verb<strong>und</strong>en. Einen Parketthandel<br />

gibt es nicht mehr.<br />

Nachdem die Banken, Finanzierungsgesellschaften<br />

<strong>und</strong> unternehmensorientierten Dienstleistungen zu<br />

globalen Größen wurden, veränderten sie sich in<br />

einer Weise, die sie von den lokalen Dienstleistungen<br />

deutlich unterschied. Die globalen Bank- <strong>und</strong> Finanzhäuser<br />

setzen heute an jedem Tag Billionen von<br />

US-Dollar um (die Schätzungen für das Jahr 2004<br />

schwanken zwischen 5 <strong>und</strong> 8 Billionen Dollar), wobei<br />

nicht mehr als 10 Prozent im Zusammenhang<br />

mit dem traditionellen Welthandel mit Gütern<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen stehen. Wegen der hohen Gewinnchancen<br />

durch Spekulation <strong>und</strong> Manipulation<br />

ist der internationale Handel mit Devisen, Anleihen,<br />

Wertpapieren <strong>und</strong> dergleichen zum Selbstzweck<br />

geworden, eine Entwicklung, die mehrere Gründe<br />

hat:<br />

• Infolge der Institutionalisierung von Spareinlagen<br />

(beispielsweise durch Rentenkassen) in den Ländern<br />

des Zentrums sammelten sich große Kapitalmengen<br />

an, die von professionellen Investoren<br />

ohne nennenswerte lokale oder regionale Bindungen<br />

verwaltet werden.<br />

• Die Vervierfachung der Rohölpreise im Jahr 1973<br />

durch die OPEC spülte so viel Geld in die Kassen<br />

der Erdöl produzierenden Länder, dass sich deren<br />

Banken an das Ausland wenden mussten, um genügend<br />

Kreditnehmer zu finden. Oft waren es Firmen<br />

<strong>und</strong> Regierungen in den unterentwickelten,<br />

peripheren Ländern, wo die Investitionsaussichten<br />

bis dahin eher ungünstig waren. Schon bald profitierten<br />

die Banken von der Internationalisierung<br />

der Finanzdienste. Bereits Mitte der 1970er-Jahre<br />

erzielte die Citibank die Hälfte ihrer Gewinne im<br />

Auslandsgeschäft. Allein 13 Prozent davon stammten<br />

1976 aus Brasilien. Für die Kreditnehmer<br />

führte dies jedoch zu einem enormen Schuldenberg.<br />

Als es schließlich an die Rückzahlung der<br />

Darlehen ging, transferierten viele periphere Länder<br />

mit den Zinsen auch ihr Kapital.<br />

• Als erste Reaktion, die Zahlungsbilanz auszugleichen,<br />

vermehrten viele Regierungen (auch die<br />

der USA) einfach die Geldmenge - eine kurzfristige<br />

Lösung, die schließlich weltweit zu einer heftigen<br />

Inflation führte. Weil diese Inflation die Veränderungen<br />

<strong>und</strong> Ungleichheiten auf den Weltmärkten<br />

verstärkte, erfuhren alle möglichen spekulativen<br />

Transaktionen weiteren Auftrieb.<br />

• In der Hoffnung, etwas von dem Wachstum der<br />

Banken, Finanzierungsgesellschaften <strong>und</strong> unternehmensorientierten<br />

Dienstleistungen abzubekommen,<br />

lockerten viele Länder <strong>und</strong> Regierungen<br />

entsprechende Bestimmungen <strong>und</strong> hoben bisherige<br />

Beschränkungen auf.<br />

• Das andauernde Handelsdefizit der USA gegenüber<br />

der übrigen Welt führte zu einer Akkumulation<br />

der US-Währung im Ausland, den sogenannten<br />

„Euro-Dollars“. Somit wuchs auch die Geldmenge,<br />

die nicht mehr der direkten Kontrolle<br />

amerikanischer Währungshüter unterliegt.<br />

• Ein zunehmender Anteil der Euro-Dollars bestand<br />

aus „Schwarzgeld“ ungewisser Herkunft, aus Versicherungsbetrug,<br />

Drogengeschäften <strong>und</strong> organisiertem<br />

Verbrechen. In jedem Jahr werden auf<br />

den internationalen Finanzmärkten auf diese Weise<br />

schätzungsweise 100 Milliarden US-Dollar „gewaschen“.<br />

Zusammengenommen waren diese Faktoren so bedeutsam,<br />

dass sie strukturelle Veränderungen der<br />

Weltwirtschaft zur Folge hatten. Das wirtschaftsgeographische<br />

Gefüge wandelte sich auf unterschiedlichsten<br />

Maßstabsebenen <strong>und</strong> hatte weltweite Auswirkungen<br />

auf jeden einzelnen Menschen. International<br />

operierende Banken <strong>und</strong> Finanzkonzerne wie die<br />

Citigroup, Crédit Suis.se oder die Deutsche Bank haben<br />

überall in der Welt Einfluss auf die lokalen Strukturen<br />

<strong>und</strong> Prozesse wirtschaftlicher Entwicklung -<br />

genauso, wie die großen transnationalen Mischkonzerne<br />

mit ihren globalen Wertschöpfungsketten.


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 499<br />

Wettbewerbsvorteile von Staaten<br />

ln den Wirtschaftswissenschaften kam es im Kontext der Debatte<br />

um internationale Wettbewerbsfähigkeit, die vor allem<br />

von international renommierten Ökonomen wie Paul Krugman,<br />

dem Berater der amerikanischen Regierung, oder M.E. Porter<br />

angestoßen wurde, zu einer „Entdeckung“ des Einflusses<br />

räumlicher Parameter in den traditionell eher raumblinden<br />

Wirtschaftswissenschaften (Sternberg 2000). Damit wurden<br />

klassische Themen <strong>und</strong> Fragestellungen der Wirtschaftsgeographie<br />

auch von den übrigen Wirtschaftswissenschaften aufgegriffen.<br />

Besonders die Thesen Krugmans zur Herausbildung<br />

wettbewerbsfähiger Zentren <strong>und</strong> Porters Analysen nationaler<br />

Wettbewerbsvorteile heben dezidiert auf räumliche Divergenzen<br />

wirtschaftlichen Erfolgs ab.<br />

In der Tat gehört zu den spannendsten Themen der aktuellen<br />

Wirtschaftsgeographie die Frage, welche Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Standortbedingungen internationale Wettbewerbsfähigkeit<br />

bestimmen. Der Begriff „internationale Wettbewerbsfähigkeit“<br />

kann sich dabei zunächst auf die Volkswirtschaft<br />

insgesamt oder auf einzelne Unternehmen oder auch auf<br />

das Zusammenwirken der verschiedenen Akteure auf den einzelnen<br />

Ebenen der Volkswirtschaft beziehen. Fünf Ansätze lassen<br />

sich dabei unterscheiden:<br />

• Eine hohe Wettbewerbsfähigkeit spiegelt sich zunächst in<br />

hohen Weltmarktanteilen, einem ausgeglichenen beziehungsweise<br />

positiven Leistungsbilanzsaldo sowie in einem<br />

starken realen Wechselkurs wider. Die Wettbewerbsfähigkeit<br />

wird in diesem Verständnis von der a b ility to seil<br />

bestimmt.<br />

• Eine hohe Wettbewerbsfähigkeit zeigt sich aber auch in der<br />

Fähigkeit, erfolgreich um Kapital zu konkurrieren. Daher<br />

kommt es auf die a b ility to a ttra c t an, die unter anderem<br />

am Zufluss von Direktinvestitionen abgelesen werden kann.<br />

• Eine dritte Sicht bemisst Wettbewerbsfähigkeit am Erzielen<br />

beziehungsweise Aufrechterhalten eines hohen Realeinkommens,<br />

also der a b ility to earn, was am realen<br />

Pro-Kopf-Einkommen oder der Arbeitsproduktivität bemessen<br />

werden kann.<br />

• Schließlich kann Wettbewerbsfähigkeit gleichgesetzt werden<br />

mit der Anpassungsfähigkeit beziehungsweise -geschwindigkeit<br />

einer Volkswirtschaft an wirtschaftliche Entwicklungen,<br />

hängt also an der a b ility to adjust.<br />

• Schlussendlich kann festgestellt werden, dass sich die zwischen<br />

Unternehmen bestehende Konkurrenz nicht auf die<br />

Ebene der gesamten Volkswirtschaft übertragen lässt. Unternehmen<br />

können mit Rationalisierungen, Personalreduktion<br />

<strong>und</strong> Produktionsverlagerungen ihre Wettbewerbsfähigkeit<br />

verbessern. Diese Wege können von einer Volkswirtschaft<br />

nicht beschritten werden, insbesondere ist<br />

eine Volkswirtschaft nicht konkursfähig, einzelne Unternehmen<br />

aber sehr wohl.<br />

In der wissenschaftlichen Diskussion um die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der deutschen Wirtschaft werden aus diesen verschiedenen<br />

Perspektiven derzeit vor allem zwei in den Mittelpunkt<br />

gerückt. Zum einen wird die ability to attract intensiv diskutiert,<br />

da die Inlands- <strong>und</strong> Auslandsinvestitionen in der Summe<br />

einen wachsenden Negativsaldo ausweisen. Zum zweiten<br />

steht die ability to adjust im Vordergr<strong>und</strong>, das heißt, es<br />

wird zunehmend die Rolle des Staates <strong>und</strong> der Institutionen<br />

in Deutschland als auch in Europa hinterfragt.<br />

Die ability to attract berührt vor allem die makroökomische<br />

Perspektive, in der es um die Wettbewerbsfähigkeit<br />

von nationalen Volkswirtschaften geht. Neben der allgemeinen<br />

politischen Stabilität werden hier die Größe der Absatzmärkte,<br />

die Regulierungsstruktur (Normen, Gesetze, Steuerungsinstrumente)<br />

sowie die Steuer- <strong>und</strong> Subventionspolitik<br />

als Erklärungsgrößen angeführt.<br />

Die mikroökonomische Perspektive betont demgegenüber,<br />

dass die Wettbewerbsfähigkeit einer Nation im Kern immer<br />

auf der Wettbewerbsfähigkeit der ansässigen <strong>und</strong> damit<br />

nationales Einkommen generierenden Unternehmen beruht.<br />

Die makroökonomischen Eckdaten bilden hier eher Rahmenbedingungen,<br />

welche im Zusammenspiel mit international<br />

konkurrierenden Unternehmen bestimmte Vernetzungen hervorbringen,<br />

die einen Standort attraktiv machen. In diesem<br />

Sinne geht es um „Innovationen <strong>und</strong> technischen Fortschritt,<br />

die vom Unternehmen (im Schumpeter’schen Sinne) ausgehen,<br />

da sich der Unternehmer permanent an den Absatz-<br />

Der Portersche Diamant


500 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Beschaffungsmärkten behaupten muss. Diese Unternehmertätigkeit<br />

muss von der institutionellen Ebene unterstützt<br />

werden, indem die nationale Politik den Wettbewerbsrahmen<br />

schafft <strong>und</strong> zur Senkung von Transaktionskosten beiträgt“<br />

(Petschow et al. 1998).<br />

Insgesamt sieht Porter, einer der bekanntesten Protagonisten<br />

der new economic geography, die Herausbildung von<br />

Wettbewerbsvorteilen eines clusters im Zusammenspiel mehrerer<br />

Faktorenbündel, die er in Form eines „Diamanten“ darstellt<br />

<strong>und</strong> aufeinander bezieht (Abbildung). Hierzu gehören die<br />

Faktorausstattung eines Landes, zum Beispiel materielle<br />

Ressourcen, Wissens- <strong>und</strong> Kapitalressourcen <strong>und</strong> Infrastruktur<br />

sowie die inländischen Nachfragebedingungen, welche<br />

den Unternehmen Informationen über die Bedürfnisse der<br />

K<strong>und</strong>en vermitteln <strong>und</strong> eine schnelle Umsetzung von Innovationen<br />

begünstigen. Dadurch kann ein Vorsprung gegenüber<br />

ausländischen Konkurrenten erreicht werden. Als dritten Faktor<br />

nennt er die Existenz qualifizierter Zulieferer, welche zu<br />

effizienten <strong>und</strong> hochwertigen Endprodukten führt <strong>und</strong> schließlich<br />

die Unternehmensstrategie <strong>und</strong> Wettbewerbsstruktur.<br />

Eine starke inländische Konkurrenz ist essenziell für<br />

die Wettbewerbsfähigkeit, da nur dadurch der nötige Innovationsdruck<br />

erzeugt wird, der eine Branche international wettbewerbsfähig<br />

macht.<br />

Alle diese Faktoren stehen in einem gegenseitigen Wechselverhältnis<br />

<strong>und</strong> bilden ein sich selbst verstärkendes System.<br />

Von Einfluss sind darüber hinaus der Staat <strong>und</strong> die Variable<br />

Zufall, welche die vier Faktoren des „Diamanten“ beeinflussen.<br />

Insgesamt bietet das Konzept des „Diamanten“ zahlreiche<br />

Ansatzpunkte, die Struktur <strong>und</strong> die Wettbewerbsfähigkeit<br />

von Branchen im Spannungsfeld von Globalisierung <strong>und</strong> Lokalisierung<br />

zu beleuchten.<br />

H. Gebhardt<br />

i il<br />

I<br />

Elektronische Verwaltungen,<br />

Dezentralisierung <strong>und</strong> Outsourcing<br />

Es ist offensichtlich, dass es mit dem rasch wachsenden<br />

Einfluss der Banken, Einanzierungsgesellschaften<br />

<strong>und</strong> unternehmensorientierten Dienstleistungen auf<br />

die Expansion des quartären Sektors zu einschneidenden<br />

Veränderungen in den Wirtschaftsstrukturen der<br />

Länder des Zentrums kam. Vom geographischen Gesichtspunkt<br />

ist dabei von besonderer Bedeutung, dass<br />

dieses Wachstum örtlich begrenzt erfolgte, sich also<br />

auf bestimmte Standorte <strong>und</strong> Stadtviertel in den großen<br />

Metropolen konzentriert (Kapitel 2). Auf den<br />

ersten Blick mag dies verw<strong>und</strong>ern, schließlich sollte<br />

man erwarten, dass die neuen Kommunikationstechnologien<br />

zu einer Streuung der „elektronischen Verwaltung“<br />

(electronic offices) führen <strong>und</strong> damit zu einer<br />

geographischen Dezentralisierung dieses wichtigen<br />

Katalysators der wirtschaftlichen Entwicklung. Tatsächlich<br />

ist dies auch in bedeutendem Umfang geschehen,<br />

allerdings nur bei k<strong>und</strong>enfernen Routinetätigkeiten<br />

in sogenannten back ojftces, die aus den<br />

Zentren in kleinere Städte oder Vororte verlegt wurden.<br />

Zu den Aufgaben dieser back ojftces gehören<br />

Buchhaltung, Datenerfassung <strong>und</strong> Datenanalyse,<br />

also Tätigkeiten, bei denen kein regelmäßiger faceio-/flce-Kontakt<br />

mit Klienten <strong>und</strong> Geschäftspartnern<br />

notwendig ist <strong>und</strong> keine langfristig wirksamen Entscheidungen,<br />

die mit großer Unsicherheit behaftet<br />

sind, getroffen werden müssen. Infolge neuer Entwicklungen<br />

in den Bereichen Computertechnologie,<br />

Datenbanken, elektronischer Datenaustausch <strong>und</strong><br />

Kommunikation können solche back offices zunehmend<br />

in kostengünstigeren Gebieten angesiedelt<br />

<strong>und</strong> so die teuren Standorte der repräsentativen Eirmensitze<br />

gemieden werden. So verwendet die Post<br />

vieler Länder beim Briefversand Klarschriftleser, welche<br />

die Briefadressen in einen Barcode wandeln <strong>und</strong><br />

die automatische Sortierung nach Zielort erlauben.<br />

Jede Adresse, die das Gerät nicht erfassen kann, erscheint<br />

auf einem Bildschirm, wo ein Mitarbeiter<br />

sie per Hand umsetzt. In Washington D.C. erfolgt<br />

die Erfassung mit Klarschriftlesern in der zentralen<br />

Poststelle, während die manuelle Bearbeitung in<br />

Greensboro, North Carolina, geschieht, wo das Lohnniveau<br />

niedriger liegt. Hier sichten die Mitarbeiter die<br />

gescannten Kopien der Briefe aus Washington <strong>und</strong><br />

rekonstruieren die fehlerhaften oder unvollständigen<br />

Adressen, die nun auf elektronischem Wege zurück<br />

an die Lesegeräte in Washington gehen, welche die<br />

Briefe mit dem korrekten Strichcode versehen.<br />

Auch wenn sich jemand in London telefonisch<br />

nach der Höhe seines Strafzettels erk<strong>und</strong>igen möchte,<br />

gelangt er über die Vermittlung in einen kleinen Ort<br />

in Nordengland.<br />

Zu den bekannten US-amerikanischen Beispielen<br />

solcher dezentralen back ojftces gehören American Express<br />

(von New York nach Salt Lake City, Fort Lauderdale<br />

<strong>und</strong> Phoenix), Metropolitan Life (nach<br />

Greenville, South Carolina, Scranton, Pennsylvania<br />

<strong>und</strong> Wichita, Kansas), die Dateneingangsverwaltung<br />

von Hertz (nach Oklahoma City), Dean Witter (nach<br />

Dallas), Avis (nach Tulsa) <strong>und</strong> die MasterCard- <strong>und</strong><br />

Visa-Abteilungen der Citibank (nach Tampa <strong>und</strong><br />

Sioux Falls). Einige Regionen haben sich im Zuge<br />

der Dezentralisierung auf diese back offices spezialisiert.<br />

In Omaha <strong>und</strong> San Antonio finden sich beispielsweise<br />

zahlreiche Callcenter, während Roanoke<br />

im US-B<strong>und</strong>esstaat Virgina, zum Zentrum des Versandhandels<br />

wurde.


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 501<br />

8.45 Internationale back o ffices Infolge der steigenden Lohnkosten verlagerten einige New Yorker Versicherungskonzerne<br />

einen Teil ihrer back-office-Akt\V\täteu nach Irland. Obwohl dieser Trend erst vor wenigen Jahren einsetzte, klagen irische Wirtschaftsfachleute<br />

bereits über griechische <strong>und</strong> portugiesische Konkurrenz. Dort sind die Lohnkosten bei ebenso guter Anbindung<br />

an die Telekommunikationsnetze noch niedriger. (Quelle; B. Warf Telecommunication and the Changing Geographies in the Late<br />

2Cf^ Century. In: Urban Studies 32. 1995. S. 374. Abdruck mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von Carfax publishing, 875 Masssachusetts<br />

Avenue, Cambridge, MA 02139)<br />

Im internationalen Maßstab erfolgte die Dezentralisierung<br />

in Form der ojfshore back offices. Durch diese<br />

Verlagerung ins Ausland sparen die Firmen Arbeitskosten<br />

ein. Beispielsweise haben mehrere New Yorker<br />

Versicherungskonzerne Teile ihrer Aufgaben nach Irland<br />

verlagert. Die Versicherungsunterlagen gelangen<br />

mit Federal Express zu der direkt am internationalen<br />

Shannon-Airport gelegenen Niederlassung, wo sie bearbeitet<br />

<strong>und</strong> die Ergebnisse via Satellit oder über das<br />

transatlantische Glasfasernetz zurück in die Zentrale<br />

geschickt werden (Abbildung 8.45). Die logische<br />

Fortentwicklung der back offtces ist das Outsourcing.<br />

Die Ausgliederung von Dienstleistungen ist einer der<br />

dynamischsten Sektoren der Weltwirtschaft. Man<br />

schätzt, dass die Ausgaben für Outsourcing bis<br />

zum Jahr <strong>2008</strong> auf eine Gesamtsumme von 827 Mil-<br />

8.46 Globalisierte Bürotätigkeit,<br />

Callcenter in Bangalore (Indien)


502 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

1<br />

Harden US-Dollar steigen werden, denn kleinere <strong>und</strong><br />

mittelgroße Unternehmen dürften dem Beispiel der<br />

großen multinationalen Konzerne folgen <strong>und</strong> ebenfalls<br />

Nutzen aus Niedriglöhnen in semiperipheren<br />

<strong>und</strong> peripheren Ländern ziehen. Internationales Outsourcing<br />

betrifft typischerweise eher die Arbeitsplätze<br />

von Routinetätigkeiten, die Daten nach exakten Vorgaben<br />

produzieren, sich wiederholende Aufgaben<br />

durchführen <strong>und</strong> klare Routinen abarbeiten, <strong>und</strong> weniger<br />

die von Analysten <strong>und</strong> Entscheidungsträgern,<br />

die mit abstrakten Konzepten arbeiten, selbständig<br />

Probleme erkennen <strong>und</strong> lösen müssen, strategische<br />

Verhandlungen mit anderen Unternehmen führen<br />

<strong>und</strong> wichtige Orientierungskontakte mit anderen<br />

hochrangigen Entscheidungsträgern pflegen (Meusburger<br />

2000). Ausgegliederte Servicebereiche reichen<br />

von einfachen Unternehmensdienstleistungen wie<br />

Datenerfassung oder Transkription bis zu anspruchsvolleren,<br />

qualifizierten Aufgaben wie architektonische<br />

Entwurfszeichnungen, Produktbetreuung, Finanzanalyse,<br />

Softwareprogrammierung <strong>und</strong> Personaldienstleistungen.<br />

Indien hat sich zu einem der erfolgreichsten<br />

Standorte von ausgegliederten Dienstleistungen<br />

- vom Callcenter über Aktivitäten im<br />

Bereich Geschäftsprozesse bis zu anspruchsvollen<br />

IT-Dienstleistungen - entwickelt (Abbildung 8.46).<br />

So lassen heute etwa mehr als 150 der 500 weltweit<br />

umsatzstärksten Unternehmen ihre Software auf<br />

dem Subkontinent entwickeln. Auf den Philippinen<br />

wurden „Unternehmenszonen“ mit günstigen internationalen<br />

Telefontarifen für Firmen eingerichtet, die<br />

auf Telemarketing <strong>und</strong> E-Commerce spezialisiert<br />

sind. Mexiko, Südamerika <strong>und</strong> Malaysia sind ebenfalls<br />

zu wichtigen Standorten von Callcentern <strong>und</strong><br />

Unternehmensdienstleistungen geworden.<br />

Räumliche Cluster spezialisierter<br />

Verwaltungen<br />

Die unverhältnismäßig große Zahl neuer lobs, die in<br />

den hoch spezialisierten Zentralen der Banken, Versicherungen,<br />

Finanzierungsgesellschaften <strong>und</strong> Unternehmensdienstleistungen<br />

der Metropolen entstehen,<br />

gleicht die Dezentralisierung indes mehr als aus. Für<br />

diese Lokalisierung ist ein anderer geographischer Agglomerationseffekt<br />

verantwortlich, der in diesem Kapitel<br />

bereits angesprochen wurde. Denn nur große<br />

Zentren wie New York City, London, Tokio, Frankfurt,<br />

Paris <strong>und</strong> einige wenige andere Großstädte verfügen<br />

über eine entsprechende Infrastruktur spezialisierter<br />

Büroräume, Börsen, Teleports (Büroviertel<br />

mit Satellitenstationen <strong>und</strong> interner Glasfaservernetzung)<br />

<strong>und</strong> Kommunikationseinrichtungen sowie,<br />

was noch wichtiger ist, über die qualifizierten Spezialisten<br />

<strong>und</strong> das Kontaktpotenzial, welche eine Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />

für hochwertige nationale <strong>und</strong> internationale<br />

Dienstleistungen sind. Ein weiterer Vorteil<br />

dieser Großstädte besteht in der Mischung aus spezialisierten<br />

Firmen mit hoch qualifizierten Fachkräften<br />

<strong>und</strong> dem großen Kultur- <strong>und</strong> Freizeitangebot, von<br />

dem sowohl Mitarbeiter als auch Besucher profitieren.<br />

Über all dem steht jedoch, dass sich diese Regionen<br />

das Image einer hohen Kompetenz erworben ha-<br />

200 400 Kilometef<br />

• „CA<br />

Vasteras<br />

A v<br />

iwr<br />

Nordsee<br />

Göteborg<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

Bedhoevedor<br />

Amstelveen<br />

rtsterdarn<br />

^Hilversum<br />

^'^Düsseldorf<br />

sei<br />

o Frankfurt,<br />

Anzahl der Firmensitze<br />

----- 60<br />

8.47 Die Zentren der<br />

Werbeagenturen in<br />

Europa Die Karte zeigt<br />

die Standortveränderungen<br />

der wichtigsten 100<br />

europäischen Werbe­<br />

Getif<br />

Baden-Baden,<br />

'L ii<br />

Turin<br />

•»Zürich<br />

----- 40<br />

----- 20<br />

----- 10<br />

----- 5<br />

agenturen in den Jahren<br />

1982 bis 1990. Auffällig<br />

ist ihre außerordentlich<br />

hohe Konzentration in<br />

London. (Quelle: Daniels,<br />

P. Sen/ices in a Shrinking<br />

World. In: Geography 80.<br />

.M adrid<br />

1 11982 B '


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 503<br />

hen. Hier leben die Leute, welche die Märkte, Trends<br />

<strong>und</strong> Innovationen kennen. Leute, die in ständigem<br />

Kontakt zueinanderstehen <strong>und</strong> auf diese Weise Vertrauen<br />

schaffen - <strong>und</strong> zwar nicht nur im geschäftlichen<br />

Umfeld, sondern auch im informellen Rahmen<br />

der exklusiven Clubs <strong>und</strong> Bürobars. Solche world eines<br />

generieren also nicht nur lokales Wachstum, sondern<br />

sie sind auch Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkte weltweiter<br />

Steuerung, Kontrolle <strong>und</strong> Reorganisation. Hier erfolgt<br />

die Steuerung der Informationsflüsse, Kulturgüter<br />

<strong>und</strong> Finanzen, die in ihrer Gesamtheit die Globalisierung<br />

stützen (Kapitel 2 <strong>und</strong> 10).<br />

Ein gutes Beispiel für die räumliche Konzentration<br />

von Geschäftsdienstleistungen findet sich in der europäischen<br />

Werbebranche. Zu Beginn der 1980erlahre<br />

befanden sich deren Firmensitze in den europäischen<br />

Metropolen Paris, London, Amsterdam<br />

<strong>und</strong> Stockholm sowie in geringerer Konzentration<br />

auch in Brüssel, Düsseldorf, Frankfurt <strong>und</strong> Zürich.<br />

1990 hatten die meisten Firmen ihren Hauptsitz<br />

nach London verlegt (Abbildung 8.47), das zu jener<br />

Zeit neben New York <strong>und</strong> Tokio zu den drei einflussstärksten<br />

Weltstädten gehörte.<br />

Offshore-Finanzzentren<br />

Durch die Konzentration in den Metropolen bei<br />

gleichzeitiger Dezentralisierung der back offices ist<br />

den meisten regionalen Ansprüchen globaler Finanznetzwerke<br />

Genüge getan. Dennoch bleiben noch Bedürfnisse<br />

wie Geheimhaltung oder die Minimierung<br />

der Steuerlast, welche unterschiedliche lokale Strategien<br />

erfordern. Aus diesen Zwängen heraus entstanden<br />

die Steueroasen <strong>und</strong> offshore-Fm&nzzentren.<br />

Inseln <strong>und</strong> Kleinstaaten wie die Bahamas, Bahrain,<br />

die Cayman Islands, die Cook Islands, Luxemburg,<br />

Liechtenstein oder Vanuatu wurden im System der<br />

internationalen Finanzströme zu bedeutsamen Knotenpunkten<br />

(Abbildung 8.48).<br />

Diese Steueroasen <strong>und</strong> ojfshore-F'manzzentren sind<br />

vor allem deshalb so attraktiv, weil es nirgendwo so<br />

geringe Regulierungsschranken, so niedrige Steuern<br />

<strong>und</strong> vielfach auch ein so streng gehütetes Bankgeheimnis<br />

gibt wie dort. Ersparnisse können bei geringer<br />

Steuerlast oder sogar ganz steuerfrei deponiert<br />

werden - ein Paradies also für nicht deklarierte Einkommen<br />

<strong>und</strong> „heißes“ Geld. Zudem gibt es diskrete<br />

Möglichkeiten, mit Devisen, Anleihen oder Wertpapieren<br />

zu handeln, ohne dass Aufsichtsbehörden oder<br />

Wettbewerber davon erfahren. Nach Schätzungen der<br />

amerikanischen Finanzbehörden werden in den USA<br />

jährlich Steuern in Höhe von r<strong>und</strong> 400 Milliarden<br />

hinterzogen, welche größtenteils in ojfshore-Fmanzzentren<br />

landen, wo sich bereits etwa 60 Prozent<br />

der globalen Geldmenge befinden.<br />

Die Cayman Islands sind ein typisches Beispiel.<br />

Der kleine Inselstaat in der Karibik wandelte sich<br />

von einer armen <strong>und</strong> unterentwickelten Kolonie zu<br />

einem vergleichsweise wohlhabenden <strong>und</strong> modernen<br />

Land, das den gehobenen Tourismus pflegt <strong>und</strong> Finanzen<br />

aus dem Ausland anzieht. In dem gut<br />

40 000 Einwohner zählenden Staat sind mehr als<br />

30 000 Firmen registriert, darunter 350 Versicherungen<br />

<strong>und</strong> mehr als 580 Banken aus aller Welt. Von diesen<br />

unterhalten jedoch nur 75 tatsächlich auch Niederlassungen<br />

oder Zweigstellen auf der Insel, <strong>und</strong> nur<br />

ein halbes Dutzend Banken bietet Dienstleistungen<br />

wie private Kontenführung für Ortsansässige oder<br />

das Einlösen von Reiseschecks für Urlauber an.<br />

Alle übrigen Banken existieren nur als Postfächer,<br />

Namensschilder in anonymen Bürokomplexen, als<br />

Faxnummern oder Zugang zu einem Computersystem.<br />

Im fahr 2004 flössen mehr als 1 Billion US-Dollar<br />

über die Caymans, die damit an der Spitze aller<br />

oj5%/iore-Finanzzentren stehen. (Exkurs 8.7 „Geographie<br />

in Beispielen - Briefkastenfirmen in Liechtenstein“).<br />

Die Peripherie ais Urlaubsparadies:<br />

Tourismus <strong>und</strong><br />

I wirtschaftiiehe Entwicklung<br />

Die Globalisierung der Weltwirtschaft betraf vor allem<br />

auch die Tourismuswirtschaft:. Der Tourismus<br />

hat in den letzten jahrzehnten auch in Entwicklungsländern<br />

eine enorme Bedeutung erlangt (Abbildung<br />

8.49). Im fahr 2003 beliefen sich die Gewinne der<br />

Tourismuswirtschaft auf 514 Milliarden US-Dollar.<br />

Der Tourismus ist weltweit der bedeutendste Arbeitgeber<br />

außerhalb der Landwirtschaft. Ein Zwölftel aller<br />

Erwerbstätigen weltweit ist damit beschäftigt, Touristen<br />

zu befördern, zu verköstigen, unterzubringen, zu<br />

führen oder zu unterhalten. Die Hotels, Restaurants<br />

<strong>und</strong> sonstigen Einrichtungen haben einen geschätzten<br />

Wert von r<strong>und</strong> 3 Billionen US-Dollar.<br />

Dabei überrascht weniger die wachsende Zahl der<br />

Reisen als die immer größere Entfernung der Reiseziele,<br />

was vor allem auf die preisgünstigen Interkontinentalflüge<br />

zurückzuführen ist. Während Europa<br />

(58 Prozent) <strong>und</strong> der amerikanische Doppelkontinent<br />

(18 Prozent) nach wie vor die wichtigsten Destinationen<br />

sind, erzielt die Tourismuswirtschaft bereits<br />

ein Viertel der Einnahmen aus Reisen nach Affi-


504 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Exkurs 8.7<br />

Geographie in Beispieien -<br />

Briefkastenfirmen in Liechtenstein<br />

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch im Gefolge des<br />

Ersten Weltkriegs wurden In Liechtenstein zwischen 1923<br />

<strong>und</strong> 1928 mehrere Gesetze erlassen, welche eine liberale Wirtschaftspolitik<br />

ermöglichten <strong>und</strong> vor allem ausländisches Kapital<br />

anziehen sollten. Diese Gesetze schufen sehr attraktive Bedingungen<br />

für Holding- <strong>und</strong> Domizilgesellschaften <strong>und</strong> wurden<br />

nach dem Ende der Weltwirtschaftskrise eine wichtige Voraussetzung<br />

für den enormen wirtschaftlichen Aufstieg Liechtensteins.<br />

Briefkastenfirmen, die in verschiedenen rechtlichen<br />

Konstruktionen auftreten können, haben in Liechtenstein<br />

nur eine Adresse, keine eigenen Büroräume <strong>und</strong> kein Personal.<br />

Das Postfach wird vom Büro eines Liechtensteiner Rechtsanwalts<br />

oder eines sogenannten Treuhänders verwaltet, der dann<br />

auch die internationalen Transaktionen der Briefkastenfirmen<br />

durchführt (Abbildung 8.7.1). Er garantiert, dass der eigentliche<br />

Inhaber der Briefkastenfirma beziehungsweise eines Kontos<br />

anonym bleibt. Gegen ein zusätzliches Honorar kann derselbe<br />

Anwalt auch eine Stiftung einrichten, sodass dann das<br />

gesamte Vermögen dem Finanzamt entzogen ist. Jeder der<br />

pro Jahr 1 Promille des Stammkapitals, mindestens aber<br />

1000 sFr. an Gesellschaftssteuer bezahlt, kann in Liechtenstein<br />

eine Briefkastenfirma gründen. Bei Aktiengesellschaften<br />

werden auf die ausgeschüttete Dividende noch 4 Prozent Couponsteuer<br />

erhoben. Innerhalb von Liechtenstein dürfen diese<br />

Briefkastenfirmen keine geschäftliche Tätigkeit ausüben, sie<br />

haben hier nur eine Adresse. Ein Rechtsanwaltbüro oder Treuhänder<br />

kann einige H<strong>und</strong>ert solcher Firmen vertreten. Genaue<br />

Angaben über die Zahl der Briefkastenfirmen wurden nur bis<br />

zum Jahr 1930 veröffentlicht, seither wird deren Zahl von den<br />

Behörden diskret verschwiegen, sodass man auf Schätzungen<br />

angewiesen ist. 1930 gab es 747 Briefkastenfirmen, in den<br />

1950er-Jahren wurde die Zahl auf 4 000 geschätzt, Mitte<br />

der 1970er-Jahre waren es etwa 40 000 <strong>und</strong> im Jahre 2004<br />

lagen die Schätzungen bei 85 000 bis 90 000 Briefkastenfirmen.<br />

Diese Briefkastenfirmen <strong>und</strong> Stiftungen wurden 2004<br />

von 87 Rechtsanwälten <strong>und</strong> 355 autorisierten Treuhändern betreut.<br />

In Liechtenstein gab es 2004 also ungefähr zweieinhalb<br />

mal so viele Briefkastenfirmen wie Einwohner. Briefkastenfirmen<br />

in Steueroasen dienen vor allem dazu, die zu versteuernden<br />

Gewinne zu verringern beziehungsweise möglichst wenig<br />

Steuern zu zahlen. Zahlreiche Steuerberater <strong>und</strong> Wirtschaftstreuhandgesellschaften<br />

tun nichts anderes, als darüber nachzudenken,<br />

mit welchen Tricks <strong>und</strong> mit welchen Umwegen über<br />

Steueroasen eine Privatperson oder ein Unternehmen möglichst<br />

wenig Steuern zu zahlen hat.<br />

Für Briefkastenfirmen ist Liechtenstein aus mehreren Gründen<br />

sehr attraktiv. Liechtensteinische Banken kennen weder<br />

gegenüber den nationalen noch den internationalen Steuerbehörden<br />

eine Auskunftspflicht. Keine Liechtensteiner Amtsperson<br />

darf irgendwelche Angaben über steuerpflichtige Personen<br />

machen. Deshalb gibt es keine Rechtshilfe bei Steuerbetrugsfällen.<br />

Nur bei kriminellen Machenschaften oder Geldwäsche<br />

von Drogengeld ist Liechtenstein theoretisch zur Amtshilfe<br />

verpflichtet. Weitere Standortvorteile liegen im Bankgeka,<br />

Asien <strong>und</strong> in den pazifischen Raum. Der Fremdenverkehr<br />

ist in Ländern mit exotischer Tierwelt<br />

(wie Kenia), grandiosen Landschaften (Nepal), Stränden<br />

(Seychellen), günstigen Einkaufsmöglichkeiten<br />

(Singapur <strong>und</strong> Hongkong), fremden Kulturen (China,<br />

Indien <strong>und</strong> Indonesien) oder billigem Sex (Thailand)<br />

zur zentralen Stütze der lokalen Wirtschaft geworden.<br />

Zusätzlich hat „alternativer“ oder „sanfter“ Tourismus<br />

als nachhaltigere Strategie wirtschaftlicher<br />

Entwicklung in peripheren Regionen an Bedeutung<br />

gewonnen (Abbildung 8.50). Dabei stehen Selbstbestimmung,<br />

Authentizität, Sozialverträglichkeit, Erhalt<br />

der natürlichen Umwelt, Entwicklung auf lokaler<br />

Ebene, traditionelle Bauweisen sowie der vermehrte<br />

Einsatz heimischer Fertigkeiten <strong>und</strong> Materialien im<br />

Vordergr<strong>und</strong>. Spielarten des alternativen Tourismus<br />

sind der Ökotourismus (zum Beispiel Vogelbeobachtung<br />

in Costa Rica, Hilfe in Schutzprogrammen für<br />

gefährdete Seeschildkröten auf Bali oder „Mitarbeit“<br />

in thailändischen Elefantencamps), der Kulturtourismus<br />

(zum Beispiel der Besuch der untergegangenen<br />

Inkastadt Machu Picchu), der Abenteuertourismus<br />

(zum Beispiel „Entdeckungsreisen“ in die Amazonasregion)<br />

oder der Industrietourismus (zum Beispiel<br />

Bootsreisen auf den Kanälen des nordenglischen<br />

Potteries district).<br />

Obwohl Costa Rica ein armes Land ist, stellte es 30<br />

Prozent seines Territoriums unter Naturschutz - <strong>und</strong><br />

erhielt dafür große internationale Anerkennung. Hier<br />

leben r<strong>und</strong> 850 Vogelarten, mehr als in den USA <strong>und</strong><br />

Kanada zusammen. In ganz Afrika gibt es nicht so<br />

viele Schmetterlinge wie hier. Costa Rica hat zwölf eigenständige<br />

Ökosysteme, in denen mehr als 6 000 unterschiedliche<br />

Blütenpflanzen, mehr als 200 Säugetier-<br />

<strong>und</strong> Reptilienarten sowie über 35 000 Insekten-


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 505<br />

8.7.1 Briefkastenfirmen in Vaduz, Liechtenstein Rechts: Das Gebäude eines der größten Rechtsanwaltbüros in Vaduz, das<br />

zahlreiche Briefkastenfirmen vertritt.<br />

heimnis, das strenger <strong>und</strong> weitergehend ist als jenes der<br />

Schweiz, in den sehr niedrigen Steuern <strong>und</strong> der Tatsache,<br />

dass Liechtenstein nur mit einem einzigen Staat, nämlich<br />

Österreich, ein Doppelbesteuerungsabkommen hat. Deshalb<br />

ist auch keine fiskalische Rechtshilfe für einen anderen Staat<br />

vorgesehen. Geschätzt werden auch die stabilen politischen<br />

Verhältnisse, die starke Währung, der zentrale Standort in Europa<br />

(der Flughafen Zürich ist relativ schnell erreichbar) sowie<br />

das leistungsfähige Angebot an Dienstleistungen der Liechtensteiner<br />

Banken, Treuhänder <strong>und</strong> Rechtsanwälte.<br />

Die Briefkastenfirmen stellen für Liechtenstein eine erhebliche<br />

Einnahmequelle dar. Je mehr Briefkastenfirmen sich in<br />

Liechtenstein niederlassen, umso weniger zahlen die Bürger<br />

des Landes Steuern. Die niedrige Steuerbelastung ist immer<br />

noch der wichtigste Standortvorteil der zu 100 Prozent exportorientierten,<br />

sehr modernen <strong>und</strong> sehr forschungsintensiven<br />

Liechtensteiner Industrie. In Liechtenstein sind die Steuersätze<br />

für Einkommen, Vermögen, Gr<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> Kapitalgewinne<br />

außerordentlich niedrig. Ein Durchschnittsverdiener<br />

wurde 2004 in Liechtenstein mit etwa 5 Prozent besteuert,<br />

ein millionenschwerer Großverdiener maximal mit 17,9 Prozent.<br />

P. Meusburger<br />

arten verkommen. Die Strategie des Landes zahlt sich<br />

aus. Immer mehr Menschen besuchen die aktiven<br />

V'ulkane, die Palmenstrände, Regenwälder <strong>und</strong> tropischen<br />

Naturparks. Im Jahr 2004 kamen 1,2 Millionen<br />

Touristen nach Costa Rica. Der Tourismus steht<br />

heute an erster Stelle der Deviseneinnahmen, dicht<br />

gefolgt von Bananen, Kaffee, Zucker, Textilien <strong>und</strong><br />

seit jüngster Zeit Mikrochips.<br />

Auch Ecuador hat den alternativen Tourismus für<br />

sich entdeckt. Die Attraktivität des südamerikanischen<br />

Landes gründet sich auf sechs Nationalparks,<br />

sieben Reservate <strong>und</strong> 20 private Schutzgebiete. Auf<br />

der kleinen Fläche am Äquator befinden sich einige<br />

der ältesten Regenwälder der Erde <strong>und</strong> mit 5 897 Metern<br />

der zweithöchste aktive Vulkan Cotopaxi. Die<br />

Galapagos-Inseln bestechen mit ihrer spektakulären<br />

Tierwelt, die Kultur der Anden befindet sich in blühender<br />

Entwicklung, <strong>und</strong> Ecuador pflegt die Geschichte<br />

der spanischen Kolonisation. Zwei Drittel<br />

der organisierten Reisen nach Ecuador erfolgen durch<br />

Mitglieder der Ecuadorean Ecotourism Association.<br />

Diese Organisation wird staatlich <strong>und</strong> von privaten<br />

Trägern finanziert <strong>und</strong> hat zum Ziel, die nachhaltige<br />

Entwicklung durch Umweltbewusstsein zu wahren.<br />

Andere Beispiele sind Pensionen in Papua-Neuguinea,<br />

Bungalows in Polynesien, Ökotourismus in Belize<br />

<strong>und</strong> der integrierte ländliche Tourismus im Senegal.<br />

Alle diese Konzepte richten sich jedoch nur an<br />

eine wohlhabende <strong>und</strong> umweltbewusste Klientel. Für<br />

einen Markt, auf den sich eine wirtschaftliche Entwicklung<br />

gründen ließe, reicht deren Zahl womöglich<br />

nicht aus.<br />

Während die meisten Touristen aus höher entwickelten<br />

Ländern stammen <strong>und</strong> relativ wohlhabend<br />

sind, finden sich die Reiseziele keineswegs nur in<br />

den geringer entwickelten <strong>und</strong> „unverbrauchten“ Re-


506 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Die C aym an -In seln sind<br />

Sitz von m ehr als 580 Ban<br />

ken, deren Einlagen fast 1<br />

Billion US-D ollar betragen,<br />

N ach einem Dekret von<br />

King G eorge II. aus dem<br />

Ja h r 1798 sind diese<br />

steuerfrei. D ieses Privileg<br />

D ie B ritis c h e n Ju n g fern in se ln<br />

wurden 1984 durch ein G esetz<br />

zu einen o/fehore-Finanzzentrum,<br />

das ihnen die Einführung<br />

von International Business<br />

C om panies (IB C s) mit einem<br />

Minimum an Aufw and <strong>und</strong><br />

Kosten erlaubte. E s gibt keine<br />

D evisen-Überw achung oder<br />

Steuerverträge, die Eintragung<br />

einer Firm a kann an einem<br />

einzigen Tag erfolgen. B is 2004<br />

wurden m ehr als 300000 IC B s<br />

Lab u an w ar einst Strafkolonie <strong>und</strong> bot Piraten<br />

Unterschlupf. 1990 hat die M alaysische<br />

Regierung die Insel in ein International O ffshore<br />

Financial C enter verw andelt, um Firm en aus<br />

Ja p a n <strong>und</strong> Hongkong anzuziehen. B is zum<br />

Ja h r 2000 wurden etw a 2200 Unternehm en<br />

gegründet. M ehr als 60 o/fehore-Banken, fast<br />

50 Versicherungen sow ie 20 Treuhandgesellschaften<br />

kommen in den G enuss der günstigen<br />

Rahm enbedingungen. Die Nettoeinkom m en<br />

unterliegen einem Steu ersatz von lediglich drei<br />

Prozent, während Zins-, Dividenden- sow ie<br />

Nutzungs- <strong>und</strong> Lizenzeinkünfte gänzlich<br />

steuerfrei sind. D as Verm ögen d es Labuan<br />

offshore-Banksektors wird auf mehr als 50<br />

M illiarden US-D ollar geschätzt.<br />

N auru, eine Pazifikinsel<br />

im N ordw esten von<br />

Papua-Neuguinea, ist<br />

die kleinste unabhängige<br />

Republik der Welt.<br />

Es gibt etw a 400 offshore-Banken.<br />

2002 sah<br />

sich Nauru als erstes<br />

Land mit internationalen<br />

Bank-Sanktionen (durch<br />

die O ECD -Länder) konfrontiert<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner<br />

verm uteten Beteiligung<br />

an der weltweiten<br />

G eld w äsch e. ,<br />

Slngi piif l l * .<br />

N«uruQ<br />

A<br />

AUSTRALUE^<br />

In den 1980er Ja h re n wurde<br />

P a n am a für Drogenhändler<br />

zum Eldorado für Geld w äsch e.<br />

W egen seiner laschen Ban k­<br />

gesetze wurde Panam a im Ja h r<br />

2000 auf eine internationale<br />

schw arze Liste gesetzt, nach<br />

w esentlichen Reform en der<br />

Bankgesetze wurden diese<br />

Sanktionen ein Ja h r später<br />

jedoch w ieder aufgehoben.<br />

Durch seine Hilfe bei der weltw<br />

eiten Su ch e nach Terroristengeldern<br />

seit den Terroranschlägen<br />

vom 11. Sep tem ber 2001<br />

konnte es seinen Ruf w ieder<br />

hersteilen.<br />

D as Sch eichtum B a h re in am<br />

Persisch en G olf w ar einst für seine<br />

Perlenfischerei berühm t. N ach der<br />

Entdeckung der Ölreserven in den<br />

1930er Jah re n kam d er Reichtum .<br />

1975 w andelte sich der Sta a t zur<br />

Steu ero ase <strong>und</strong> bis 2003 wurden<br />

hier offshore-Bankgeschäfte im<br />

W ert von 100 M illionen US-D ollar<br />

abgew ickelt.<br />

8.48 Offshore-Finanzzentren O^s/iore-Finanzzentren bieten ein stark gesichertes Bankgeheimnis, Vertraulichkeit der Transaktionen<br />

<strong>und</strong> Schutz vor hohen Steuern <strong>und</strong> komplexen Regulierungssystemen, wie sie fast überall in der Welt üblich sind. Sie wurden<br />

in den weltweiten Kapitalflüssen der globalisierten Wirtschaft zu bedeutsamen Knotenpunkten. Einige der wichtigsten offshore-<br />

Finanzzentren liegen zwar nicht im wahrsten Sinne des Wortes offshore, sie sind vielmehr „Inseln“ finanzieller Sicherheit <strong>und</strong><br />

Diskretion, zum Beispiel Liechtenstein, Bahrain, Luxemburg <strong>und</strong> die Schweiz. (Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Fuller<br />

Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung „Dymaxion" <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion^ Map<br />

Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967, 1992. Alle Rechte<br />

Vorbehalten.)


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 507<br />

120<br />

ro 100<br />

a Z 60<br />

< o<br />

(1) Q 40<br />

ü W<br />

to 3<br />

20<br />

1975 1985 1995<br />

touristisch e B esu ch e auf den<br />

Caym an-Inseln (1976-1995)<br />

Europ a<br />

B i Vereinigte Staaten<br />

8.49 Das Wachstum des internationalen Tourismus 1999 verbrachten r<strong>und</strong> 900 Millionen Touristen ihren Urlaub im Ausland.<br />

Bis zum Jahr 2010 werden es vermutlich 1 Milliarde sein. Wenngleich die internationale Tourismusindustrie fast 150 Millionen<br />

Menschen beschäftigt, sind die Vorteile auf lokaler Ebene oft nicht spürbar. In großen Teilen der Peripherie sind die Ferienanlagen<br />

im Besitz transnationaler Firmen, die Profite fließen also zu einem großen Teil in die Länder des Zentrums zurück, <strong>und</strong> auch die<br />

höher qualifizierten Beschäftigten der Hotels kommen aus dem Ausland.


508 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

(b)<br />

8.50 Ökotourismus a) Mala Mala Wildtierreservat in Ost-<br />

Transvaal, Südafrika; b) Touristen in Churchill, Manitoba,<br />

Kanada; c) Acajatuba Öko-Lodge am Rio Negro, Brasilien<br />

u<br />

gionen der Peripherie. Beispielsweise verfügen nur<br />

10 Prozent der Amerikaner über einen Reisepass,<br />

die meisten US-Dollar werden in berechenbarer<br />

<strong>und</strong> englischsprachiger Umgebung ausgegeben.<br />

Eine große Bedeutung erhielt in den letzten Jahren<br />

der sogenannte Städtetourismus (Exkurs 8.8 „Geographie<br />

in Beispielen - Städtetourismus in Europa“).<br />

Da die für den Fremdenverkehr notwendige Infrastruktur<br />

ohne große Betriebe <strong>und</strong> Hightech auskommt,<br />

betragen die Kosten für die Schaffung eines<br />

neuen Arbeitsplatzes in diesem Bereich schätzungsweise<br />

nur ein Fünftel dessen, was ein Arbeitsplatz<br />

in der Industrie kostet, <strong>und</strong> ein Fünfzigstel der Kosten<br />

für einen Arbeitsplatz in einem Hochtechnologiebetrieb.<br />

Wie die Ausführungen in Kapitel 6 gezeigt<br />

haben, folgt daraus, dass regionales Marketing oder<br />

Stadtmarketing für die lokalen Wirtschaftsstrategien<br />

von enormer Bedeutung ist.<br />

Der Fremdenverkehr kann in den Ländern der Peripherie<br />

Gr<strong>und</strong>lage wirtschaftlicher Entwicklung sein,<br />

doch hat diese Medaille zwei Seiten. Zwar entstehen<br />

durch den Tourismus neue Arbeitsplätze, aber diese<br />

sind häufig saisonal begrenzt. Zudem steigt die wirtschaftliche<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit, wenn sich Länder zu<br />

sehr auf den Tourismus verlassen. Wie alle Luxusgüter<br />

ist auch der Tourismus ständigen Wechseln der<br />

Trends <strong>und</strong> Moden unterworfen. Einst blühende Urlaubsziele<br />

müssen mit einem Mal um jeden Besucher<br />

kämpfen. Regionen, die ursprünglich wegen ihrer<br />

Abgeschiedenheit <strong>und</strong> Unberührtheit gefragt waren,<br />

verlieren ihre Attraktivität, weil sie wegen der vielen<br />

Touristen dieses Image verloren haben. Nepal <strong>und</strong><br />

Neuseeland leiden unter diesem Phänomen. Sie<br />

sind kein Geheimtipp mehr <strong>und</strong> haben allein deshalb<br />

Mühe, ausreichend Reisende ins Land zu locken. Neu<br />

entdeckt wurden Bhutan, Bolivien, Estland, Patagonien<br />

<strong>und</strong> Vietnam, welche gerade ihre ersten Gewinne<br />

aus dem Tourismus verbuchen können, während<br />

sich China aller Wahrscheinlichkeit nach bis<br />

2010 zu einem der beliebtesten Urlaubsziele entwickeln<br />

wird.<br />

Aber es sind nicht nur die exotischen Regionen, die<br />

besonders empfindlich auf Trendänderungen reagieren.<br />

So gehörten die Strände von Rimini (Italien) lange<br />

Zeit zu den beliebtesten Urlaubsorten der Nordwesteuropäer<br />

aus der Mittelschicht. Seit dem Aufkommen<br />

der Billigfluglinien bevorzugen diese Schichten<br />

jedoch die „exotischen“ <strong>und</strong> ausgefallenen Ziele in


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 509<br />

Exkurs 8.8<br />

Geographie in Beispielen - Städtetourismus in Europa<br />

London, Paris <strong>und</strong> Rom, dann Prag <strong>und</strong> Berlin, vielleicht<br />

auch Barcelona oder Wien - wer mag sich heute noch<br />

dem Reiz einer Städtereise verschließen? Während das er-<br />

lebnis- <strong>und</strong> erholungsorientierte Reisen in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

vor allem einer gesellschaftlichen Elite Vorbehalten<br />

war, konnte sich der Tourismus im Verlauf des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

zu einem Massenphänomen von globaler Dimension<br />

entwickeln. So dokumentiert die World Tourism Organization<br />

(WTO) für das Jahr 2002 mehr als 700 Milionen internationale<br />

Touristenankünfte, von denen etwa die Hälfte in Europa<br />

registriert wurde. Schätzungen zufolge soll diese Zahl bis<br />

2020 auf mehr als 1,5 Milliarden Jährliche Ankünfte an-<br />

steigen. Der gegenwärtige Boom im Freizeit- <strong>und</strong> Tourismusmarkt<br />

ist verb<strong>und</strong>en mit erheblichen ökologischen <strong>und</strong> sozio-<br />

ökonomischen Auswirkungen, die sowohl die touristischen<br />

Zielgebiete als auch die Herkunftsregionen der Reisenden<br />

betreffen.<br />

Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit tourismusbezogenen<br />

Fragestellungen setzt die Verwendung einer Fachterminologie<br />

voraus, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext<br />

auf unterschiedliche Weise definiert werden kann. Die Begriffe<br />

Tourismus <strong>und</strong> Fremdenverkehr werden üblicherweise<br />

weitgehend synonym verwendet <strong>und</strong> bezeichnen eine vorübergehende<br />

Abwesenheit vom Wohn- oder Arbeitsort. Je<br />

nach geltender Definition kann diese entweder auf Vergnü-<br />

gungs- <strong>und</strong> Erholungsreisen beschränkt sein oder im weiteren<br />

Sinne auch beruflich bedingte <strong>und</strong> andere Formen des<br />

Reisens einschließen. In Abgrenzung zur Naherholung handelt<br />

es sich beim Tourismus um eine Form der Mobilität,<br />

die an mindestens eine auswärtige Übernachtung geb<strong>und</strong>en<br />

ist. Wenn das Reiseziel ein gewisses Maß an Urbanität aufweist,<br />

können wir vom Städtetourismus sprechen. Charakteristische<br />

Merkmale des Städtetourismus sind eine relativ kurze<br />

Aufenthaltsdauer <strong>und</strong> besonders vielseitige Angebote <strong>und</strong><br />

Aktivitäten der Reisenden.<br />

Die Attraktivität von Städten <strong>und</strong> Metropolen ist häufig ein<br />

Ausdruck der dort anzutreffenden räumlichen Konzentration<br />

wirtschaftlicher, verkehrstechnischer, politischer, kultureller,<br />

freizeitbezogener <strong>und</strong> anderer gesellschaftlicher Funktionen.<br />

In Europa ist die Tourismusbranche seit den 1980er-Jahren<br />

durch einen sehr starken Zuwachs im Segment des Städtetourismus<br />

gekennzeichnet. Diese Entwicklung vollzieht sich<br />

im Kontext einer fortschreitenden Globalisierung sowie der<br />

sich schrittweise vollziehenden EU-Osterweiterung <strong>und</strong> der<br />

damit einhergehenden sozioökonomischen Transformation.<br />

Es zeigt sich, dass politische Krisen, Terroranschläge,<br />

Naturkatastrophen <strong>und</strong> Epidemien die Reiseentscheidungen<br />

der Touristen nur geringfügig <strong>und</strong> allenfalls kurzfristig über<br />

den Zeitraum weniger Monate zu beeinflussen vermögen. Bedeutsamere<br />

Steuerungsfaktoren sind die Kaufkraft der Reisenden<br />

in Abhängigkeit von internationalen Wechselkursen<br />

<strong>und</strong> das preisliche Niveau der Transport- <strong>und</strong> Übernachtungsangebote.<br />

Dies gilt in besonderer Weise für die als low cost<br />

carrier Ibezeichneten Billigfluglinien.<br />

Um die gegenwärtige Dynamik im europäischen Städtetourismus<br />

besser beurteilen zu können, sollten die Veränderungen<br />

auf Angebots- <strong>und</strong> Nachfrageseite betrachtet werden.<br />

Hinsichtlich der touristischen Nachfrage ist ein deutliches<br />

Wachstum sowohl bei den Urlaubs- <strong>und</strong> Freizeitbesuchern<br />

als auch im Fall der beruflich bedingt Reisenden zu beobachten.<br />

Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

eines veränderten Reiseverhaltens, das seitens der Verbraucher<br />

zunehmend durch die Entscheidung für Kurz- <strong>und</strong> Erlebnisreisen<br />

geprägt ist. Dieses Phänomen kann zumindest teilweise<br />

mit einer steigenden Anzahl von Single- oder kinderlosen<br />

Haushalten sowie mit einer fortschreitenden Flexibilisierung<br />

der Arbeitszeit in Verbindung gebracht werden.<br />

Auf der Angebotsseite spielen technologische Innovationen,<br />

zum Beispiel im Bereich der Transport-, Kommunikati-<br />

ons- <strong>und</strong> Buchungsmedien, sowie ein allgemeiner Trend zu<br />

flexibleren Marketingstrukturen eine wichtige Rolle. Weiterhin<br />

ist zu betonen, dass seitens der Städte oft ein erheblicher<br />

Aufwand betrieben wird, um sich erfolgreich als touristische<br />

Destination im nationalen <strong>und</strong> internationalen Wettbewerb zu<br />

vermarkten. Nachdem zahlreiche Innenstädte bereits seit<br />

den 1970er-<strong>und</strong> 1980er-Jahren im Zuge von Sanierungsmaßnahmen<br />

eine erhebliche Aufwertung erfahren haben, gewinnen<br />

seit einigen Jahren Aktivitäten des Stadtmarketing wie<br />

auch die Ausrichtung von Großveranstaltungen <strong>und</strong> Events<br />

zunehmend an Bedeutung für den Städtetourismus. Unter<br />

Verwendung der neuen Kommunikations- <strong>und</strong> Informationstechnologien<br />

werden Bemühungen zur Optimierung der Serviceteistungen<br />

unternommen. Infolge des touristischen<br />

Wachstums zeichnen sich an einzelnen Standorten bereits<br />

deutliche Engpässe <strong>und</strong> Steuerungsprobleme ab, denen<br />

man durch gezielte Kapazitätserweiterungen <strong>und</strong> ein angepasstes<br />

Tourismusmanagement zu begegnen versucht. In<br />

diesem Zusammenhang besteht eine besondere Herausforderung<br />

darin, die Prinzipien der Nachhaltigkeit zu befolgen<br />

<strong>und</strong> den Tourismus im Einklang mit den Interessen der ansässigen<br />

Bevölkerung zu entwickeln.<br />

Aus dem Blickwinkel der geographischen Forschung erscheint<br />

eine Beschäftigung mit dem Städtetourismus in seiner<br />

räumlichen Differenziertheit besonders interessant. Dies<br />

gilt für die Lage <strong>und</strong> Bedeutung der einzelnen Standorte ebenso<br />

wie für die zu beobachtenden Veränderungen. Was sind<br />

die Ursachen dafür, dass sich bestimmte Destinationen im<br />

Standortwettbewerb erfolgreicher behaupten als andere?<br />

Welche Rolle spielen zum Beispiel Verkehrsanbindung, Preisniveau<br />

oder Imagepflege? Zahlt es sich aus, wenn eine Stadt<br />

die Ausrichtung von Großveranstaltungen fördert? Wovon lassen<br />

sich Touristen bei ihren Reiseentscheidungen leiten? Wie<br />

gestalten Besucher ihren Aufenthalt, wie hoch sind ihre Ausgaben,<br />

<strong>und</strong> wie nehmen sie die von ihnen bereiste Stadt


i 510 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

— Fortsetzung Exkurs 8.8<br />

Städtetourismus<br />

in Europa<br />

ti :<br />

Anzahl der Übernachtungen<br />

in Großstädten (2004)*<br />

■ unter 500.000<br />

■<br />

0,5 bis unter 2 Mio.<br />

f f i<br />

2 bis unter 6 Mio.<br />

A M<br />

6 bis unter 10 Mio.<br />

BE<br />

10 bis unter 15 Mio.<br />

LO<br />

15 Mio. <strong>und</strong> mehr<br />

London (ca. 30 Mo.)<br />

Paris (32 Mio.)<br />

f '<br />

—,C ^ ^ L h b ..B R ¡¿ a ^<br />

' ‘i o A<br />

^ . L ,<br />

- i b t _<br />

DR<br />

* Berücksichtigt sind Übernachtungen<br />

in Beherbergungsbetrieben für alle 473<br />

Großstädte ab 100.000 Einwohnern<br />

in den 25 EU-Mitgliedsstaaten, den<br />

EU-Beitrittskandidaten Bulgarien <strong>und</strong><br />

Rumänien sowie den EFTA-Staaten<br />

Island, Norwegen <strong>und</strong> der Schweiz.<br />

PR BN<br />

'feo<br />

BU.<br />

^ frol Ml VE<br />

iMA = = -¡bAr<br />

^ ftS i<br />

'4<br />

■|NA:<br />

‘“ C<br />

'n<br />

% ^<br />

f<br />

Kanarische Inseln<br />

Madeira<br />

© Freytag 2007 100 200km<br />

> i<br />

AM = Amsterdam, AT = Athen, BA = Barcelona, BD =Bordeaux, B E =Berlin, BG = Burgas, B l =Birmingham, B L = Blackpool, BN = Brünn, BO = Bologna, B R = Brüssel, BU =Budapest,<br />

CO =Kopenhagen, C S =Constanta, DB = Dublin, DR =Dresden, DÜ = Düsseldorf, ED =Edinburgh, Fl = Florenz, FR = Frankfurt, FU = Funchal, G L =Glasgow, GO = Göteborg. GR =<br />

Granada, HA = Hamburg, HE = Helsinki, KÖ =Köln, LI = Lissabon, LL =Lille, LM = Limassol, LO = London, LY = Lyon, MA = Madrid, MB = Marbella, Ml = Mailand, MN =Manchester,<br />

MS = Marseille, MU = München, NA =Neapel, NI =Nizza, O S =Oslo, OT =Ostrau, PA = Paris, P L = Palermo, PM = Palma de Mallorca, P R =Prag, RI = Rimini, RO =Rom, S B =<br />

Strasbourg, S E = Sevilla, SH = Stockholm, ST = Stuttgart, TL = Toulouse, TO =Turin, TR = Trento, VA =Valencia, V E = Venedig, VI = Wien, WA =Warschau, ZU = Zürich.<br />

8.8.1 Standorte des europäischen Städtetourismus Paris <strong>und</strong> London sind gemessen an den Ubernachtungszahlen in Hotels<br />

<strong>und</strong> anderen Beherbergungsbetrieben die beiden mit Abstand wichtigsten Zentren des Städtetourismus in Europa. Innerhalb<br />

Deutschlands rangiert Berlin vor München, Hamburg, Frankfurt <strong>und</strong> Köln. Die touristische Bedeutung folgt damit weitgehend der<br />

Rangfolge in der allgemeinen Hierarchie des nationalen Städtesystems. Dennoch lassen sich anhand der Zahl der Übernachtungen<br />

bezogen auf 1000 Einwohner einzelne Städte identifizieren, in denen der Tourismus eine besonders wichtige Rolle spielt. Dies gilt<br />

zum Beispiel für Dresden, Heidelberg, Nürnberg, Regensburg <strong>und</strong> Trier. Als touristische Destinationen befinden sich die einzelnen<br />

Städte in einem harten ökonomischen Wettbewerb. Auf europäischer Ebene zählten während der 1990er-Jahre die Iberische<br />

Halbinsel <strong>und</strong> die Mehrzahl der osteuropäischen Staaten zu den bedeutendsten Wachstumsregionen. Der Boom im Städtetourismus<br />

wird künftig auch die neuen EU-Mitgliedstaaten Bulgarien <strong>und</strong> Rumänien sowie einzelne Standorte entlang der nordafrikanischen<br />

Mittelmeerküste erfassen.


Globalisierung <strong>und</strong> regionale Wirtschaftsentwicklung 511<br />

8.8.2 Aktivitäten der Besucher Im Städtetourismus<br />

bevorzugen die Freizeitreisenden eine<br />

Mischung aus Besichtigungen, Shopping, Gastronomie<br />

<strong>und</strong> Erholung. Die Touristen möchten dem<br />

eigenen Alltag entfliehen <strong>und</strong> legen häufig besonderen<br />

Wert darauf, eine angenehme Zeit mit den<br />

Mitreisenden zu verbringen. Es geht vorrangig<br />

darum, möglichst vielfältige Aspekte der bereisten<br />

Stadt einzufangen <strong>und</strong> deren Atmosphäre intensiv<br />

zu erleben. Während Erstbesucher in der Regel die<br />

touristischen Hauptattraktionen ansteuern, zeigen<br />

Wiederholungsbesucher ein stärker individuell geprägtes<br />

Muster bei der Gestaltung ihres Aufenthalts.<br />

Städtetourismus<br />

in Paris <strong>und</strong> Umgebung<br />

Chantilly<br />

Touristische Sehenswürdigkeiten<br />

Sehr bedeutende Attraktionen (jährlich mehr als 5 Mio. Besucher)*<br />

Kathedrale Notre-Dame. Basilika Saae*Coeor. EilTeltunn. Musée du Louvre.<br />

Centre Pompidou. Disneyland Resort Paris. Schloss Versailles<br />

Bedeutende Attraktionen<br />

^ Are de Triomphe. Forum des Haies, Musée d’Orsay, Trocadéro u.a.<br />

Weitere Sehenswürdigkeiten<br />

^ Musée du Ouai Branly, Opéra Bastille, Palais Royal. Panthéon u.a.<br />

* Dalengr<strong>und</strong>lage; Office de Tourisme de Paris (2007)<br />

Stadtgebiet mit intensiver touristischer Nutzung'<br />

Vorindustrielles Paris (mil baubcher Prägung vor 19. Jh.)<br />

Paris der Architektur des 19 Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

' verändert nach Duhamel / Knafou 2007<br />

Kongresszentren <strong>und</strong> Ausstellungsflächen<br />

0<br />

Bedeutende<br />

Kongresszentren (ab 2.(XX) Besuchern}'<br />

Palats des Ct^rés de Pans. Carrousel du Louvre. Espace Grande Arche.<br />

Disneyland Resort Paris<br />

0 Weitere Kongresszentren (1.000 bis 2.000 Besucher)*<br />

0<br />

Bedeutende<br />

Messe- <strong>und</strong> Ausstellungsflächen (ab 50.000 rr<br />

Paris-Nord Villepinte. Porte de Versaies. Le Bourget<br />

Q Wertere Messe- <strong>und</strong> Ausstellungsflächen (bis 50.000<br />

* Datengr<strong>und</strong>lage: OfRce de Tourisme de Paris (2007)<br />

Verkehrsinfrastrukturelle Anbindung<br />

Flughafen H k Fembahnhof Autobahn<br />

8.8.3 Tourismus in Paris Die französische Hauptstadt bietet ihren Besuchern zahlreiche Museen <strong>und</strong> Sehenswürdigkeiten<br />

von Weltrang. In der Kathedrale Notre-Dame wurden im Jahr 2004 mehr als 12 Millionen Besucher gezählt. Das entspricht in<br />

etwa der Zahl der verkauften Eintrittskarten für den im benachbarten Marne-la-Vallée gelegenen Freizeitkomplex Disneyland Resort<br />

Paris. Im Stadtgebiet lassen sich mehrere touristisch geprägte Bereiche identifizieren. Weitere bedeutende Attraktionen, wie zum<br />

Beispiel das Schloss Versailles, liegen im unmittelbaren Einzugsgebiet der Stadt. Als touristische Destination möchte sich Paris ein<br />

junges, dynamisches <strong>und</strong> besonders vielseitiges Image geben. Auf diese Weise sollen Anreize für Wiederholungsbesucher geschaffen<br />

<strong>und</strong> auch bislang weniger touristisch geprägte Stadtteile für interessierte Besucher erschlossen werden. Zugleich vollzieht<br />

sich innerhalb <strong>und</strong> außerhalb des Stadtgebiets ein Ausbau der vorhandenen Kapazitäten zur Beherbergung von beruflich bedingt<br />

Reisenden <strong>und</strong> zur Durchführung von Messen <strong>und</strong> Kongressveranstaltungen.<br />

wahr? Auf welche Weise eignen sich die Besucher einen touristischen<br />

Ort an? Wie können die Interessen der Touristen in<br />

der Stadtplanung berücksichtigt werden? Wie lassen sich ökologische<br />

<strong>und</strong> soziale Nachhaltigkeit verwirklichen? Und welche<br />

Perspektiven bieten sich dem Städtetourismus in Europa?<br />

T. Freytag


512 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

Übersee. Rimini zog die Konsequenz <strong>und</strong> warb um<br />

die bürgerliche Klientel in den Ländern Osteuropas<br />

<strong>und</strong> der ehemaligen Sowjetunion.<br />

Wie anfällig <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>bar der Tourismus gegenüber<br />

politischen Ereignissen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Entwicklungen ist, haben die Anschläge auf das<br />

World-Trade-Center im September 2001 eindringlich<br />

vor Augen geführt. Unmittelbar nach der Terrorattacke<br />

erlitt der internationale Luftverkehr einen<br />

deutlichen Einbruch. Gr<strong>und</strong> für den Rückgang der<br />

Passagierzahlen war ein Verlust von Vertrauen in<br />

die Sicherheit der Elughäfen, insbesondere in den<br />

USA. Die Terroranschläge bewirkten außerdem ein<br />

Abflauen der Wirtschaft, was wiederum die Reisebranche<br />

negativ zu spüren bekam. Nicht nur wirtschaftliche<br />

Einbußen in den vom Tourismus abhängigen<br />

Regionen waren die Folge, sondern auch ein<br />

Wandel hinsichtlich der touristischen Ziele. Weit<br />

von den wichtigsten Herkunftsländern der Touristen<br />

entfernte Destinationen wie Australien <strong>und</strong> Ostafrika<br />

verloren Marktanteile, während näher gelegene <strong>und</strong><br />

preisgünstigere Reiseziele stärker gebucht wurden.<br />

Es gibt noch weitere Gründe, warum das Tourismusgeschäft<br />

bisweilen mit Risiken behaftet ist: politische<br />

Unruhen, Naturkatastrophen, der Ausbruch<br />

von Seuchen <strong>und</strong> ungewöhnliche Witterungsverhältnisse.<br />

In Skigebieten hat warmes Wetter die gleichen<br />

Auswirkungen wie ein Ernteausfall in der Landwirtschaft.<br />

Und obwohl die Reisebranche viele Milliarden<br />

US-Dollar umsetzt, sind die Profite vieler Touristenregionen<br />

relativ gering, denn ein Großteil der Kosten<br />

für eine Reise bleibt bei den Reiseveranstaltern <strong>und</strong><br />

Fluggesellschaften hängen. In der Regel werden nur<br />

40 Prozent des Budgets am Urlaubsort ausgegeben.<br />

Wenn der Reisepreis bereits die Unterkunft in einem<br />

Hotel einschließt, das sich in ausländischem Besitz<br />

befindet, kann dieser Anteil leicht auf ein Viertel sinken.<br />

Natürlich sind Kosten <strong>und</strong> Nutzen des Fremdenverkehrs<br />

nicht ausschließlich ökonomischer Natur.<br />

Zwar kann der Tourismus dazu beitragen, althergebrachte<br />

Lebensweisen, regionale Kulturen, Kunst<br />

<strong>und</strong> Handwerk zu erhalten sowie den Schutz der<br />

Tier- <strong>und</strong> Pflanzenwelt oder den Erhalt historischer<br />

Stätten fördern. Andererseits können kulturelle Traditionen<br />

verfälscht <strong>und</strong> auf ein folkloristisches Niveau<br />

reduziert werden. Hinzu kommen unansehnliche<br />

Hotelburgen <strong>und</strong> Umweltzerstörungen. Die Mangrovenwälder<br />

<strong>und</strong> Küstenregionen in der Karibik leiden<br />

unter den Abwässern der Hotels, die Korallenriffe unter<br />

den vielen Booten <strong>und</strong> Tauchern. In Kenia führten<br />

die unzähligen Safaris zu gravierenden Umweltschäden<br />

im Maasai Mara National Reserve. Wegen des<br />

Andrangs von mehr als 4 Millionen Besuchern pro<br />

Jahr müssen die Parkhüter im amerikanischen Yosemite-Nationalpark<br />

täglich bis zu 1 000 Autos den Zugang<br />

verweigern. Die Parkverwaltung denkt daher<br />

über die Einführung eines Reservierungssystems<br />

nach. In den Alpen lockt die unglaubliche Zahl<br />

von 40 000 Skiabfahrten so viele Wintersportler an,<br />

dass diese die einheimische Bevölkerung um das<br />

Zehnfache übertreffen.<br />

Die Erschließung regionaler Kulturen <strong>und</strong> Lebensweisen<br />

für den Fremdenverkehr geht meist mit einer<br />

Verfälschung einher. Viele Traditionen <strong>und</strong> handwerkliche<br />

Erzeugnisse, die für den internationalen<br />

Markt gedacht sind, haben ihre ursprüngliche Bedeutung<br />

weitgehend verloren. Tänze <strong>und</strong> feierliche Zeremonien<br />

von einst kultureller Bedeutung finden heute<br />

nur noch vor den Kameras der Touristen statt. Masken<br />

<strong>und</strong> Waffen werden nicht mehr für den Eigenbedarf<br />

hergestellt, sondern für die Andenken-,<br />

Schmuck- <strong>und</strong> Antiquitätenmärkte. Im Lauf dieser<br />

Entwicklung erfolgte die Angleichung <strong>und</strong> Verldärung<br />

ursprünglicher Kulturen für den Geschmack<br />

<strong>und</strong> die Erwartungen der Touristen.<br />

L Fazit<br />

Die Zunahme des alternativen Tourismus in Costa<br />

Rica, die Finanzzentren der Cayman Islands, Irlands<br />

wachsende Bedeutung für back-ojfice-Untemehmungen<br />

<strong>und</strong> der Zerfall der nordenglischen Industrieregionen<br />

zeigen, dass wirtschaftliche Entwicklung<br />

sich nicht einfach als Ergebnis von Modernisierung<br />

<strong>und</strong> steigendem Wohlstand verstehen lässt. Es gibt<br />

viele Wege, die zum Aufschwung führen. Allen gemein<br />

ist die Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität<br />

<strong>und</strong> der Einkommen, genauso wie die Schaffung<br />

einer besseren Lebensgr<strong>und</strong>lage. Wirtschaftliche<br />

Entwicklung ist nicht nur eine Frage des Einsatzes innovativer<br />

Technologien oder der Anhebung des Einkommensniveaus,<br />

sondern kann auch eine Steigerung<br />

der Lebensqualität durch bessere Wohnungen, entsprechende<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialsysteme sowie<br />

den Ausbau der gewerblichen <strong>und</strong> sonstigen Infrastruktur<br />

bedeuten.<br />

Die lokalen, regionalen <strong>und</strong> internationalen Strukturen<br />

<strong>und</strong> Prozesse wirtschaftlicher Entwicklung sind<br />

für Geographen besonders bedeutsam, denn die Ausmaße<br />

wirtschaftlicher Entwicklung <strong>und</strong> die lokalen<br />

Prozesse ökonomischer Veränderungen haben zahlreiche<br />

Auswirkungen auf das Wohlergehen einer Re-


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 513<br />

gion <strong>und</strong> betreffen somit viele Aspekte der <strong>Humangeographie</strong>.<br />

Wirtschaftliche Entwicklung ist ein wesentlicher<br />

raumgestaltender Faktor. Gleichzeitig ist<br />

sie Folge <strong>und</strong> Spiegelbild unterschiedlicher Gr<strong>und</strong>voraussetzungen<br />

hinsichtlich natürlicher Ressourcen,<br />

demographischer Strukturen, politischer Systeme,<br />

Ausbildungsniveaus <strong>und</strong> kultureller Traditionen.<br />

Wirtschaftliche Entwicklung ist immer ein geographisch<br />

ungleich verteiltes Phänomen. Die regionalen<br />

Muster sind ein Spiegelbild der räumlichen Verbreitung<br />

von natürlichen Ressourcen <strong>und</strong> Restriktionen,<br />

von technischen Innovationen, von Unterschieden<br />

des Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsniveaus <strong>und</strong><br />

von historischen Startvorteilen <strong>und</strong> Spezialisierungen<br />

von Regionen. Wie wir an den Beispielen aus verschiedenen<br />

Ländern sehen, besteht eine Tendenz<br />

zur Bildung von regionalen Zentren <strong>und</strong> von diesen<br />

abhängigen Peripherien. Dennoch sind solche Strukturen<br />

keineswegs statisch <strong>und</strong> unveränderlich. Durch<br />

verschiedene Veränderungen können sich die Gradienten<br />

zwischen den Zentren <strong>und</strong> ihren Peripherien<br />

verlagern oder sogar umkehren, wie die Stagnation<br />

der einst boomenden Regionen in Nordengland<br />

oder der spektakuläre Aufschwung in der Guangdong-Provinz<br />

Südchinas zeigen. Infolge der Globalisierung<br />

sind heute mehr Orte <strong>und</strong> Regionen denn je<br />

dem Auf <strong>und</strong> Ab der kreativen Destruktion ausgeliefert<br />

- einem Auf <strong>und</strong> Ab, das immer schneller erfolgt,<br />

weil mit den neuen Kommunikationstechnologien<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit „geschrumpft“ sind.<br />

In globalem Maßstab führt die ungleiche Entwicklung<br />

von Wirtschaftsräumen zu räumlichen Disparitäten<br />

zwischen den Zentren <strong>und</strong> ihren Peripherien.<br />

Am auffälligsten sind dabei die Dynamik <strong>und</strong> die Geschwindigkeit,<br />

mit der sich Veränderungen vollziehen.<br />

Durch globale Wertschöpfungsketten, global Offices<br />

<strong>und</strong> weltweiten Tourismus entstehen zwischen<br />

den Regionen immer vielfältigere Abhängigkeiten<br />

<strong>und</strong> verändern sich Orte immer rascher. In einigen<br />

Landesteilen von Brasilien, China, Indien, Mexiko<br />

<strong>und</strong> Südkorea verwandelten sich rückständige Provinzen<br />

beinahe über Nacht in bedeutsame Industrieregionen.<br />

Die Cayman Inseln, die einst eine unbedeutende<br />

Kolonie in der Karibik waren, wandelten sich<br />

zu einem Ziel für wohlhabende Touristen <strong>und</strong> in<br />

eines der größten offshore-Fimnzzentren. In Ecuador<br />

<strong>und</strong> Costa Rica, die kaum über vergleichbare Vorteile<br />

verfügten, spülte der Ökotourismus mit einem Mal<br />

große Devisenmengen in die Kassen. Allerdings ist<br />

diese Dynamik auch der Gr<strong>und</strong> für die sich verbreiternde<br />

Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich - sei es auf internationaler,<br />

regionaler oder lokaler Ebene.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Arnold, K. Wirtschaftsgeographie in Stichworten. Berlin; Stuttgart<br />

(Hirts Stichwortbücher) 1992.<br />

Barnet, R.J.; Cavanagh, J. Global Dreams. Imperial Corporations<br />

and the New World Order. New York (Simon & Schuster)<br />

1994.<br />

Bathelt, H. Die Bedeutung der Regulationstheorie in der Wirtschaftsgeographischen<br />

Forschung. In; Geographische Zeitschrift<br />

82(2) (1994) S. 64-90.<br />

Bathelt, H.; Glückler, J. Wirtschaftsgeographie. Ökonomische Beziehungen<br />

in räumlicher Perspektive. Stuttgart (Ulmer), 2002.<br />

Becker, C.; Job, H.; Witzei, A. Tourismus <strong>und</strong> nachhaltige Entwicklung.<br />

Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> praktische Ansätze für den mitteleuropäischen<br />

Raum. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1996.<br />

Benthien, B. Geographie der Erholung <strong>und</strong> des Tourismus. Gotha<br />

(Perthes) 1997.<br />

Böventer, E. von Ökonomische Theorie des Tourismus. Frankfurt<br />

(Campus) 1989.<br />

Bovermann, R.; Goch, S.; Priamus, H.-J. (Hrsg.) Das Ruhrgebiet-<br />

ein starkes Stück Nordrhein-Westfalen. Politik in der Region:<br />

1946-1996. Essen (Klartext Verlag) 1996.<br />

Bryson, J.; Henry, N.; Keeble, D.; Martin, R. (Hrsg.) The Economic<br />

Geography Reader. New York (Wiley) 1999.<br />

Castells, M. The Information Age. 3. Bde.; Oxford (Blackwell)<br />

1996- 1998.<br />

Castells, M.; Hall, P. Technopoles o f the World. The Making o f<br />

21st Century Industrial Complexes. New York (Routledge)<br />

1994.<br />

Cho. G. Trade, Aid and Global Interdependence. London (Rout-<br />

legde) 1995.<br />

Christaller, W. Die zentralen Orte in Süddeutschland. Darmstadt<br />

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1980.<br />

Clark, G.; Feldman, M.; Gertler, M.S. (Hrsg.) The Oxford Handbook<br />

o f Economic Geography. New York (Oxford University<br />

Press) 2000.<br />

Dege, W.; Dege, W. Das Ruhrgebiet. Kiel (Hirt) 1980.<br />

Dicken, P.; Global Shift. New York (Guilford Press) 2003.<br />

Dicken, P.; Lloyd, P. E. Standort <strong>und</strong> Raum. Theoretische Perspektiven<br />

in der Wirtschaftsgeographie. Stuttgart (Ulmer)<br />

1999.<br />

Drainville, A. Contesting Globilization: Space and Place in the<br />

World Economy. New York (Routledge) 2004.<br />

Duckwitz, G. Kulturlandschaftswandel im Ruhrgebiet 1850 bis<br />

1990. Köln (Rheinland Verlag) 1996.<br />

Ellenberg, L.; Scholz, M.; Beier, B. Ökotourismus. Reisen zwischen<br />

Ökonomie <strong>und</strong> Ökologie. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 1997.<br />

Faßmann H.; Meusburger, P. Arbeitsmarktgeographie. Stuttgart<br />

(Teubner), 1997.<br />

Faßmann, H.; Klagge, B.; Meusburger, P. (Hrsg.): Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 2006.<br />

Fennel, D.A. Ecotourism. An Introduction. London (Routledge)<br />

1999.<br />

Frank, A. G. Kapitalismus <strong>und</strong> Unterentwicklung in Lateinamerika.<br />

Frankfurt a.M. (Europäische Verlagsanstalt) 1969.


514 8 Die Geographie wirtschaftlicher Entwicklung<br />

!i !<br />

Frank, A.G. Abhängige Akkumulation <strong>und</strong> Unterentwicklung.<br />

Frankfurt a.M. (Suhrkamp), 1980<br />

Gaebe, W. Industrie <strong>und</strong> Raum. Darmstadt. Flandbuch d. Geographieunterrichts,<br />

Bd. 3. Köln ((Verlag??)) 1989.<br />

Gereffi, G.; Memedovic, 0. The Global Apparel Value Chain. Wien<br />

(United Nations Industrial Development Organization) 2003.<br />

Gibb, R.; Michalak, W. Continental Trading Blocs. The Growth o f<br />

Regionalism in the World Economy. New York (Wiley) 1994.<br />

Flowells, J.; Wood, M. The Globalisation o f Production and Technology.<br />

London (Pinter) 1993.<br />

Flughes, A.; Reimer, S. Geographies o f Commodity Chains. New<br />

York (Routledge) 2004.<br />

Flugill, P. Global Communications Since 1844. Geopolitics and<br />

Technology. Baltimore (Johns Flopkins University Press)<br />

1999.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; Agnew, j.; McCarthy, L. The Geography o f the World<br />

Economy. London (Edward Arnold) 2003.<br />

Krätke, S. Stadt-Raum-Ökonomie. Einführung in aktuelle Problemfelder<br />

der Stadtökonomie <strong>und</strong> Wirtschaftsgeographie.<br />

Basel; Boston; Berlin (Birkhäuser) 1995.<br />

Krugman, P. Geography and Trade. Leuven (MIT-Press) 1991.<br />

Krugmann, P. R.; Obstfeld, M. International Economics. New<br />

York (Longman) 1994.<br />

Kulke, E. (FIrsg.) Wirtschaftsgeographie Deutschlands. Gotha<br />

(Klett-Perthes) 1998.<br />

Kulke, E. Wirtschaftsgeographie. Paderborn (Klett-Perthes) 2004.<br />

Lechner, F.J.; Boli, J. (Hrsg.) The Globilization Reader. Maiden,<br />

MA (Blackwell) 2000.<br />

Meusburger, P. Bildungsgeographie. Wissen <strong>und</strong> Ausbildung in<br />

der räumlichen Dimension. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 1998.<br />

Meusburger, P. Spatial and social disparities o f employment and<br />

income in Hungary in the 1990s. In; Meusburger, P., Jöns, H.<br />

(Hrsg.); Transformations in Hungary. Essays in Economy and<br />

Society. Heidelberg (Physica Verlag) 2001, S. 173-206.<br />

Mikus, W. Wirtschaftsgeographie der Entwicklungsländer. Stuttgart<br />

(G. Fischer) 1994.<br />

ÖLoughlin, J.; Staehli, L.; Greenburg, E. (Hrsg.) Globalization and<br />

Its Outcomes. New York (Guilford Press) 2004.<br />

Porter, M. E. Nationale Wettbewerbsvorteile. Erfolgreich konkurrieren<br />

auf dem V/eltmarkt. Wien (Ueberreuther), 1993.<br />

Potter, R. B.; Binns, T.; Elliott, J. A.; Smith, D. Geographies o f Development.<br />

London (Longman) 1999.<br />

Reichart T. Bausteine der Wirtschaftsgeographie. Eine Einführung.<br />

Bern (Haupt) 1999.<br />

Ritter, W. Allgemeine Wirtschaftsgeographie. Eine systemtheoretisch<br />

orientierte Einführung. München (Oldenbourg) 1998.<br />

Schamp, E. W. Globalisierung von Produktionsnetzen <strong>und</strong> Standortsystemen.<br />

In; Geographische Zeitschrift 84 (1996) S.<br />

205-219.<br />

Schamp, E.W. Gr<strong>und</strong>sätze der zeitgenössischen Wirtschaftsgeographie.<br />

In; Geographische R<strong>und</strong>schau 35(2) (1983) S. 74-<br />

80.<br />

Schamp, E. W. Vernetzte Produktion. Industriegeographie aus institutioneller<br />

Perspektive. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft)<br />

2000.<br />

Schätzl, L. Wirtschaftsgeographie 2, Empirie. Paderborn (Schö-<br />

ningh), 1994.<br />

Schätzl, L. Wirtschaftsgeographie 3, Politik. Paderborn (Schö-<br />

ningh), 1994.<br />

Schätzl, L. Wirtschaftsgeographie 1: Theorie. Paderborn (Schöningh)<br />

2001.<br />

Scherrer, C. P. Dritte-Welt-Tourismus. Entwicklungsstrategische<br />

<strong>und</strong> kulturelle Zusammenhänge. Berlin (Reimer) 1986.<br />

Scott, A.J. Regions and the World Economy. New York (Oxford<br />

University Press) 1998.<br />

Sedlacek, P. Wirtschaftsgeographie. Eine Einführung. Darmstadt<br />

(Wiss. Buchgesellschaft) 1988.<br />

Smith, N. The Endgame o f Globalization. New York (Routledge)<br />

2004.<br />

Smith, N. Uneven Development. Nature, Gapital, and the Production<br />

o f Space. Oxford (Blackwell) 1991.<br />

Statistisches B<strong>und</strong>esamt Wiesbaden Statistisches Jahrbuch der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland 2000. Stuttgart (Metzler-Poeschel)<br />

2000.<br />

Steinecke, A. (Hrsg.) Tourismus <strong>und</strong> nachhaltige Entwicklung.<br />

Trier (Europäisches Tourismus Institut) 1995.<br />

Sternberg, R. Technologiepolitik <strong>und</strong> High-Tech Regionen - ein<br />

internationaler Vergleich. Münster (LIT Verlag) 1995.<br />

Stiglitz, J.E. Globalization and ist Discontents. New York<br />

(W.W. Norton) 2003.<br />

Storper, M. Institutions, incentives and communication in economic<br />

geography. Hettner Lecture 2003. Stuttgart (Steiner Verlag)<br />

2004.<br />

Strukturwandel an der Ruhr im internationalen Vergleich. Ein Proje<br />

k t des Initiativkreises Ruhrgebiet. Essen.<br />

Taylor, P. J. The Error o f Developmentalism in Human Geography.<br />

In; Gregory, D.; Walford, R. (Hrsg.) Horizons in Human Geography.<br />

Totowa, NJ (Barnes and Noble) 1989, S. 309-319.<br />

U. N. D. P. (United Nations Development Programm) Human Development<br />

Report 2004: Gultural Liberty in Todays Diverse<br />

World. New York; Oxford (Oxford University Press) 2004.<br />

United Nations Trade and Development Report 2004. New York<br />

(UN Department of Economic and Social Affairs) 2004.<br />

United Nations World Economic and Social Survey 2004: International<br />

Migration. New York (UN Department of Economic<br />

and Social Affairs) 2005.<br />

United Nations World Economic Situation and Prospects, 2005.<br />

New York (UN Department of Economic and Social Affairs)<br />

2005.<br />

Voppel, G. Wirtschaftsgeographie. Räumliche Ordnung der Weltwirtschaft<br />

unter marktwirtschaftlichen Bedingungen. Stuttgart,<br />

Leipzig (Teubner) 1999.<br />

Vorläufer, K. Tourismus in Entwicklungsländern. Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen einer nachhaltigen Entwicklung durch Fremdenverkehr.<br />

Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1996.<br />

Wagner, H.-G. Wirtschaftsgeographie. Braunschweig (Westermann)<br />

1998.<br />

Wallach, B. Understanding the Cultural Landscape. New York<br />

(Guilford Press) 2005.<br />

Wirth, E. (Hrsg.) Wirtschaftsgeographie. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft)<br />

1969.<br />

Wolf, K.; Jurczek, P. Geographie der Freizeit <strong>und</strong> des Tourismus.<br />

Stuttgart (Ulmer) 1986.<br />

World Bank World Development Report 1995. Workers in an Integrating<br />

World. New York (Oxford University Press) 1995.<br />

World Bank World Development Report 2005.A Better Investment<br />

Climate for Everyone. Washington, DC (The World<br />

Bank) 2004.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 515<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Behrens, K.C. Allgemeine Standortbestimmungslehre. Köln; Opladen<br />

(Westdeutscher Verlag) 1971.<br />

Böventer, E. von Standortentscheidung <strong>und</strong> Raumstruktur. Hannover<br />

(Veröff. der Akad. f. Raumf. u. Landespl., Abh., Bd. 76)<br />

1979.<br />

Faßmann, H.; Klagge, B.; Meusburger, P. (Hrsg.): Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag) 2006.<br />

Fürst, D. Die Standortwahl industrieller Unternehmer. Ein Überblick<br />

über empirische Erhebungen. In: Jahrbuch für Sozialwissenschaften<br />

22 (1971) S. 189-220.<br />

Gaebe, W. Industrie In: Kulke, E. (Hrsg.) Wirtschaftsgeographie<br />

Deutschlands. Gotha (Klett-Perthes) 1998, S. 87-156.<br />

Gimbel, J. Science, Technology, and Reparations. Exploitation<br />

and Pl<strong>und</strong>er in Postwar Germany. Stanford (Stanford University<br />

Press) 1990.<br />

Hamilton, F. E. J. (Hrsg.) Spatial Perspectives on Industrial Organization<br />

and Decision-Making. London, New York (Wiley)<br />

1974.<br />

Isard, W. Methods o f Regional Analysis: An Introduction to Regional<br />

Science. Massachusetts (MIT Press) 1960.<br />

Krumme, G. Anmerkungen zur Relevanz unternehmerischer Verhaltensweisen<br />

in der Industriegeographie. \n:Zeitschr. f Wirtschaftsgeographie<br />

16(4) 1972, S. 101-108.<br />

Lösch, A. Die räumliche Ordnung der Wirtschaft. Jena (G. Fischer)<br />

1940.<br />

Meusburger, P. Zur Veränderung der Frauenerwerbstätigkeit in<br />

Ungarn beim Übergang von der sozialistischen Planwirtschaft<br />

zur Marktwirtschaft. In: Meusburger P.; Klinger, A. (Hrsg.)<br />

Vom Plan zum Markt. Eine Untersuchung am Beispiel Ungarns.<br />

Heidelberg (Physica Verlag) 1995, S. 130-181.<br />

Meusburger, P. Sachwissen <strong>und</strong> symbolisches Wissen als Machtinstrument<br />

<strong>und</strong> Konfliktfeld. Zur Bedeutung von Worten,<br />

Bildern <strong>und</strong> Orten bei der Manipulation des Wissens. In: Geographische<br />

Zeitschrift 93 (2005), S. 148- 164.<br />

Meusburger, P. Liechtenstein - mehr als ein Steuerparadies. In:<br />

HGG-Journal 19/20 (2006), S. 117-138.<br />

Petschow, U.; Hübner, K.; Dröge, S. Nachhaltigkeit <strong>und</strong> Globalisierung.<br />

Berlin (Springer) 1998.<br />

Porter, M. Nationale Wettbewerbsvorteile: Erfolgreich konkurrieren<br />

auf dem Weltmarkt. München (Ueberreuter) 1993.<br />

Prey, G.; Scherdin, P. In: Faßmann, H.; Klagge, B.; Meusburger,<br />

P. (Hrsg.) Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Arbeit<br />

<strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2006.<br />

Rüschenpöhler, H. Der Standort industrieller Unternehmungen<br />

als betriebswirtschaftliches Problem. Berlin (Duncker & Humblot)<br />

1958.<br />

Schmude, J. Geförderte Unternehmensgründungen in Baden-<br />

Württemberg. Eine Analyse der regionalen Unterschiede<br />

des Existenzgründungsgeschehens am Beispiel des Eigenkapitalhilfe-Programms<br />

(1979-1989). Stuttgart (Steiner)<br />

1994.<br />

Schmude, J. (Hrsg.) Neue Unternehmen. Interdisziplinäre Beiträge<br />

zur Gründungsforschung. Heidelberg (Physica Verlag)<br />

1995.<br />

Sternberg, R. Technologiepolitik <strong>und</strong> High-Tech Regionen - ein<br />

internationaler Vergleich. Wirtschaftsgeographie Bd. 7. Münster<br />

(LIT Verlag). 1995.<br />

Sternberg, R. State-of-the Art and Perspectives o f Economic Geog<br />

ra p h y - Taking Stock from a German Point o f View. In: Geo-<br />

Journal 50 (2000) S. 25-36.<br />

Thünen, J. H. v. (1826) Der isolierte Staat in Beziehung auf Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Nationalökonomie. Berlin (Nachdruck Stuttgart)<br />

1966.<br />

Weber, A. Über den Standort der Industrien. Erster Teil: Reine<br />

Theorie des Standorts. Tübingen (Mohr Siebeck) 1909.


9 Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

I;<br />

Nach der jüngsten verfügbaren US-Statistik zur Landwirtschaft wurden im<br />

Jahr 2002 in den Vereinigten Staaten mehr als 8,5 Milliarden Hühnchen<br />

verkauft - im Schnitt r<strong>und</strong> 30 je Einwohner. 1991 überstieg der Pro-Kopf-<br />

Konsum von Hühnerfleisch erstmals den von Rindfleisch, <strong>und</strong> dies in<br />

einem Land, wo „rotes“ Fleisch für viele ein Muss ist. Die Tatsache,<br />

dass heute jeder Amerikaner durchschnittlich r<strong>und</strong> 1,5 Pf<strong>und</strong> Hühnerfleisch<br />

pro Woche verspeist, ist Ausdruck einer komplexen gesellschaftlichen<br />

Entwicklung, die in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg eingesetzt<br />

hat. Erstens hat ein zunehmendes Ges<strong>und</strong>heitsbewusstsein, insbesondere<br />

hinsichtlich des Zusammenhangs von Herz-Kreislauf-Erkrankungen <strong>und</strong><br />

dem Verzehr von Rind- <strong>und</strong> Schweinefleisch, zu einem Wandel der Essgewohnheiten<br />

<strong>und</strong> des Konsumentengeschmacks geführt. Zweitens ist der<br />

Preis von Hühnerfleisch seit den 1930er-Jahren real gesunken. Vor r<strong>und</strong><br />

einem Jahrh<strong>und</strong>ert haben US-Bürger noch Steak oder Hummer gegessen,<br />

wenn sie sich Hühnerfleisch nicht leisten konnten. Und drittens wird Hühnerfleisch<br />

in wachsendem Umfang in den verschiedensten Zubereitungen,<br />

zum Beispiel als Chicken McNuggets, konsumiert, die es vor 20 Jahren<br />

noch nicht gab <strong>und</strong> die heute von der allgegenwärtigen Fastfood-Industrie<br />

angeboten werden. Dies belegt, dass Amerikaner immer häufiger außerhalb<br />

der eigenen vier Wände essen, wofür sie durchschnittlich 40 Prozent<br />

ihres Nahrungsmittelbudgets ausgeben. Die Vereinigten Staaten sind außerdem<br />

der weltweit größte Produzent <strong>und</strong> Exporteur von Geflügel.<br />

Die überwiegende Mehrheit aller verkauften Hühner wird als Brathähnchen<br />

verzehrt, ln den 1880er-Jahren belief sich der Hühnerbestand in den<br />

Vereinigten Staaten auf nur 100 Millionen Tiere. Deren durchschnittliches<br />

Lebendgewicht hat sich in den letzten 50 Jahren fast verdoppelt, während<br />

der Arbeitsaufwand in der Grillhähnchenindustrie um 80 Prozent gesunken<br />

ist. Die Vorbeugung vor Krankheiten sowie eine streng regulierte <strong>und</strong><br />

kontrollierte Mast haben aus dem Brathähnchen gewissermaßen ein Industrieprodukt<br />

gemacht, über dessen optimale Ernährung wir heute mehr<br />

wissen als über die jedes anderen Lebewesens. Hühner, die für den Verzehr<br />

als Brathähnchen vorgesehen sind, werden in den Vereinigten Staaten<br />

überwiegend von landwirtschaftlichen Familienbetrieben produziert, die<br />

jedoch meist durch Verträge an große transnationale Unternehmen, die<br />

Tiere <strong>und</strong> Futter stellen, geb<strong>und</strong>en sind. Die Mastbetriebe (die nicht in<br />

Verbänden organisiert sind <strong>und</strong> meist keine Verhandlungsmacht besitzen)<br />

sind gezwungen, große Kredite aufzunehmen, um Ställe <strong>und</strong> andere notwendige<br />

Infrastruktur bauen zu können, die den Veitragsvereinbar urigen<br />

entsprechen. Mäster sind also alles andere als selbstständige Landwirte. Sie<br />

sind wenig mehr als schlecht bezahlte, man könnte fast sagen „leibeigene“<br />

Arbeiter der großen Produzenten, die auch die weiterverarbeitende Industrie<br />

dominieren. Arbeitsplätze in der Geflügel verarbeitenden Industrie, wo


518 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

die Hühner geschlachtet, bratfertig gemacht <strong>und</strong> in<br />

H<strong>und</strong>erten verschiedener Zubereitungsformen verpackt<br />

werden, zählen in den Vereinigten Staaten zu<br />

den am schlechtesten bezahlten <strong>und</strong> am wenigsten sicheren<br />

Jobs überhaupt. Laut einer aktuellen Regierungsstudie<br />

verstoßen fast zwei Drittel der Geflügel<br />

verarbeitenden Betriebe gegen gesetzliche Überst<strong>und</strong>enregelungen.<br />

Einwanderer - überwiegend aus Vietnam,<br />

Laos <strong>und</strong> Lateinamerika - stellen einen großen<br />

Teil der Arbeiter in diesem Industriezweig.<br />

In den Vereinigten Staaten produzieren die zehn<br />

größten Unternehmen mehr als zwei Drittel der Brathähnchen.<br />

Die Firma Tyson Foods, Inc., der größte<br />

Produzent, kommt auf 124 Millionen Pf<strong>und</strong> Hähnchenfleisch<br />

pro Woche <strong>und</strong> kontrolliert mit einem<br />

Erlös von 8,5 Milliarden Dollar - zwei Drittel davon<br />

aus dem Verkauf an die Fastfood-Industrie - 21 Prozent<br />

des US-amerikanischen Markts. Don Tyson, der<br />

Vorstandschef von Tyson Foods, sieht sein Ziel darin,<br />

das Wichtigste, was auf den Teller der Amerikaner<br />

kommt, zu kontrollieren.<br />

Die Vereinigten Staaten haben als der größte Produzent<br />

<strong>und</strong> Exporteur von Hähnchen auch bedeutende<br />

Marktanteile in Hongkong, Russland <strong>und</strong> Japan,<br />

sind aber auch mit starker Konkurrenz aus Brasilien,<br />

China <strong>und</strong> Thailand konfrontiert. Die neuerdings<br />

globale Hühnchenindustrie wird angetrieben durch<br />

die Attraktivität des riesigen chinesischen Markts sowie<br />

durch die sich neu erschließenden, nicht regulierten<br />

Märkte in Osteuropa <strong>und</strong> den Nachfolgestaaten<br />

der Sowjetunion. Gegenwärtig ist der Weltmarkt<br />

für Hühnchen in hohem Maß segmentiert: Amerikaner<br />

bevorzugen Brustfleisch, während US-Exporteure<br />

von der Präferenz für Schlegel, Füße <strong>und</strong> Flügel zur<br />

Deckung der riesigen Nachfrage aus Asien profitieren.<br />

Das Hühnchen ist ein wirklich globales Geschöpf<br />

- auf seine Art nicht anders als das globale Automobil<br />

oder die globalen Finanzmärkte.<br />

Dieses Kapitel befasst sich mit geschichtlichen <strong>und</strong><br />

geographischen Aspekten der Landwirtschaft von der<br />

globalen Ebene bis zum einzelnen Betrieb. Ausgehend<br />

von traditionellen Agrarsystemen <strong>und</strong> -techniken<br />

werden nachfolgend die drei wichtigsten Umwälzungen<br />

der Landwirtschaft behandelt. Der dramatischen<br />

Transformationen des Agrarsektors seit der Mitte des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts wird dabei besondere Beachtung geschenkt.<br />

Schlüsselsätze<br />

Die Landwirtschaft hat sich zu einem global vernetzten<br />

System gewandelt. Die diesem Wandel zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Veränderungen hatten vielfältige<br />

Ursachen <strong>und</strong> vollzogen sich auf verschiedensten<br />

räumlichen Maßstabsebenen.<br />

Die Landwirtschaft hat seit der Domestikation von<br />

Pflanzen <strong>und</strong> Tieren bis zu den jüngsten biotechnologischen<br />

<strong>und</strong> agrarindustriellen Innovationen<br />

drei „revolutionäre“ Phasen durchlaufen.<br />

Die Einführung neuer Technologien, politische<br />

Fragen der Ernährungssicherheit <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Autarkie sowie Veränderungen der Arbeitsmärkte<br />

<strong>und</strong> der marktwirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

sind nur einige von zahlreichen Faktoren,<br />

die zu dramatischen Umwälzungen in der<br />

Landwirtschaft beigetragen haben.<br />

Die industrialisierten Agrarsysteme der Gegenwart<br />

haben sich aus traditionellen landwirtschaftlichen<br />

Nutzungsformen wie shifting cultivation, Subsistenz-<br />

<strong>und</strong> Weidewirtschaft entwickelt <strong>und</strong> diese<br />

weitgehend verdrängt.<br />

Die derzeitige landwirtschaftliche Massenproduktion<br />

beruht auf Ketten hintereinander geschalteter<br />

agroindustrieller Einheiten, an deren Beginn der<br />

landwirtschaftliche Betrieb <strong>und</strong> an deren Ende<br />

der Einzelhandel steht. In den Globalisierungsprozess<br />

wurden sowohl unterschiedliche Wirtschaftssektoren<br />

als auch unterschiedliche Unternehmensformen<br />

einbezogen.<br />

Mit dem Wandel der Landwirtschaft sind auch die<br />

Umweltbelastungen gestiegen. Bodenerosion, Desertifikation,<br />

Entwaldung, Luft- <strong>und</strong> Wasserverschmutzung<br />

oder das Aussterben von Tier- <strong>und</strong><br />

Pflanzenarten waren <strong>und</strong> sind die Folgen.<br />

Die vordringlichsten Fragen, auf die Ernährungspolitiker,<br />

Staatsregierungen, Konsumenten <strong>und</strong><br />

Agrarexperten Antworten finden müssen, drehen<br />

sich um Angebot <strong>und</strong> Qualität von Nahrungsmitteln<br />

in einer Welt, in der die Verfügbarkeit von sicheren,<br />

ges<strong>und</strong>en <strong>und</strong> nahrhaften Lebensmitteln<br />

höchst ungleich verteilt ist.


Traditionelle Agrargeographie 519<br />

, Traditionelle Agrargeographie<br />

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem<br />

Thema Landwirtschaft hat in der Geographie eine<br />

lange Tradition. In Anbetracht des gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Interesses der Geographie an den Beziehungen zwischen<br />

Mensch <strong>und</strong> bewirtschaftetem Land überrascht<br />

es nicht, dass die Landwirtschaft lange Zeit als vorrangiges<br />

Thema behandelt wurde. Agrargeographische<br />

Forschungen sind sehr stark geprägt von der Auffassung<br />

einer gegenseitigen Beeinflussung menschlicher<br />

<strong>und</strong> natürlicher Systeme. Die Agrargeographie befasst<br />

sich in erster Linie mit den Faktoren <strong>und</strong> Prozessen,<br />

welche die räumlichen Muster der Landwirtschaft<br />

prägen. Dazu gehören unter anderem Böden, Klima,<br />

Vegetation, Agrarsysteme, Technologien <strong>und</strong> Nutzungsformen<br />

sowie die Beziehungen zwischen der<br />

Landwirtschaft <strong>und</strong> technischen sowie sozialen Systemen.<br />

Weltweit wirksame Faktoren haben den Agrarsektor<br />

in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wesentlich<br />

verändert <strong>und</strong> zu einer starken Abnahme der<br />

landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung geführt,<br />

<strong>und</strong> zwar sowohl in den Kernregionen als auch in<br />

den Peripherien. Die Landwirtschaft erfuhr durch<br />

die Anwendung chemischer, mechanischer <strong>und</strong> biotechnologischer<br />

Innovationen eine starke Intensivierung<br />

<strong>und</strong> Produktivitätssteigerung (Abbildung 9.1).<br />

)e enger die Beziehungen der Landwirtschaft zu nicht<br />

agrarischen Sektoren wie der Geldwirtschaft oder der<br />

Industrie wurden, desto stärker wurde die Agrarwirtschaft<br />

in überregionale, nationale <strong>und</strong> globale Wirtschaftskreisläufe<br />

integriert (Abbildung 9.21). Die Folgen<br />

waren tief greifende Veränderungen <strong>und</strong> Rückkopplungseffekte,<br />

die sich auf die globalen Strukturen<br />

des Finanzsektors ebenso auswirkten wie auf die sozialen<br />

Beziehungen individueller Haushalte.<br />

Das Forschungsinteresse der Geographen richtete<br />

sich sowohl auf die Umgestaltung von Natur- <strong>und</strong><br />

Kulturlandschaften <strong>und</strong> die sich im Laufe der Zeit<br />

<strong>und</strong> unter verschiedenen Bedingungen herausbildenden<br />

Formen der Existenzsicherung bäuerlicher Familien<br />

als auch auf Agrarsysteme <strong>und</strong> landwirtschaftliche<br />

Nutzungsformen (Abbildung 9.2). Das Adjektiv<br />

„agrarisch“ bezieht sich nicht nur auf unterschiedliche<br />

agrarsoziale Gemeinschaften, sondern auch auf<br />

die Art der Pacht- <strong>und</strong> Besitzverhältnisse, die darüber<br />

entscheiden, wer über landwirtschaftliche Produktionsflächen<br />

verfügt <strong>und</strong> welche Anbauformen praktiziert<br />

werden.<br />

Landwirtschaft - als Technik, Erwerbstätigkeit<br />

<strong>und</strong> unternehmerische Aktivität betrachtet - zielt darauf<br />

ab, den Lebensunterhalt oder Gewinn durch<br />

Pflanzenproduktion <strong>und</strong> Viehzucht zu sichern. Die<br />

große Bandbreite ausgeklügelter Verfahren, derer<br />

sich Menschen bedienen, um Land zu kultivieren, dokumentiert<br />

eindrucksvoll, das durch Rückkopplungseffekte<br />

gekennzeichnete Beziehungsgeflecht zwischen<br />

Mensch <strong>und</strong> Umwelt. Ebenso wie geographische Gegebenheiten<br />

den Spielraum menschlicher Wahlmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen beeinflussen, sind<br />

Menschen auch in der Lage, durch unterschiedliche<br />

agrarische Nutzungssysteme Landschaften umzugestalten.<br />

Obwohl das räumliche Muster der heutigen<br />

Agrarlandschaft das Ergebnis einer langen historischen<br />

Entwicklung ist, werden sich die folgenden Abschnitte<br />

vorwiegend aktuellen Fragen zuwenden.<br />

9.1 Chemische Schädlingsbekämpfung<br />

in Nicaragua Das Foto<br />

zeigt eine Gruppe von Arbeitern in<br />

Nicaragua, die sich auf das Versprühen<br />

von Pestiziden auf Feldfrüchte<br />

vorbereitet.


520 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

i l<br />

'l l<br />

Subsistenzlandwirtschaft<br />

geringer entwickelte Länder<br />

□<br />

n<br />

Wanderfeldbau<br />

(shifting cultivation)<br />

intensive Subsistenzwirtschaft,<br />

vor allem Nassreis<br />

marktorientierte Landwirtschaft<br />

höher entwickelte Länder<br />

□<br />

Kombination von Fetdfrüchten<br />

<strong>und</strong> Nutztieren<br />

Milchwirtschaft<br />

Nassr^is nicht dominant<br />

intensive Subsistenzwirtschaft.<br />

■ Getreide<br />

■ I Weidenomadismus<br />

G l<br />

N^ehwirtschaft<br />

geringer entwickelte Länder<br />

Mittelmeergebiet<br />

■<br />

Pflanzung<br />

B<br />

kommerzieller Gemüseanbau<br />

wenig oder keine Landwirtschaft<br />

wahrscheinliche Ursprungsgebiete von Nutzpflanzen<br />

Ms'<br />

9.2 Die globale Verteilung landwirtschaftlicher Nutzungsformen (2005) Diese Karte der weltweiten Verteilung landwirtschaftlicher<br />

Nutzungsformen verdeutlicht die großen Unterschiede zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie: In den Entwicklungsländern<br />

kommt marktorientierte Landwirtschaft zwar vor (vor allem in Form der Plantagenwirtschaft), es dominieren aber die unterschiedlichen<br />

Formen der Subsistenzwirtschaft, während in den Industrieländern die Selbstversorgung so gut wie keine Rolle spielt.<br />

Die Karte zeigt außerdem, wie die Kulturpflanzen sich von ihren Ursprungsgebieten über die Neue <strong>und</strong> die Alte Welt ausgebreitet<br />

haben. (Quelle: Nach Veregin, H. (Hrsg). Goode’s World Atlas, 21. Aufl., Rand Mc Nally. 2005. S. 38 f.)<br />

f i<br />

Die Frage nach den geographischen Ursprüngen<br />

der Agrarwirtschaft konnte bis heute nicht mit letzter<br />

Gewissheit geklärt werden. Bevor der Mensch die<br />

Vorzüge der agrarischen Nutzung erkannte, basierte<br />

seine Ernährung auf dem Jagen von Wildtieren (einschließlich<br />

Fischfang) <strong>und</strong> dem Sammeln von Wildfrüchten<br />

wie Nüssen, Wurzeln oder Früchten. Jagen<br />

<strong>und</strong> Sammeln werden als Tätigkeiten der Selbstversorgung<br />

angesehen, die ausschließlich auf die Deckung<br />

des unmittelbaren Nahrungsbedarfs ausgerichtet<br />

sind. Nachdem der Mensch die Vorteile der Domestikation<br />

von Pflanzen <strong>und</strong> Tieren sowie die damit<br />

verb<strong>und</strong>ene Möglichkeit ortsfester Siedlungen erkannt<br />

hatte, begann die Subsistenzlandwirtschaft<br />

die vorausgegangene Wirtschaftsform des Jagens<br />

<strong>und</strong> Sammelns in vielen Gebieten der Erde zu verdrängen<br />

(Abbildung 9.3). Unter Subsistenzlandwirtschaft<br />

versteht man eine Form der Landwirtschaft,<br />

bei der die Produktion von Nahrungsmitteln ausschließlich<br />

der Eigenversorgung dient. Obwohl die<br />

Subsistenzlandwirtschaft vor allem mit dem Aufkommen<br />

der Eisenbahnen stark an Bedeutung verloren<br />

hat <strong>und</strong> im Rahmen des Globalisierungsprozesses<br />

nochmals besonders stark zurückgegangen ist, wird<br />

sie in zahlreichen peripheren Gebieten der Erde bis<br />

heute praktiziert.<br />

Die Subsistenzwirtschaft kommt größtenteils in<br />

einer der drei folgenden Eormen vor: shifting cultivation<br />

(Wanderfeldbau), intensive Subsistenzlandwirtschaft<br />

oder Weidewirtschaft. Solche traditionellen<br />

Wirtschaftsformen bilden die Ernährungsbasis für<br />

eine große Zahl von Menschen in den Peripherien<br />

des globalen Systems. Da immer mehr Kleinbauern<br />

von der Subsistenz- <strong>und</strong> Tauschwirtschaft in die<br />

Schattenwirtschaft des informellen Sektors überwechseln,<br />

werden diese Bodennutzungs- <strong>und</strong> Viehhaltungssysteme<br />

allerdings nach <strong>und</strong> nach aufgegeben<br />

oder modifiziert.<br />

Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hat sich die marktorientierte<br />

Landwirtschaft zum dominanten Agrarsystem der


Traditionelle Agrargeographie 521<br />

Subsistenzwirtschaft<br />

Die Subsistenzwirtschaft ist eine Wirtschaftsweise vorwiegend<br />

im Bereich der Landwirtschaft, deren Produktionsziel<br />

ganz oder nahezu ausschließlich die Selbstversorgung der Besitzer<br />

<strong>und</strong> deren Familien ist. Subsistenzwirtschaft umfasst<br />

auch die Erträge aus Jagen <strong>und</strong> Sammeln. Sie stellt ein geschlossenes,<br />

autarkes System dar, in dem ohne Marktorientierung<br />

<strong>und</strong> Gewinn <strong>und</strong> nicht arbeitsteilig produziert wird. Reine<br />

Subsistenzwirtschaft findet sich heute höchstens noch in<br />

entlegenen Rückzugsgebieten der Gebirge, Regenwälder oder<br />

Trockenräume. In einem weiteren Sinne wird auch bei einem<br />

Marktanteil bis zu 25 Prozent des Rohertrags noch von Subsistenzwirtschaft<br />

gesprochen. So definiert, umfasst sie<br />

schätzungsweise in Lateinamerika noch 30 bis 40 Prozent,<br />

in Afrika über 50 Prozent der Agrarproduktion (im Vergleich:<br />

BRD mit 11 Prozent, USA 3 mit Prozent). Dort hat sie beim<br />

gleichzeitigen Fehlen sozialer Sicherungsnetze berechtigterweise<br />

große Bedeutung.<br />

Quelle: K. Bälden ho fer aus: Lexikon der Geographie<br />

9.3 Ursprungsgebiete der frühen Ackerbaukulturen Wie die Karte zeigt, war die Domestikation von Pflanzen nicht auf<br />

einen Kontinent beschränkt, sondern über den Globus verteilt. Hervorzuheben ist, dass die Ursprünge der Züchtung von Kulturpflanzen<br />

nicht sicher lokalisiert sind. Die Darstellung basiert folglich teils auf Annahmen, teils auf archäologischen Bef<strong>und</strong>en,<br />

die Hinweise auf die Verbreitung früher Ackerbaukulturen geben. Die Karte lehnt sich an eine von Carl Sauer in der Mitte des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts veröffentlichte Darstellung an. (Quelle: Rubinstein, J.M. The Cultural Landscape: An Introduction to Human<br />

Geography. 6. Auflage © 1999, S. 339. Verändert nach Sauer, C.Q. Agricultural Origins and Dispersals. Mit Genehmigung der<br />

American Geographical Society <strong>und</strong> Prentice Hall.)<br />

Kernregionen entwickelt. Sie zeichnet sich dadurch<br />

aus, dass der größte Teil der Feldfrüchte <strong>und</strong> Tiere<br />

nicht selbst konsumiert, sondern vermarktet wird.<br />

Shifting cultivation -<br />

, Wanderfeldbau<br />

Shifting cultivation ist ein in den tropischen Regenwaldregionen<br />

verbreitetes System der Brandwechselwirtschaft,<br />

bei dem die Bodenfruchtbarkeit durch regelmäßiges<br />

Verlagern des Anbaus auf neu gerodete<br />

Flächen erhalten bleibt. Im Gegensatz zur shifting cultivation<br />

wird bei der Fruchtwechselwirtschaft die<br />

Anbaufläche viele Jahre beibehalten. Dabei versucht<br />

man, durch einen ständigen Wechsel der Anbaufrucht<br />

eine günstige Bilanz zwischen Nährstoffentzug<br />

<strong>und</strong> Nährstoffeintrag zu erzielen <strong>und</strong> die Gefahr eines<br />

Schädlingsbefalls zu minimieren.<br />

Das System der shifting cultivation ist in den feuchten<br />

Tropen, insbesondere in den Regenwaldgebieten<br />

Zentral- <strong>und</strong> Westafrikas, in der südamerikanischen


5 2 2 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

9.4 S h iftin g c u ltiv a ­<br />

tio n Shifting cultivation<br />

wird vorwiegend in tropischen<br />

Regenwaldgebieten<br />

betrieben. Es handelt<br />

sich um ein System, bei<br />

dem die Bodenfruchtbarkeit<br />

durch Rotation der<br />

Anbauflächen aufrechterhalten<br />

wird.<br />

I i


Traditionelle Agrargeographie 523<br />

w ohnerzahl des D orfes einen k ritischen P u n k t, spaltet<br />

sich ein Teil der F am ilien ab, u m in g rö ß erer E n tfernung<br />

ein neues D o rf zu errichten.<br />

A ufgr<strong>und</strong> d er verb reiteten N äh rsto ffa rm u t tro p i­<br />

scher Böden u n d dem daraus resu ltieren d en P ro blem<br />

rasch ab n eh m en d er B o d en fru ch tb ark eit b eträg t die<br />

N utzungsdauer einer Fläche in d er Regel w eniger<br />

als fünf Jahre. F lauptverursacher der raschen B o d en ­<br />

erschöpfung sin d zum ein en K ulturpflanzen, die dem<br />

Boden N ährstoffe entziehen, zu m anderen die ergiebigen<br />

tropischen N iederschläge, w elche die w enigen<br />

im Boden gespeicherten P flanzennährstoffe ausw a-<br />

schen. Sobald sich eine V erarm u n g des B odens d u rch<br />

sinkende E rträge an d eu tet, w ird eine an d ere Fläche<br />

abgesteckt, u n d d er Prozess des R odens u n d Pflanzens<br />

beginnt von N euem . Bis zu 20 Jahre k ö n n e n vergehen,<br />

bis sich d u rch A bbauprozesse im B oden w ieder<br />

genügend organisches M aterial an gereichert h at u n d<br />

eine schon einm al gerodete u n d b eb aute Fläche e r­<br />

neut unter K ultur g en o m m en w erden kann.<br />

Das typische V erfahren, n ach dem eine Fläche für<br />

den A nbau v o rb ereitet w ird, ist das System des slashand-burn,<br />

bei d em der n atü rlich e Bew uchs d ich t ü b er<br />

dem Boden abgeschlagen, eine Z eit lang zu m T ro c k ­<br />

nen liegen gelassen u n d anschließend ab g eb ran n t<br />

wird (A bbildung 9.5). D u rch das A b b ren n en w ird<br />

eine A nreicherung pflanzenverfügbarer N ährstoffe<br />

im Boden erreicht. Im W esentlichen en tste h t dabei<br />

Pottasche (K aliu m k arb o n at), der so gut w ie einzige<br />

D ünger, d er bei dieser F orm d er L an d n u tzu n g zur<br />

V erfügung steht. D as so für den A nbau vorbereitete<br />

L and w ird im E nglischen als swidden b ezeichnet<br />

(K apitel 2).<br />

Das System d er shifting cultivation w ird in d er R e­<br />

gel o h n e ergänzende V ieh h altu n g u n d o h n e E insatz<br />

des Pflugs p raktiziert. D iese A rt d er B ew irtschaftung<br />

stü tzt sich folglich im W esen tlich en a u f m enschliche<br />

A rbeitskraft u n d gro ß e Flächenreserven, da die b e­<br />

w irtschafteten P arzellen aufgegeben w erden, sobald<br />

d er B oden erschöpft ist. W ä h ren d das R oden u n d<br />

die V o rb ereitu n g n eu er Flächen au sgesprochen a r­<br />

b eitsintensiv sind, b ed ü rfen die arigelegleii K u ltu ren<br />

bis zu r E rn te n u r geringer Pflege.<br />

D ie A rt d er k ultivierten F eldfrüchte u n d d eren A n ­<br />

o rd n u n g a u f d er R odungsfläche variieren je nach den<br />

regionalen T ra d itio n en u n d d en jew eiligen h isto rischen<br />

E ntw icklungen d er P flan zen zü ch tu n g v o n R e­<br />

gion zu Region. In d en feu chtw arm en T ro p e n d o m i­<br />

n ieren K nollenfrüchte, w ie S üßkartoffel u n d Y am s,<br />

w äh ren d in d en S u b tro p en v o r allem Reis u n d G etreide<br />

angebaut w erden. D as A usbringen u n tersch ied lich<br />

er Sam en u n d Schösslinge a u f einer Fläche w ird<br />

als M isch sa at b ezeichnet (A bbildung 9.6). D abei<br />

w achsen untersch ied lich e N u tzpflanzen n ic h t n u r n e ­<br />

b en ein ander, so n d e rn auch zeitlich gestaffelt, sodass<br />

das ganze Jahr ü b er geern tet w erden k an n . D er zeitlich<br />

versetzte A n b au verschiedener F eldfrüchte a u f<br />

ein u n d derselben Parzelle m in d e rt zu d em das Risiko<br />

9.5 Brandrodung (s la s h -a n d -b u rn ) Das Verfahren des slash-and-burn (Abschlagen <strong>und</strong> Abbrennen) dient der Vorbereitung<br />

von Anbauflächen auf nährstoffarmen Böden. Dabei wird auf einem Areal zunächst die natürliche Vegetation geschlagen, anschließend<br />

brennt man die verbleibenden Stümpfe ab. Auf diese Weise reichern sich Mineralstoffe an, welche die Bodenfruchtbarkeit<br />

erhöhen. Slash-and-burn ist eine Methode, die sich im Wesentlichen für Gebiete mit geringen Bevölkerungsdichten eignet.


524 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Ecofarming<br />

Ecofarming ist ein Konzept der kleinbäuerlichen Landbewirtschaftung<br />

in den wechselfeuchten <strong>und</strong> immerfeuchten Tropen,<br />

das durch Rückbesinnung auf gelungene traditionelle<br />

Agrarkulturen unter weitgehendem Verzicht auf zugekaufte<br />

Hilfsmittel die Bodenproduktivität durch standortangepasste,<br />

umweltschonende Bewirtschaftungsmethoden zu steigern<br />

<strong>und</strong> langfristig zu erhalten sucht. Das ecofarming orientiert<br />

sich am Mangel in Entwicklungsländern <strong>und</strong> ist als Alternative<br />

zur Technologie der Grünen Revolution entwickelt worden.<br />

Trotz der ökologischen <strong>und</strong> ethnischen Vielgestaltigkeit der<br />

Tropen ergeben sich erstaunliche methodische Ähnlichkeiten:<br />

a) permanente Agroforstwirtschaft (Bäume <strong>und</strong> Büsche sind in<br />

großer Zahl in den Feldbau integriert <strong>und</strong> haben stabilisierende<br />

<strong>und</strong> produktive Aufgaben); b) organische Methoden (stets<br />

werden pflanzliche <strong>und</strong> tierische Abfälle als Dünger venwendet);<br />

c) Mischkulturen (Feldkulturen werden meist in komplizierten,<br />

zum Teil mehrstöckigen Mischungen angepflanzt);<br />

d) Intensivbrachen (kurze, ein bis zwei Jahre dauernde Buschbrachen<br />

stehen in Rotation zu den Mischkulturen) <strong>und</strong> e)<br />

Nassreiskultur (natürliches Vorbild ist die periodisch überschwemmte<br />

Flussaue, global-ökologischer Wert ist fragwürdig<br />

wegen der Entstehung von klimarelevanten Spurengasen wie<br />

zum Beispiel Methan). Ein Durchbruch des ecofarming-Konzepts<br />

ist bislang nicht erfolgt, nicht zuletzt da die Wirkungen<br />

des ökologischen Anbaus auf die bäuerlichen Einkommen erst<br />

mittelfristig eintreten.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

von H u ngerzeiten d u rch E rnteausfall u n d gew ährleistet<br />

eine ausgew ogene E rn äh ru n g .<br />

D as System der shifting cultivation ist häufig m it<br />

einer geschlechterspezifischen A rbeitsteilung v e rb u n ­<br />

den, deren O rg an isatio n regional variieren k ann.<br />

M eist sind die M ä n n er für V orarb eiten wie das Z u-<br />

rü ck schneid en des Bew uchses, das Fällen von Bäum<br />

en u n d das N ied e rb re n n en d er verbleibenden<br />

S tüm pfe zuständig, w äh ren d sich u m Aussaat <strong>und</strong><br />

E rnte überw iegend F rauen k ü m m e rn . In anderen Reg<br />

ionen erledigen dagegen F rauen u n d M än n er die Arb<br />

eiten des Pflanzens u n d E rntens gem einsam . Die<br />

WY<br />

1,5<br />

TI<br />

q3 1,0<br />

; 1<br />

0,5<br />

0,0<br />

0,0 0,6 1,2 1,8<br />

R = Reis<br />

Ca = Cassava (Maniok)<br />

Cu = Melone<br />

E = Erdnuss<br />

F = Flaschenkürbis<br />

M = Mais<br />

V = Bamaraerdnuss<br />

Meter<br />

2,4 3,0<br />

lY = White Yarn<br />

WY = Water Yarn<br />

AP = Air Potato<br />

YY = Yellow Yarn<br />

K = Kürbis<br />

Pg = Pigeon pea<br />

(Straucherbse)<br />

9,6 Mischanbau Der Anbau unterschiedlicher Feldfrüchte<br />

auf einer Fläche (intertiliage oder Mischanbau)<br />

hat mehrere Vorteile. Zum einen verteilt sich die<br />

Nahrungsmittelproduktion über das gesamte landwirtschaftliche<br />

Jahr, zum anderen wird das Risiko eines<br />

vollständigen Ernteausfalls durch Pflanzenkrankheiten<br />

oder Schädlingsbefall minimiert. Außerdem dient das<br />

Verfahren dem Erhalt der Bodenfeuchte, während<br />

gleichzeitig der Bodenverlust durch Erosion verringert<br />

wird.


Traditionelle Agrargeographie 525<br />

Fruchtwechselwirtschaft<br />

Bei dem Anbau in Fruchtwechselwirtschaft ist die Fruchtfolge<br />

Blattfrucht-Getreide-Blattfrucht-Getreide. Fruchtwechsel verändern<br />

generell die Umweltbedingungen für Schädlinge <strong>und</strong><br />

Unkräuter <strong>und</strong> verhindern deren Ausbreitung. Zudem wird<br />

der Boden durch die unterschiedlichen Ansprüche der Kulturpflanzen<br />

nicht einseitig ausgelaugt.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

heutige A ufgabenteilung zw ischen M ä n n ern u n d<br />

Frauen (<strong>und</strong> teils auch K indern) im System d er shifting<br />

cultivation ist sow ohl eine Folge k u ltu reller T ra ­<br />

ditionen als auch eine R eaktion von F am ilien a u f die<br />

veränderten E rfordernisse im Z eitalter d er G lobalisierung<br />

(Kapitel 7). So erachten es viele F rauen als n o t­<br />

wendig, neben den T ätigkeiten in d er S ubsistenzlandwirtschaft<br />

lokale T o u riste n m ärk te m it F landw erkser-<br />

zeugnissen zu beliefern. D ie A bw esenheit d er F rauen<br />

bei landw irtschaftlichen R outin earb eiten bedeutet,<br />

dass diese T ätigkeiten zu n e h m e n d von an d eren F am i­<br />

lienm itgliedern ü b e rn o m m e n w erden.<br />

W enngleich oft b eto n t w ird, dass das System der<br />

shifting cultivation herv o rrag en d an die für d en w irtschaftenden<br />

M enschen schw ierigen U m w eltb ed in ­<br />

gungen der T ro p e n u n d S u b tro p en angepasst sei,<br />

so sind dem System doch G renzen gesetzt. E ine der<br />

deutlichsten E insch rän k u n g en ergibt sich aus d er T a t­<br />

sache, dass die geringe Effizienz d er shifting cultivation<br />

nur geringe B evölkerungsdichten erlaubt. Je stärker<br />

die Bevölkerung in einem G ebiet w ächst, desto g rö ß er<br />

wird die D istanz zw ischen W o h n o rt u n d A n bauflächen,<br />

sodass die B auern einen im m er g rö ß eren Teil<br />

der Energie, den sie ü b er die an g eb au ten F eldfrüchte<br />

zu sich nehm en, aufw enden m üssen, u m zu d en w eit<br />

entfernten W irtschaftsflächen zu gelangen. N ich t selten<br />

w erden deshalb d em D o rf am n ächsten gelegene<br />

Felder brachliegen gelassen o d er n ich t m e h r eingesät,<br />

weil die Böden d u rch vorangegangene N u tzu n g en<br />

ausgelaugt sind. W ach sen d er B evölkerungsdruck<br />

<strong>und</strong> politische F ehlentscheidungen von R egierungen<br />

zerstören zu n ehm en d das einst gut fu n k tio n ieren d e<br />

System der shifting cultivation. Die Folgen sind irre ­<br />

parable U m w eltschäden. In M ittel- u n d S üdam erika<br />

wurden zum Beispiel angesichts des zu n e h m e n d en<br />

Bevölkerungsdrucks in den S tädten natio n ale Regierungsprogram<br />

m e aufgelegt, die au f eine W iederan-<br />

siedlung abgew anderter B auern in ländlichen G ebieten<br />

abzielten. H äufig w u rd en m it diesen P ro g ram m en<br />

Personen u n terstü tzt, die m it d er T echnik d er shifting<br />

cultivation keinerlei E rfah ru n g h atten u n d völlig u n ­<br />

geeignet w aren. In T eilen d er brasilianischen A m azonasregion<br />

taten sich B auern, die shifting cultivation<br />

betrieben, m it V iehzüchtern zu sam m en , w as eine Beschleunigung<br />

d er U m w eltdegradation nach sich zog.<br />

T ro tz negativer U m w eltausw irkungen k an n die<br />

shifting cultivation in em p fin d lich en Ö kosystem en<br />

d u rch aus die beste A lternative sein. D as B rachfeld<br />

sorgt als fester B estandteil des V erfahrens fü r eine<br />

sch o n en d e u n d effektive R egeneration des A ngebots<br />

an pflanzenverfügbaren N ährstoffen im B oden. Das<br />

A b b rennen von B au m stü m p fen u n d V egetationsresten<br />

verbessert die B earbeitbarkeit des B odens, sodass<br />

die E insaat m in im alen A ufw and erfo rd ert. D er<br />

M isch- o d er S tockw erkanbau leh n t sich an das n a tü r­<br />

liche V egetationsm uster des R egenw aldes m it seinen<br />

verschiedenen P flanzenstockw erken u n d -a rten an<br />

u n d v erm in d ert die N ährstoffausw aschung sow ie<br />

die B odenerosion. A u ß erd em erfo rd ert die shifting<br />

cultivation (sofern n icht S aatgut zugekauft w erden<br />

m uss) keine n en n en sw erten In vestitionen, da in d u s­<br />

triell hergestellte D ü ngem ittel, Pestizide, H erbizide<br />

u n d L andm aschinen n icht zu m E insatz k o m m e n ;<br />

u n d schließlich erlau b t die zeitlich gestaffelte A ussaat<br />

eine ganzjährige P ro d u k tio n von N ah ru n g sm itteln .<br />

H eu te w ird die shifting cultivation infolge des starken<br />

B evölkerungsw achstum s u n d des Zw angs zu im m er<br />

h ö h ere n H ek tarerträg en zu n e h m e n d von in tensiveren<br />

F o rm en d er L andw irtschaft abgelöst.<br />

Intensive<br />

, Subsistenzlandwirtschaft<br />

Eine andere F o rm der S elbstversorgerw irtschaft ist<br />

die intensive S ubsistenzlandw irtschaft, in w elcher<br />

d u rch aufw endige B ew irtsch aftu n g sm aß n ah m en<br />

h o h e E rträge a u f kleinen Parzellen erzielt w erden<br />

k ö n n en . G ew öhnlich sind d am it ein b eträch tlich er<br />

A rbeitsaufw and u n d die V erw en d u n g von D ü n g em itteln<br />

v erb u n d en. A nders als das extensive System d er<br />

shifting cultivation k an n der Intensivanbau m it dem<br />

Ziel d er Selbstversorgung die E xistenz d er B evölkeru<br />

n g auch in d ichter besiedelten ländlichen R äum en<br />

gew ährleisten. E n tsp rechen d ist die intensive ag rarische<br />

Subsistenzw irtschaft in R äum en m it h o h en Bev<br />

ö lkerungsdichten, hau p tsäch lich in Indien, C hina<br />

u n d S üdostasien, verbreitet.


*\}<br />

I<br />

526 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

9.7 Intensive Subsistenzlandwirtschaft<br />

Wo nutzbare Flächen rar<br />

<strong>und</strong> somit von großem Wert sind,<br />

haben Bauern ausgeklügelte Methoden<br />

entwickelt, um jeden Quadratmeter<br />

Boden nutzbar zu machen.<br />

Terrassenlandschaften, wie hier in<br />

Bali in Indonesien, können bei<br />

sorgfältiger Pflege äußerst fruchtbar<br />

<strong>und</strong> ertragreich sein <strong>und</strong> somit<br />

eine vergleichsweise große ländliche<br />

Bevölkerung ernähren.<br />

G egenüber d er arbeits- u n d ressourcenextensiven<br />

N u tzu n g sfo rm d er shifting cultivation k ö n n en in der<br />

intensiven S ubsistenzlandw irtschaft h o h e E rträge n u r<br />

d u rch p erm a n en te n A rbeitseinsatz erzielt w erden. Sie<br />

ist ein Beispiel dafür, m it w elchem E rfm dungsreichtu<br />

m M enschen u n te r den B edingungen en o rm e n Bevölkerungsdrucks<br />

u n d d er begrenzten V erfügbarkeit<br />

von A ckerland u m w eltb ed in g ten E inschränkungen<br />

begegnen u n d L andschaften im L auf dieses Prozesses<br />

nach ihren B edürfnissen gestalten. So sind viele der<br />

von intensiver S ubsistenzlandw irtschaft geprägten<br />

L andschaften d u rch eine Reihe von B esonderheiten<br />

wie d u rch B odenauftrag erh ö h te Felder o d er terrassierte<br />

H änge gekennzeichnet (A bbildung 9.7).<br />

Intensive S ubsistenzlandw irtschaft k ann die Existen<br />

z ein er g ro ß en Z ahl von L andbew ohnern sichern.<br />

D u rch den E insatz von D ü n g em itteln <strong>und</strong> anderen<br />

B odenverbesserern w ird im U n terschied zur shifting<br />

cultivation die B oden fru ch tb ark eit d er perm anent bew<br />

irtschafteten Flächen k ünstlich aufrechterhalten.<br />

D ie geringe P arzellengröße h at m eist eher sozio-de-<br />

m ograp h isch e (E rbteilung) als geographische Ursachen.<br />

In B angladesch u n d Südchina, w o ein nicht geringer<br />

Teil der B evölkerung intensive Subsistenzlandw<br />

irtschaft betreib t, w ird beispielsw eise Land von<br />

einer G eneration zu n ächsten - gew öhnlich vom Vater<br />

a u f die Söhne - ü b ertragen. In jeder nachfolgenden<br />

G eneratio n , in d er es viele m ännliche N achkom -<br />

V i<br />

SC: '<br />

9.8 Reisanbau Der Einsatz von Zugtieren in der Landwirtschaft war ein zentrales Element der ersten Agrarrevolution, das es<br />

den Bauern erlaubte, die Nahrungsmittelproduktion zu steigern. Auch heute sehen viele Bauern Arbeitstiere als ihren wertvollsten<br />

Besitz an. Das Foto links zeigt Reisbauern <strong>und</strong> Ochsen bei der Arbeit auf einem Reisfeld in Malaysia. Die Mechanisierung der<br />

japanischen Landwirtschaft hat inzwischen ein Ausmaß angenommen, das angesichts der kleinen Betriebsgrößen nur noch durch<br />

die hohe Subventionierung des Reisanbaus beziehungsweise durch den Schutz der Landwirtschaft durch Importrestriktionen<br />

finanziert werden konnte. Der in jüngster Zeit vorgenommene Rückbau der Subventionen <strong>und</strong> die Öffnung des Markts hatten in<br />

Japan gravierende Folgen für den Reisanbau.


Traditionelle Agrargeographie 527<br />

m en gibt, erhält deshalb d er E inzelne einen jeweils<br />

im m er kleineren Teil des Fam ilienbesitzes.<br />

Aus den k n ap p er w erd en d en F lächenressourcen<br />

ergibt sich die N otw endigkeit, Feldfrüchte a n z u b au ­<br />

en, m it denen sich h o h e H ektarerträge erzielen lassen.<br />

Welche der infrage k o m m e n d en K u lturen diese A n­<br />

forderung erfüllen, h än g t stark vom R elief u n d den<br />

klim atischen V erhältnissen ab, im A llgem einen<br />

sind es jedoch Reis, verschiedene andere G etreid earten<br />

<strong>und</strong> G em üse.<br />

Der R eisanbau d o m in ie rt in den R egionen A siens -<br />

Südchina, Südostasien, Bangladesch u n d T eile von<br />

Indien - wo im S o m m er ausreichend N iederschläge<br />

fallen (A bbildung 9.8). In K lim aten, in d en en Reis<br />

aufgr<strong>und</strong> von Frösten u n d zu niedriger Jah resm itteltem<br />

peraturen n ich t m e h r gedeiht, überw iegen G etreidearten<br />

wie W eizen, G erste, H irse, S orghum , M ais<br />

<strong>und</strong> Hafer. In beid en Fällen w ird das L and intensiv<br />

bewirtschaftet. In den S ubsistenzw irtschaften w ärm e­<br />

rer K lim aregionen w erd en p ro Jahr m eistens zwei<br />

Ernten eingebracht.<br />

Weidewirtschaft<br />

Unter W e id e w irtsch a ft versteht m an das Z ü ch ten<br />

<strong>und</strong> H üten von N u tztieren zu r G ew ährleistung von<br />

N ahrung, B ehausung u n d K leidung. W eidew irtschaft<br />

ist insbesondere in kalten u n d /o d e r tro ck enen K lim a­<br />

ten der W üsten, Savannen u n d Steppen verbreitet, in<br />

Gebieten also, die sich für eine intensive S ubsistenzwirtschaft<br />

aus klim atischen G rü n d en n ic h t eignen.<br />

Ortsfeste o der statio n äre F o rm en d er W eid ew irtschaft<br />

m it festen Siedlungen u n d W eideflächen k ö n ­<br />

nen von der n o m ad isch en o d er F ernw eidew irtschaft<br />

mit W anderherden u n d tem p o rären S iedlungen u n ­<br />

terschieden w erden (A bbildung 9.9). O bw ohl es n a ­<br />

tü rlich auch m a rk to rien tierte F o rm en d er W eid ew irtschaft<br />

gibt, zu m Beispiel in A rgentinien, die d er<br />

F leischproduktion für den W eltm ark t dienen, sollen<br />

im F olgenden n u r jen e F o rm en d er W eidew irtschaft<br />

angesprochen w erden, die m it g ro ß räu m ig en W a n ­<br />

derbew egungen v erb u n d en sind. Bei d er F ernw eidew<br />

irtschaft sin d drei T ypen zu u nterscheiden: N o m a ­<br />

dism us, T ra n sh u m a n z u n d A lm w irtschaft.<br />

D ie S ubsistenzw irtschaft des N o m a d ism u s ist gekennzeich<br />

n et d u rch system atische u n d k o n tin u ie rliche<br />

W anderbew egungen von H irten stäm m en u n d<br />

d eren E igen tu m sh erd en zu m Zw eck d er F u tterb e­<br />

schaffung. N o m ad ism u s ist im W esentlichen au f T eile<br />

N ordafrikas sow ie die Savannen u n d S teppen Z e n t­<br />

ral- u n d Südafrikas, des M ittleren O stens u n d Z en ­<br />

tralasiens sow ie a u f die T u n d rengeb iete E urasiens b e­<br />

grenzt. Als W eidevieh w erden H erd en tiere w ie R in ­<br />

der, Schafe, Ziegen u n d K am ele, in T eilen E urasiens<br />

auch R entiere gehalten. W elche N u tztierart bevorzugt<br />

w ird, hän g t sow ohl von den k u lturellen T rad itio n en<br />

d er H erdenbesitzer ab als auch vom F utteran g eb o t<br />

u n d der A npassungsfähigkeit d er T iere an die regionalen<br />

G egebenheiten.<br />

Bei der T ra n s h u m a n z erfolgt die W a n d eru n g d er<br />

H erd en in saisonalem R hythm us. In d er Regel w erd<br />

en in den W in term o n a ten w ärm ere, tiefer gelegene<br />

G ebiete aufgesucht, w äh ren d im S o m m er das V ieh in<br />

kältere, h ö h er gelegene R egionen getrieben w ird (A b­<br />

bild u n g 9.10). Z u m Teil dien en die H erd en d er E igenversorgung<br />

d er H irten fam ilien m it Fleisch, H äu ten<br />

u n d Fellen, einzelne T iere w erden jedoch bei sesshaften<br />

B auern gegen G etreide o d er andere W aren getau<br />

sch t o d er an diese verkauft. D ie F rauen u n d K in ­<br />

d er solcher H irten g ru p p en k ö n n en ebenso in die A r­<br />

beit einbezogen sein. Sie tre n n e n sich im F rühling von<br />

d er g rö ß eren G ru p p e u n d pflanzen an v o rb estim m ten<br />

P lätzen Feldfrüchte. O ft bleiben sie an diesen Plätzen<br />

9.9 Weidewirtschaft Eine Schafweide<br />

nahe einer aus Jurten -<br />

r<strong>und</strong>en Zelten aus Filz oder Tierhäuten<br />

über einem zusammenklappbaren<br />

Gerüst - bestehenden<br />

Sommersiedlung am Fuß des Berges<br />

Tsaast Uul in der Mongolei. Die<br />

Mehrzahl der Bewohner dieser Region<br />

lebt von der Weidewirtschaft.<br />

Man beachte die Trockenheit der<br />

Landschaft. Weidewirtschaft ist<br />

meist in Gegenden anzutreffen,<br />

in denen Landwirtschaft nicht<br />

möglich ist.


528 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

! 1 9.10 Wanderrouten im Rahmen der Transhumanz Dargestellt sind saisonale Wanderrouten, entlang derer Hirten mit ihren<br />

Tieren im Rahmen der Transhumanz zwischen Sommer- <strong>und</strong> Winterweidegebieten wechseln. Wie die Karte zeigt, handelt es sich<br />

bei der Transhumanz um ein fest gefügtes Schema, das hervorragend an den jahreszeitlichen Wechsel der Witterungs- <strong>und</strong><br />

Vegetationsbedingungen angepasst ist. (Quelle: Transhumance. Map from The Mediteranean and the Mediterranean World in the<br />

Age o f Philip II. Bd. I, von Braudel, F. © Librairie Armand Colin 1966. Englische Übersetzung © 1972 by Wm. Collins Sons Ltd. and<br />

Harper & Row Publishers, Inc. Mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von Harper Collins Publisher, Inc.)<br />

I 1<br />

Nomadismus, Transhumanz <strong>und</strong> Almwirtschaft<br />

% Nomadismus ist eine Wirtschafts- <strong>und</strong> Lebensform, bei der<br />

die Viehhalter, zugleich Eigentümer der Herden, das Vieh zusammen<br />

mit den Hirten <strong>und</strong> dem geschlossenen Familienverband,<br />

einschließlich des gesamten Hausrats, auf ständiger<br />

oder periodischer Wanderung von Weideplatz zu Weideplatz<br />

begleiten. Es handelt sich um die am weitesten in die Randbereiche<br />

der Ökumene vorgeschobene agrarische Nutzform in<br />

enger Anpassung an die Naturgr<strong>und</strong>lagen. Häufigste Nutzvieharten<br />

sind Schafe <strong>und</strong> Ziegen. Reinbestände einer Tierart<br />

sind selten, häufiger werden gemischte Herden gehalten (Verwertung<br />

verschiedener Pflanzen, Risikostreuung). Als Prestigetiere<br />

gelten in der Sahara <strong>und</strong> in der Arabischen Wüste<br />

das Kamel, in den Wüsten Turkestans <strong>und</strong> in der Mongolei<br />

das Pferd. Die Produktivität der nomadischen Herden, gemessen<br />

am Fleischzuwachs <strong>und</strong> an der Milchleistung, ist gering. Je<br />

nach Beitrag des Ackerbaus zur Ernährungssicherung gibt es<br />

mehr oder minder fließende Übergangsformen zur Sesshaftigkeit<br />

(mobile Viehhaltung). Hauptverbreitungsgebiet des Nomadismus<br />

ist der altweltliche Trockengürtel mit Bergnomadismus<br />

zwischen sommerlichen Hochweiden <strong>und</strong> winterlichen<br />

Niederungsgebieten sowie Wanderungen teilweise über<br />

große Entfernungen zwischen feuchten Steppen <strong>und</strong> den<br />

Randwüsten. Weltweit ist aus politischen Gründen (Kontrolle<br />

der Regierungen) sowie aus wirtschaftlichen Gründen (Verlagerung<br />

des Handels auf den Lkw) ein Rückgang des Nomadismus<br />

zu beobachten.<br />

Transhumanz ist eine Art der Fernweidewirtschaft, bei der<br />

die Herden, im Gegensatz zum Nomadismus, einer sesshaften<br />

Bevölkerung gehören <strong>und</strong> von Hirten zu den Weideplätzen, die<br />

sich im Jahreszeitlichen Klimarhythmus ergänzen, begleitet<br />

werden. Bei der Transhumanz wird das Vieh, Schafe <strong>und</strong> Ziegen,<br />

im Unterschied zur Almwirtschaft nicht eingestallt<br />

Hauptverbreitungsgebiet der Transhumanz ist der Mittelmeer-<br />

raum.<br />

Die Alm, auch Alp(e) genannt, ist ein sommerliches Weideareal<br />

eines Talgutes in der Mattenzone der Hoch- oder Mittelgebirge<br />

(meistens, aber nicht immer) oberhalb der Jeweiligen<br />

Dauersiedlungsgrenze mit vom Heimgut getrennter Bewirtschaftung.<br />

Almen sind durch die Rodung von Zwergsträu-<br />

chern <strong>und</strong> subalpinem Wald talwärts stark ausgedehnt. Selbst<br />

inselförmige Weideflächen im Wald werden als Alm bezeichnet,<br />

sofern sie der Almwirtschaft dienen. Zur Alm gehören


Traditionelle Agrargeographie 529<br />

auch periodische Almsiedlungen, bedingt durch die große Entfernung<br />

vom Heimgut. Hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse<br />

lassen sich vier Gruppen von Almen unterscheiden: a) Gemeinschaftsalmen<br />

(gemeinschaftliches Eigentum aller Bauern<br />

eines Ortes oder einer Gemeinde, einer Gruppe von Gemeinden<br />

oder von einzelnen Orten oder von Gemeindeteilen; sehr<br />

häufig im Altsiedelraum); b) Genossenschaftsalmen (Zusammenschluss<br />

von Almberechtigten eines Tals oder einer Region<br />

zu einer privatrechtlichen Genossenschaft oder Alpkorporation;<br />

häufig in der Schweiz <strong>und</strong> in Westösterreich); c) Privatalmen;<br />

d) Berechtigungsalmen (Almen im Besitz ehemaliger<br />

Herrschaften wie Klöster, Gr<strong>und</strong>herren oder Stiftungen, die<br />

im 19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert an den Staat als Rechtsnachfolger<br />

fielen, die aber mit dem Servitut des Weide-, Schwand- <strong>und</strong><br />

Holzrechts durch die ehemaligen Untertanen belastet sind;<br />

häufig in den bayerischen <strong>und</strong> österreichischen Alpen). Die<br />

Nutzungsstrukturen sind mit den Eigentumsverhältnissen<br />

nur zum kleinen Teil identisch <strong>und</strong> lassen sich in drei Gruppen<br />

zusammenfassen: a) Einzelalpung auf Gemeinschafts- oder<br />

Genossenschaftsalmen (jede Bauernfamilie sömmert ihr eigenes<br />

Vieh für sich; typisch im Altsiedelraum mit Bestand bis<br />

weit ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert); b) Genossenschaftsalpung (von<br />

den Almberechtigten angestelltes Personal betreut die Tiere<br />

<strong>und</strong> übernimmt die Käseherstellung); c) Einzelalpung auf Privatalmen<br />

(Zusammenfallen von Eigentums- <strong>und</strong> Nutzungsstruktur).<br />

Die verschiedenen Höhenstufen werden als Staffeln<br />

oder Leger bezeichnet. Es bestehen die Begriffe Niederleger,<br />

Mittelleger, Hochleger. Zwischen Heimgut <strong>und</strong> Alpe sind häufig<br />

noch Vor- <strong>und</strong> Nachweiden (Maiensäßen) vorhanden, auf<br />

die das Vieh vor <strong>und</strong> nach der Älpung getrieben wird. Nach<br />

der aufgetriebenen Viehgattung lassen sich Kuhalmen (Melkalmen,<br />

Sennalmen), Stieralmen, Ochsenalmen, Galtalmen mit<br />

Jungtieren, die noch keine Milch geben, gemischte Almen<br />

(Kühe <strong>und</strong> Jungvieh), Pferdealmen, Schaf- <strong>und</strong> Ziegenalmen<br />

unterscheiden.<br />

Maiensäß auch Maisäß, Vorsäß oder Aste genannt ist bei<br />

der Almwirtschaft eine Zwischenstufe zwischen Talgut <strong>und</strong><br />

Alm. Im Sommer wird auf der Maisäß das Gras gemäht <strong>und</strong><br />

Heu produziert, im Herbst wird dieses Heu vor dem Abstieg<br />

zum Talgut verfüttert. Maisäßen sind häufiger wohnlicher eingerichtet<br />

als Almen, weil zumindest in früheren Zeiten, vor der<br />

Erschließung der Maisäßen durch Güterwege Familienmitglieder<br />

einige Wochen hier gewohnt haben.<br />

Bei der Almwirtschaft findet im Gegensatz zur Transhu-<br />

manz im Winter Einstellung mit Fütterung in den Dauersiedlungen<br />

statt. Die Höhenweiden werden von Frühjahr bis<br />

Herbst aufgesucht <strong>und</strong> gehören als fest abgegrenzte Besitzparzellen<br />

zur Betriebs- beziehungsweise Gemarkungsfläche<br />

der Heimgüter. Die Bedeutung der Hochgebirgsweidewirt-<br />

schaft für die Verteilung der Siedlungen <strong>und</strong> der Bevölkerung<br />

liegt darin, dass eine Erweiterung der Wirtschaftsfläche gegeben<br />

ist <strong>und</strong> damit eine Verdichtung von Siedlung <strong>und</strong> Bevölkerung<br />

in den Gebirgstälern stattfinden kann. Almwirtschaft<br />

dient dazu, die Futterreserven im Tal zu schonen, sodass<br />

mehr Vieh eingestellt werden kann. Almwirtschaft gilt als Charakteristikum<br />

der Alpen. Aber auch in anderen europäischen<br />

Gebirgen gibt beziehungsweise gab es Almwirtschaft (Pyrenäen,<br />

Vogesen, Schwarzwald, skandinavische Gebirge, Dinari-<br />

den), allerdings mit geringerer Bedeutung <strong>und</strong> Vielfalt. Verallgemeinernd<br />

vollzogen sich in den letzten zwei Jahrzehnten im<br />

Alpenraum Entwicklungen, die in folgenden Punkten zusammenzufassen<br />

sind: a) Extensivierung der Almbewirtschaftung;<br />

b) Zunahme der halterlosen Viehalpung wegen Personalmangel;<br />

c) Reduzierung der Staffeln; d) zunehmende Bewirtschaftung<br />

der Almen vom Heimbetrieb aus aufgr<strong>und</strong> guter verkehrstechnischer<br />

Erschließung; e) Beaufsichtigung mehrerer Almen<br />

durch einen Hirten (durch Almwegebau möglich); f) Sömmerung<br />

nur von Teilen des Viehbestands, in einigen Gegenden des<br />

Galtviehs, in anderen der Milchkühe (Umgehung des Milchkontingents),<br />

als Folge der Intensivierung der Heimfutterflächen;<br />

g) zunehmende Bodenabtragung als Folge von Extensi<br />

Vierung, hirtenloser Galtviehalpung <strong>und</strong> mangelnder Almpflege<br />

(zum Beispiel Schwenden). Der Almbewirtschaftung kommt<br />

heute große Bedeutung hinsichtlich der Kulturlandschaftspflege<br />

zu - auch unter dem Gesichtspunkt des Tourismus.<br />

Quelle: P. Gans <strong>und</strong> K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

(ergänzt <strong>und</strong> überarbeitet von P. Meusburger)<br />

die gesam te W ach stu m sp erio d e ü ber u n d k ü m m e rn<br />

sich um die Saat, o d er sie schließen sich d er G ru p p e<br />

an <strong>und</strong> kehren erst zur E rn te w ieder zu den F eldern<br />

zurück. Das C harakteristische von H irten ist aber,<br />

dass sie ihren L eb ensunterhalt m it T ieren u n d nich t<br />

mit Feldfrüchten bestreiten.<br />

Wie andere F o rm en d er L andw irtschaft ist auch<br />

die W eidew irtschaft n ich t n u r ein System d er S ubsistenzsicherung,<br />

so n d e rn Teil eines sozialen System s.<br />

N om aden sind in d er Regel n ach G ru p p e n o rg an i­<br />

siert, denen m eh rere F am ilienverbände o d er Sippen<br />

angehören, w obei jed er G ru p p e ein O b erh au p t<br />

oder Führer vorsteht. Jede dieser G ru p p e n ist w iederum<br />

in kleinere E inheiten u n terteilt, die m it ih ren<br />

Herden u n terschiedlichen R outen folgen. Diese<br />

sind genauestens b ek an n t, u n d in jeder G ru p p e<br />

gibt es P ersonen, die m it d er L andschaft, den W asserstellen<br />

u n d den G elegenheiten, K o ntakt zu sesshaften<br />

G ru p p e n aufzuneh m en, v ertrau t sind. Es ü b errasch t<br />

nicht, dass die W eidew irtschaft in dem JVIaße an Bed<br />

e u tu n g v erloren hat, w ie eine zu n e h m e n d e Z ahl von<br />

G ebieten in die globalisierte Ö k o n o m ie einbezogen<br />

w urde, die effizientere u n d strik ter geregelte P ro d u k ­<br />

tio n sfo rm en erforderte. D arü b er hin au s gingen u n d<br />

gehen w eidew irtschaftliche N utzu n g s- u n d E xistenzfo<br />

rm en aus d em W ettbew erb m it an d eren L andn<br />

u tzu n g en m eist als V erlierer hervor. D as in m ilitärischen<br />

u n d steuerlichen Interessen b eg rü n d ete<br />

A nliegen von Staaten, alle B ew ohner des Landes zu<br />

registrieren u n d d en V erkehr ü b er S taatsgrenzen zu<br />

k o n tro llieren , fü h rte ebenfalls zu einer V erd rängung<br />

dieser F orm d er Subsistenzw irtschaft.


530 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Großvieheinheit<br />

Großvieheinheit (GV) ist eine statistische Einheit zur Bemessung<br />

des Viehbestands eines Betriebs oder der Weiderechte.<br />

Die Berechnung des GV-Schlüssels basiert auf dem Lebendgewicht<br />

der Tierarten nach Gewicht <strong>und</strong> Alter unterteilt, im<br />

Verhältnis zu einer Milchkuh mit 500 Kilogramm Lebendgewicht.<br />

Bei den Vieheinheiten (VE), die insbesondere für steuerliche<br />

Zwecke verwendet werden, wird dagegen der Futterbedarf<br />

zugr<strong>und</strong>e gelegt. 1996 betrug der durchschnittliche Tier-<br />

Agrargeschichte befasst sich als Teilbereich der Geschichtswissenschaften<br />

mit der historischen Entwicklung der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> des Agrarraums. Sie zeigt die geschichtlichen<br />

Zusammenhänge auf, die zu den gegenwärtigen Agrarstrukturen<br />

<strong>und</strong> Ausprägungen der Agrarlandschaft geführt haben.<br />

Über enge Verflechtungen mit der allgemeinen Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Sozialgeschichte fragt die Agrargeschichte nach den wirtschaftlichen<br />

Aktivitäten im Agrarbereich, nach Formen der<br />

Produktion, der Entwicklung der Agrartechnik, des Austauschs<br />

<strong>und</strong> des Konsums sowie nach den sozialen Strukturen <strong>und</strong><br />

Prozessen im ländlichen Raum. Als rechtlicher Aspekt tritt<br />

die Beschäftigung mit der Agrarverfassung hinzu. Kulturgeschichtlich<br />

betrachtet, gilt die Agrarwirtschaft als älteste Wurzel<br />

der Kulturentwicklung; das lateinische Wort cultura hatte<br />

ursprünglich die Bedeutung von Anbau <strong>und</strong> Bodenpflege. Die<br />

ältesten Wirtschaftsstufen der Wildbeuter, Sammler, Jäger<br />

<strong>und</strong> Fischer umfassen zwar den größten Teil der Menschheitsgeschichte<br />

(Steinzeit), sie haben aber den Naturraum noch<br />

nicht zum Agrarraum umgestaltet. Der entscheidende Übergang<br />

von der aneignenden zur produzierenden Landwirtschaft<br />

mit Anbau (Züchtung der noch heute wichtigsten Kulturpflanzen)<br />

<strong>und</strong> Nutztierhaltung (Domestikation von Schaf, Schwein<br />

<strong>und</strong> Rind), die das Sesshaftwerden ermöglichte, erfolgte in<br />

Mitteleuropa vermutlich erst nach dem Ende der Weichsel-/Würm-Kaltzeit.<br />

Man nimmt für diese erste agrarische Revolution<br />

(Neolithische Revolution oder Ackerbaurevolution)<br />

mehrere Entstehungszentren an, die alle im tropisch-subtropischen<br />

Gürtel der Nordhalbkugel, vorzugsweise an der ökologisch<br />

<strong>und</strong> ökonomisch begünstigten Grenze zwischen Wald<br />

<strong>und</strong> offenem Land liegen, das heißt am Rand der Savannen.<br />

Die ältesten Hinweise auf Ackerbau fand man in dem sichelförmigen<br />

Gebiet von Palästina bis zum Persischen Golf, das als<br />

fruchtbarer Halbmond bezeichnet wird. Dort gediehen Wildformen<br />

von Getreide wie Einkorn, Emmer <strong>und</strong> Gerste sowie einige<br />

Gemüsearten wie Erbsen <strong>und</strong> Linsen. Verb<strong>und</strong>en war dieser<br />

Übergang mit der Entwicklung einfacher landwirtschaftlicher<br />

Geräte, wie Pflanzstock, Grabstock, Hacke <strong>und</strong> Axt, <strong>und</strong> von<br />

Umtriebssystemen (shifting cuitivation). Eine Differenzierung<br />

der GeselL


Agrarrevolution <strong>und</strong> Industrialisierung 531<br />

der Plantagenwirtschaft, vornehmlich in Küstennahe; e) Ausbreitungsprozess<br />

der Kulturpflanzen <strong>und</strong> Nutztiere weit über<br />

ihre ursprünglichen Herkunftsgebiete hinaus, entsprechend<br />

den Bedürfnissen europäischer Kolonisten, Konsumenten<br />

<strong>und</strong> Kolonialmächte (Übernahme amerikanischer Pflanzen in<br />

Europa; Verbreitung europäischer Pflanzen <strong>und</strong> Tiere in Überseegebieten,<br />

oft in Abhängigkeit von der Art der Siedlergruppen,<br />

zum Beispiel Weinbau; Verbreitung tropischer Kulturpflanzen<br />

innerhalb der Tropenzone, beispielsweise Sisal, Ölpalme,<br />

Erdnuss, Kautschuk, Baumwolle, Tee, Ananas). Die<br />

zweite agrarische Revolution begann um 1690 bis 1700<br />

in England, setzte sich in den folgenden Jahrzehnten über Mitteleuropa<br />

fort <strong>und</strong> erreichte um 1860 bis 1870 Russland. Für<br />

Nordamerika wird der Beginn dieser revolutionären Umgestaltung<br />

der Agrarproduktion um 1760 bis 1770 angesetzt. Merkmale<br />

der zweiten agrarischen Revolution: a) Verbesserung vorhandener<br />

<strong>und</strong> die Einführung neuer landwirtschaftlicher Geräte,<br />

zum Beispiel Bodenwendepflug, Sämaschine, Hufbeschlag<br />

des Pferdes; b) gezielte Auswahl von Saatgut <strong>und</strong> Zuchttieren;<br />

c) Kultivierung von Ödland; d) Reduzierung des Brachlandes<br />

durch Übergang zu einem kontinuierlichen Fruchtwechsel;<br />

e) Einführung neuer Feldfrüchte beziehungsweise deren<br />

größere Verbreitung (Rüben, Klee, Raps, Kartoffeln); f) verbreiteter<br />

Einsatz von Pferden anstelle von Ochsengespannen führt<br />

zu höherer Pflugleistung <strong>und</strong> größerer Transportgeschwindigkeit<br />

für Agrargüter. Die Landwirtschaft in den gemäßigten<br />

Breiten arbeitete im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, teilweise bis<br />

in die Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hinein in einem ausgewogenen<br />

Miteinander von Pflanzenbau <strong>und</strong> Tierhaltung. Eine geregelte<br />

Futterwirtschaft auf Acker <strong>und</strong> Grünland, durch Stallmistwirtschaft<br />

weitgehend geschlossene Stoffkreisläufe, systematische,<br />

vielgliedrige <strong>und</strong> abwechslungsreiche Fruchtfolgen<br />

<strong>und</strong> eine auf langer Erfahrung basierende Berücksichtigung<br />

der speziellen Voraussetzungen jedes Betriebes <strong>und</strong> Jedes<br />

einzelnen Feldes waren die Gr<strong>und</strong>lagen der bäuerlichen<br />

Landwirtschaft. Die Erträge lagen deutlich unter dem heutigen<br />

Niveau, die Flächenproduktivität war aber um das Zwei- bis<br />

Vierfache höher als im ausgehenden Mittelalter. Die Einführung<br />

der Kartoffel <strong>und</strong> von Hülsenfrüchten in die Fruchtfolgen<br />

boten eine höhere Ertragssicherheit sowie Vielfalt <strong>und</strong> Qualität<br />

der Nahrungsmittel. Die Begründung der Agrikulturchemie,<br />

die großtechnische Gewinnung von Stickstoffdüngemitteln sowie<br />

die Fortschritte in der Produktionstechnik im Gefolge der<br />

industriellen Revolution <strong>und</strong> Erfolge in der Pflanzen- beziehungsweise<br />

Tierzüchtung waren wesentliche Schritte bei<br />

der enormen Steigerung der Produktion. Gleichzeitig öffnete<br />

sich die Produktivitätsschere zwischen Gebieten mit moderner<br />

<strong>und</strong> traditioneller Landwirtschaft. War wegen der Bodenknappheit<br />

in Mitteleuropa hierzunächst die Intensivierung mit<br />

verstärktem Einsatz von Betriebsmitteln prägend, so setzte<br />

sich moderne Agrartechnik wegen der Knappheit an menschlicher<br />

Arbeitskraft zuerst in den USA durch. Sie erfasste seit<br />

den 1930er-Jahren die übrigen Industrieländer <strong>und</strong> dringt seit<br />

den 1960er-Jahren in die Entwicklungsländer ein. Geprägt ist<br />

diese Phase auch durch große Veränderungen im Transportwesen<br />

(zum Beispiel Erfindung des Kühlwagens 1868) <strong>und</strong> die<br />

Verarbeitung von Agrarprodukten. Diese Entwicklungen führten<br />

dazu, dass gelegentlich von mechanischen, biologischen<br />

<strong>und</strong> chemischen Revolutionen gesprochen wird. Als dritte<br />

agrarische Revolution kann das Einsetzen einer industrialisierten<br />

Landwirtschaft angesehen werden. Der jüngste Innovationsschub<br />

für die Landwirtschaft geht von Erfindungen im<br />

Bereich der Biotechnologie aus. Methoden wie die Gentechnik<br />

<strong>und</strong> die Zellkulturtechnik (massenhafte Vermehrung pflanzlicher<br />

Zellen in einem künstlich geschaffenen Milieu mithilfe<br />

spezieller Nährstoffe) ermöglichen die Entwicklung leistungsfähiger,<br />

krankheitsresistenter <strong>und</strong> anspruchsloser Pflanzen<br />

<strong>und</strong> Tiere oder auch die Großproduktion bestimmter pflanzlicher<br />

Inhaltsstoffe. In enger Verbindung damit steht die weiter<br />

zunehmende Mechanisierung, der Einsatz von Informations<strong>und</strong><br />

Kommunikationstechnologien bei der Robotisierung (zum<br />

Beispiel Melk- <strong>und</strong> Pflugroboter), das precision farming<strong>und</strong> bei<br />

der Nutzung von betriebsspezifischen Wettervorhersagen oder<br />

bei farbsensor- <strong>und</strong> kameragesteuerten Erntevorrichtungen<br />

(beispielsweise für Tomaten, Blumenkohl <strong>und</strong> Salat). Die Gesamtheit<br />

dieser Innovationen zusammen mit dem verstärkten<br />

Auftreten alternativer Produktionsformen sowie Konzepten<br />

einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Landwirtschaft legt<br />

es nahe, von einer vierten agrarischen Revolution zu sprechen,<br />

deren Anfänge man in den 1980er-Jahren sehen kann.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie (gekürzt)<br />

Agrarrevolution<br />

<strong>und</strong> Industrialisierung<br />

Ältere L ehrbücher zu r A grargeographie k o n z e n trieren<br />

sich überw iegend a u f die B eschreibung u n d K lassifizierung<br />

der in verschiedenen T eilen d er E rde p ra k ­<br />

tizierten B oden n u tzu n g s- u n d V iehhaltungssystem e.<br />

In den vergangenen 25 bis 30 Jahren w u rd en jed o ch<br />

neue A nsätze entw ickelt, die zu einer anderen Betrachtungsw<br />

eise des A grarsektors g eführt haben.<br />

Landw irtschaft w u rd e in d er Folgezeit w eniger als<br />

eine regional ab zugrenzende agrarische T ätigkeit<br />

des M enschen aufgefasst, die sich klassifizierend<br />

beschreiben lässt, so n d e rn vielm ehr als B estandteil<br />

eines globalen ö k o n o m isch e n System s gesehen. Die<br />

B edeutung trad itio n eller F o rm en der L andw irtschaft<br />

u n d deren F o rtd au er stehen au ß e r Frage, d en n o c h<br />

m üssen auch die m o d e rn e n V erän d eru n g en b e tra c h ­<br />

te t w erden.<br />

Ä hnlich wie bei d er In d u strialisieru n g k an n m an<br />

auch bei den A grarsystem en d er E rde „R ev o lu tio n en “<br />

u n d verschiedene E ntw icklungsphasen unterscheiden.<br />

W ie im in d u striellen Sektor h ab en sich auch die<br />

agrarischen W irtsch aftsfo rm en n ic h t überall gleich-


532 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

zeitig gew andelt. So gibt es G ebiete der Erde, die von<br />

bestim m ten V eränderungen des A grarsektors bis<br />

heute ausgenom m en geblieben sind. Erst aus dieser<br />

Perspektive w ird deutlich, dass - analog zur E ntw icklung<br />

des gew erblichen u n d industriellen Sektors - die<br />

V eränderungen d er landw irtschaftlichen System e geographische<br />

u n d gesellschaftliche W andlungen bew irkt<br />

haben, die aus der w eltw eiten U m o rien tieru n g von der<br />

Subsistenzw irtschaft a u f kapitalintensive, m ark to rie n ­<br />

tierte F orm en d er A g rarp ro d u k tio n resultieren.<br />

D ieser neue agrargeographischen A nsatz ist vor<br />

d em H in te rg ru n d d er w eltw eiten h istorischen E n t­<br />

w icklung d er L andw irtschaft zu verstehen, die sich<br />

in verschiedenen Z yklen vollzogen hat: A u f lange<br />

Phasen geringfügiger V erän d eru n g en folgten kurze<br />

P erioden radikaler U m w älzungen. Die G eschichte<br />

d er L andw irtschaft ist d u rch drei U m b ru ch p h asen<br />

gekennzeichnet: die erste, zw eite u n d d ritte agrarische<br />

R evolution.<br />

I Die erste Agrarrevolution<br />

Die H erau sb ild u n g einer a u f A ckerbau basierenden<br />

L andw irtschaft, v erb u n d en m it d er V erw endung<br />

von Pflug u n d Z ugtieren, w ird als erste o der n eolithische<br />

A grarrevolution bezeichnet. Einige A spekte d ieser<br />

U m b ru ch p h ase w u rd e n bereits in den K apiteln 2<br />

u n d 4 b ehandelt. A n die Stelle d er Jagd u n d des S am ­<br />

m elns von W ild frü ch ten traten d er A ckerbau, die<br />

Z ü ch tu n g von K ö rn erfrü ch ten wie W eizen o d er<br />

Reis sow ie die Z ü ch tu n g von Schafen u n d Ziegen.<br />

D er Ü bergang zu A ckerbau u n d V iehzucht vollzog<br />

sich in verschiedenen T eilen d er E rde nahezu gleichzeitig.<br />

Es en tstand ein fast w eltu m sp an n en d er A ckerbaugürtel,<br />

d er das südw estliche A sien, ein G ebiet von<br />

G riech en lan d bis in die heutige T ü rk ei sow ie Teile des<br />

Irans, N ord ch in as, N o rd o stin d ien s, Z entral- u n d<br />

S üdam erikas u n d O stafrikas um fasste.<br />

Die D o m estizierung von Pflanzen u n d T ieren erm<br />

öglichte es den M enschen, in festen Siedlungen zu<br />

leben. M it d er Sesshaftigkeit entw ickelten sich gegenü<br />

b er den v o rh erg eh en d en Jäger-Sam m ler-G esellschaften<br />

neue soziale, kulturelle, ökonom isch e u n d<br />

politische B eziehungen. V on herau srag en d er B edeutu<br />

n g w aren bei der ersten A grarrevolution die<br />

S chw em m länder d er S tröm e Tigris, E u p h rat u n d<br />

N il, an deren U fern kom plexe H o ch k u ltu re n e n tsta n ­<br />

den (A bbildung 9.3). V on d o rt b reiteten sich das W issen<br />

u n d die F ertigkeiten, die d em A ckerbau u n d d er<br />

Z ü ch tu n g von K ulturpflanzen zu g ru n d e lagen u n d<br />

diese ständig verbesserten, a u f an d ere G ebiete aus<br />

u n d setzten schließlich ru n d u m den E rdball revolutio<br />

n äre E ntw icklungen in Gang.<br />

I Die zweite Agrarrevolution<br />

H isto rik er sind unein s d arü b er, w o u n d w ann die Anfänge<br />

d er zw eiten A grarrevolution zu suchen sind.<br />

W enngleich die M eh rzah l d er G eschichtsw issenschaftler<br />

d arin ü b ere in stim m t, dass sich dieser V organg<br />

n icht überall gleichzeitig vollzog, w ird die Frage,<br />

w elche F aktoren eine d era rt f<strong>und</strong>am en tale V eränderu<br />

n g d er S ubsistenzlandw irtschaft ausgelöst haben<br />

m ögen, äu ß erst k o n tro v ers diskutiert. In Betracht gezogen<br />

w erden F aktoren wie<br />

• eine en o rm e Steigerung der P roduktivität sowohl<br />

in d er V iehw irtschaft als auch im Pflanzenbau,<br />

• die B edeutung v o n In n o v atio n en wie verbesserte<br />

O chsengespanne o d er d er E rsatz von Ochsen<br />

d u rch das Pferd u n d<br />

• die Steigerung d er A g rarp ro d u k tio n durch D üngereinsatz<br />

u n d D rainagesystem e.<br />

Die H o ch p h ase d er zw eiten A grarrevolution w ird angesichts<br />

ih rer geographischen u n d historischen Bed<br />

eu tu n g zu R echt m it d er industriellen Revolution<br />

in E ngland u n d W esteuro p a verglichen. Zw ar waren<br />

d er in dustriellen R evolution eine ganze Reihe bedeute<br />

n d er V erän d eru n g en in d er L andw irtschaft vorausgegangen,<br />

doch keine dieser V eränderungen wirkte<br />

sich so n achhaltig a u f das tägliche Leben aus wie<br />

die H erau sb ild u n g eines industriellen Sektors, dessen<br />

Effekte rasch a u f die L andw irtschaft ausstrahlten.<br />

A m V o rab en d d er industriellen Revolution, in der<br />

M itte des 18. Jah rh u n d erts, w ar die Landw irtschaft im<br />

W esentlichen von k leinbäuerlicher Subsistenzwirtschaft<br />

geprägt, w enngleich bereits A nsätze einer Integration<br />

in m arktw irtschaftliche W irtschaftskreisläufe<br />

v o rh an d e n w aren. Viele B auern w endeten bereits<br />

verbesserte F ruchtfolgesystem e an, die in Verb<br />

in d u n g m it d em E insatz n atü rlich er u n d halbindustrieller<br />

D üngem ittel die P ro d u k tiv ität der Böden verbesserten<br />

u n d die E rträge im A ckerbau wie in der<br />

V ieh h altu n g steigerten. D aneben w ich das feudale<br />

System d er G ru n d h e rrsc h aft einem neuen Agrarsystem<br />

, in dessen Z e n tru m nich t die Abgabe an den<br />

F eu d alh errn , so n d e rn das P rivateigentum <strong>und</strong> die daraus<br />

resu ltieren d en B eziehungsgeflechte standen. An<br />

die Stelle von gem einschaftlicher N u tzu n g <strong>und</strong> Flurzw<br />

ang traten L and in P rivateigentum u n d unabhängige<br />

P ächter.<br />

Die E ntw icklung w ar eine logische Konsequenz<br />

d er gestiegenen N ahrungsm ittelnachfrage <strong>und</strong> der


Agrarrevolution <strong>und</strong> Industrialisierung 533<br />

einschneidenden sozio ö k o n o m isch en V erä n d e ru n ­<br />

gen, die sich aus d er industriellen R evolution ergaben.<br />

Zu den folgenreichsten V erän d eru n g en ist die E n tstehung<br />

eines m ark to rie n tie rten N ah ru n g sm ittelsek to rs<br />

zu rechnen, der d u rch die rasch anw achsende In d u ­<br />

striearbeiterschaft in den S tädten b edingt w ar. Z ah l­<br />

reiche Innovatio n en d er industriellen R evolution,<br />

zum Beispiel verbesserte T ran sp o rttech n o lo g ien ,<br />

wirkten sich m assiv a u f die L andw irtschaft aus. N eu e­<br />

rungen flössen teilw eise d irek t in A grartechniken ein,<br />

so beispielsweise verbesserte, von P ferdegespannen<br />

gezogene landw irtschaftliche G eräte, m it deren H ilfe<br />

die Zahl der b en ö tig ten A rbeitskräfte v errin g ert u n d<br />

gleichzeitig die Q ualität der E rzeugnisse w ie au ch der<br />

Ertrag gesteigert w erden k o n n ten .<br />

Die zweite A g rarrevolution w ar also eng m it der<br />

industriellen R evolution verknüpft. D ie V erä n d e ru n ­<br />

gen der bäuerlichen L ebensverhältnisse, die aus dieser<br />

K ettenreaktion resultierten, sind n ich t geringer ein ­<br />

zustufen als diejenigen, die m it dem Ü bergang von<br />

der Jagd- u n d S am m elw irtschaft zu Sesshaftigkeit<br />

<strong>und</strong> A ckerbau v erb u n d en w aren. D er G eograph lan<br />

Bowler schreibt: „V on den U rsprungsg ebieten im<br />

westlichen E uropa breitete sich die m ark to rie n tie rte<br />

Landw irtschaft im 19. u n d 20. Ja h rh u n d e rt in andere<br />

Gebiete der E rde aus. Es etablierte sich eine k o m m e r­<br />

zielle, kapitalistische L andw irtschaft a u f d er Basis<br />

einer von kleinbäuerlichen F am ilienbetrieben geprägten<br />

A grarstruktur. A u f diese P eriode geht sow ohl die<br />

Abhängigkeit der L andw irtschaft vom p ro d u zie re n ­<br />

den G ew erbe h insichtlich v erschiedenster B etriebsm<br />

ittel als auch die Steigerung d er P ro d u k tiv ität la n d ­<br />

w irtschaftlicher A rbeit zurück. Die Folge w ar, dass die<br />

in der L andw irtschaft freigesetzten A rbeitskräfte in<br />

großer Zahl in die Städte strö m te n u n d die M asse<br />

der F abrikarbeiter u n d S tad tb ew o h n er w eiter an-<br />

wachsen ließen. Ü berdies tru g eine die In lan d sn a ch ­<br />

frage übersteigende P ro d u k tio n von N a h ru n g sm itteln<br />

zur E n tstehung in te rn atio n aler S tru k tu ren des<br />

Handels m it A g rarp ro d u k ten bei.“ ^<br />

I Die dritte Agrarrevolution<br />

Die dritte A grarrevolution ist eine relativ junge E n t­<br />

wicklung, die im G egensatz zu den vorangegangenen<br />

U m brüchen n icht von der A lten W elt, so n d e rn im<br />

W esentlichen von N o rd am erik a ausging. Sie begann<br />

im ausgehenden 19. Ja h rh u n d e rt u n d gew ann im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zu n e h m e n d an S chw ungkraft. Diese<br />

Bowler, I. (Hrsg.) The Geography in Developed Market Economies. Harlow,<br />

Longman Scientific and Technical. 1992, S. 10, 11<br />

d ritte A g rarrevolution w u rd e m aßgeblich von den<br />

schon m ehrfach an g esp ro ch en en G lobalisieru n g sp ro ­<br />

zessen b estim m t. Sie k n ü p ft an die E ntw icklungen der<br />

zw eiten agrarischen R evolution an, sodass die la n d ­<br />

w irtschaftliche P ro d u k tio n infolge technologischer<br />

In n o v atio n en im späten 20. Ja h rh u n d e rt w eitgehend<br />

industrialisiert w ar.<br />

Die drei P hasen d er d ritten A g rarrevolution sind<br />

gekennzeichnet d u rch M echanisierung, eine a u f<br />

K u n std ü n g er b asierende „chem ische L andw irtschaft“<br />

(A bbildung 9.11) u n d die E ntw icklung ein er globalen<br />

N ah ru n g sm ittelin d u strie. U n ter M e c h a n isie ru n g<br />

v ersteht m an den Ersatz m en sch lich er A rbeitskraft<br />

d u rch M aschinen. T rakto ren , M äh d resch er, E rn teu<br />

n d P flückm aschinen u n d an d ere m o to rg etrieb ene<br />

G erätschaften h ab en in den V ereinigten Staaten seit<br />

d em letzten D rittel des 19. Jah rh u n d e rts d en E insatz<br />

m en sch lich er u n d tierischer A rbeitskraft in d er L an d ­<br />

w irtschaft im m er w eiter v erringert (A bbildung 9.12).<br />

In E uropa h at sich die M echanisierung der L an d w irtschaft<br />

v o r allem n ach dem Z w eiten W eltkrieg d u rc h ­<br />

gesetzt. D ie A b bildung 9.13 zeigt die w eltw eite V erb<br />

reitu n g von T rakto ren als M aß für die M echanisieru<br />

n g d er L andw irtschaft.<br />

Die ch em isch e L an d w irtsc h aft, das zw eite S tadiu<br />

m d er d ritte n A grarrevolution, ist g ekennzeichnet<br />

d u rch den E insatz synthetischer D üngem ittel sow ie<br />

die V erw en d u n g von H erbiziden, F ungiziden u n d P e­<br />

stiziden zu m Z w eck d er E rtragssteigerung. W ichtige<br />

In n o v atio n en d er chem ischen L andw irtschaft gingen<br />

v o n D eutschland aus, w o C arl Bosch (A bbildung<br />

9.14) u n d Fritz H ab er seit A nfang des 20. J a h rh u n ­<br />

derts an d er g ro ß technischen H erstellung von A m ­<br />

m o n iak als A usgangsbasis für Stickstoffdünger arb eiteten.<br />

F ür dieses technische V erfahren erhielten sie<br />

1931 den N obelpreis. H eu te d ü rfte jed o ch die ch e m i­<br />

sche L andw irtschaft beziehungsw eise d er E insatz von<br />

K unstd ü n g er, H erbiziden, F ungiziden u n d P estiziden<br />

in den USA u n d in Japan am stärksten sein. D ie w eit<br />

verbreitete V erw en d u n g synthetischer D üngem ittel<br />

(A bbildung 9.15) u n d die Folgen für die U m w elt<br />

h at Rachel C arson in ih rem B uch Silent Spring b e ­<br />

schrieben, a u f das in K apitel 4 n äh er eingegangen<br />

w ird.<br />

D ie N ah ru n g sm ittelin d u strie h atte ihre W u rzeln<br />

im N o rd am erik a des ausgehenden 19. Jahrh u n d erts.<br />

D er Begriff N a h ru n g s m itte lin d u s trie steht für die<br />

W ertsteigerung lan dw irtschaftlicher P ro d u k te d u rch<br />

V erarbeitung, V eredelung, K onservierung, V erp a­<br />

ckung u n d dergleichen au ß erh alb des landw irtsch aftlichen<br />

B etriebs u n d vor der V erm a rk tu n g d er E rzeugnisse<br />

(A bbildung 9.16). W äh ren d die beiden ersten<br />

Phasen d er d ritte n A grarrevolution im W esentlichen


534 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

J NORD- - -<br />

i AMERIKA '<br />

,¿ ¿ ¿ 5 nöTcJlicharWendekreis<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

■ - I .<br />

160’w i4(rw 12C. w l a r w ' p i s Q q .<br />

\ { AMERIKA<br />

Äquator<br />

20^<br />

6C’0 80^0<br />

:• i r . i 'H<br />

Düngereinsatz in Kilogramm pro<br />

Hektar landwirtschaftlich nutzbarer<br />

Fläche (Jahresdurchschnitt 1994-1996)<br />

s u d S c ^ Wendekreis<br />

AUSTRAUEN<br />

A<br />

über 336<br />

168-336<br />

1500 3000 Kilom eter<br />

56-168<br />

i 28-56<br />

0-28<br />

ANTARKTIS<br />

Europa-<br />

40-0 K<br />

keine Daten<br />

1.1<br />

9.11 Düngemitteleinsatz im weltweiten Vergleich Westeuropa, Ägypten, Saudi-Arabien <strong>und</strong> Japan stehen weltweit an der Spitze<br />

des Düngemittelverbrauchs, gefolgt von den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> großen Teilen Asiens. Zahlreiche Länder Afrikas mit starkem<br />

Bevölkerungswachstum sind aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen, auf teure Betriebsmittel wie Industriedünger zu verzichten.<br />

Dagegen exportieren die Vereinigten Staaten <strong>und</strong> einige europäische Länder der Kernregion in großem Umfang Nahrungsmittelerzeugnisse.<br />

Durch den Einsatz von Düngemitteln sind diese Länder in der Lage, den Eigenbedarf zu decken <strong>und</strong> zusätzliche<br />

Nahrungsmittel für den Export zu produzieren. (Quelle: Nach Hudson, J.; Espanshade, E. (Hrsg) Goode’s World Atlas. 20. Auflage.<br />

Rand McNally. 2000. S. 49.)<br />

HocNelelungegeblÄse<br />

9.12 Neue in der Landwirtschaft eingesetzte Maschinen a) Diese Aufnahme zeigt moderne Erntemaschinen beim Einsatz<br />

auf einer Farm im Mittleren Westen der USA. Während beide Maschinen von Menschen gesteuert werden, verfügen die modernen<br />

Geräte über Computerchips, die Informationen über die vielfältigen Arbeitsfunktionen senden <strong>und</strong> empfangen, b) Bei dieser<br />

Baumwollpflückmaschine (International Harvester Corporation) handelt es sich um eine selbstfahrende Maschine, welche die<br />

Baumwollfasern auf angefeuchtete Spindeln wickelt <strong>und</strong> so von den Samenkapseln abzieht. Rotierende Abstreifscheiben entfernen<br />

dann die Fasern von den Spindeln. Rechts oben sind Spindeln <strong>und</strong> Abstreifscheiben im Detaii zu sehen. Der hinter der Kabine<br />

angebrachte, abgeschlossene Auffangbehälter fasst 18 Kubikmeter Baumwolle. Die Maschine kann zwei Baumwollreihen gleichzeitig<br />

pflücken. Waren 1945 in den USA noch 42 Arbeitsst<strong>und</strong>en notwendig, um 45 Kilogramm Baumwolle zu ernten, brauchte man<br />

1975 nur noch 40 Minuten. (Quelle: Rasmussen, W. D. Landwirtschaft. In: Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeographle. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 1997. S. 78)


Agrarrevolution <strong>und</strong> Industrialisierung<br />

9.13 Traktoren je 1000 Hektar Der Einsatz von Traktoren, der ein Maß für die Mechanisierung der Landwirtschaft ist, ist<br />

in den Kernregionen am höchsten. Mechanisierte Landwirtschaft ist ein teures Unterfangen, das nicht nur Maschinen erfordert,<br />

sondern auch Treibstoff <strong>und</strong> die Fähigkeit, die Maschinen instand zu halten. Andererseits ermöglicht die Mechanisierung,<br />

größere Flächen unter Kultur zu nehmen <strong>und</strong> zu bewirtschaften. (Quelle: Wiedergabe mit Genehmigung von Prentice Hall; aus<br />

Rubenstein, J.M. The Cultural Landscape: An Introduction to Human Geography. 6. Auflage. © 1999. S. 341.)<br />

d en In p u t bezüglich lan dw irtschaftlicher P ro d u k tio<br />

n sverfahren betrafen, w irkt sich die E n d p h ase vor<br />

allem a u f d en landw irtschaftlichen O u tp u t aus. D ie<br />

P hasen eins u n d zwei k en n zeich n en also die M o d e r­<br />

n isierung u n d Ö k o n o m isieru n g d er L andw irtschaft,<br />

Phase drei dagegen die B eziehungen u n d V erflechtu<br />

n g en zw ischen L andw irtschaftsbetrieben u n d F irm<br />

en des in d u striellen Sektors, d er sich in d en frü h en<br />

1960er-Jahren sehr stark in d en N ah ru n g sm ittelb e­<br />

reich hin ein ausw eitete. M it diesen drei E ntw icklungsphasen<br />

d er d ritte n A grarrevolution w ar die In ­<br />

d u strialisierung d er L andw irtschaft vollzogen.<br />

9.14 Carl Bosch (1 8 7 4 - 1940) promovierte 1896 in Leipzig<br />

in Chemie <strong>und</strong> begann 1899 seine Tätigkeit bei der (heutigen)<br />

BASF in Ludwigshafen, wo er seit 1900 mit Fragen der technischen<br />

Ammoniakherstellung befasst war. 1919 wurde er zum<br />

Vorstandsvorsitzenden der BASF ernannt. Er war maßgeblich an<br />

den Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsarbeiten zur industriellen<br />

Herstellung von Ammonik als Ausgangsbasis für Stickstoffdünger<br />

beteiligt. Für dieses Haber-Bosch-Verfahren (Hochdruckverfahren),<br />

das die Landwirtschaft gr<strong>und</strong>legend verändern<br />

sollte, erhielt er 1931 den Nobelpreis.<br />

Die Industrialisierung<br />

der Landwirtschaft<br />

Als E ntw icklungsprozess w u rd e die In d u strialisieru n g<br />

d er L andw irtschaft in h o h e m M aße von w issenschaftlichen<br />

E rru n g en sch aften u n d technologischen In n o ­<br />

v atio n en a u f den G ebieten des M aschinenbaus sow ie<br />

d er C hem ie u n d der Biologie bestim m t. Als Indu-


536 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

m<br />

i<br />

i m<br />

M<br />

9.15 Chemische<br />

Landwirtschaft<br />

Ein Flugzeug sprüht Pilz-<br />

vernichtungsmittel auf<br />

eine Orangenpflanzung<br />

in der Nähe von Ft. Peirce<br />

in Florida. Das Fungizid<br />

(Handelsname „Kocide“)<br />

ist mit einer Lösung vermischt,<br />

die es auf den<br />

Blättern der Bäume haften<br />

lässt.<br />

-mwi<br />

¿0=<br />

"IM<br />

i *<br />

9.16 Nahrungsmittelindustrie<br />

Tomaten werden<br />

mithilfe von Fließbändern<br />

verarbeitet. Die<br />

Art der Verarbeitung von<br />

Nahrungsmitteln ist eine<br />

der Möglichkeiten den<br />

Wert landwirtschaftlicher<br />

Produkte vor der Vermarktung<br />

zu steigern.<br />

s tria lisie ru n g d e r L an d w irtsc h a ft bezeichnet m an<br />

einen Prozess, im Zuge dessen d er landw irtschaftliche<br />

B etrieb seine zentrale P osition innerh alb der ag rarischen<br />

P ro d u k tio n ein g eb ü ß t h at u n d Teil eines vielschichtigen,<br />

vertikal o rganisierten in dustriellen P ro ­<br />

zesses gew orden ist, der P ro d u k tio n , Lagerung, V erarbeitung,<br />

V ertrieb, V erm ark tu n g u n d E inzelhandel<br />

um fasst. A grarexperten b etrach ten die L andw irtschaft<br />

h eu te als kom plexes, eng m it dem In d u strieu<br />

n d D ienstleistungssektor verknüpftes P ro d u k tio n s­<br />

system landw irtschaftlicher E rzeugnisse (A bbildung<br />

9.17).<br />

Die T ran sfo rm atio n erfolgte n icht n u r d u rch in d i­<br />

rekte u n d /o d e r d irekte A npassung des ag rarw irtschaftlichen<br />

O u tp u ts, so n d e rn auch d u rch eine U m ­<br />

stellung d er ö k o n o m isch en A ktivitäten. D ie In d u s-<br />

trialisierung des A grarsektors um fasst drei wichtige<br />

E ntw icklungen:<br />

• V erän d eru n g en h insichtlich des Faktors Arbeit,<br />

in d em z u n e h m e n d leistungsfähigere M aschinen<br />

m enschliche A rbeitskraft ersetzen u n d optim ieren<br />

• die Ü b ern ah m e in novativer B etriebsm ittel - D üngem<br />

ittel, h y bride N utzpflanzen, agrochem ische<br />

H ilfsm ittel, B iotechnologie - zur Ergänzung,<br />

M o d ifikation o d er U m stellung des biologischen<br />

O u tp u ts<br />

• die E ntw icklung industriell hergestellter Ersatzstoffe<br />

für A grarp ro d u k te, zu m Beispiel Nutrasweet<br />

für Z ucker o der V erdickungsm ittel für Maisstärke<br />

o d er M ehl


Agrarrevolution <strong>und</strong> Industrialisierung 537<br />

Massentierhaltung<br />

Die Massentierhaltung ist eine extreme Form der (kapital-)in-<br />

tensiven <strong>und</strong> ausschließlich auf Gewinnmaximierung ausgerichteten<br />

Viehhaltung in Betrieben mit geringen oder gänzlich<br />

fehlenden Futterbauflächen. Häufig ist diese Form der Viehhaltung<br />

konzentriert in einer Region anzutreffen. Zusätzlich<br />

treten folgende Merkmale auf:<br />

• Konzentration vieler Einzeltiere auf geringem Raum<br />

• häufiger Generationenwechsel<br />

• geringstmöglicher Arbeitseinsatz<br />

• Einsatz mechanischer Einrichtungen zur Fütterung, Versorgung<br />

<strong>und</strong> Entsorgung<br />

• Verfütterung von hochwertigem Zukaufsfutter unter<br />

höchstmöglicher Ausnutzung<br />

Traditionelle Futtermittel, zum Beispiel Heu oder Hackfrüchte,<br />

wurden in der Massentierhaltung weitgehend zugunsten hochwertigen<br />

<strong>und</strong> häufig importierten Futters zurückgedrängt. Lediglich<br />

in der Rinderhaltung muss eine Gr<strong>und</strong>menge von Raufutter<br />

verabreicht werden, sie bleibt daher in gewissem Umfang<br />

bodenabhängig. Die Betriebe der Massentierhaltung sind<br />

in der Regel auf eine Tierart spezialisiert. Die Spezialisierung<br />

betrifft ferner auch Lebensabschnitte der Tiere, die zu aufeinander<br />

folgenden Produktionsstufen führen (Zucht- <strong>und</strong> Vermehrungsbetriebe,<br />

Aufzuchtbetriebe, Mastbetriebe, Ablege-<br />

betriebe). Auch mehrstufige Betriebe treten auf. Die Massentierhaltung<br />

erhält spätestens dann einen agrarindustriellen<br />

Charakter, wenn sie mit den vorgelagerten (Futtermittelfabrik,<br />

Stallbaufirmen) <strong>und</strong> nachgelagerten Produktionsstufen (Verarbeitung,<br />

Vermarktung) unter einer einheitlichen Unternehmensführung<br />

vereinigt ist. Die bodenunabhängigen Großbestandshalter<br />

arbeiten oft auf dem Vertragsweg mit bäuerlichen<br />

Betrieben zusammen, in die Teilfunktionen ausgelagert<br />

werden wie zum Beispiel die Lieferung von Jungtieren, der Anbau<br />

von Grünmais für die Bullenmast oder die Abnahme von<br />

Gülle <strong>und</strong> Stallmist. Der enorme Kapitalbedarf in der Massentierhaltung<br />

kann vielfach nicht mehr von einzelnen Privatpersonen<br />

getragen werden, sondern wird von anonymen Kapitalgesellschaften<br />

- in den USA oft von multisektoralen Konzernen<br />

- aufgebracht. Die Standortwahl für Betriebe der Massentierhaltung<br />

erfolgt häufig ohne Rücksicht auf natürliche Faktoren.<br />

Als wichtige Ausnahmen gelten der trockene Südwesten<br />

der USA (Minderung der Ausbreitung von Krankheitserregern)<br />

oder die südlichen <strong>und</strong> zentralen Plainsstaaten (Erschließung<br />

der Gr<strong>und</strong>wasservorräte des Ogallala-Aquifers).<br />

Ebenso wenig ist eine Absatzorientierung angesichts des relativ<br />

hohen Werts der tierischen Produkte zwingend. Die Entwicklung<br />

der Transport- <strong>und</strong> Kühltechnik hat im Gegenteil die<br />

Verlagerung der Schlachtbetriebe aus den Verbrauchszentren<br />

in die Produktionsräume ermöglicht. Unabdingbar ist aber<br />

eine gute Verkehrsinfrastruktur zum Antransport der Futtermittel<br />

<strong>und</strong> zum Abtransport der tierischen Produkte. Da auf<br />

Futter etwa die Hälfte der Produktionskosten entfallen, wird<br />

die Nähe der Importhäfen beziehungsweise der Futtermittelwerke<br />

gesucht. Probleme der Massentierhaltung ergeben sich<br />

im Allgemeinen weniger als Ergebnis der absoluten Tierzahl als<br />

vielmehr der Tierhaltung <strong>und</strong> der Aufstallungsform. Sie liegen<br />

unter anderem in Fragen der Ethik, des Tierschutzes, der Tierhygiene<br />

<strong>und</strong> -medizin, der Fleischqualität, der Emissionen oder<br />

des Betriebserfolgs.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

Precision farming<br />

Durch das precision farming, auch Präzisionslandwirtschaft,<br />

Präzisionsackerbau oder landwirtschaftliche Bestell- <strong>und</strong> Bearbeitungstechnik<br />

genannt, wird mithilfe von GPS <strong>und</strong> Ackerschlagdateien<br />

eine teilflächenspezifische Aussaat sowie bedarfsorientierte<br />

Pestizidanwendung <strong>und</strong> Düngung punktgenau<br />

ermöglicht. Das Verfahren trägt den schlaginternen Variationen<br />

von Wachstumsbedingungen <strong>und</strong> Erträgen der Kulturpflanzen<br />

Rechnung. Beispielsweise ermittelt der Landwirt mithilfe<br />

von Bodenproben <strong>und</strong> einem GPS-Empfänger den differenzierten<br />

Nährstoffbedarf der unterschiedlichen Pedons<br />

eines genau vermessenen Ackerschlags, speichert die geocodierten<br />

Werte auf einer Chip-Karte <strong>und</strong> überträgt sie auf dem<br />

Hofcomputer in eine digitale Nährstoffkarte. Unter Pedon versteht<br />

man die Bodenzone, die alle für einen Standort wichtigen<br />

Eigenschaften aufweist. Dies geschieht mithilfe eines Geographischen<br />

Informationssystems (GIS), das die Messdaten in<br />

Schlagdateien ablegt. Das GIS führt die notwendigen räumlichen<br />

Verknüpfungen <strong>und</strong> geostatistischen Bewertungen<br />

durch. So errechnet es die individuellen Düngermengen, die<br />

auf Jeder Teilfläche des Schlags ausgebracht werden müssen.<br />

um überall die gleiche Nährstoffmenge zu erreichen. Ein ebenfalls<br />

mit GPS-Empfänger <strong>und</strong> EDV ausgestatteter Traktor mit<br />

Düngerstreuer übernimmt den praktischen Teil. Die nötigen<br />

Informationen für eine bedarfsgenaue kleinräumige Düngung<br />

erhält der Traktor mit seinem Leitrechner vom Hofcomputer<br />

<strong>und</strong> gibt sie an den Düngerstreuer weiter. Bei der Ernte registriert<br />

der mit GPS-Technik bestückte Mähdrescher über<br />

Durchflussmessgeräte, wie viel Getreide jede Teilfläche des<br />

Ackers erbringt. Gleichzeitig kann der Feuchtegehalt des<br />

Druschguts ermittelt werden. Zur Auswertung werden mit<br />

den Rohdaten Bereiche gleicher Fruchtbarkeit <strong>und</strong> Nährstoffgehalte<br />

dargestellt, die in der Schlagdatenbank gespeichert<br />

<strong>und</strong> in der Ertragskarte dargestellt werden können. Die gewonnenen<br />

Daten dienen als Gr<strong>und</strong>lage für die Düngung im<br />

kommenden Jahr. Ferner können Feldauffälligkeiten aufgezeichnet<br />

<strong>und</strong> in einer Boniturkarte dokumentiert werden. Weitere<br />

mögliche Applikationskarten können so den Pflanzenschutz<br />

oder die Aussaat beinhalten mit Informationen zur differenzierten<br />

Durchführung dieser Arbeitsgänge.


538 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Ertrag = 100<br />

Viehfutter<br />

auspflanzen<br />

/ b e w ä sse rn<br />

A u fw an d = 5<br />

(ohne Arbeitsleistung)<br />

/ S a m e n a u s Eigenproduktion<br />

Kapitalaufw and<br />

(einfache Geräteau sstattung)<br />

^ D ünger a u s Eigenproduktion<br />

Saatgut<br />

N ahrung<br />

B rennm aterial<br />

— R e is<br />

^ a n d e re Feldfrüchte<br />

— H a n d w erk<br />

• Se id e n ra u p e n - Saiso n<br />

9.17 Aufwand <strong>und</strong> Ertrag bei traditionellem <strong>und</strong> modernem Reisanbau Die Abbildung oben stellt Aufwand <strong>und</strong> Ertrag einer<br />

traditionellen, auf Reis basierenden Mischkultur im China des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts dar, die Abbildung rechts steht für eine moderne<br />

Reis-Monokultur entsprechend den Errungenschaften der Grünen Revolution in Japan. Die Höhe der Balken gibt die relativen Werte für<br />

Ertrag <strong>und</strong> Aufwand wieder. Die Kurven in den jeweils links stehenden Diagrammen zeigen, wie die Menschen ihre produktive Zeit<br />

aufteilen. In Japan wird Reis unter verschwenderischen Bedingungen produziert. Die Bauern nutzten die hohen staatlichen Subventionen<br />

<strong>und</strong> Preisstützungsaktionen seit den 1960er-Jahren zu intensiver Mechanisierung <strong>und</strong> extremem Einsatz von Düngemitteln.<br />

In Japan wurden je Hektar 1110 Kilogramm Düngemittel eingesetzt, in den USA 160 <strong>und</strong> in Thailand 48 Kilogramm. Deshalb kostete<br />

1977 in Japan die Produktion von einem Kilogramm Reis elfmal so viel wie in den USA <strong>und</strong> fünfzehnmal so viel wie in Thailand.<br />

(Quelle: Bray, F. Modelle für die Landwirtschaft: Misch- kontra Monokultur. In: Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeographie. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 1997, S. 102-103)<br />

Das terrestrische Monitoring von Agrarflächen kann mit<br />

Fernerk<strong>und</strong>ung durch Flugzeuge <strong>und</strong> Satelliten ergänzt werden,<br />

deren Bilder ebenfalls in einem GIS räumlich definierbar<br />

sind. Mit dem precision farming erwartet man Einsparungen<br />

durch effizientere Nutzung des Produktionsmitteleinsatzes<br />

wie Düngung, Saatgut <strong>und</strong> Pflanzenschutz, Ertragssteigerungen,<br />

umweltschonendere Landbewirtschaftung sowie den<br />

Nachweis über Art <strong>und</strong> Umfang der Nahrungsmittelproduktion<br />

gegenüber der Lebensmittelindustrie <strong>und</strong> Kontrollorganen.<br />

Eine Weiterentwicklung des Systems zielt zunächst auf eine<br />

Ausdehnung der lokalen Ertragsermittlung für weitere Feldfrüchte<br />

(Zuckerrüben <strong>und</strong> Kartoffeln, Häckselgut wie Silomais,<br />

Halmgut wie Heu <strong>und</strong> Grassilage sowie bedeutende Sonderkulturen<br />

wie Baumwolle <strong>und</strong> Zuckerrohr), um damit die Ertragsverhältnisse<br />

ganzer Fruchtfolgen aufzeichnen <strong>und</strong> analysieren<br />

zu können. Weiter entfernt liegt noch der Einsatz von<br />

Robotern, die unbemannt <strong>und</strong> vollautomatisch die Felder bearbeiten.<br />

Quelle: Baldenhofer, K. In: Lexikon der Geographie<br />

I<br />

I<br />

W ie schon erw ähnt, h at sich d er In d u strialisieru n g s­<br />

prozess in der L andw irtschaft n icht überall a u f der<br />

W elt gleichzeitig vollzogen. D er W andel des globalen<br />

ö k o n o m isch en System s w irkte sich an u n terschiedlichen<br />

O rten in untersch ied lich er W eise aus, je n achdem<br />

, w ie ein Staat u n d die jew eiligen sozialen G ru p ­<br />

p en a u f diese V erän d eru n g en reagierten. So w u rd en<br />

D üngem ittel u n d H o ch ertrag sso rten in der L andw irtschaft<br />

der K ernregionen w esentlich frü h er eingesetzt<br />

als in d er P eripherie, w o auch gegenw ärtig n och viele<br />

A grarbetriebe o h n e diese H ilfsm ittel w irtschaften. In<br />

d en späten 1960er-Iahren began n en jedoch die Länd<br />

er d er K ernregion, In d u stried ü n g e r u n d Hochleistungssaatgut<br />

in p erip h ere G ebiete der Erde (im W e­<br />

sentlichen n ach A sien u n d M exiko) zu exportieren,<br />

u m die dortige A g ra rp ro d u k tio n zu erhöhen. Diese<br />

als G rü n e R e v o lu tio n bezeichnete Entw icklung, die<br />

im E xkurs 9.1 n äher beschrieben w ird, um fasste auch<br />

d en E x p o rt m o d e rn e r M aschinen u n d neuartiger Institu<br />

tio n e n aus den K erngebieten in die Länder der<br />

P eripherie. A uch h in te r diesen A ktivitäten stand die<br />

A bsicht, die A g rarp ro d u k tio n w eltw eit zu steigern.


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 539<br />

Aufwand = 300 (außer Arbeit)<br />

gekaufte Hybrid-Samen<br />

Bewässerungskosten<br />

Kunstdünger<br />

Herbizide <strong>und</strong> Pestizide<br />

Kraftstoffe<br />

/\<br />

Ertrag = 100<br />

auspflanzen<br />

t<br />

( ; rnten<br />

zusätzliche<br />

Lohnarbeit<br />

geb<strong>und</strong>erres Kapital<br />

(hauptsächlich in Form<br />

von Landmaschinen)<br />

geerntete Reismenge<br />

zur Emähmng<br />

■^Rels<br />

Frühling Sommer Herbst Winter Arbeitsaufwand der Familie<br />

Die globale Umstrukturierung<br />

der Agrarsysteme<br />

W enn G eographen von der G lobalisierung d er L andwirtschaft<br />

sprechen, beziehen sie sich a u f deren E in ­<br />

gliederung in das globale ö k o n o m isch e System . D er<br />

Begriff g lo b alisierte L a n d w irtsc h a ft ist so zu verstehen,<br />

dass die m o d ern e L andw irtschaft in zu n e h m e n ­<br />

dem M aße von einer Ö k o n o m ie u n d von R egelm e­<br />

chanism en abhängig ist, die eine globale R eichw eite<br />

besitzen u n d global o rganisiert sind.<br />

, Antriebskräfte der Globalisierung<br />

Drei m itein an d er in B eziehung stehende Prozesse<br />

spielen in Bezug a u f die G lobalisierung d er L an d w irtschaft<br />

eine w ichtige Rolle:<br />

• D ie K räfte - seien es technologische, ö k onom ische,<br />

politische o d er an d ere - , w elche die A grarsystem e<br />

prägen, sind w eltw eit w irksam .<br />

• D ie In stitu tio n en - insbesondere des H an d els u n d<br />

des Finanzw esens - , die den W an d el des A grarsekto<br />

rs am stärk sten v o ran treib en , sin d global o rg an i­<br />

siert.<br />

• D ie agrarischen P ro d u k tio n ssy stem e stehen u n te r­<br />

ein an d er in ein er B eziehung u n d sind w eltw eit o r­<br />

ganisiert.<br />

D ie G lobalisierung d er L andw irtschaft h at zu d ra m a ­<br />

tischen V erän d eru n g en in n erh alb u n d zw ischen v erschiedenen<br />

landw irtschaftlichen P ro d u k tio n ssy stem<br />

e n geführt. Einige F o rm en der L andw irtschaft w erd<br />

en w om öglich ganz verschw inden (A bbildung 9.18),<br />

an d ere w erden infolge d er In teg ratio n in die globale<br />

Ö k o n o m ie m o d ifiziert o d er gänzlich um gew andelt.<br />

Als Beispiele seien d er gegenw ärtige N iedergang tra ­<br />

ditio n eller A grartechniken wie shifiing cultivation u n d<br />

A uflösungserscheinungen der a u f F am ilienbetrieben


540 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

9.18 Projekt zur Aufzucht<br />

von Straußen in Kenia Das<br />

Foto zeigt Männer vom Stamm<br />

der Massai, die einst Nomaden<br />

waren. Heute nehmen sie an<br />

einem internationalen Entwicklungsprojekt<br />

teil, bei dem<br />

die Aufzucht von Straußen <strong>und</strong><br />

Ökosystemmanagement im<br />

Mittelpunkt stehen. Beim Strauß<br />

handelt es sich um eine seltene<br />

Art, die durch die Zerstörung des<br />

Lebensraums <strong>und</strong> den Handel<br />

mit Wildfleisch bedroht ist.<br />

basieren d en n atio n alen A g rarstru k tu ren g en an n t<br />

(A bbildung 9.19).<br />

D ie L andw irtschaft bildet in n erh alb einer reg io n a­<br />

len, natio n alen o d er globalen Ö k o n o m ie k einen isolierten<br />

o der u n abhängigen Sektor, vielm ehr ist sie Bestandteil<br />

eines k om plexen, w eltw eit v ernetzten W irtschaftssystem<br />

s. D ies bedeutet, dass sich ü b erg e o rd ­<br />

nete w irtschaftliche V erän d eru n g en , seien sie te c h n o ­<br />

logischer, sozialer o d er politischer A rt, au f alle S ektoren<br />

einschließlich d er L andw irtschaft ausw irken. A uf<br />

n atio n aler E bene angesiedelte P roblem e der L andw<br />

irtschaft wie Ü b erp ro d u k tio n , B odenerosion, m a n ­<br />

gelnde P reisstabilität u n d dergleichen m e h r beein-<br />

Aussen den A grarsektor ebenso wie andere W irtschaftssektoren,<br />

w obei die globalen, nationalen <strong>und</strong><br />

lokalen A usw irkungen von unterschiedlicher Art<br />

sind.D asselbe gilt fü r K risen von eher globaler Dim<br />

en sio n , v eru rsach t beispielsw eise d u rch ansteigende<br />

Ö lpreise o d er m angelnde V erfügbarkeit des - für die<br />

m ark to rie n tie rte L andw irtschaft w ichtigen - Erdöls<br />

o d er an d erer E rd ö lp ro d u k te, d u rch K ursschw ankungen<br />

des U S-D ollars a u f den W eltdevisenm ärkten sow<br />

ie d u rch R ezessions- beziehungsw eise InAationsphasen.<br />

D a die A usw irkungen d erartiger Problem e <strong>und</strong><br />

K risen system ischer N atu r sind, k an n ihnen nur<br />

9.19 Bauernhof Seit der<br />

dritten Agrarrevolution ist die<br />

Anzahl der kleineren Bauernhöfe<br />

in'den Kernländern dramatisch<br />

zurückgegangen. Das Foto zeigt<br />

einen Bauernhof in Plößberg<br />

(Deutschland).


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 541<br />

durch eine verstärkte In teg ratio n u n d K o o rd in atio n<br />

der W eltw irtschaft begegnet o der vorgebeugt w erden.<br />

Seit Jahrzehnten streben Staaten eine V erbesserung<br />

der in ternationalen u n d globalen K o o rd in atio n an.<br />

Politische M aß n ah m e n u n d P ro g ram m e d er W o rld<br />

Trade O rganization (W T O ) u n d su p ran atio n ale<br />

W irtschaftsorganisationen w ie die E uropäische U n i­<br />

on (EU) oder die A ssociation o f S outheast A sian<br />

Nations (ASEAN) sind R esultate dieser B em ühungen.<br />

Die neuen F o rm en d er zw ischenstaatlichen Z u sam ­<br />

m enarbeit sind ein deu tlich er H inw eis a u f die w ach ­<br />

sende Schw ierigkeit, w irtschaftliche P roblem e, seien<br />

sie landw irtschaftlicher o d er an d erer N atu r, au s­<br />

schließlich a u f natio n aler E bene zu lösen. D ass diese<br />

neuen K o operationsform en n ic h t überall au f Z u stim ­<br />

m ung stoßen, h ab en die P roteste gegen die W e lth a n ­<br />

delsorganisation W T O 1999 in Seattle überd eu tlich<br />

gezeigt (K apitel 13).<br />

W enngleich angesichts globaler P ro b lem e su p ra ­<br />

nationalen O rganisationen u n d K o o rd in ieru n g sm a ß ­<br />

nahm en große B edeutung zu k o m m t, spielen Staaten<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer V erm ittlerro lle bei n atio n alen K risen<br />

w eiterhin eine w ichtige Rolle. Staaten ergreifen v erschiedene<br />

politische M a ß n ah m e n zur R egulierung<br />

der A grarindustrie m it d em Ziel, die P ro d u k tio n<br />

<strong>und</strong> den A bsatz von N ah ru n g sm itteln ebenso zu gew<br />

ährleisten wie die w irtschaftliche S tabilität von Betrieben.<br />

D irekte o d er in direkte S u b v e n tio n ie ru n g e n<br />

der P roduzenten sin d eines d er M ittel, die S taaten<br />

einsetzen, u m die W irtschaftlichkeit des A grarsektors<br />

<strong>und</strong> die Preise für landw irtschaftliche P ro d u k te p o sitiv<br />

zu beeinflussen. So w erd en L andw irte d afü r b e ­<br />

zahlt, dass sie au f den A nbau b estim m ter F eldfrüchte<br />

verzichten, u m einer erw arteten Ü b erp ro d u k tio n e n t­<br />

gegenzuw irken. A ndere M a ß n ah m e n k ö n n en darin<br />

bestehen, Ü berschüsse aufzukaufen u n d P reisg aran ­<br />

tien zu geben. In ökologisch sensiblen G ebieten w erden<br />

B auern auch subven tio n iert, d am it sie d u rch die<br />

Bew irtschaftung der Flächen die K u lturlandschaft e r­<br />

halten. D avon p ro fitiert einerseits d er T o u rism u s, a n ­<br />

dererseits w ird auch die E rosionsgefahr reduziert.<br />

Diesem Zw eck d ienen zu m Beispiel m anch e B ergbauern-<br />

oder A lm bew irtschaftungsprogram m e in d en A l­<br />

pen.<br />

W ährend sich die A g rarp ro d u k tio n d u rch S ubventionen<br />

kurzfristig stabilisieren lässt, k an n dies zu P ro ­<br />

blem en innerh alb des ü b erg eo rd n eten , n atio n alen<br />

oder intern atio n alen System s d er L andw irtschaft fü h ­<br />

ren. So k ö n n en P reisgarantien für Ü b ersch u ssp ro ­<br />

dukte die u n erw ü n sch te N eb en w irk u n g haben, dass<br />

Landwirte es n ic h t fü r n otw endig erach ten , sich an<br />

den M arkt anzupassen u n d die E rzeugung ein zu ­<br />

schränken, sodass das P roblem der Ü b erp ro d u k tio n<br />

bestehen bleibt. Z u d em m ü ssen für die staatlicherseits<br />

aufgekauften Ü berschüsse andersw o A b n eh m er<br />

o d er V erw en d u n g en gef<strong>und</strong>en w erden. D ie U S-R e-<br />

gierung verkauft o d er v erschenkt solche Ü berschüsse<br />

häufig an an d ere Staaten. D ad u rch w erden in den<br />

E m p fän g erlän d ern „ D u m p in g “ -E ffekte erzeugt, die<br />

sow ohl die regionalen P re isstru k tu ren als auch die<br />

ö k o n o m isch e M o tiv atio n der L andw irte negativ b e ­<br />

einflussen. In den V ereinigten S taaten o d er in d er E u­<br />

ropäischen U n io n fließen jäh rlich M illiard en su b v en ­<br />

tio n e n in die L andw irtschaft. D ie Folgen derartig er<br />

M a ß n ah m e n sind äu ß e rst k o m p lex u n d von globaler<br />

D im ension.<br />

Es gibt vielerlei G rü n d e für regulierende Eingriffe<br />

des Staates in d en A grarsektor. D abei k ö n n e n in lä n ­<br />

dische wie ausländische ökonom isch e Interessen eine<br />

Rolle spielen. S taaten k ö n n e n auch zur W a h ru n g von<br />

V erb rau ch erin teressen ste u ern d a u f d en A grarsektor<br />

einw irken. Z w ar fü h rt die B ezuschussung la n d w irtschaftlicher<br />

E in k o m m en in d irekt zu h ö h e re n N a h ­<br />

rungsm ittelp reisen , andererseits w erden S ubven tio ­<br />

nen auch zu r Stabilisierung d er N ah ru n g sm ittelp reise<br />

verw andt. Solche politischen M a ß n ah m e n zielen<br />

letztlich d a ra u f ab, d en E rn ähru n g szu stan d u n d die<br />

G esu n d h eit d er B evölkerung positiv zu beeinflussen.<br />

A us G rü n d e n des sozialen F riedens m ö c h te m a n a u ­<br />

ß erd e m verm eiden, dass das Preisniveau im N a h ­<br />

ru n g sm ittelsek to r die finanzielle B elastungsgrenze<br />

d er D u rch sch n ittsb ev ö lk eru n g erreich t o d er ü b e r­<br />

schreitet. U n ru h e n , die sich an ü b erh ö h te n Preisen<br />

für B rot u n d M ehl en tzü n d eten , w aren im E u ro p a<br />

des 19. Jah rh u n d e rts an d er T agesordnung. F ür viele<br />

geringer entw ickelte L änder d er Erde, d en en es an<br />

n otw endigem K apital für S u bventionen m angelt,<br />

trifft dieser Sachverhalt auch h eu te n o ch zu.<br />

N ah ru n g sm ittelh ilfen u n d landw irtschaftliche<br />

E n tw icklungsprogram m e stellen w eit v erbreitete<br />

u n d allgem ein akzeptierte Eingriffe in den L an d w irtschaftssektor<br />

p erip h erer Staaten dar. D erartige In te r­<br />

v en tio n en sin d eine F orm der E inbeziehung p e rip h e ­<br />

rer Saaten in die W eltw irtschaft. N eben g ut g em ein ­<br />

te n N ah ru n g sm ittelh ilfen gibt es von Seiten der<br />

K ernregion auch das B estreben, die L eistungsfähigkeit<br />

des A grarsektors in p erip h eren Staaten längerfristig<br />

zu verbessern. Sow ohl aus untersch ied lich en<br />

G rü n d en gescheiterte als auch erfolgreiche la n d w irtschaftliche<br />

E ntw icklungshilfeprojekte zeigen, au f<br />

w elche vielfältige W eise global w irksam e K räfte v erschiedenste<br />

lokale u n d regionale G em einw esen b e ­<br />

einflussen u n d d o rt R ückkopplungseffekte h ervorrufen<br />

k ö n n en . In tern atio n ale E ntw icklungshilfeorgan<br />

isatio n en u n d In stitu tio n en wie die W eltb an k<br />

o d er die F ood an d A griculture O rganization (FAO)


542 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

. ^<br />

1<br />

i 1<br />

i !<br />

w aren ü b er fast fü n f Jahrzehnte an landw irtschaftlichen<br />

E ntw icklungsprojekten in L ändern d er P erip h e­<br />

rie beteiligt.<br />

Ein g enauerer Blick a u f die V erhältnisse in L ateinam<br />

erika m ach t deutlich, w ie unterschiedlich sich die<br />

in tern atio n ale u n d n ationale A grarpolitik a u f die P ro ­<br />

d u k tiv ität in einer b estim m ten R egion ausw irken<br />

kann. W ähren d L ateinam erika ein anschauliches Beispiel<br />

fü r eine verän d erte ländliche E ntw icklungspolitik<br />

darstellt, sind die d o rt g em achten E rfahrungen<br />

n ich t notw endigerw eise die gleichen w ie in an d eren<br />

R egionen d er Erde, d eren G eschichte, W irtschaft, P o ­<br />

litik u n d K u ltu r E n tw icklungsprogram m e in u n te r­<br />

schiedlicher W eise beeinflusst haben.<br />

Veränderungen in der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> Entwicklungspolitik in<br />

I Lateinamerika_________________<br />

In der ersten H älfte des 20. Ja h rh u n d erts w u rd en in<br />

L ateinam erika bei d en m eisten F eldfrüchten sehr geringe<br />

E rträge (w eniger als eine T o n n e je H ektar) e r­<br />

zielt. B auern m it w enig L and k o n n te n n icht genug<br />

p ro d u zieren, u m sich u n d ihre Fam ilien zu ern äh ren ,<br />

geschw eige d en n , etw as a u f dem A grarm arkt zu v erkaufen.<br />

D er aus K olonialzeiten stam m en d e G ro ß ­<br />

g r<strong>und</strong>besitz w ar E nde des 19. Jahrh u n d erts v e rb u n ­<br />

den m it der A nhäu fu n g von L and d u rch reiche F am i­<br />

lien u n d ausländische G esellschaften. D ie Folgen w a­<br />

ren A rm u t u n te r g ro ß en T eilen d er ländlichen Bevölkerung,<br />

L andlosigkeit u n d V erzw eiflung, die ihren<br />

Teil zu R evolutionen w ie in M exiko u n d K uba u n d<br />

d er W ahl sozialistischer R egierungen wie in C hile<br />

u n d G uatem ala beitru g en . H in zu kam , dass viele<br />

G ro ß g ru n d b esitzer ih r L and für extensive V iehhaltung,<br />

E x p o rtp ro d u k te o d er w enig pro d u k tiv e Feldfrü<br />

ch te n u tzten u n d n ich t zu r D eckung des N a h ­<br />

ru ngsm ittelbedarfs ein er w achsenden städtischen<br />

Bevölkerung.<br />

L a n d re fo rm e n , die staatliche U m verteilung von<br />

L and m it dem Ziel, die P ro d u k tiv ität zu erh ö h en<br />

u n d soziale S p an n u n g en zu v erm in d ern , w u rd en<br />

als L ösung des P roblem s gesehen u n d von den R evolu<br />

tio n s- u n d sonstigen R egierungen um gesetzt, u m<br />

die G efahr von U n ru h e n in n erh alb d er ländlichen<br />

B evölkerung ein zu d äm m en. D ie in M exiko nach<br />

d er R evolution d u rch g efü h rte L andreform verteilte<br />

in d en Jahren von 1917 bis 1980 enteignetes L and<br />

u n d S taatsland a u f 52 P ro zen t der ländlichen H au s­<br />

halte, in vielen Fällen in F orm so g enan n ter ejidos. D a­<br />

bei erhielten G ru p p e n landloser B auern L and, das sie<br />

entw eder im K ollektiv o d er m dividuell bew irtschaften,<br />

n icht aber nach au ß erh alb des ejidos verpachten<br />

o d er verkaufen k o n n te n . V o n d er U m verteilung p ro ­<br />

fitierten in Bolivien von 1953 bis 1975 79 P rozent der<br />

ländlichen H aushalte. U n ter den sozialistischen Reg<br />

ierungen G uatem alas (1952), C hiles (1972) <strong>und</strong> N i­<br />

caraguas (1979) w u rd e L and an m indestens 20 P rozent<br />

d er ländlichen H au sh alte um verteilt, w obei einige<br />

d er Flächen u n te r sp äteren M ilitär- u n d eher konservativen<br />

R egierungen w ieder an G roßgr<strong>und</strong>besitzer<br />

zurückfielen.<br />

D er D ruck, w eitere L an d refo rm en um zusetzen, ist<br />

aber in d er gesam ten R egion n ach w ie vor groß, ln<br />

Brasilien erzw ang zu m Beispiel die Bewegung von<br />

L andlosen „M ovim iento sem te rra “ eine U m verteilung,<br />

in d em sie m e h r als 20 M illionen H ektar Land<br />

besetzten u n d m it g ro ß er U n terstü tzu n g durch die<br />

Ö ffentlichkeit die ih n en zu steh enden R echte sowie<br />

einen Politikw echsel ein fo rd erten (A bbildung 9,20).<br />

Die Frage, ob L an d refo rm en in L ateinam erika erfolgreich<br />

w aren o d er nich t, ist äußerst um stritten . M anche<br />

glauben, dass d er betreffende Sektor ineffizient sei<br />

u n d k o m m u n ales L and p rivatisiert w erden sollte. Andere<br />

sind d er A uffassung, die R eform en hätten zu<br />

m e h r S tabilität in den län d lich en R egionen geführt<br />

u n d die P ro d u k tiv ität d er L andw irtschaft erhöht.<br />

D ie m eisten h ab en jedenfalls erk an n t, dass Landreform<br />

en zu m Scheitern v eru rteilt sind, w enn sie nicht Teil<br />

eines ganzen B ündels von R eform en sind, die Alphabetisierung,<br />

technische B eratung, Investitionen, Kredite<br />

u n d M arktzugang fü r die n euen Landbesitzer<br />

einschließen.<br />

Ein an d e rer L ösungsansatz zu r Produktivitätssteigerung<br />

u n d A rm u tsb ek äm p fu n g in ländlichen Räum<br />

en w ar die sogen an n te G rü n e R evolu tio n (Exkurs<br />

9.1 „G eographie in Beispielen - D ie G rü n e Revolutio<br />

n “ ). W eltw eit w ar M exiko das Z en tru m der E ntw<br />

icklung v o n T echnologien d er G rü n en Revolution,<br />

w o das In tern atio n al C en ter for W h eat and Maize<br />

Im p ro v e m e n t südlich v o n M exico-C ity angesiedelt<br />

w ar. W issenschaftler dieser von der RockefeUer Fo<strong>und</strong><br />

atio n u n d den R egierungen M exikos sowie der Vereinigten<br />

S taaten geg rü n d eten E inrichtung setzten<br />

neue T ech n ik en d er S aatgutveredelung ein, um gegen<br />

K rankheiten resistente G etreidesorten zu züchten, die<br />

bei en tsp rech en d er D ü n g u n g u n d Bew ässerung hohe<br />

E rträge liefern. B auern, insbesondere in den Bewässerungsgebieten<br />

im N o rd e n M exikos, n ahm en die<br />

n eu en V arietäten rasch an, sodass die nationale<br />

M ais- u n d G etreid ep ro d u k tio n in die H öhe schnellte<br />

u n d M exiko in den 1970er-Jahren zu einem der<br />

H a u p te x p o rtlän d e r aufstieg. D er N achteil war, dass<br />

in diesem Z eitraum viele indigene M aissorten aus-


9.20 Movimento sem Terre Die Landlosenbewegung in Brasilien (Movimento sem Terre) kämpft für eine Umverteilung des Bodens<br />

von Großgr<strong>und</strong>besitzern an landlose Bevölkerung. Oft \werden die Flächen solcher Haziendas besetzt <strong>und</strong> darauf provisorische<br />

Siedlungen aus Holz <strong>und</strong> mit Plastikplanen errichtet. Je nach politischen Rahmenbedingungen werden solche Squattersiedlungen mit<br />

Gewalt wieder beseitig oder aber in einem längeren „Aushandlungsprozess“ zwischen dem Movimento <strong>und</strong> der Regierung „legalisiert“ .<br />

starben. Als in M exiko im Jahre 2006 ein riesiges<br />

Defizit an M ais entstand, weil die USA M ais fü r in ­<br />

dustrielle Zw ecke (Z usatz zu B enzin) aufkauften, kam<br />

es in M exiko zu einem starken A nstieg des M aisp reises,<br />

sodass sich die m exikanischen B auern das Saatgut<br />

für die am erikanischen M aissorten nich t m e h r leisten<br />

konnten u n d für viele M exikaner ihre N ationalspeise,<br />

die T ortillas, zu teuer w urde. A ndere latein am erik a­<br />

nische L änder w ie A rgentinien u n d B rasilien trieben<br />

ebenfalls die M o d ern isieru n g der L andw irtschaft m ithilfe<br />

der G rü n en R evolution v o ran u n d setzten u n te r<br />

anderem au f „neue“ F eldfrüchte wie Reis u n d Sojabohnen.<br />

Die G rüne R evolution befindet sich gegenw ärtig in<br />

einer zw eiten Phase, in d er b iotechnologische V erfahren<br />

eingesetzt w erden, u m gegen K rankheiten u n d<br />

Schädlingsbefall resistente F eldfrüchte zu erzeugen<br />

<strong>und</strong> noch höhere E rträge zu erzielen. D ie F o rsc h u n ­<br />

gen stoßen aber auch a u f W id erstan d . Die G egner<br />

dieser V ersuche b efü rch ten u n v o rh erseh b are negative<br />

Folgen, wie sie bei b iotechnologisch v erän d ertem G e­<br />

treide auftraten, dessen Pollen schädliche W irk u n g en<br />

auf M onarchfalter in M exiko haben. In sb eso n d ere in<br />

Europa ist d er W id erstan d gegen gentechnologisch<br />

veränderte Pflanzen sehr groß.<br />

W irtschaftliche K risen, ein Z u rü ckfah ren staatlicher<br />

P rogram m e sow ie d er A bbau von H an d elsschranken<br />

h aben das T em p o d er G rü n en R evolution<br />

in vielen L ändern verlangsam t. D er E insatz sy n th etischer<br />

D üngem ittel ist in L ändern wie Brasilien u n d<br />

M exiko als Folge gestiegener Preise, des A bbaus<br />

von Subventionen u n d zu n e h m e n d em W ettbew erb<br />

durch vor allem aus den USA im p o rtiertem M ais<br />

<strong>und</strong> W eizen zurückgegangen. Viele R egierungen<br />

sin d davon abgek o m m en , h ö chste P rio rität a u f die Eigenversorgung<br />

m it G etreide zu legen, u n d u n te rs tü t­<br />

zen stattdessen d en A nbau v o n O bst, G em üse u n d<br />

S ch n ittb lu m en , die sich a u f d en in tern atio n a le n H a n ­<br />

d elsm ärk ten besser b e h a u p te n k ö n n en . D iese n eu en<br />

A grarexporte gew innen in m an ch en G ebieten M exikos,<br />

Z entralam erikas, K olum biens u n d C hiles gegenü<br />

b er trad itio n ellen E xporterzeugnissen w ie Z ucker<br />

u n d Kaffee z u n e h m e n d an B edeutung u n d ersetzen<br />

d o rt z u n e h m e n d d en W eizen an b au u n d traditionelle<br />

E x p o rtp ro d u k te w ie Kaffee u n d B aum w olle. Diese<br />

n eu e n A g rarp ro d u k te erzielen gute Preise, erfo rd ern<br />

aber gleichzeitig große M engen an P estiziden u n d<br />

W asser, w en n sie d en h o h en S tandards für E x p o rterzeugnisse<br />

u n d d en A n fo rd eru n g en eines schnellen<br />

T ran sp o rts in g ekühltem Z u stan d genügen sollen.<br />

Sie sin d anfällig gegenüber V erän d eru n g en des Klim<br />

as u n d d er S chw ankungen des in tern atio n alen<br />

M arkts sow ie gegenüber V erän d eru n g en des V erb<br />

rauchergeschm acks u n d plötzlich au ftreten d en gesu<br />

n d h eitlich en B edenken h insichtlich des Einsatzes<br />

von Pestiziden o d er biologischer K o n tam in atio n .<br />

Die Organisation des<br />

I agroindustriellen Sektors<br />

M an k an n drei h erausragende, eng m itein a n d er v erk<br />

n ü p fte P h än o m e n e identifizieren, die einen d ra ­<br />

m atischen W andel d er landw irtschaftlichen P ro d u k ­<br />

tio n sm ech an ism en signalisieren: agroindustrielle<br />

S tru k tu ren , in tegrierte N ah ru n g sm ittelk etten u n d<br />

eine in den In d u strie-, D ienstleistungs- u n d F inanz-


544 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Exkurs 9.1<br />

Geographie in Beispielen - Die Grüne Revolution<br />

Das Schlagwort „Grüne Revolution“ steht für ein von Agrarwissenschaftlern<br />

initiiertes Vorhaben, Wege zur Ernährung der rapide<br />

anwachsenden Weltbevölkerung zu finden. Die Aktivitäten<br />

begannen 1943 in Mexiko, als die Rockefeller Fo<strong>und</strong>ation<br />

eine Gruppe von Wissenschaftlern für ein Forschungsprojekt<br />

gewinnen konnte, das die Steigerung der mexikanischen Weizenproduktion<br />

zum Ziel hatte. Bereits 7 Jahre darauf begannen<br />

Experten mit der Verteilung von Weizensaatgut im Sinne der<br />

Grünen Revolution. Im Rahmen des in Mexiko angesiedelten<br />

Projekts wurden die Forschungen schließlich auf Mais, später<br />

auch auf Reis ausgedehnt. Bis 1967 übertrugen Wissenschaftler<br />

die Ergebnisse ihrer Arbeit in andere Teile der Erde. Norman<br />

Borlaug, Mitbegründer der Grünen Revolution, erhielt 1970<br />

den Friedensnobelpreis für seinen Beitrag zur Sicherung des<br />

Weltfriedens durch die Bekämpfung des Flungers, einem zentralen<br />

Anliegen des Projekts.<br />

Ursprünglich konzentrierte sich die Grüne Revolution auf<br />

die Entwicklung von Saatgut für Nutzpflanzenvarietäten, die<br />

gegenüber den in den Zielgebieten eingesetzten Kulturen höhere<br />

Erträge gewährleisten sollten. Im Zuge der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Forschungen erkannten die Agrarwissenschaftler, dass<br />

Pflanzen nur eine bestimmte Menge an Stickstoff aufnehmen<br />

<strong>und</strong> in den Stoffwechsel einbeziehen können. Die Wissenschaftler<br />

lösten dieses Problem, indem sie die Stickstoff-Aufnahmekapazität<br />

der Pflanzen durch Zugabe von in Wasser gelöstem<br />

stickstoffhaltigem Dünger erhöhten (was wasserbauliche<br />

Maßnahmen <strong>und</strong> Bewässerungsprojekte größeren Umfangs<br />

erforderlich machte). Daraufhin stellte man fest, dass<br />

die Pflanzen bei Zugabe von Wasser <strong>und</strong> Stickstoff längere<br />

Flalme ausbildeten. Wegen der schwereren Fruchtstände<br />

knickten die Pflanzen leichter um, sodass sich die Erntemengen<br />

verringerten. Die Wissenschaftler zogen sich erneut in die<br />

Forschungslaboratorien zurück <strong>und</strong> präsentierten schließlich<br />

niederwüchsige Varietäten mit kräftigeren Halmen. Doch<br />

bald ergaben sich neue Probleme. Da die niederwüchsigen<br />

Pflanzen unter nahezu jeglichen äußeren Bedingungen gediehen,<br />

nahmen Pflanzenkrankheiten <strong>und</strong> Schädlingsbefall zu. Die<br />

Antwort darauf war die Entwicklung verschiedenster Pestizide.<br />

Schließlich umfassten die unter der Bezeichnung „Grüne<br />

Revolution“ laufenden Maßnahmen ein Bündel von Inputs:<br />

neues „W<strong>und</strong>ersaatgut“, Wasser, Düngemittel <strong>und</strong> Pestizide.<br />

Um dieselben Erträge zu erzielen wie die Wissenschaftler<br />

auf den Versuchsflächen, mussten die Landwirte alle diese<br />

Komponenten einsetzen <strong>und</strong> sich strikt an die Anwendungsregeln<br />

halten. Bei vorschriftsmäßiger Wasserzufuhr, Düngergabe<br />

<strong>und</strong> Pestizidverwendung lassen sich mit den Varietäten der<br />

Grünen Revolution zwei- bis fünfmal höhere Erträge gegenüber<br />

herkömmlichen Kulturen erzielen. In verschiedenen Ländern<br />

führte die Steigerung der Erträge dazu, dass man in den Exporthandel<br />

einsteigen <strong>und</strong> so neue Devisenquellen erschließen<br />

konnte. Darüber hinaus erlaubten die neuen, schneller zur Samenreife<br />

gelangenden Varietäten mancherorts zwei <strong>und</strong> mehr<br />

Anbauzyklen jährlich auf ein <strong>und</strong> derselben Fläche. Dies bedeutete<br />

für den einzelnen Landwirt eine beträchtliche Produktions-<br />

<strong>und</strong> Einkommenssteigerung.<br />

Dank der Innovationen der Grünen Revolution stieg die<br />

Reiserzeugung in Asien von 1965 bis 1985 um 66 Prozent<br />

an. Indien wurde in den 1980er-Jahren weitgehend unabhängig<br />

von Reis- <strong>und</strong> Weizenimporten. Die neuen Anbaumethoden<br />

<strong>und</strong> Kulturpflanzen trugen in den 1960er-Jahren zu v'u Prozent<br />

<strong>und</strong> in den 70er-Jahren noch zu etwa 70 Prozent zum Anstieg<br />

der weltweiten Getreideproduktion bei. In den späten 1980er-<br />

<strong>und</strong> 1990er-Jahren dürften mindestens 80 Prozent des Produktionszuwachses<br />

bei Getreide den Verfahren der Grünen Revolution<br />

zuzuschreiben sein. Die Abbildung 9.1.1 zeig; die Verbreitung<br />

des Maisanbaus im globalen Maßstab. Obwohl das<br />

Problem der Unterernährung nicht gelöst <strong>und</strong> Hungersnöte<br />

nicht verhindert wurden, wäre nach Meinung vieler Beobachter<br />

die heutige Situation weitaus dramatischer, hätte es die Grüne<br />

Revolution nicht gegeben.<br />

Doch nicht überall auf der Welt war die Grüne Revolution<br />

uneingeschränkt erfolgreich. Zum einen lassen sich Weizen,<br />

Reis <strong>und</strong> Mais in vielen Gebieten der Erde gr<strong>und</strong>sätzlich nicht<br />

anbauen. Zum anderen vernachlässigte man Forschungsarbeiten<br />

zu Feldfrüchten wie Sorghum <strong>und</strong> Hirse, die in einigen Regionen<br />

besser gedeihen, zugunsten einer Optimierung der favorisierten<br />

Kulturen. In Afrika blieb es aufgr<strong>und</strong> der nährstoffarmen<br />

Böden <strong>und</strong> des allgemeinen Wassermangels bei relativ<br />

bescheidenen Erfolgen. Als problematisch erwies sich zudem<br />

die Anfälligkeit der Neuzüchtungen gegenüber Schädlingsbefall<br />

<strong>und</strong> Pflanzenkrankheiten, die nach einigen Anbaujahren<br />

vermehrt auftraten. Während die traditionellen Varietäten<br />

eine natürliche Widerstandsfähigkeit gegenüber di=n in einer<br />

Region auftretenden Schädlingen <strong>und</strong> Krankheiten besitzen,<br />

mangelt es genetisch veränderten Varietäten oft an solchen<br />

Resistenzen.<br />

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Produkte der<br />

Grünen Revolution <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Mechanisierung<br />

menschliche Arbeitskraft teilweise überflüssig gemacht haben,<br />

sodass die Zahl der Arbeitslosen signifikant ansteigt. Außerdem<br />

schließen Technologien <strong>und</strong> Ausbildungsformen der<br />

Grünen Revolution Frauen - die früher eine wichtige Rolle<br />

in der Nahrungsmittelproduktion spielten - tendenziell aus.<br />

Zudem führen die neu entwickelten Agrochemikalien, insbesondere<br />

Pestizide, zu verstärkter Umweltverschmutzung <strong>und</strong><br />

zu Ges<strong>und</strong>heitsschäden bei Arbeitern <strong>und</strong> die zunehmende Bewässerung<br />

verursacht die Anreicherung von Salzen in Böden<br />

<strong>und</strong> Wasserknappheit.<br />

Der Grünen Revolution wird auch vorgeworfen, die bestehenden<br />

sozialen Ungleichheiten noch weiter verstärkt zu<br />

haben, indem sie dazu beigetragen habe, dass eine kleine<br />

Zahl von Landwirten Reichtum <strong>und</strong> Macht anhäufen konnten,<br />

während sich, so die Kritiker, das Problem der Landlosigkeit<br />

<strong>und</strong> der Armut in den ohnehin benachteiligten Bevölkerungs-


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 545<br />

9.1.1 Die globale Verteilung des Maisanbaus Die Ausweitung der Produktion von Getreide, vor allem Mais, auf große Teile<br />

der Erde war einer der Erfolge der Grünen Revolution. (Quelle: Nach Hudson, J.; Espanshade, E. (Hrsg) Goode’s World Atlas.<br />

20. Auflage. Rand McNally. 2000. S. 41.)<br />

schichten noch verschlimmert habe. In Mexiko entstand ein<br />

Schwarzmarkt für Saatgut, Düngemittel <strong>und</strong> Pestizide. Ärmere<br />

Bauern, die man von den Vorteilen der neuen Komponenten<br />

überzeugt hatte, stürzten sich häufig in Schulden, die sie später<br />

nicht zurückzahlen konnten. Viele von ihnen verloren entweder<br />

ihr Land <strong>und</strong> endeten als Wanderarbeiter, oder sie gingen<br />

in die Städte <strong>und</strong> fielen der urbanen Verelendung anheim.<br />

Kritiker der Grünen Revolution vertreten die Auffassung, dass<br />

im Hinblick auf die Sicherung der Nahrungsmittelproduktion<br />

die politischen <strong>und</strong> ökonomischen Bedingungen eines Landes<br />

letztlich von größerer Bedeutung sind als das Produktionsniveau<br />

als solches.<br />

Auch was die Qualität der Feldfrüchte betrifft, entsprach<br />

die Grüne Revolution nicht immer den Erwartungen. Die neuen<br />

Züchtungen produzieren teilweise Körner, die weniger nahrhaft<br />

oder weniger wohlschmeckend sind. Die eingesetzten chemischen<br />

Düngemittel <strong>und</strong> Pestizide werden aus fossilen Brennstoffen<br />

- hauptsächlich Erdöl - hergestellt <strong>und</strong> unterliegen somit<br />

den Schwankungen der Weltmarktpreise. Darüber hinaus<br />

haben der Einsatz chemischer Stoffe in der Landwirtschaft <strong>und</strong><br />

der Anbau in Monokultur zu einem besorgniserregenden Anstieg<br />

Umweltverschmutzung <strong>und</strong> der Bodenerosion beigetragen.<br />

In zahlreichen Ländern brachten die neuen Anbaumethoden<br />

ernsthafte Bedrohungen der öffentlichen Ges<strong>und</strong>heit<br />

mit sich. Gefährdet waren insbesondere Landwirte, die den giftigen<br />

(wenn nicht tödlichen) Chemikalien regelmäßig ausgesetzt<br />

waren. Zwar profitierten einzelne Regionen von den wasserbaulichen<br />

Maßnahmen, die im Zuge der Grünen Revolution<br />

durchgeführt wurden. Weniger gut ausgestattete Gebiete erfuhren<br />

mit solchen Einrichtungen jedoch eine weitere Verschärfung<br />

der bestehenden regionalen Disparitäten. Schlimmer<br />

noch, der Druck, wasserbauliche Projekte umzusetzen<br />

<strong>und</strong> Devisen für den Import von Dünger, Saatgut <strong>und</strong> Pestiziden<br />

zu erwirtschaften, zwang die Länder, mehr Feldfrüchte für<br />

den Export anzubauen. Nicht selten geschah dies auf Kosten<br />

der lokalen Märkte.<br />

Seit einigen Jahren bemühen sich Wissenschaftler um die<br />

Entwicklung von Kulturpflanzen mit einer erhöhten Resistenz<br />

gegenüber Krankheiten <strong>und</strong> Schädlingen sowie einer größeren<br />

Toleranz gegenüber Trockenheit. Afrika ist das beste Beispiel<br />

für diese veränderte Zielrichtung. Das International Institute of<br />

Tropical Agriculture im nigerianischen Ibadan beschäftigt sich<br />

intensiv mit Fragen der Nahrungsmittelproduktion in den humiden<br />

<strong>und</strong> subhumiden Tropen Afrikas, unter anderem mit der<br />

diesbezüglichen Eignung von Maniok, den die Portugiesen im<br />

16. Jahrh<strong>und</strong>ert aus Südamerika nach Afrika mitgebracht hatten,<br />

Yams, Süßkartoffel, Mais, Sojabohne <strong>und</strong> Cowpea, einer<br />

Körnerleguminose. Das International Crops Research Institute<br />

for the Semi-Arid Tropics mit Hauptsitz im indischen Hyderabad<br />

<strong>und</strong> einem großen Forschungszentrum bei Niamey in Niger<br />

forscht über die Haupterzeugnisse der Sahelzone wie Sorghum,<br />

Hirse, Pigeonpea - eine Straucherbse - <strong>und</strong> Erdnuss.<br />

In Afrika konzentriert sich der Schwerpunkt der Forschungen<br />

auf Versuche, die Aufschluss darüber geben sollen, wie sich<br />

neue Varietäten unter ungünstigen Bedingungen verhalten,<br />

zum Beispiel wenn weder gepflügt noch gedüngt wird. Neue


546 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

— Fortsetzung Exkurs 9.1<br />

Varietäten werden nicht allein nach der Ertragshöhe, sondern<br />

auch nach der Ertragssicherheit unter wechselnden äußeren<br />

Bedingungen ausgewählt. Ebenso arbeitet man an der Entwicklung<br />

von Pflanzen, aus denen sowohl Tierfutter <strong>und</strong><br />

Brennstoffe als auch Nahrungsmittel gewonnen werden können<br />

<strong>und</strong> die als Zwischenfrucht - ein in Afrika gängiges Verfahren<br />

- optimale Erträge liefern. Im Sahel beschäftigen sich<br />

Wissenschaftler mit schnell reifenden Kulturpflanzen, die in<br />

der Lage sind, die in dieser Region dramatisch abnehmende<br />

durchschnittliche Dauer der Regenperiode zu kompensieren.<br />

Schließlich ist noch in zwei anderen Punkten Kritik an der<br />

Grünen Revolution laut geworden, die Zweifel an deren uneingeschränktem<br />

Nutzen aufkommen lassen. Zum einen wurde<br />

kritisiert, die Grüne Revolution habe den unbeabsichtigten<br />

Nebeneffekt gehabt, die Produktion brennbarer, in den peripheren<br />

Gebieten der Erde seit alters her verwendeter Biomasse<br />

wie Holz, Pflanzenreste <strong>und</strong> Dung verringert zu haben.<br />

Nachdem man zum Beispiel in Indien Zugtiere durch Traktoren<br />

ersetzt hatte, verringerte sich die verfügbare Menge an<br />

Dung <strong>und</strong> damit an Brennmaterial. Stattdessen gewöhnte<br />

man sich an den Brennstoff Öl, sodass Landwirte, die ihren<br />

Betrieb erfolgreich führen wollten, in immer größere Abhängigkeit<br />

von dem teuren Energieträger gerieten. Zum anderen<br />

wird der Grünen Revolution vorgeworfen, sie habe zu .einer<br />

Verringerung der genetischen Vielfalt beigetragen, indem<br />

ein breites Spektrum lokal angebauter Feldfrüchte <strong>und</strong> Varietäten<br />

ersetzt wurde durch einige wenige Anbaufrüchte <strong>und</strong><br />

Hochertragssorten. Der Anbau einzelner Varietäten auf großen<br />

Flächen (Monokultur) hat die landwirtschaftliche Produktion<br />

zudem anfälliger für Krankheiten <strong>und</strong> Schädlinge gemacht.<br />

Wenngleich gegen die Grüne Revolution im Lauf der Jahre<br />

vielerlei berechtigte Einwände geäußert wurden, haben die<br />

negativen Auswirkungen doch dazu beigetragen, dass man<br />

heute verstärkt nach neuen, innovativen Alternativen zur Lösung<br />

des Welternährungsproblems sucht. Nach <strong>und</strong> nach hat<br />

sich das Weltsystem bis in die entlegensten Regionen der<br />

Erde ausgebreitet. Gleichzeitig ist man zu sinnvollen wissenschaftlichen<br />

Ansätzen sowie zu einer Fülle neuer Kenntnisse<br />

<strong>und</strong> Einsichten hinsichtlich der Bedeutung gelangt, welche<br />

die Landwirtschaft auf allen räumlichen Maßstabsebenen besitzt<br />

- auf lokaler ebenso wie auf der globalen (Abbildung<br />

9.1.2).<br />

i i<br />

) ‘<br />

9.1.2 Auswirkungen der Grünen Revolution Diese Karte zeigt die Steigerung der Erträge durch die Grüne Revolution<br />

bei Eiweißpflanzen, Wurzelfrüchten, Mais, Reis, Weizen <strong>und</strong> anderen Getreidearten in ausgewählten Ländern in Lateinamerika,<br />

Asien, Afrika südlich der Sahara sowie dem östlichen Zentralafrika <strong>und</strong> in Nordafrika. (Quelle: Evenson, R. E., Gollin, D.<br />

Assessing the Impact o f the Green Revolution 1960-2000. In: Science 300 (2. Mai 2005) S. 759.)<br />

Sektor eingeb<strong>und</strong>ene L andw irtschaft. D er E xkurs 9.2<br />

„F enster zur W elt - L andw irtschaft u n d N a h ru n g s­<br />

m ittelin d u strie in N euseeland“ beschreibt den Einsatz<br />

solcher V erfahren an einem k o n k reten Beispiel.<br />

D as K onzept des A grobusiness h at in den letzten<br />

zwei Jahrzehnten des 20. Ja h rh u n d erts viel B eachtung<br />

gef<strong>und</strong>en. G em einhin w ird der B egriff A grobusiness<br />

m it g roßen U n tern e h m en wie C onA gra oder Del-<br />

M o n te in V erb in d u n g gebracht. U nsere Definition<br />

w eicht hiervon jedoch ab. W enngleich m ulti- <strong>und</strong><br />

tran sn atio n ale U n tern e h m en (transnational corporations)<br />

ein w ichtiges E lem ent des A grobusiness darstellen,<br />

so b ein h altet der Begriff m ehr als n u r spezifische<br />

U n tern eh m en sfo rm en . A g ro b u sin ess ist weniger


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 547<br />

eine R echtsform als vielm ehr ein kom plexes System .<br />

Tatsächlich h an d elt es sich u m ein aus vielen E inzelkom<br />

ponenten bestehendes G ebilde ö k o n o m isch er<br />

<strong>und</strong> politischer V erflechtungen, d u rch w elches die<br />

N ah rungsm ittelproduktion von der E ntw icklung<br />

des Saatguts bis zu m V erk au f u n d V erb rau ch des fertigen<br />

A grarprodukts o rganisiert w ird. M it d er D efinition<br />

von A grobusiness als System soll n ich t ausgesagt<br />

werden, dass U n te rn e h m en keine entscheidende R olle<br />

bei der P ro d u k tio n von N ah ru n g sm itteln spielen.<br />

Im G egenteil, in den Ö k o n o m ie n d er K ernregionen<br />

sind transnationale U n tern e h m en die b estim m en d en<br />

Akteure au f vielen strategisch b ed eu ten d en Stufen des<br />

P roduktionsprozesses. D ie ü b errag ende B edeutung<br />

von tran sn atio n alen U n te rn e h m e n h at m ehrere U rsachen.<br />

In erster Linie ist es ihre Fähigkeit, vielschichtige<br />

u n d kom plexe P ro d u k tio n s- u n d D istrib u tio n s­<br />

prozesse an vielen O rten gleichzeitig zu steuern. Dies<br />

erfo rd ert b eso n d ere K enntnisse d er natio n alen , regionalen<br />

u n d lokalen B estim m ungen sow ie d er preisb ild<br />

en d e n F aktoren.<br />

D as K onzept d er N ah ru n g sm ittelk ette, einer S ond<br />

erfo rm d er P ro d u k tk ette, verd eu tlich t die O rg anisatio<br />

n sstru k tu re n des A grobusiness als kom plexes p o ­<br />

litisches u n d ökonom isch es System . Eine N a h ru n g s ­<br />

m itte lk e tte b esteh t aus fü n f zentralen, u n te re in an d e r<br />

physische Um welt<br />

! Raum<br />

Zeit<br />

1 Boden<br />

I Topographie<br />

Klima<br />

1<br />

System der Nahrungsmittelproduktion<br />

Input in die Landwirtschaft<br />

Düngemittel<br />

Biotechnologie<br />

Anlagen <strong>und</strong> Maschinen<br />

Agrochemikalien<br />

Beratungsdienste<br />

Energie<br />

landwirtschaftlicher Betrieb<br />

Betriebsgröße<br />

Betriebsart<br />

Betriebsfläche<br />

Arbeit<br />

Bodenbesitzverhältnisse<br />

staatliche Agrarpolitik<br />

Einfluss auf Input<br />

Einfluss auf Produktpreise<br />

Einfluss auf landwirtschaftliche<br />

Betriebsstrukturen<br />

Finanzpolitik<br />

Erbrecht<br />

Umwelt<br />

Kredit-ZFinanzmärkte<br />

Agrarmarkt<br />

Hypotheken<br />

Geschäftsbanken<br />

Pensionsfonds<br />

Kredituntemehmen<br />

I wesentliche Kapital- <strong>und</strong> Materialflüsse<br />

I wesentliche Einflussnahme<br />

Be- <strong>und</strong> Verarbeitung<br />

Säubern <strong>und</strong> Sortieren<br />

Kühlen <strong>und</strong> Verpacken<br />

Verarbeiten<br />

Schlachten <strong>und</strong> Zerlegen<br />

Verteilung von<br />

Nahrungsm itteln<br />

Großhandel<br />

Einzelhandel<br />

Hotel- <strong>und</strong><br />

Gaststättengewerbe<br />

Verbrauch von<br />

Nahrungsm itteln<br />

Bevölkerung <strong>und</strong><br />

Bevölkerungswachstum<br />

Ernährungsgewohnheiten<br />

Kaufkraft<br />

Struktur privater Haushalte<br />

Beschäftigung<br />

internationaler Handel<br />

(Export <strong>und</strong> Import<br />

von Nahrungsmitteln)<br />

wettbewerbsfähige<br />

Produkte<br />

nicht wettbewerbsfähige<br />

Produkte<br />

Exportsubventionen<br />

Nahrungsmittelhilfen<br />

9.21 Das System der Nahrungsmittelproduktion Die Nahrungsmittelproduktion hat sich im Zuge der Industrialisierung zu einem<br />

komplexen System entwickelt, das aus verschiedenen voneinander getrennten <strong>und</strong> hierarchisch organisierten Sektoren besteht.<br />

Kräfte, die als Mittler fungieren (Staat, internationaler Handel, Geld- <strong>und</strong> Kreditwirtschaft, physische Umwelt), beeinflussen die<br />

Funktionsweise des Systems auf sämtlichen gesellschaftlichen <strong>und</strong> geographischen Maßstabsebenen. (Quelle; Bowler, I. (Hrsg.)<br />

The Geography o f Agriculture in Developed Market Economies. New York (J. Wiley & Sons) 1992. S. 12.)


548 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

v erb u n d enen A bschnitten (In p u t, P ro d u k tio n , V erarbeitung,<br />

V ertrieb u n d V erb rau ch ), die m it externen,<br />

v erm itteln d en F aktoren (Staat, in tern atio n aler H a n ­<br />

del sow ie K redit- u n d G eldw irtschaft) v erk n ü p ft<br />

sind. In A bbildung 9.21 sind die V erb in d u n g en<br />

u n d B eziehungen dargestellt, die zw ischen d en jew eiligen<br />

A bschnitten u n d E lem enten bestehen. D ie G rafik<br />

veranschaulicht u n te r an d erem d en Z u sam m en ­<br />

h ang zw ischen staatlicher A grarpolitik, la n d w irtschaftlichem<br />

In p u t, Preisgefüge, landw irtschaftlicher<br />

B etriebsstruktur u n d physischer U m w elt.<br />

D as K onzept der N ah ru n g sm ittelk ette v eransch aulicht<br />

die k o m plexen V erb in d u n g en zw ischen P ro d u ­<br />

zenten u n d K o n su m enten sow ie zw ischen O rten u n d<br />

R egionen. So existieren zum Beispiel V erknüpfungen<br />

zw ischen der R in d erp ro d u k tio n in d er A m azonasregion<br />

u n d in M exiko, d er H erstellung von Fleischkon-<br />

Der Begriff „Agrobusiness“ bezeichnet einen über den traditionellen<br />

Agrarsektor hinausgehenden, übergreifenden Produktionskomplex.<br />

Agrobusiness umfasst danach alle Wirtschaftsbereiche<br />

im Zusammenhang mit der Landwirtschaft. Viele Elemente<br />

des Agrobusiness finden sich auch in bestimmten Auffassungen<br />

des Begriffs Agrarsystem wieder, wobei dieser weit<br />

über den rein wirtschaftlichen Aspekt hinausgeht. Die gelegentlich<br />

anzutreffende Verengung des Begriffs Agrobusiness<br />

auf das deutsche Wort „Nahrungswirtschaft“ ist angesichts<br />

der zunehmenden Bedeutung der Produktion von nachwachsenden<br />

Rohstoffen durch die Landwirtschaft nicht angemessen.<br />

Das Agrobusiness ist als Ergebnis der fortschreitenden<br />

Arbeitsteilung zu sehen. Im Verlauf dieser Entwicklung hat<br />

sich das vielseitige Produktionsprogramm des hauswirtschaftlich-landwirtschaftlichen<br />

Betriebs durch Ausgliederungen<br />

stark vereinfacht, der Landwirt wurde gleichzeitig auf die Rolle<br />

des Rohstofferzeugers reduziert. Ohne fachgerechte Homogenisierung,<br />

Stabilisierung <strong>und</strong> Konservierung <strong>und</strong> ohne Marketingstrategien<br />

beziehungsweise moderne Vertriebslogistik,<br />

wie sie der Fachhandel <strong>und</strong> die großen Ladenketten erwarten,<br />

kann der Produzent seine Güter allenfalls in Nischenbereichen<br />

(zum Beispiel Produkte des ökologischen Landbaus) absetzen.<br />

In der Regel wird die Produktionskette heute von ihrem Ende<br />

her gesteuert. In diesem nachgelagerten Bereich werden zugleich<br />

bei der Wertschöpfung die höchsten Gewinne erzielt,<br />

während in den Anfangsstufen nur noch geringe Gewinne<br />

zu erwirtschaften sind. Daneben gibt es einen - deutlich<br />

schwächeren - Vorgang der Eingliederung von industriellen<br />

Prozessen in die Landwirtschaft. Der zur Beschreibung des<br />

Produktionssystems eigentlich wertneutrale Begriff Agrobusiness<br />

wurde zur Beschreibung der Expansion kapitalistischer<br />

Produktionsweisen <strong>und</strong> dem Vordringen transnationaler Nahrungsmittelkonzerne<br />

ideologisch befrachtet, sodass er heute<br />

nicht mehr nur für das Produktionssystem, sondern auch für<br />

die Institution Verwendung findet, die das System kontrolliert<br />

<strong>und</strong> die Gewinne abzweigt, das heißt insbesondere für die mulserven<br />

im G renzgebiet zw ischen M exiko <strong>und</strong> den<br />

V ereinigten Staaten, d er V erfügbarkeit von tiefgek<br />

ü h lten H am b u rg e rn in den L ebensm ittelläden der<br />

K ernregion u n d d er E rrichtu n g von M cD onald’s-<br />

R estaurants in M oskau. K om plizierte N ahrungsm ittelketten<br />

w ie diese sind d afü r verantw ortlich, dass traditionelle<br />

A grartechniken in den perip h eren Region<br />

en zu n e h m e n d von k apitalintensiven V erfahren verd<br />

rän g t w erden.<br />

D ie T atsache, dass industrielle V erfahren die Landw<br />

irtschaft langsam aber u n au fh altsam verändern, ist<br />

seit d er zw eiten A g rarrevolution zu beobachten. Das<br />

gegenw ärtige System d er N ahrungsm ittelproduktion<br />

u n terscheid et sich von frü h eren insofern, als die<br />

L andw irtschaft heute n u r n o ch eine K om ponente<br />

in n erh alb eines k o m p lex en u n d m ehrdim ensionalen<br />

ö k o n o m isch en Prozesses darstellt. D ieser Prozess<br />

I I<br />

Agrobusiness<br />

tinationalen Unternehmen (transnational agrobusinesses). Ins<br />

besondere die Rolle, welche diese Agrobusiness-Unternehmen<br />

in Entwicklungsländern spielen, wird sehr kritisch gesehen.<br />

In den USA beherrschen überbetriebliche Unternehmensformen<br />

in steigendem Maße den gesamten Produktions- <strong>und</strong><br />

Vermarktungsprozess <strong>und</strong> schränken die Entscheidungsfreiheit<br />

des einzelnen Farmers, der den hohen Kapital- <strong>und</strong> Organisationsaufwand<br />

nicht mehr leisten kann, ein (corporate invasion).<br />

Große, zum Teil nichtagrarische Kapitalgesellschaften<br />

(agrobusiness firms) organisieren <strong>und</strong> finanzieren die horizontale<br />

<strong>und</strong> vertikale Integration in der Agrarwirtschaft. Dabei<br />

werden die Produzenten durch Verträge (contract farmers) geb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> die Produktionsstufen zentral koordiniert. Entsprechende<br />

Entwicklungen sind auch für Europa zu erwarten.<br />

Die europäische Landwirtschaftspolitik arbeitet dem Agrobusiness<br />

zu. Sie orientiert sich an dem industriellen Modell<br />

„rationeller Fertigung“: Einheitlichkeit, Lagerfähigkeit, große<br />

Stückzahlen. Die Effektivität dieser Maßnahmen scheint<br />

außer Zweifel, die Hektarerträge steigen seit ihrer Umsetzung.<br />

Dieser vermeintlichen Effektivität des Agrobusiness stehen<br />

Fragen der Ethik <strong>und</strong> der Umweltwirkungen von landwirtschaftlicher<br />

Produktion kritisch gegenüber. Die nahbereichs-<br />

orientierten Wirtschaftskreisläufe, die durch lokal <strong>und</strong> regional<br />

verwurzelte Unternehmen, Genossenschaften, Banken <strong>und</strong><br />

Vertriebskanäle gesteuert wurden, befinden sich unter dem<br />

Einfluss technologischer <strong>und</strong> organisatorischer Innovationen<br />

sowie politischer Rahmensetzungen der EU in zunehmender<br />

Auflösung. Private Initiativen <strong>und</strong> staatliche Förderung versuchen<br />

dem entgegenzuwirken. Mithilfe der Biotechnologie wird<br />

eine umfassende Kontrolle <strong>und</strong> Standardisierung agrarbiologischer<br />

Systeme angestrebt. Es werden Technologiepakete<br />

entwickelt, die nur in einer integrierten Anwendung, unter<br />

Anleitung <strong>und</strong> unter Kontrollinstrumentarien der Industrie<br />

zum Erfolg führen.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 549<br />

schließt V ertrieb u n d V erm ark tu n g - die Schlüsselelem<br />

ente des D ienstleistungssektors - ebenso ein<br />

wie P roduktion u n d V erarb eitu n g im A grarsektor.<br />

Ernährungsregimes<br />

Ein E rnährungsregim e b esteh t aus einer R eihe von<br />

V erknüpfungen zw ischen N a h ru n g sm ittelp ro d u k tion<br />

<strong>und</strong> V erbrauch sow ie zw ischen In vestitionen<br />

<strong>und</strong> ö konom ischen G egebenheiten. W ie bei den<br />

A grarrevolutionen bereits beschrieben, h ab en sich<br />

die N ahrungsm ittelsystem e aus u n terschiedlichen h i­<br />

storischen P erioden heraus entw ickelt, in d en en u n ­<br />

terschiedliche politische u n d ökonom isch e K räfte<br />

wirksam w aren. W äh ren d N ah ru n g sm ittelk etten die<br />

kom plexe A rt u n d W eise deutlich m ach en , in der<br />

N ahrungsm ittel p ro d u ziert, industriell v erarbeitet<br />

<strong>und</strong> verm arktet w erden, bezieht d er B egriff des E r­<br />

nährungsregim es die D o m in a n z spezifischer E rn ä h ­<br />

rungselem ente w äh ren d eines b estim m ten Z eitab ­<br />

schnitts m it ein. O bw ohl zu jed er Z eit H u n d e rte v erschiedener<br />

N ah ru n g sm ittelk etten existieren, v ertreten<br />

einige W issenschaftler die A uffassung, dass in<br />

einer b estim m ten P eriode jew eils ein E rn äh ru n g sregime<br />

dom iniert.<br />

Die ökonom ische u n d auch die politische E n t­<br />

wicklung (B edeutungsanstieg von N atio n alstaaten )<br />

zu Beginn des 20. Ja h rh u n d erts tru g en entsch eid en d<br />

zur E ntstehung des ersten E rnährungsregim es bei. In ­<br />

nerhalb dieses System s besaß en K olonien eine w ichtige<br />

F unktion als L ieferanten billiger N ah ru n g sm ittel<br />

(insbesondere W eizen u n d Fleisch), die m an in den<br />

europäischen L ändern au fg ru n d des in G ang gek o m ­<br />

m enen Industrialisierungsprozesses d rin g en d b e n ö ­<br />

tigte. Die A u sbreitung des kolonialen A grarsektors<br />

führte indes eine „K rise“ d er landw irtschaftlichen<br />

Produktion in E u ro p a herbei. Diese w ar eine Folge<br />

der höheren K osteneffizienz d er kolonialen N ah ­<br />

rungsm ittelerzeugung, die zu einem Preisverfall in ­<br />

ländischer P ro d u k te führte, inländische lan d w irtschaftliche<br />

A rbeitskräfte freisetzte u n d die P ro d u z e n ­<br />

ten im A grarsektor dazu zw ang, nach k o stengünstigeren<br />

P roduktionsm öglichkeiten zu suchen. D ie A n t­<br />

w ort au f die n euen E rfordernisse w ar die In d u strialisierung<br />

d er L andw irtschaft, d u rch die B etriebskosten<br />

gesenkt u n d d er A grarsektor - u n te r w eiterer R e­<br />

duzierung des landw irtschaftlichen A rbeitskräftebedarfs<br />

- stabilisiert w erden k onnte. G leichzeitig en tw i­<br />

ckelten sich erste A nsätze einer V ern etzu n g von<br />

Landw irtschaft u n d In d u strie - auch A g ro -In d u strialisierung<br />

genannt.<br />

W ä h ren d ein von W eizen u n d Fleisch b estim m tes<br />

E rn äh ru n g sreg im e die L andw irtschaft bis in die<br />

1960er-Jahre w eltw eit prägte, zeichnete sich anschließ<br />

e n d bereits d er Ü bergang zu einem G em üse-F rischobst-R<br />

egim e ab. Im Z u sam m en h ang m it den sich<br />

hieraus ergebenden n eu en S tru k tu ren des N ah ru n g s­<br />

m ittelk o n su m s u n d der N a h ru n g sm ittelp ro d u k tio n<br />

w u rd e von „p o stm o d e rn e r D iät“ gesprochen, da<br />

sich in den n eu en M u stern eine deutliche V erschieb<br />

u n g von G etreide u n d Fleisch h in zu leichter verd<br />

erblichen L ebensm itteln w ie O b st u n d G em üse w i­<br />

derspiegelt. Eng verflochtene N etzw erke von N a h ­<br />

rungsm ittelk etten , die ihrerseits ü b er lückenlose<br />

K ühlketten v erb u n d e n sind, beliefern die K ernregion<br />

en W esteuropa, N o rd a m e rik a u n d Japan m it frischem<br />

, teils exotischem , teils zu d er en tsp rech en d en<br />

Jahreszeit in den B estim m ungsländern n icht verfügb<br />

arem O bst u n d G em üse aus allen T eilen d er W elt.<br />

V ergegenw ärtigt m a n sich, dass die heutigen P ro d u k ­<br />

tionssystem e der P erip h erie a u f die B edürfnisse d er<br />

V erb rau ch er der K ernregionen zugeschnitten sind,<br />

so w erden N ah ru n g sm itteln etzw erk e u n d S tru k tu ren<br />

erk ennbar, wie sie fü r den Im perialism us des 19. Ja h r­<br />

h u n d e rts charakteristisch w aren. T atsächlich b e tra c h ­<br />

ten es die V erb rau ch er in den K ernregionen h eu te als<br />

selbstverständlich, in den F rischobstabteilungen d er<br />

L ebensm ittelgeschäfte zu jed er Jahreszeit aus einem<br />

breiten S o rtim en t v erschiedenster O bst- u n d G e m ü ­<br />

sesorten w ählen zu k ö n n en .<br />

D ie H erau sb ild u n g eines n eu en E rn ähru n g sregim<br />

es a u f der G r<strong>und</strong>lage von frischem O b st u n d G e­<br />

m üse w urde d u rch den E inzelhandel gefördert, der<br />

m it sym bolischen H inw eisen u n d A nreizen die K u n ­<br />

d en zum K auf exotischer P ro d u k te anim ierte. Leb<br />

en sm ittelm ärk te setzten bei d er E in fü h ru n g n eu er<br />

O bst- u n d G em üsesorten a u f die assoziative V erb in ­<br />

d u n g m it g es<strong>und</strong>er u n d g en u ssb eto n ter E rn äh ru n g<br />

sow ie a u f den P restigew ert der P ro d u k te. A uf diese<br />

W eise fü h rte d er globale W andel der A g rarp ro d u k tio<br />

n schließlich zu einem n eu en E rnährungsregim e,<br />

das d u rch die beigegebenen k u lturellen B otschaften<br />

a u f lokaler E bene gefestigt u n d verstärkt w urde. D a­<br />

rü b er hin au s h ab en G lobalisierungstrends n icht n u r<br />

V erän d eru n g en d er trad itio n ellen landw irtschaftlichen<br />

M eth o d en bew irkt, so n d e rn auch einen allgem<br />

einen W andel d er E rn ähru n g s- u n d K onsum gew<br />

o h n h eiten aufseiten d er V erbraucher, u n d zw ar<br />

w eltw eit.


U l<br />

^vi 550 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Exkurs 9.2<br />

Fenster zur Welt - Neue Strukturen der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> des Nahrungsmittelsektor in Neuseeland<br />

Die Neustrukturierung des internationalen Handels, die Aktivitäten<br />

transnationaler Unternehmen <strong>und</strong> die Änderungen staatlicher<br />

Politik können beträchtliche Auswirkungen auf den<br />

Agrarsektor <strong>und</strong> die ländlichen Räume verschiedenen Länder<br />

haben. So hat sich die Landwirtschaft beispielsweise durch<br />

den Prozess der horizontalen Integration, im Zuge dessen kleinere<br />

Betriebe in größeren Einheiten aufgingen (zum Beispiel<br />

indem benachbarte Höfe zu großen Betrieben verschmolzen<br />

<strong>und</strong> kleine Familienbetriebe dadurch verschwanden), wie<br />

auch durch vertikale Integration, indem ein einzelnes Unternehmen<br />

mehrere Stufen innerhalb des Produktionsprozesses<br />

kontrolliert (zum Beispiel wenn ein Unternehmen gleichzeitig<br />

Inhaber von Firmen ist, die Düngemittel <strong>und</strong> Saatgut herstellen,<br />

sowie weiterverarbeitende Fabriken <strong>und</strong> Supermärkte besitzt)<br />

stark verändert. Das internationale Unternehmen ConAgra,<br />

zu dem Getreide produzierende Betriebe, Weideflächen,<br />

Fleisch produzierende Betriebe <strong>und</strong> Einrichtungen für den Vertrieb<br />

an den Großhandel gehören, ist ein Agrobusiness, das die<br />

Nahrungsmittelproduktion von der Herstellung von Agroche-<br />

mikalien <strong>und</strong> der genetischen Manipulation in der Nutztier-<br />

<strong>und</strong> Pflanzenzucht bis zu Weiterverarbeitung, Vertrieb <strong>und</strong><br />

Verbrauch eines Agrarprodukts kontrolliert.<br />

Ein eindrucksvolles Beispiel für den Anpassungsdruck an<br />

die weltweite Neustrukturierung des Nahrungsmittelsektors,<br />

dem bestimmte Länder ausgesetzt sind, bietet Neuseeland.<br />

Geographen wie Richard Le Heron <strong>und</strong> Guy Robinson haben<br />

beschrieben, wie sich die neuseeländische Landwirtschaft<br />

seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert mit einer starken Orientierung auf<br />

700000<br />

600000 -<br />

500000 -<br />

J 400000<br />

o<br />

Q<br />

■D 300000<br />

c<br />

_c0<br />

o 200000<br />

100000<br />

c§r<br />

cxR'<br />

■Wein<br />

Käse<br />

'Tafeläpfel<br />

Butter<br />

■Kiwi<br />

' Rehfleisch<br />

■Wolle (gesamt) ' Lammfleisch<br />

1 Neuseeland-Dollar = 0,70 US-Dollar<br />

9.2.1 Landwirtschaftliche Produktion in<br />

Neuseeland Die Struktur der landwirtschaftlichen<br />

Exporte aus Neuseeland hat sich in Reaktion auf die<br />

Neustrukturierung des globalen Handels <strong>und</strong> der<br />

weltweiten Nachfrage nach Agrarerzeugnissen<br />

verändert. Während die Exporte der traditionellen<br />

Ausfuhrprodukte Lammfleisch <strong>und</strong> Butter nach wie<br />

vor hoch sind, haben sich die Exporte bei Wolle<br />

stark verringert. Stark zugenommen hat die Ausfuhr<br />

nicht traditioneller Exporterzeugnisse wie Kiwi,<br />

Beerenfrüchte, Avocado, Wein <strong>und</strong> Rehfleisch.


Die globale Umstrukturierung der Agrarsysteme 551<br />

9.2.2 Kiwi-Produktion Diese Kiwi-Pflanzungen auf der<br />

Nordinsel Neuseelands sind durch Baumreihen unterteilt, um<br />

die empfindlichen Früchte vor starkem Wind zu schützen.<br />

den Export von Schaf- <strong>und</strong> Lammwolle auf der Gr<strong>und</strong>lage ausgedehnter<br />

Weideflächen <strong>und</strong> einem garantierten Absatzmarkt<br />

in Großbritannien entwickelt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

entstand ein zweites Regime, das eine kleinbetrieblich strukturierte<br />

Milchwirtschaft <strong>und</strong> die Produktion von Erzeugnissen<br />

wie Butter einschloss, die in Kühlschiffen exportiert wurden.<br />

Um die Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nahm die neuseeländische<br />

Regierung starken Einfluss auf die Landwirtschaft, <strong>und</strong> zwar in<br />

Form von „marketing boards“, die durch Qualitätskontrollen,<br />

Subventionen <strong>und</strong> gezielte Marketingstrategien Beziehungen<br />

zwischen Landwirten <strong>und</strong> den internationalen Märkten vermittelten.<br />

In den 1970er-Jahren führten der Schock der Ölkrise (durch<br />

die sich landwirtschaftliche Betriebsmittel verteuerten) <strong>und</strong><br />

der Beitritt Großbritanniens in die Europäische Gemeinschaft<br />

mit dem daraus resultierenden Verlust eines geschützten<br />

Markts zu weiteren Subventionen für Produzenten. Die Ausgaben<br />

für Betriebsmittel wie Dünger machten mehr als ein Drittel<br />

der Einnahmen eines landwirtschaftlichen Betriebs aus. Doch<br />

selbst diese staatlichen Hilfen konnten in Neuseeland die steigenden<br />

Ausgaben für Betriebsmittel <strong>und</strong> den Verlust von Absatzmärkten<br />

für die Haupterzeugnisse Wolle, Fleisch <strong>und</strong> Milch<br />

nicht ausgleichen, sodass manche Landwirte ihre Produktion<br />

diversifizierten <strong>und</strong> mit nichttraditionellen Exporterzeugnissen,<br />

wie auf Wildfarmen produziertem Rehfleisch <strong>und</strong> Früchten wie<br />

Kiwis oder Nashi-Birnen, auf das neue globale Nahrungsmittelregime<br />

mit seiner starken Präferenz für Spezialitäten <strong>und</strong> importiertes<br />

Obst <strong>und</strong> Gemüse reagierten (Abbildungen 9.2.1<br />

<strong>und</strong> 9.2.2).<br />

Ein kompletter Kurswechsel in der Agrarpolitik im Jahr<br />

1984 beendete schlagartig fast sämtliche staatliche Maßnahmen<br />

zur Stabilisierung von Preisen, zum Schutz des Handels<br />

sowie Subventionen für Landwirtschaftsbetriebe. Außerdem<br />

mussten die Landwirte nun für Erschließungsmaßnahmen,<br />

Wasser <strong>und</strong> Qualitätsprüfungen bezahlen. Das Einkommen<br />

der Betriebe verringerte sich dadurch um bis zu 50 Prozent,<br />

die Verschuldung nahm zu, jeder zehnte landwirtschaftliche<br />

Betrieb wurde verkauft, die Herden wurden deutlich verkleinert<br />

<strong>und</strong> 10 000 Landwirte protestierten vor dem Parlamentsgebäude<br />

in Auckland. Die Agrarwirtschaft Neuseelands wurde<br />

in einen globalen Markt geworfen <strong>und</strong> bekam das, was als „internationale<br />

Farmkrise“ bezeichnet wurde, in vollem Umfang<br />

zu spüren. Andere entwickelte Staaten, darunter die Vereinigten<br />

Staaten, Kanada <strong>und</strong> europäische Länder, hielten dagegen<br />

an Subventionen <strong>und</strong> unterstützenden Regulierungen für ihre<br />

Landwirtschaftssysteme fest. Wenngleich Neuseelands Landwirte<br />

durch entsprechende Anpassung der Herdengrößen <strong>und</strong><br />

Umstellung auf neue Kombinationen von Anbaufrüchten mit<br />

den veränderten Bedingungen ganz gut zurecht kamen, gaben<br />

doch manche auf, deren Besitz dann horizontal in größere Betriebe<br />

integriert wurde. Neuseeland war auch eines der ersten<br />

Länder, die eine Zertifizierung organisch oder biologisch erzeugter<br />

Agrarprodukte eingeführt haben, für die es auch im<br />

Inland einen kräftig wachsenden Markt gibt. Transnationale<br />

Agrobusiness-Konzerne wie H.J. Heinz übernahmen weiterverarbeitende<br />

Betriebe in Neuseeland mit dem Ziel, die wachsenden<br />

Märkte Asiens zu bedienen. Michael Moore, der in seiner<br />

Funktion als neuseeländischer Handelsminister den Sprung<br />

seines Landes in das kalte Wasser des freien Marktes massiv<br />

vorbereitet hatte, wurde später Generaldirektor der Welthandelsorganisation,<br />

zuständig für den weltweiten Abbau<br />

von Handelsschranken.


552 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsnnittelsektor<br />

Monokultur<br />

Den ständigen Anbau der gleichen Kulturpflanze (Selbstfolge)<br />

auf dem gleichen Standort (Feld, Plantage) nennt man Monokultur.<br />

Bei einjährigen Kulturen lässt sich ein wiederholter Anbau<br />

der gleichen Pflanzenart innerhalb eines Jahres oder in<br />

jährlichem Abstand vollziehen. Größere Abstände ergeben<br />

sich bei mehrjährigen Kulturen. Bei Dauerkulturen sind es<br />

Jahrzehnte, die zwischen einem wiederholten Anbau liegen.<br />

Monokultur ist auf Dauer nur möglich, wenn besondere Anbauverfahren<br />

<strong>und</strong> geeignete Pflanzenarten, wie beispielsweise<br />

bei der teils seit Jahrh<strong>und</strong>erten betriebenen Wasserreismonokultur<br />

in dicht besiedelten Gebieten Asiens, angewandt werden.<br />

Auch beim selbstverträglichen Mais ist aus Südamerika<br />

langjährige Monokultur bekannt. Monokultur basiert auf dem<br />

Minimumprinzip, dem ökonomischen Gr<strong>und</strong>satz, nach dem so<br />

gewirtschaftet werden soll, dass ein gegebenes Ziel mit möglichst<br />

geringem Aufwand erreicht wird.<br />

Allgemein ist Monokultur mit einem Ertragsabfall bis zu<br />

einem etwa gleich bleibenden niedrigen Ertragsniveau oder<br />

auch bis zum völligen Ertragsausfall verb<strong>und</strong>en. Wirkungsfaktoren<br />

bei durch Monokultur bedingtem Ertragsabfall sind:<br />

• starke Vermehrung von artspezifischen Schädlingen <strong>und</strong><br />

Krankheitserregern<br />

• hohe Ab<strong>und</strong>anz artspezifischer Unkräuter<br />

• verminderte Nährstoffverfügbarkeit durch veränderte biologische<br />

Aktivität <strong>und</strong> eine veränderte Bodenstruktur<br />

• einseitiger Nährstoffentzug<br />

• Einengung des Durchwurzelungsraums aufgr<strong>und</strong> einer<br />

ständig wiederkehrenden, gleichartigen Bodenbearbeitung<br />

• Akkumulation artspezifischer Substanzen mit wachstumshemmenden<br />

Eigenschaften<br />

Außer im Feldbau ist Monokultur auch in der Forstwirtschaft<br />

verbreitet.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

Globale Veränderungen der<br />

Landwirtschaft als Auslöser<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

technologischen Wandels<br />

In den vorangegangenen A bschnitten dieses K apitels<br />

sollte aufgezeigt w erden, wie die G lobalisierung der<br />

L andw irtschaft d u rch dieselben politischen u n d ö k o ­<br />

n o m isch en V erän d eru n g en ausgelöst u n d voran g e­<br />

trieb en w u rd e wie die G lobalisierung d er In dustrie.<br />

D ie L andw irtschaft unterlag in d er zw eiten H älfte<br />

des 20. Jah rh u n d erts in b eso n d erem JVIaße d em E influss<br />

technologischer E ntw icklungen. M echanische,<br />

chem ische u n d biologische R evolutionen h ab en zu<br />

einer gr<strong>und</strong>leg en d en T ransfo rm atio n landw irtschaftlicher<br />

M eth o d en geführt. N ich t anders als im in d u s­<br />

triellen Sektor h at sich auch die N eu stru k tu rie ru n g<br />

d er L andw irtschaft in zahllosen T eilschritten der A n ­<br />

passung u n d des W id erstan d s vollzogen.<br />

Die neu entstanden en A grarproduktionssystem e<br />

schaffen n ich t n u r ö k o n o m isch en W ettbew erb, so n ­<br />

d ern fü h ren auch zu K onflikten u n d K o n k u rren z in ­<br />

n erhalb soziokultureller System e.<br />

Zwei Beispiele des sozialen<br />

, Wandels_________________<br />

A n den A usw irkungen eines staatlichen Entwicklungsprojekts<br />

zu r E in fü h ru n g des Nassreisanbaus<br />

im E inzugsgebiet des G am bia-Flusses w ird deutlich,<br />

a u f w elch vielfältige W eise die G lobalisierung der<br />

A g rarp ro d u k tio n die G eschlechterbeziehungen zwischen<br />

u n d in n erh alb von F am ilien beeinflussen<br />

kann. D ie R egierung G am bias legte in den 1980er-<br />

Jahren m it U n terstü tzu n g der W est African Rice<br />

D evelopm ent A ssociation ein P rogram m auf, das<br />

die E tablierung des R eisanbaus in den Uferregionen<br />

des G am bia-Flusses zu m Ziel hatte.^ Das Projekt verfolgte<br />

die A bsicht, eine landeseigene Reiserzeugung<br />

aufzubauen, u m die A bhängigkeit von Im porten zu<br />

v erringern. D u rch lokale V ertreter, die im Rahmen<br />

des P rojekts eingestellt w o rd en w aren, ließ die Regieru<br />

n g ein K om plettp ak et gem äß d er G rünen Revolu<br />

tio n , b esteh end aus ertragreichen Reissorten, D üng<br />

em itteln u n d P estiziden, an 2 000 K leinbauern in<br />

70 D ö rfern verteilen. D iese, so die H offnung der Initiato<br />

ren , sollten d ad u rc h in die Lage versetzt werden,<br />

zwei R eisernten jährlich zu erzielen (A bbildung 9.22).<br />

M ä n n er u n d F rauen w aren gleicherm aßen in das Projek<br />

t eingeb<strong>und</strong>en.<br />

Verändert nach Carney, J. Converting the Wetlands, Engendering the<br />

Environment: The Intersection of Gender with Agrarian Change in The<br />

Gambia. In: Economic Geography 69 (4). 1993. S. 329-349


Globale Veränderungen der Landwirtschaft als Auslöser gesellschaftlichen <strong>und</strong> technologischen Wandels 553<br />

9.22 Gambische<br />

Frauen bei der Reisernte<br />

Entwicklungsprogramme<br />

haben Probleme<br />

in gambischen Haushalten<br />

geschaffen, weil die<br />

Frauen nach ihrem eigenen<br />

Zeit- <strong>und</strong> Arbeitsplan<br />

Reis für die Ernährung der<br />

Familie <strong>und</strong> für die lokalen<br />

Märkte produzieren wollten<br />

<strong>und</strong> es dadurch zu<br />

erheblichen Störungen<br />

der traditionellen landwirtschaftlichen<br />

Arbeitsweisen<br />

<strong>und</strong> Geschlechterbeziehungen<br />

kam.<br />

Der Erfolg des P rojekts h ing von d er U m verteilung<br />

der A rbeit ebenso ab w ie von der N e u o rd n u n g d er<br />

Boden- u n d N utzungsrechte. W as die V erfügbarkeit<br />

weiblicher A rbeitskräfte u n d die d am it v erb u n d en en<br />

Kosten betraf, w ar m an allerdings von falschen V o ­<br />

raussetzungen ausgegangen. D ad u rch k am es zu e r­<br />

heblichen P roblem en zw ischen E h ep artn ern . D enn<br />

wie sich herausstellte, standen die F rauen gerade in<br />

den Zeiten als A rbeitskräfte nich t zu r V erfügung,<br />

in denen sie n ach den M aßgaben des E ntw icklungs­<br />

program m s am d rin g en d sten benötigt w u rd en . Folglich<br />

kam es zu erheblichen S törungen d er trad itio n ellen<br />

landw irtschaftlichen A rbeitsw eisen u n d G e­<br />

schlechterbeziehungen. E h ep artn er w aren u n te r­<br />

schiedlicher M einung, inw iew eit m an d era rt w eitreichende<br />

R egelungen der zeitlichen V erteilung d er A r­<br />

beit zu akzeptieren b ereit sei o d er w er ü b er w elches<br />

Stück Land u n d die E rnte b estim m en darf. D ie U n ­<br />

stim m igkeiten fü h rten schließlich dazu, dass das gesamte<br />

Projekt gefährdet w ar.<br />

Dass sich die G lobalisierung d er L andw irtschaft<br />

nicht n u r au f die Ö k o n o m ie n u n d G esellschaften p e­<br />

ripherer L änder ausw irkt, lässt sich an einem an d eren<br />

Beispiel zeigen. In den 1980er-Jahren k am es in den<br />

Vereinigten S taaten zu einer Situation, die als F a rm ­<br />

krise bezeichnet w ird. D ah in ter verbarg sich d er<br />

finanzielle Z u sam m en b ru ch T au sen d er la n d w irtschaftlicher<br />

F am ilienbetriebe im M ittleren W esten<br />

der USA. A uch die K leinstadt L exington in N ebraska<br />

war von der Krise betroffen u n d w u rd e zu einem<br />

Schauplatz gesellschaftlicher S p an n u n g en u n d K onfiikte.^<br />

D en a u f die G etreid ep ro d u k tio n spezialisierten<br />

A grarsektor des B <strong>und</strong>esstaates N ebraska h atte<br />

der Z u sam m en b ru ch d er in tern atio n alen G etreid e­<br />

m ärk te im Jahr 1985 b esonders h a rt getroffen. D ie ra ­<br />

pide V erteu eru n g d er B odenpreise, der A bbau in d u s­<br />

trieller A rbeitsplätze, d er B an k ro tt einer w achsenden<br />

Z ahl von F arm en u n d sinkende Erlöse bei F eldfrüchten<br />

ließen U n te rn e h m e r n ach A usw egen aus d er K rise<br />

suchen, u n te r d er die W irtsch aft des gesam ten B u n ­<br />

desstaates litt. M an setzte a u f das V erpacken von<br />

Fleisch u n d sah in diesem Industriezw eig neue C h a n ­<br />

cen für w irtschaftliches W ach stu m . Staatliche S teu ervergünstigungen<br />

u n d an d ere A nreize für U n te rn e h ­<br />

m en veranlassten den L ebensm ittelgiganten IBP<br />

Inc., in L exington, dam als eine kleine L andstadt<br />

m it 6 600 E in w o h n ern , eine Fleischverpackungsfabrik<br />

zu bauen.<br />

Z u m Jahresende 1992 n ah m die Fabrik m it 2 000<br />

B eschäftigten den B etrieb auf. D ie M ehrzahl d er A r­<br />

beiter w aren Im m ig ran ten , hau p tsäch lich F rauen u n d<br />

M ä n n er aus M exiko u n d M ittelam erika, die das U n ­<br />

te rn e h m en bevorzugt eingestellt h atte, u m die K osten<br />

n iedrig zu halten. D erartige Strategien sind in d er US-<br />

am erikanischen F leischverpackungsindustrie w eit<br />

verbreitet. D ie A n k u n ft einer so großen Z ahl n euer<br />

M itb ü rg er brach te jed o ch für die S tadt e n o rm e soziale<br />

u n d ö k o n o m isch e P ro b lem e m it sich. Es k am zu e th ­<br />

nisch m otiv ierten S p an n u n g en u n d R essentim ents<br />

zw ischen den Z ugezogenen u n d d en eingesessenen<br />

B ürgern d er S tadt - in der M ehrzahl N ach fah ren<br />

eu ro p äisch er A usw anderer - u n d auch in n erh alb<br />

d er einheim ischen B evölkerung.<br />

Verändert nach Gouveia, L. Global Strategies and Local Linkages: The<br />

Gase of the U.S. Meatpacking Industry. In: Bonanno, A. et al. (Hrsg.)<br />

From Columbus to ConAgra: The Globalization of Agriculture and Food.<br />

Lawrence (University of Kansas Press) 1994. S. 125-148


554 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Ebenfalls als Auswirkung der neuen Fabrik erlebte<br />

der örtliche Wohnungsmarkt mehrere Krisen, sodass<br />

erste Obdachlosenunterkünfte errichtet werden<br />

mussten. Außerdem war die Stadt gezwungen, die<br />

Mittel zum Ausbau der Schulen aufzustocken sowie<br />

ein neues größeres Gefängnis zu bauen. Ferner war<br />

ein steiler Geburtenanstieg zu verzeichnen, insbesondere<br />

in den Bevölkerungsschichten, die keine<br />

Krankenversicherung besaßen. Im Jahr 1993 hatte<br />

Lexington die höchste Kriminalitätsrate ganz Nebraskas.<br />

Das Beispiel der Farmkrise in den Vereinigten<br />

Staaten macht deutlich, welche Auswirkungen Veränderungen<br />

der Landwirtschaft in den Kernregionen<br />

hatten - insbesondere für die agrarische Bevölkerung.<br />

Biotechnologische Verfahren<br />

, in der Landwirtschaft______<br />

Seit im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert der österreichische Botaniker<br />

Gregor Mendel die Gesetzmäßigkeiten der Vererbung<br />

bei Pflanzen <strong>und</strong> der französische Chemiker Louis<br />

Pasteur den Prozess der Gärung entdeckt hatten,<br />

war die Manipulation <strong>und</strong> gezielte Veränderung biologischer<br />

Organismen für die Entwicklung der Landwirtschaft<br />

von zentraler Bedeutung. Die jüngste Erscheinungsform<br />

des wissenschaftlichen Einflusses<br />

auf die Agrarproduktion stellt die Biotechnologie<br />

dar. Der Begriff Biotechnologie bezieht sich auf<br />

alle Verfahren, bei denen lebende Organismen oder<br />

Teile von Organismen verwendet werden, um bestimmte<br />

Eigenschaften von Pflanzen oder Tieren zu<br />

verbessern oder Mikroorganismen für spezielle Anwendungszwecke<br />

zu entwickeln. Rekombination<br />

von Genen, Züchtung von Gewebekulturen, Zellfusion,<br />

Enzyme, Fermentationstechnologien <strong>und</strong> Embryotransfer<br />

sind nur einige der bekannteren Schlagworte<br />

im Zusammenhang mit dem Einsatz biotechnologischer<br />

Verfahren in der Landwirtschaft.<br />

Das häufigste Argument für den Einsatz der Biotechnologie<br />

in der Agrarwirtschaft lautet, dass durch<br />

die neuen Verfahren Produktionskosten gesenkt <strong>und</strong><br />

Ressourcen geschont würden - indem man natürliche<br />

durch industriell gewonnene Ressourcen ersetzt. Neben<br />

der Kostensenkung in der Lebensmittelproduktion<br />

sah man in der Biotechnologie weitere Vorzüge<br />

im Zusammenhang mit Fragen der Überproduktion<br />

<strong>und</strong> Verderblichkeit landwirtschaftlicher Erzeugnisse,<br />

der Umweltschädigung durch chemische Düngemittel<br />

<strong>und</strong> Pestizide, der Übernutzung <strong>und</strong> Bodenerschöpfung<br />

<strong>und</strong> vieler anderer Probleme, die eine<br />

rentable Landwirtschaft gefährden können.<br />

In der Tat hat die Biotechnologie eindrucksvolle<br />

Antworten auf diese <strong>und</strong> andere drängende Fragen<br />

gef<strong>und</strong>en. Ein aus der biotechnologischen Forschung<br />

hervorgegangenes Produkt sind „Superpflanzen“, die<br />

Dünger <strong>und</strong> Pestizide selbst produzieren, auf nährstoffarmen<br />

Böden wachsen, höchste Erträge erzielen<br />

<strong>und</strong> resistent gegenüber Krankheiten <strong>und</strong> Befall<br />

durch Mikroorganismen sind. Des Weiteren hat die<br />

Biotechnologie Verfahren zum Klonen von Organismen<br />

entwickelt. Dabei werden einer Pflanze Gewebczcllcn<br />

entnommen, aus denen man neue Pflanzen<br />

gewinnen kann. Aus solchen Gewebekulturen,<br />

die weniger als einen Kubikzentimeter Volumen besitzen<br />

können, lassen sich Millionen identischer<br />

Pflanzen produzieren. Mit diesem Verfahren verringert<br />

sich die Wachstumszeit bis zur Samenreife erheblich.<br />

Solche Innovationen mögen viele als biotechnologische<br />

W<strong>und</strong>er bestaunen, doch biotechnologische<br />

Lösungen in der Landwirtschaft haben auch ihre<br />

Schattenseiten. So sind beispielsweise geklonte Pflanzen<br />

krankheitsanfälliger als nicht manipulierte Pflanzen,<br />

vermutlich, weil jene keine Toleranzen entwickeln.<br />

Dies hat zur Folge, dass größere Mengen chemischer<br />

Stoffe eingesetzt werden müssen. Hinzu<br />

kommt, dass die Industrie einerseits aus der Entwicklung<br />

<strong>und</strong> der zunehmenden Nachfrage nach Gewebekulturen<br />

satte Gewinne zieht, während andererseits<br />

viele Landwirte aus Mangel an Wissen <strong>und</strong>/oder Kapital<br />

gezwungen sind, auf den Einsatz biotechnologischer<br />

Verfahren zu verzichten.<br />

Es ist gewiss keine Übertreibung, im Zusammenhang<br />

mit der Biotechnologie von einer Revolution der<br />

traditionellen Landwirtschaft zu sprechen. Befürworter<br />

der Biotechnologie sehen angesichts der Errungenschaften<br />

der sogenannten „Biorevolution“ die<br />

Chance, zu einer nachhaltigen Landwirtschaft <strong>und</strong><br />

Nahrungsmittelproduktion zu kommen, beziehungsweise<br />

die globale Agrarproduktion so zu steigern, dass<br />

das Ernährungsproblem einer ständig anwachsenden<br />

Weltbevölkerung gelöst werden kann.<br />

Ähnlich wie im Fall der Grünen Revolution können<br />

sich aus der Biotechnologie wiederum nachteilige<br />

Folgen für die Länder der Peripherie - sowie für Arbeiter<br />

<strong>und</strong> Kleinbauern der Kernregion - ergeben.<br />

Mittels biotechnologischer Verfahren konnten beispielsweise<br />

Pflanzen gewonnen werden, die unter äußeren<br />

Bedingungen gedeihen, an die sie natürlicherweise<br />

nicht angepasst sind. Die ökonomische Stabilität<br />

zahlreicher peripherer Länder hängt entscheidend<br />

von einer einzigen Marktfrucht ab. So exportieren die


Globale Veränderungen der Landwirtschaft als Auslöser gesellschaftlichen <strong>und</strong> technologischen Wandels 555<br />

1<br />

Tab. 9.1<br />

Biorevolution <strong>und</strong> grüne Revolution im Vergleich<br />

Gegennande/Bereiche Grüne Revolution Biorevolution<br />

betroffene Feldfrüchte Weizen, Reis, Mais potenziell alle Feldfrüchte, einschließlich Gemüse,<br />

Obst, Agrarexportprodukte <strong>und</strong> hochwertige<br />

Erzeugnisse<br />

andere betroffene<br />

Bereiche<br />

keine<br />

Pestizide, tierische Produkte, Arzneimittel, verarbeitete<br />

Agrarprodukte, Energie, Bergbau, Rüstung<br />

betroffene Gebiete diverse Entwicklungsländer alle Gebiete, Staaten, Standorte einschließlich<br />

Grenzertragsflächen<br />

technologische Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Verbreitung<br />

von Technologien<br />

Eigentumsverhältnisse<br />

Investitionskosten<br />

für Forschung<br />

Zugang zu Information<br />

Bedarf an wissenschaftlicher<br />

Qualifikation<br />

Empfindlichkeit der<br />

Feldfrüchte<br />

Nebeneffekte<br />

im Wesentlichen der öffentliche oder halb<br />

öffentliche Sektor, internationale landwirtschaftliche<br />

Forschungseinrichtungen, Forschung <strong>und</strong><br />

Entwicklung, Millionen US-Dollar<br />

Rechte <strong>und</strong> Patente auf Züchtungen nicht<br />

relevant<br />

relativ gering<br />

eingeschränkt aufgr<strong>und</strong> von Privatisierung<br />

<strong>und</strong> Eigentumsverhältnissen<br />

konventionelle Pflanzenzüchtung <strong>und</strong><br />

Agrarwissenschaft<br />

Hochertragsvarietäten relativ einheitlich,<br />

hoch empfindlich<br />

zunehmende Monokultur <strong>und</strong> Verwendung<br />

chemischer Stoffe in der Landwirtschaft,<br />

Verdrängung kleiner Agrarbetriebe, ökologische<br />

Verarmung, erhöhte Auslandsschulden<br />

infolge abnehmender Brennstoffe aus<br />

Biomasse <strong>und</strong> zunehmender Gewöhnung<br />

an teures, meist importiertes Erdöl<br />

im Wesentlichen der private Sektor, insbesondere<br />

Unternehmen, Forschung <strong>und</strong> Entwicklung,<br />

Milliarden US-Dollar<br />

Gene, Zellen, Pflanzen <strong>und</strong> Tiere ebenso patentierfähig<br />

wie entsprechende Herstellungsverfahren<br />

für manche Verfahren relativ hoch, für andere<br />

relativ gering<br />

relativ leicht aufgr<strong>und</strong> der Politik internationaler<br />

landwirtschaftlicher Forschungseinrichtungen<br />

molekular- <strong>und</strong> zellbiologisches Fachwissen <strong>und</strong><br />

Kenntnisse konventioneller Pflanzenzüchtung<br />

Vervielfältigung über Gewebekulturen führt zu<br />

identischen genetischen Kopien, noch empfindlicher<br />

Drittweltexporte werden substituiert, Herbizidverträglichkeit,<br />

zunehmender Einsatz chemischer<br />

Stoffe, Gefahr unbekannter Umweltauswirkungen,<br />

verstärkte Verdrängung kleiner landwirtschaftlicher<br />

Betriebe<br />

Quellen: Verändert nach Kenney, M.; Buttel, F. Biotechnology: Prospects and Dilemmas for Third-World Development. In: Development<br />

and Change 16.1995. S. 70; Hobbelink, H. Biotechnology and the Future o f World Agriculture: The Fourth Resource. London (Red Books)<br />

1991<br />

Länder Mittelamerikas <strong>und</strong> die Staaten der Karibik<br />

vorwiegend Bananen, Kuba in der Hauptsache Zucker,<br />

Kolumbien <strong>und</strong> Äthiopien fast ausschließlich<br />

Kaffee. Die Möglichkeit, diese <strong>und</strong> andere Exportfrüchte<br />

an alternativen Standorten anzubauen, stellt<br />

für jene Länder somit eine unmittelbare Bedrohung<br />

dar.<br />

Die Tabelle 9.1 zeigt die Effekte der Biorevolution<br />

<strong>und</strong> der Grünen Revolution bezüglich verschiedener<br />

Aspekte der globalen Agrarproduktion.<br />

Darüber hinaus ist die Verfügbarkeit modernster<br />

Technologien für die Länder der Peripherie stark eingeschränkt,<br />

da neu entwickelte Verfahren <strong>und</strong> Produkte<br />

in den meisten Fällen als Eigentum privatwirtschaftlicher<br />

Unternehmen patentrechtlich geschützt<br />

sind. Für die Nutzung biotechnologischer Verfahren<br />

müssen in der Regel Gebühren bezahlt werden, die<br />

den finanziellen Rahmen kleinerer Landwirtschaftsbetriebe<br />

sprengen würden. Da sich biotechnologische<br />

Verfahren in Privat- oder Firmenbesitz befinden,<br />

kontrollieren heute nicht mehr Landwirte, sondern<br />

Biotechnologiefirmen die Nahrungsmittelproduktion.<br />

Unter den gegebenen Umständen erscheint es<br />

nicht ausgeschlossen, dass die Ernährungssicherheit<br />

der Weltbevölkerung in Zukunft nicht mehr eine Angelegenheit<br />

auf das Gemeinwohl verpflichteter Regierungen,<br />

sondern Sache privatwirtschaftlicher Unternehmen<br />

sein wird. Mit der Veredelung <strong>und</strong> auf spezifische<br />

Verwendungen hin veränderten Pflanzen <strong>und</strong><br />

Tieren geraten viele niedrig qualifizierte Erwerbspersonen<br />

in Gefahr, ihre Arbeit zu verlieren. Entschließt<br />

sich beispielsweise ein Erzeuger, künftig eine biotechnologisch<br />

hergestellte Weizensorte anzubauen, bei<br />

der sich das Worfeln (das Entfernen der Spreu, ein


556 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

in der Regel arbeitsintensiver Prozess) erübrigt, so<br />

werden die Arbeitskräfte, die diese Tätigkeit bisher<br />

ausübten, nicht länger benötigt.<br />

Da es sich bei der biotechnologischen Revolution<br />

in der Landwirtschaft um eine noch junge Erscheinung<br />

handelt, beginnen wir erst allmählich, deren<br />

Vor- <strong>und</strong> Nachteile zu begreifen. Erkennbar ist<br />

aber bereits heute, dass diese Entwicklung von<br />

Land zu Land, von Region zu Region <strong>und</strong> von Ort<br />

zu Ort höchst unterschiedliche Auswirkungen haben<br />

wird <strong>und</strong> verschiedene Gesellschaftsschichten, Rassen<br />

<strong>und</strong> Geschlechter nicht in gleicher Weise betroffen<br />

sein werden. Möchte man die (unbeabsichtigten) Folgen<br />

für Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft sowie die systemischen<br />

Beziehungen erfassen, spielen theoretische<br />

Konzepte <strong>und</strong> Methoden der Geographie erneut eine<br />

wichtige Rolle.<br />

im 18., 19. <strong>und</strong> in der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Schutz-, Filter- <strong>und</strong> Reinigungswirkungen für<br />

Wasser, Luft <strong>und</strong> Böden<br />

durch den Einsatz von Klärschlämmen <strong>und</strong> Biokomposten<br />

Beitrag zur Schließung von Stoffkreisläufen<br />

Erhalt der sozialen Funktionen des ländlichen Lebensraumes<br />

für die Menschen<br />

Freizeit- <strong>und</strong> Erholungswert für die ländliche Bevölkerung,<br />

vor allem aber für die Menschen in den<br />

Städten <strong>und</strong> Ballungsräumen<br />

Beitrag zur Erhaltung beziehungsweise Schaffung<br />

einer regionalen Identität <strong>und</strong> spezifischen Regionalkultur,<br />

zum Beispiel Prägung der umgebenden<br />

Kulturlandschaft, des Dorfbildes <strong>und</strong> eines ortsnahen<br />

Handels<br />

A<br />

i I<br />

I I I<br />

I '<br />

Die Beziehungen zwischen<br />

Umwelt <strong>und</strong> industrialisierter<br />

Landwirtschaft<br />

Landwirtschaft bedeutet gr<strong>und</strong>sätzlich Interaktion<br />

zwischen biophysikalischen Systemen <strong>und</strong> dem Menschen.<br />

Diese enge Beziehung unterscheidet die Landwirtschaft<br />

von anderen Wirtschaftsformen, deren<br />

Funktionieren nicht auf dieselbe unmittelbare Weise<br />

von der Umwelt abhängt. Angesichts dieser gegenseitigen<br />

Abhängigkeit erscheint es dringend geboten,<br />

mit der Umwelt so umzugehen, dass auch in Zukunft<br />

Nahrungsmittel in ausreichender Menge <strong>und</strong> Qualität<br />

produziert werden können. Da die Beziehungen<br />

zwischen dem sozio-technischen System der Landwirtschaft<br />

<strong>und</strong> dem biophysikalischen System der<br />

Umwelt von vielfältigen Wechselwirkungen geprägt<br />

sind, sollen die gegenseitigen Einflüsse im Folgenden<br />

näher beleuchtet werden.<br />

Zu den positiven Wirkungen der Landwirtschaft<br />

auf die Umwelt zählen:<br />

• Schaffung <strong>und</strong> Offenhaltung der heutigen Kulturlandschaft<br />

• Ermöglichung einer gegenüber der natürlichen<br />

Vegetationsbedeckung größeren Arten- <strong>und</strong> Biotopvielfalt<br />

• Entwicklung einer großen Rassen- <strong>und</strong> Sortenvielfalt<br />

mit entsprechend genetischem Reichtum<br />

• Landschaftspflege im ökologischen Sinn als kostenloses<br />

Koppelprodukt der Nahrungs- <strong>und</strong> Rohstofferzeugung<br />

durch die extensive Landwirtschaft<br />

Zu den Belastungen der Landwirtschaft durch Umwelteinflüsse<br />

zählen:<br />

• hohe Konzentrationen von Photooxidantien - vor<br />

allem Ozon - besonders im Sommer,<br />

• saure Niederschläge durch die Oxidation von<br />

Schwefeldioxid, Stickoxiden <strong>und</strong> Ammoniak<br />

(jährlicher Aufwand von circa 150 Millionen<br />

Euro für die zur Neutralisation teilweise nötige Bodenkalkung<br />

von landwirtschaftlichen Flächen in<br />

Deutschland)<br />

• Pflanzen können Schadstoffe - auch ohne eigene<br />

Schäden - einlagern <strong>und</strong> an Konsumenten weitergeben<br />

• verstärkte UV-B-Strahlung als Folge des stratosphärischen<br />

Ozon-Abbaus (mögliche Ertragsverluste<br />

gegenwärtig nicht abschätzbar)<br />

• Radioaktive Niederschläge als Folge von Unfällen<br />

in kerntechnischen Anlagen (Three Mile Island,<br />

Windscale, Tschernobyl)<br />

• Verlust von Agrarland durch Versiegelung <strong>und</strong><br />

seine Zerschneidung durch Infrastruktureinrichtungen,<br />

zum Beispiel Straßen, Pipelines<br />

• Anpassungsprobleme an globale Klimaveränderungen<br />

Einflüsse der Umwelt auf die<br />

Landwirtschaft<br />

Mit den großen Umbrüchen der drei Agrarrevolutionen<br />

wuchs das Ausmaß der mit der Landwirtschaft<br />

verb<strong>und</strong>enen Umwelteingriffe stetig an. Der zunehmende<br />

Einsatz von Düngemitteln, Bewässerungssystemen,<br />

Pestiziden, Herbiziden <strong>und</strong> modernen Ge-


Die Beziehungen zwischen Umwelt <strong>und</strong> industrialisierter Landwirtschaft 557<br />

9.23 Bewässerungssysteme<br />

Die Disi-Oase im<br />

Süden Jordaniens an der<br />

Grenze zu Saudi-Arabien<br />

nutzt fossile Wasservorräte<br />

mit modernen Bewässerungstechniken<br />

zur<br />

kreisförmigen „Beregnung“<br />

der Felder. Um eine<br />

nachhaltige Form der<br />

Landnutzung handelt es<br />

sich dabei allerdings nicht,<br />

wird doch ein Großteil des<br />

nicht regenerierbaren<br />

Wassers zur Erzeugung<br />

von Weizen, einem Massenprodukt,<br />

genutzt, das<br />

günstiger auf dem Weltmarkt<br />

eingekauft werden<br />

könnte.<br />

wächshäusern hat dazu geführt, dass sich die Landwirtschaft<br />

zu einer Wirtschaftstätigkeit entwickelt<br />

hat, die sich immer stärker über die Grenzen der physischen<br />

Umweltbedingungen hinwegzusetzen vermochte<br />

(Abbildung 9.23). Dessen ungeachtet ist<br />

die Landwirtschaft eine Aktivität, die in hohem<br />

.Maße von Umweltfaktoren abhängig ist. Der Geograph<br />

Martin Parry schreibt hierzu: „Boden, Wasser,<br />

Witterung <strong>und</strong> Schädlinge sind beeinflussbare Größen,<br />

auf die viele der über das landwirtschaftliche<br />

Jahr zu erledigenden Arbeiten wie die Bodenbearbeitung<br />

oder das Aufbringen von Spritzmitteln abzielen.<br />

Diese Arbeiten müssen jedoch kosteneffizient sein.<br />

Das bedeutet, dass der Gewinn aus dem Anbau einer<br />

bestimmten Feldfrucht oder der Steigerung des Ertrags<br />

dieser Feldfrucht durch Düngung die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Kosten übersteigt. Häufig sind solche Verfahren<br />

jedoch schlicht unökonomisch, sodass Faktoren<br />

wie Bodeneigenschaften, Geländebeschaffenheit<br />

<strong>und</strong> Klimaverhältnisse die Landwirtschaft letztlich<br />

doch beeinflussen, indem sie das Spektrum an Feldfrüchten<br />

<strong>und</strong> Nutztieren einschränken, die rentabel<br />

angebaut beziehungsweise gehalten werden können.<br />

Dadurch setzt die physische Umwelt den Möglichkeiten<br />

der landwirtschaftlichen Nutzung, die jedem einzelnen<br />

Landwirt an jedem spezifischen Ort offen stehen,<br />

nach wie vor Grenzen (Pariy, M. Agriculture as a<br />

Resoiirce System. In: Bowler, I. (Hrsg.) The Geography<br />

ot Agriculture in Developcd Market Economies. Harlow<br />

(Longman Scientific and Technical) 1992, S. 208)“.<br />

Während die Bedeutung der Umwelt für die heutigen,<br />

in hohem Maße industrialisierten agrarwirtschaftlichen<br />

Produktionsverfahren nicht auf Anhieb<br />

deutlich wird, sind die Um weitaus Wirkungen der<br />

Landwirtschaft offenk<strong>und</strong>ig. Tatsächlich gibt es<br />

eine Fülle historischer <strong>und</strong> aktueller Beispiele für<br />

Umweltbeeinträchtigungen unterschiedlichen Ausmaßes,<br />

verursacht durch die Landwirtschaft, deren<br />

Existenz <strong>und</strong> Rentabilität gerade von den natürlichen<br />

Ressourcen abhängt.<br />

Einflüsse der Landwirtschaft<br />

auf die Umwelt<br />

Eine der ersten Veröffentlichungen über die Umweltfolgen<br />

chemischer Pestizide war das im Jahr 1962 erschienene<br />

Buch Silent Spring von Rachel Carson.<br />

Die Ökologin schildert darin eindrücklich die negativen<br />

Auswirkungen industriell erzeugter Pestizide<br />

- insbesondere DDT - auf die Ges<strong>und</strong>heit von<br />

Mensch <strong>und</strong> Tier (Abbildung 9.24). Zwar hat das<br />

Umweltbewusstsein, das durch die Veröffentlichung<br />

des Buchs geweckt wurde, zu einer Ächtung des<br />

unkontrollierten Pestizideinsatzes in fast allen Industriestaaten<br />

beigetragen, doch Chemiekonzerne<br />

produzieren diese Stoffe weiterhin, um sie in geringer<br />

entwickelten Ländern zu vermarkten. So wurde eine<br />

Art „Giftkreislauf‘ in Gang gesetzt, der sich über das<br />

gesamte Agrarsystem der Erde erstreckt.<br />

Eines der gravierendsten Probleme, mit dem sich<br />

Landwirte heute konfrontiert sehen, ist das der Bodendegradation<br />

<strong>und</strong> -erosion, die gegenüber dem natürlichen<br />

Bodenabtrag mindestens um den Faktor<br />

1 000 zugenommen hat. Zwar besteht etwa in den<br />

Vereinigten Staaten die Tendenz, Bodenerosion als


558 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

9.24 Vergifteter Kranich in Ungarn Im Frühjahr 2005<br />

wurden 150 Kilometer südöstlich von Budapest mehr als<br />

100 Kranichkadaver gef<strong>und</strong>en. Experten sagen, dass die Vögel<br />

auf ihrem Zug in das nördliche Europa sich offensichtlich durch<br />

den Verzehr von mit toxischen Pestiziden belasteten Getreidekörnern<br />

vergiftet haben.<br />

historisches Problem der Zeit des Dust Bowl in den<br />

1930er-Jahren abzutun, tatsächlich aber haben die<br />

negativen Auswirkungen der Landwirtschaft auf die<br />

Böden weltweit ein dramatisches Ausmaß erreicht<br />

(Tabelle 9.2). Unglücklicherweise sind fast alle Formen<br />

der Landwirtschaft mit erhöhtem Bodenabtrag<br />

verb<strong>und</strong>en. Wenngleich die Bodenerosion in den<br />

Vereinigten Staaten <strong>und</strong> in vielen anderen Industrieländern<br />

trotz gezielter Gegenmaßnahmen ein ernst zu<br />

nehmendes Problem darstellt, so ist dieses Problem in<br />

den peripheren Ländern noch wesentlich gravierender.<br />

Der weltweite Verlust an Bodenmaterial ist überaus<br />

kritisch, da der Boden eine begrenzte Ressource<br />

ist, die nicht ersetzt werden kann. Die Quantität <strong>und</strong><br />

Qualität des weltweit vorhandenen Bodens stellt somit<br />

einen bedeutsamen Einflussfaktor hinsichtlich<br />

der Quantität <strong>und</strong> Qualität der zu erzeugenden Nahrungsmittel<br />

dar.<br />

Durch unangepasste Bewirtschaftung verursachte<br />

Bodenerosion hat in den semiariden Regionen der<br />

Erde zu Desertifikation, das heißt zu einem flächenhaften<br />

<strong>und</strong> weitgehend irreversiblen Verlust von<br />

Oberbodenmaterial <strong>und</strong> Vegetation geführt. Als Desertifikation<br />

wird die durch klimatische Veränderungen<br />

oder anthropogene Einwirkungen bedingte Ausbreitung<br />

wüstenähnlicher Bedingungen in ariden<br />

oder semiariden Räumen bezeichnet. Desertifikation<br />

bedeutet nicht nur Bodenverlust, sondern schließt<br />

auch die Degradation von Weideflächen <strong>und</strong> Waldzerstörung<br />

mit ein (Abbildung 9.25). Neben Bodendegradation<br />

<strong>und</strong> Bodenerosion wirkt sich landwirtschaftliche<br />

Nutzung nachteilig auf die Qualität <strong>und</strong><br />

Quantität des Wassers aus, insbesondere durch übermäßige<br />

Gr<strong>und</strong>wasserentnahme <strong>und</strong> die Verschmutzung<br />

der Wasservorräte durch Herbizide, Pestizide<br />

<strong>und</strong> Düngemittel. Der Prozess der Entwaldung<br />

(Kapitel 4) kann ebenfalls durch ungeeignete landwirtschaftliche<br />

Techniken ausgelöst <strong>und</strong> verstärkt<br />

werden.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> unangepasster Landnutzungstechniken<br />

<strong>und</strong> der daraus resultierenden Zerstörung<br />

komplexer Ökosysteme formierte sich in<br />

den 1980er-Jahren eine innovative Bewegung, die international<br />

unter dem Schlagwort debt-for-nature<br />

swap (Schuldenerlass in Verbindung mit Umweltschutzprojekten)<br />

bekannt wurde. Dabei handelte es<br />

!!1 Tabelle 9.2 Degradierte Bodenfläche weltweit (in Millionen Hektar)<br />

Region<br />

Überweidung<br />

Entwaldung<br />

falsche<br />

Bewirtschaftung<br />

andere gesamt Anteil degradierter Gebiete<br />

an der gesamten ■'egetationsbedeckten<br />

Fläche<br />

Asien 197 298 204 47 746 20%<br />

Afrika 243 67 121 63 494 22%<br />

Südamerika 68 100 64 12 244 14%<br />

Europa 50 84 64 22 220 23%<br />

Nord- <strong>und</strong> Mittelamerika 38 18 91 71 158 8%<br />

Australien, Neuseeland,<br />

südpazifischer Raum<br />

83 12 8 0 103 13%<br />

weltweit 679 579 552 155 1 965 17%<br />

Quelle: Brown, L. R. et al. State o f the World. New York (W.W. Norton and Company) 1994. S. 10


Die Ernährung der Weltbevölkerung: Probleme <strong>und</strong> Aussichten 559<br />

9.25 Desertifikation<br />

Ein weitgehend irreversibler<br />

Verlust von Vegetation<br />

<strong>und</strong> Boden kann durch<br />

Einflüsse wie Überweidung<br />

oder fortschreitende<br />

anthropogene Waldzerstörung<br />

bedingt sein.<br />

Verödete, von Desertifikation<br />

betroffene Landschaften<br />

machen auf<br />

drastische Weise die<br />

Notwendigkeit deutlich,<br />

die Folgen menschlichen<br />

Handelns sorgfältiger abzuwägen.<br />

Dies erscheint<br />

desto schwieriger, je<br />

schlechter Regierungen<br />

informiert <strong>und</strong> je drängender<br />

die Probleme der<br />

Armut <strong>und</strong> des Hungers<br />

sind.<br />

sich um eine Art Tauschgeschäft, bei dem eine Umweltorganisation<br />

der Kernregion, zum Beispiel der<br />

World Wildlife F<strong>und</strong>, einen Teil der Auslandsschulden<br />

eines Landes der Peripherie übernahm. Im Gegenzug<br />

verpflichtete sich das betreffende Land, Umweltprogramme<br />

zum Schutz empfindlicher Ökosysteme<br />

vor schädigenden Eingriffen aufzulegen. Dies<br />

bedeutete in der Regel eine Umwandlung bestimmter<br />

Gebiete in Nationalparks oder eine Vergrößerung bestehender<br />

Parks. Die Gelder aus dem Tauschgeschäft<br />

wurden in einen Fond eingezahlt, aus dem Parkverwaltungen,<br />

Schulungspersonal, Forschungsstationen<br />

<strong>und</strong> Maßnahmen zur Um weiter Ziehung finanziert<br />

wurden.<br />

In den Jahren von 1980 bis 1990 gaben sich die<br />

Umweltorganisationen überaus optimistisch. Man<br />

rechnete mit positiven Auswirkungen des debt-fornatiire-swap-Prinzips<br />

in den betroffenen Ländern<br />

<strong>und</strong> mit einer weltweiten Verminderung der Umweltdegradation.<br />

Wie sich jedoch herausstellte, waren die<br />

Maßnahmen nicht geeignet, die eigentlichen Ursachen<br />

der Umweltbeeinträchtigungen in den peripheren<br />

Regionen zu beseitigen. Diese sind unter anderem<br />

extreme Armut, staatliche Subventionen für das Abholzen<br />

von Wäldern sowie unsichere Bodenbesitz<strong>und</strong><br />

Pachtverhältnisse. Letztlich musste man einsehen,<br />

dass debt-for-nature swaps angesichts der komplexen<br />

sozioökonomischen, politischen <strong>und</strong> ökologischen<br />

Probleme kaum mehr als ein Tropfen auf den<br />

heißen Stein waren.<br />

Die in Kapitel 4 behandelten Beziehungen zwischen<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Umwelt sind hinsichtlich<br />

der landwirtschaftlichen Nutzungsformen von zentraler<br />

Bedeutung. Bereits mit der Industrialisierung<br />

der Agrarproduktion nahmen die von der Landwirtschaft<br />

verursachten Umweltbelastungen drastisch zu<br />

<strong>und</strong> erreichten in manchen Teilen der Erde ein<br />

kritisches Ausmaß. Während die industrialisierte<br />

Landwirtschaft in bestimmten Regionen Nahrungsmittelüberschüsse<br />

produziert, sind die Bewohner<br />

anderer Gebiete infolge des qualitativen <strong>und</strong> quantitativen<br />

Mangels an entsprechenden Boden- <strong>und</strong><br />

Wasserreserven nicht in der Lage, sich selbst zu<br />

ernähren.<br />

L<br />

Die Ernährung der<br />

Weltbevölkerung:<br />

Probleme <strong>und</strong> Aussichten<br />

Die größte Herausforderung, vor der Fachleute der<br />

Ernährungspolitik, nationale Regierungen, Verbraucher<br />

<strong>und</strong> Agrarexperten stehen, drehen sich um Angebot<br />

<strong>und</strong> Qualität von Nahrungsmitteln in einer<br />

Welt, in der die Verfügbarkeit von sicheren, ges<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> nahrhaften Lebensmitteln höchst ungleich verteilt<br />

ist. Für die Peripherie besteht die vordringlichste<br />

Aufgabe darin, die angemessene Ernährung einer<br />

wachsenden Bevölkerung sicherzustellen. In den<br />

Kernregionen stehen Fragen der Qualität von Nahrungsmitteln<br />

in einem zunehmend von industriellen


560 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Bodenbewertung<br />

Bodenbewertung, auch Bodenschätzung oder Bonitierung<br />

genannt, bedeutet die Klassifizierung von Böden im Hinblick<br />

auf ihre Ertragsfähigkeit. In Deutschland wurde dazu 1934<br />

ein „Gesetz über die Schätzung des Kulturbodens“ (Reichsbodenschätzung)<br />

verabschiedet <strong>und</strong> 1965 in den alten B<strong>und</strong>esländern<br />

durch das „Bewertungsänderungsgesetz“ ergänzt.<br />

Während die Bodenschätzung in den alten B<strong>und</strong>esländern<br />

durch vom Finanzamt bestellte Bodenschätzer bis heute<br />

fortgeführt wurde, liegt sie in den neuen B<strong>und</strong>esländern teilweise<br />

mehr als 50 Jahre zurück, sie wird zur Zeit aber aktualisiert.<br />

Nach heutigem Verfahren werden die Bodeneigenschaften<br />

eines Ackerstandortes durch die „Bodenzahl“ bewertet. Zur<br />

Bestimmung der Bodenzahl werden drei Faktoren herangezogen:<br />

Bodenart, Entstehung des Bodens beziehungsweise die<br />

geologische Herkunft sowie Zustandsstufe des Bodens. In<br />

Abhängigkeit von diesen Faktoren erhalten die Böden im<br />

Ackerschätzungsrahmen bestimmte Wertzahlen. Diese Bodenzahlen<br />

sind Verhältniszahlen, sie reichen von 7 bis 100<br />

(das Optimum liegt bei einigen Schwarzerden der Magdeburger<br />

Börde). Das heißt, die jedem Gr<strong>und</strong>stück zugewiesenen<br />

Bodenzahlen geben an, in welchem Verhältnis der Reinertrag<br />

des geschätzten Gr<strong>und</strong>stücks zum Reinertrag des Bodens mit<br />

der Wertzahl 100 liegt. Als Bezugsgrößen wurden folgende<br />

Bedingungen festgelegt: 8 °C mittlere Jahrestemperatur,<br />

600 Millimeter Niederschlag, ebene bis schwach geneigte<br />

Lage, annähernd optimaler Gr<strong>und</strong>wasserstand, weiterhin die<br />

betriebswirtschaftlichen Verhältnisse mittelbäuerlicher Betriebe<br />

Mitteldeutschlands. Weichen die Klima- <strong>und</strong> Geländeverhältnisse<br />

von den angeführten Bezugsgrößen ab, so werden<br />

an den Bodenzahlen Zu- oder Abschläge vorgenommen.<br />

Auf diese Weise erhält man die Ackerzahl als Maßstab für die<br />

durch Ertragsfähigkeit <strong>und</strong> natürliche Ertragsfaktoren bedingte<br />

Ertragsleistung. Bei der Bewertung des Grünlands wird die<br />

Beurteilung nach Bodenart <strong>und</strong> Zustandsstufe beibehalten, jedoch<br />

weniger differenziert, das Ergebnis ist die Grünlandzahl.<br />

Aus dem Verhältnis der Anteile des landwirtschaftlichen Betriebs<br />

an verschieden wertigem Acker- <strong>und</strong> Grünland ergibt<br />

sich die Ertragsmesszahl (EMZ) des Betriebs. Für Obststandorte<br />

besteht ein Bewertungsschema, das auf Bodenansprachen<br />

(Gründigkeit, Bodenart, Kalkgehalt) <strong>und</strong> Aufnahme der<br />

Wildflora fußt <strong>und</strong> außerdem Exposition <strong>und</strong> Inklination sowie<br />

Wärme <strong>und</strong> Spätfrostgefährdung berücksichtigt. Zur Beurteilung<br />

von Rebstandorten dienen acht Standortstufen mit den<br />

Kriterien Ausgangsgestein, Bodenart, Stein- <strong>und</strong> Kalkgehalt,<br />

nutzbare Feldkapazität, auch Klima- <strong>und</strong> Reliefparameter berücksichtigender<br />

ökologisch wirksamer Feuchtegrad <strong>und</strong> Wärmeverhältnisse.<br />

Quelle: K. Baldenhofer aus: Lexikon der Geographie<br />

Verfahren <strong>und</strong> Biotechnik geprägten System im Mittelpunkt.<br />

Bisweilen erwächst aus der Lösung eines<br />

Problems für eine Bevölkerung ein neues Problem<br />

für eine andere.<br />

Die letzten Abschnitte dieses Kapitels beschäftigen<br />

sich mit zwei schwierigen Fragen der Welternährung<br />

<strong>und</strong> geben einen ermutigenden Ausblick. Die gewählten<br />

Beispiele können die unzähligen Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten, denen sich Nahrungsmittelproduzenten<br />

<strong>und</strong> Politiker heute gegenüber sehen, sicher<br />

nicht umfassend aufzeigen, aber sie geben doch<br />

einen allgemeinen Überblick über diese komplexe<br />

Thematik.<br />

I Hunger <strong>und</strong> Unterernährung<br />

Während wir über ausreichend Nahrungsmittel verfügen,<br />

um die Weltbevölkerung zu ernähren, ist der<br />

Zugang zu Nahrungsmitteln höchst ungleich verteilt,<br />

<strong>und</strong> viele Millionen Menschen sowohl in den Kernregionen<br />

wie in den Peripherien mussten ein kürzeres<br />

oder beeinträchtigtes Leben hinnehmen, weil Krieg,<br />

Armut oder Naturkatastrophen eine adäquate Ernährung<br />

verhindert haben. Tatsächlich ist Hunger eines<br />

der größten Probleme in unserer heutigen Welt.<br />

Hunger existiert in zwei Formen: chronisch oder<br />

akut. Von chronischem Hunger spricht man, wenn<br />

Mangelernährung über einen längeren Zeitraum,<br />

das heißt Monate oder sogar Jahre, gegeben ist. Akuter<br />

Hunger ist kurzfristig <strong>und</strong> oft verb<strong>und</strong>en mit katastrophalen<br />

- persönlichen oder systemaren - Ereignissen.<br />

Chronischer Hunger, gleichbedeutend mit<br />

Unterernährung, bezeichnet die nicht ausreichende<br />

Aufnahme eines oder mehrerer Nährstoffe <strong>und</strong>/<br />

oder einer nicht ausreichenden Menge an Kalorien.<br />

Unterernährung kann Personen jeden Alters betreffen,<br />

besonders schlimm jedoch sind die Auswirkungen<br />

bei Kindern. Gehemmtes Wachstum, Entwicklungsstörungen<br />

des Gehirns sowie viele andere körperliche<br />

Schädigungen können die Folgen sein.<br />

Die vielleicht bekanntesten Beispiele von akutem<br />

Hunger sind Hungersnöte, die es in den vergangenen<br />

Jahrzehnten in Teilen der Peripherie gegeben hat.<br />

Von Hungersnot spricht man, wenn akuter Nahrungsmangel<br />

mit erhöhter Sterblichkeit verb<strong>und</strong>en<br />

ist. Die in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommenen<br />

Hungersnöte ereigneten sich im Jahr<br />

1974 in Bangladesch <strong>und</strong> in den Jahren 1984/85 in<br />

Äthiopien. Die Ursachen dieser Hungersnöte sowie<br />

aller vorausgegangenen Hungersnöte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

waren komplex. Die Nachrichtenbilder


Die Ernährung der Weltbevölkerung: Probleme <strong>und</strong> Aussichten 561<br />

von verhungernden Menschen zeigen gewöhnlich<br />

nur das letzte Stadium eines längeren, teilweise schon<br />

lahre oder Jahrzehnte dauernden Prozesses. Experten,<br />

die sich mit Hungersnöten intensiv auseinandergesetzt<br />

haben, sehen mindestens zwei kritische Faktoren,<br />

die hinter einer anhaltenden Anfälligkeit<br />

oder Vulnerabilität gegenüber Hungersnöten stehen.<br />

Der erste hat mit der Verfügbarkeit von Nahrungsmittelreserven<br />

zur Eigenversorgung zu tun, der zweite<br />

mit dem auslösenden Mechanismus, der ein natürliches<br />

Phänomen wie Dürre oder eine durch Menschen<br />

her\'orgerufene Situation wie Bürgerkrieg sein kann.<br />

Auslöser der Hungersnot in Bangladesch war eine<br />

Verteuerung der Lebensmittelpreise verb<strong>und</strong>en mit<br />

einem Rückgang der Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

infolge schwerer Überflutungen, welche die Ernte<br />

in den tief gelegenen Landesteilen vernichtet hatte,<br />

die Landwirtschaft in höher gelegenen Gebieten<br />

aber intakt ließ. Ausreichend Nahrungsmittel waren<br />

zwar immer noch vorhanden, aber diejenigen, die in<br />

der Produktion, Verteilung oder Veredelung von<br />

Agrarprodukten in den ländlichen Gebieten arbeiteten,<br />

konnten sich diese nicht mehr leisten. Das Problem<br />

wurde durch die Tatsache verschlimmert, dass<br />

Verhandlungen zwischen der Regierung Bangladeschs<br />

<strong>und</strong> ausländischen Hilfsorganisationen in<br />

einem Umfang scheiterten, dass die Verteilung von<br />

Nahrungsmittelhilfen ernsthaft in Gefahr geriet.<br />

Die Hungersnot in Bangladesch hat gelehrt, dass<br />

der Zusammenbruch des Zugangs zu Nahrungsmitteln<br />

eine Hungersnot auslösen kann, obwohl insgesamt<br />

ausreichend Nahrungsmittel vorhanden sind.<br />

Diejenigen, die sich mit Hungersnöten <strong>und</strong> anderen<br />

Erscheinungsformen von Hunger intensiv beschäftigt<br />

haben, sind dazu übergangen, Vulnerabilität<br />

in der Bedeutung von Ernährungssicherheit zu konzeptualisieren.<br />

Ernährungssicherheit bedeutet, dass<br />

eine Person, ein Haushalt oder ein ganzes Land jederzeit<br />

gesicherten Zugang zu ausreichend Nahrungsmitteln<br />

haben, um ein aktives <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>es Leben<br />

zu gewährleisten. Während Hungersnöte die prekäre<br />

Natur von Ernährungssicherheit nur allzu deutlich<br />

machen, muss man sich vergegenwärtigen, dass chronischer<br />

Hunger aufgr<strong>und</strong> unsicherer Ernährung wesentlich<br />

weiter verbreitet ist <strong>und</strong> ein noch verheerenderes<br />

Problem ist als Hungersnöte, die meist von kürzerer<br />

Dauer <strong>und</strong> räumlich begrenzt sind.<br />

Weltweit sterben täglich 24 000 Menschen an den<br />

folgen von Unterernährung. In den Vereinigten Staaten,<br />

wo Nahrungsmittel im Überfluss vorhanden sind<br />

<strong>und</strong> Übergewicht ein nationales Problem darstellt, ist<br />

jeder Zehnte unterernährt oder erlebt einige Male im<br />

lahr Situationen, in denen seine Ernährung nicht sichergestellt<br />

ist. In der Peripherie, wo die Verfügbarkeit<br />

von Nahrungsmitteln gegenüber Ländern der<br />

Kernregion wie den Vereinigten Staaten stärker limitiert<br />

ist, stellt Unterernährung ein viel weiter um sich<br />

greifendes Problem dar. Experten sind sich darin einig,<br />

dass Unterernährung die Folge eines ganzen<br />

Bündels von Faktoren ist, die letztlich alle durch Armut<br />

verursacht sind. Menschen, die in Wohlstand leben,<br />

sei es in der Kernregion oder in der Peripherie,<br />

werden, wenn überhaupt, nur ganz selten Hunger<br />

empfinden. Verarmte Menschen werden dagegen<br />

mit einer viel höheren Wahrscheinlichkeit über kürzere<br />

oder längere Zeiträume mit Unterernährung<br />

konfrontiert sein. In einer Welt, in der mehr als genug<br />

Nahrungsmittel vorhanden sind, um jeden Einzelnen,<br />

egal ob Kind, Frau oder Mann, angemessen<br />

<strong>und</strong> dauerhaft zu ernähren, erleiden viele aus einem<br />

einzigen Gr<strong>und</strong> Hunger: weil ihr Einkommen nicht<br />

ausreicht, um sich adäquaten Zugang zu den Nahrungsmittelressourcen<br />

zu verschaffen. Hinzu kommt,<br />

wie die Hungersnot im Jahr 1982 in Haussaland in<br />

Nigeria gezeigt hat, dass in manchen Teilen der<br />

Welt <strong>und</strong> in bestimmten Gesellschaftsschichten<br />

mehr Frauen <strong>und</strong> Mädchen als Männer <strong>und</strong> Jungen<br />

an Unterernährung leiden. Der Hauptgr<strong>und</strong> dafür ist,<br />

dass unterschiedliche kulturelle <strong>und</strong> soziale Normen<br />

Männer <strong>und</strong> Jungen besser stellen - wer isst zuerst,<br />

oder wer isst bestimmte, Personen von höherem Status<br />

vorbehaltene Speisen wie proteinreiches Fleisch<br />

oder Fisch, die Frauen nicht essen dürfen.<br />

Die wichtigste Schlussfolgerung aus der Diskussion<br />

des Themas Hunger ist, dass Hunger ein Problem<br />

ist, das gelöst werden kann. Da weder kurzzeitiger<br />

noch langfristiger Hunger aus mangelndem Vorhandensein<br />

von Nahrungsmitteln resultieren, muss die<br />

Lösung in einem verbesserten Zugang zu den existierenden<br />

Nahrungsressourcen bestehen. Dies könnte,<br />

radikal gedacht, erreicht werden, durch eine gr<strong>und</strong>legende<br />

Umverteilung des Wohlstands, die jedem<br />

einzelnen Bewohner dieser Erde den gleichen Zugang<br />

zu diesen Ressourcen ermöglichen würde. Da dies<br />

eine utopische Annahme ist, liegt die Lösung des Problems<br />

in einer Verbesserung der Einkommen, die<br />

ausreichend hoch sein müssen, dass angemessene Ernährung<br />

zu einem Menschenrecht werden kann <strong>und</strong><br />

nicht von den Wechselfällen ökonomischer oder natürlicher<br />

Systeme abhängt.


562 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Genetisch veränderte<br />

Organismen <strong>und</strong> das giobale<br />

Ernährungssystem_________<br />

Im Jahr 1999 gingen in London, Chicago <strong>und</strong> Seattle<br />

Demonstranten als Monarchfalter verkleidet auf die<br />

Straße, um auf die mögliche Bedrohung dieser<br />

Schmetterlingsart durch genetisch verändertes Getreide<br />

aufmerksam zu machen. Parolen rufend wie<br />

„Hey, hey, ho, ho, Frankenfoods have got to go!“<br />

(„Hey, hey, ho, ho, Frankenfood muss verschwinden!“<br />

- Frankenfood in Anspielung auf Frankenstein:<br />

genetisch veränderte Nahrungsmittel) stehen die Protestierenden<br />

stellvertretend für eine sich weltweit formierende<br />

Bewegung, die sich gegen die Herstellung<br />

<strong>und</strong> den Verkauf genetisch veränderter Lebensmittel<br />

wendet - oder mindestes verlangt, dass solche Lebensmittel<br />

eindeutig gekennzeichnet werden (Abbildung<br />

9.26). In Brasilien verbot ein B<strong>und</strong>esgericht<br />

dem US-amerikanischen Konzern Monsanto den<br />

Verkauf gentechnisch veränderter, gegen das von derselben<br />

Firma hergestellte Herbizid „Ro<strong>und</strong>up“ unempfindlicher<br />

Sojabohnen. Japan kündigte unlängst<br />

eine generelle Kennzeichnungspflicht für Lebensmittel<br />

mit künstlich verändertem Gen-Bestand an. In den<br />

Vereinigten Staaten hat die dem Ges<strong>und</strong>heitsministerium<br />

unterstellte Food and Drug Administration eine<br />

Regelung getroffen, nach der Unternehmen selbst<br />

entscheiden können, ob sie ihre Produkte von dieser<br />

Behörde auf gentechnisch veränderte Lebensmittel<br />

hin überprüfen lassen wollen. Seit diesen frühen Protesten<br />

ist der Widerstand in der Bevölkerung weiter<br />

gewachsen.<br />

Ein genetisch modifizierter Organismus, kurz<br />

GMO, ist ein Organismus, dessen DNA stärker durch<br />

Eingriffe im Labor als durch Fremdbestäubung oder<br />

andere Formen der Züchtung verändert wurde. Beispiele<br />

für genetisch veränderte Organismen sind Paprikapflanzen,<br />

denen DNA eines Fischs hinzugefügt<br />

wurde, um die Trockenresistenz zu erhöhen, Kartoffeln,<br />

die selbst Pestizide produzieren, oder Sojabohnen,<br />

die besonders widerstandsfähig gegen Pilzbefall<br />

sind.<br />

Die Modifikation von Erbmaterial hat Kritiker <strong>und</strong><br />

Befürworter. Die Befürworter betonen die Möglichkeiten<br />

von Verbesserungen in der Landwirtschaft<br />

(zum Beispiel Pflanzen resistenter gegen bestimmte<br />

Krankheiten oder Wassermangel zu machen) sowie<br />

der „Kreation“ anderer nützlicher Lebewesen wie<br />

Erdöl fressender Bakterien, die zur Beseitigung von<br />

Ölteppichen eingesetzt werden können. Kritiker befürchten,<br />

dass genetisch veränderte Organismen unvorhersehbare<br />

<strong>und</strong> irreversible Auswirkungen auf die<br />

menschliche Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> die Umwelt haben<br />

könnten, zum Beispiel Entwicklungsstörungen bei<br />

Kindern oder Mutationen bei Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten.<br />

In den Vereinigten Staaten sind Veränderungen<br />

des Erbguts zulässig, solange es keine Beweise für<br />

mögliche Gefährdungen gibt. Gentechnisch veränderte<br />

Nahrungsmittel sind in den Vereinigten Staaten<br />

relativ weit verbreitet, Schätzungen hinsichtlich ihres<br />

Marktanteils gehen aber weit auseinander. In den Regalen<br />

sind solche Produkte allerdings schwer zu identifizieren,<br />

da es keine Kennzeichnungspflicht gibt.<br />

Während die US-Behörden davon ausgehen, dass<br />

GMOs sicher sind, solange nicht das Gegenteil bewie-<br />

9.26 Protest gegen<br />

gentechnisch veränderte<br />

Organismen in<br />

Seattle Protestgruppen<br />

auf dem WTO-Treffen in<br />

Seattle (Washington) im<br />

Jahr 1999 verliehen ihrer<br />

Sorge Ausdruck, dass<br />

genetisch modifizierte<br />

Organismen Mensch <strong>und</strong><br />

Umwelt beeinträchtigen<br />

könnten.


Die Ernährung der Weltbevölkerung: Probleme <strong>und</strong> Aussichten 563<br />

sen ist, vertreten europäische Länder meist eine entgegengesetzte<br />

Position. Da es keine Beweise für die<br />

Sicherheit gibt, werden genetisch veränderte Lebensmittel<br />

derzeit weder aus den Vereinigten Staaten noch<br />

aus einem anderen Land akzeptiert. Die Welthandelsorganisation<br />

hat dazu festgestellt, dass die Nichtzulassung<br />

gentechnisch veränderter Nahrungsmittel in<br />

einem Land den internationalen Handel ohne Notwendigkeit<br />

behindert.<br />

Am Beispiel von GMOs wird vielleicht am deutlichsten<br />

sichtbar, wie Natur <strong>und</strong> Gesellschaft im globalen<br />

Ernährungssystem zusammenspielen. Gegenwärtig<br />

weiß man noch sehr wenig über mögliche negative<br />

Auswirkungen von GMOs auf die Ges<strong>und</strong>heit<br />

des Menschen, die Umwelt oder selbst das globale<br />

Wirtschaftssystem. Die Vor- <strong>und</strong> Nachteile einer zunehmenden<br />

Einbeziehung genetisch veränderter Organismen<br />

in die globale Nahrungsmittelproduktion<br />

lassen sich deshalb zum jetzigen Zeitpunkt nur<br />

schwer gegeneinander abwägen. Fest steht, dass Genmanipulation<br />

keine vorübergehende Modeerscheinung<br />

ist <strong>und</strong> die Diskussion nicht auf ein simples<br />

Schwarz oder Weiß reduziert werden kann. GMOs<br />

sind weder r<strong>und</strong>weg zu verteufeln noch ausschließlich<br />

segensreich. Für bestimmte Zwecke können sie<br />

sehr nützlich sein, für andere möglicherweise nicht.<br />

Um die Ges<strong>und</strong>heit von Menschen <strong>und</strong> die Umwelt<br />

vor eventuellem Schaden zu bewahren, sind Regulierungsmechanismen<br />

unerlässlich, ebenso wie die<br />

Verbreitung möglicher Nutzen oder Vorteile über<br />

die Kernregion hinaus in die Peripherie, wo Ernährungssicherheit<br />

am wenigsten gegeben ist. Regulierende<br />

Strukturen sind allerdings nicht leicht zu erreichen.<br />

Ihre größte Wirkung haben Proteste gegen GMO<br />

in Europa <strong>und</strong> in Teilen Afrikas, Asiens <strong>und</strong> Lateinamerikas<br />

sowie in Kanada <strong>und</strong> Mexiko entfaltet. In<br />

diesen Regionen haben die Regierungen Maßnahmen<br />

zu erarbeiten begonnen, um den Eingang von gentechnisch<br />

veränderten Produkten in das Nahrungsmittelsystem<br />

zu kontrollieren oder kenntlich zu machen,<br />

oder verstärkte Forschungsanstrengungen gefordert,<br />

um die langfristigen Wirkungen des Verzehrs<br />

von GMO auf den Menschen wie auf die Nahrungskette<br />

besser zu verstehen. Auch in den Vereinigten<br />

Staaten gab es Proteste gegen gentechnisch veränderte<br />

Nahrungsmittel, die aber wenig Unterstützung seitens<br />

der Regierung gef<strong>und</strong>en haben. Obwohl die<br />

US-Regierung ein Gesetz verabschiedet hat, das<br />

eine Kennzeichnung auf freiwilliger Basis vorsieht,<br />

hat sie konkrete Schritte gegen Länder angedroht,<br />

die sich für eine Kennzeichnungspflicht genetisch<br />

veränderter Produkte auf dem Weltmarkt aussprechen.<br />

Die US-Regierung sorgt sich vor allem um<br />

die möglichen negativen wirtschaftlichen Folgen<br />

der Kennzeichnung genetisch veränderter Nahrungsmittel<br />

<strong>und</strong> will eventuelle Nachteile für den Handel<br />

mit US-Agrarprodukten unbedingt vermeiden. Sie<br />

verfolgt diese Strategie aus gutem Gr<strong>und</strong>, denn die<br />

USA sind Exportweltmeister bei Agrarerzeugnissen<br />

<strong>und</strong> weltweit größter Produzent von gentechnisch<br />

veränderten Nahrungsmitteln. Sollte die Welthandelsorganisation<br />

(WTO) die Kennzeichnung solcher<br />

Produkte verbindlich vorschreiben, könnten viele -<br />

große wie kleine - Handelspartner der USA rechtlich<br />

dazu gezwungen sein, GMO-Produkte abzulehnen,<br />

oder die Erzeugnisse würden von potenziellen K<strong>und</strong>en<br />

als geringwertig angesehen. Zum jetzigen Zeitpunkt<br />

gibt es keinerlei Hinweise darauf, dass die<br />

WTO einen solchen Schritt unternehmen wird. Tatsächlich<br />

führt sie in ihren gegenwärtigen Bestimmungen<br />

aus, dass sie Einspruch gegen ein Land erheben<br />

kann, das weitergehende Restriktionen <strong>und</strong> Sicherheitsbestimmungen<br />

über Produkte verhängt, weil deren<br />

Sicherheit in Frage steht. Regelungen wie diese<br />

greifen unmittelbar in die Souveränität von Staaten<br />

ein <strong>und</strong> führen deshalb zu Legitimationsproblemen<br />

seitens der WTO.<br />

Die weltweiten Debatten <strong>und</strong> Aktivitäten in der<br />

Öffentlichkeit <strong>und</strong> auf Regierungsebene stehen erst<br />

am Anfang. Einige der schärfsten Gegner genmanipulierter<br />

Organismen befürchten, dass gentechnisch erzeugte<br />

Nahrungsmittel für die Armen in peripheren<br />

Ländern bestimmt sind, während „richtige“, in<br />

Handarbeit <strong>und</strong> von Biobauern produzierte Nahrungsmittel<br />

den wohlhabenden Menschen in der<br />

Kernregion Vorbehalten bleiben - ungeachtet der Bedeutung,<br />

die Nahrungsmittel für die Bekämpfung des<br />

Hungers in der Welt oder für die Gewährleistung<br />

einer gesicherten Ernährung als ein Menschenrecht<br />

haben.<br />

Urbane Landwirtschaft<br />

Obwohl die meisten im Zusammenhang mit Landwirtschaft<br />

an eine Aktivität in ländlichen Gebieten<br />

denken, war urbane Landwirtschaft die Basis für<br />

die frühesten Städte der Welt. Bis heute wurde jedoch<br />

urbane Landwirtschaft in der städtischen Entwicklungsplanung<br />

weitgehend ignoriert, wohl weil die<br />

aus ihr stammenden Produkte zum lokalen informellen<br />

Wirtschaftssektor gerechnet <strong>und</strong> nicht als bedeutend<br />

hinsichtlich ihres Einkommen schaffenden Potenzials<br />

angesehen wurden. Urbane Landwirtschaft<br />

wird meist definiert als die Etablierung oder Aus-


564 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

Verliert der dünn besiedelte ländliche Raum als Arbeits<strong>und</strong><br />

Wohnort weiter an Attraktivität?<br />

; I<br />

Die in früheren Jahrzehnten übliche Gegenüberstellung von<br />

Stadt <strong>und</strong> Land als antagonistische Gebietskategorien eignet<br />

sich in Mitteleuropa nicht mehr zur Charakterisierung der gegenwärtigen<br />

Siedlungsstruktur. Durch Suburbanisierung, neue<br />

Verkehrstechnologien<br />

<strong>und</strong> erhöhte Distanzüberwindungspotenziale<br />

im öffentlichen Verkehr <strong>und</strong> im Individualverkehr<br />

vergrößerten sich die Städte entlang der Verkehrslinien sternförmig<br />

nach außen, sodass man heute weniger von einem<br />

Stadt-Land-Gegensatz, sondern eher von einem Stadt-Land-<br />

Kontinuum sprechen sollte. In vielen, gut erschlossenen Dörfern<br />

des ländlichen Raums finden wir stark urbanisierte Lebensstile<br />

<strong>und</strong> eine Berufsstruktur der Wohnbevölkerung vor,<br />

die sich kaum von jener der urbanisierten Regionen unterscheidet.<br />

Programme zur Dorferneuerung <strong>und</strong> Flurbereinigung,<br />

Wettbewerbe zur Verschönerung der Dörfer <strong>und</strong> andere<br />

Fördermaßnahmen scheinen das Bewusstsein der Öffentlichkeit<br />

für die zunehmenden Probleme des strukturschwachen,<br />

dünn besiedelten ländlichen Raums in den Hintergr<strong>und</strong> gerückt<br />

zu haben. Es gibt auch in reichen Industrieländern<br />

nach wie vor strukturschwache ländliche Gebiete, welche<br />

durch ein sehr niedriges Pro-Kopf-Einkommen, eine sehr geringe<br />

ökonomische Entwicklungsdynamik, eine geringe Arbeitsplatzdichte<br />

für hoch Qualifizierte, ein unterdurchschnittliches<br />

Lohnniveau, eine geringe Bevölkerungsdichte, einen starken<br />

Rückgang der Einwohnerzahl, eine Überalterung der Bevölkerung,<br />

einen andauernden Verlust von Infrastruktureinrichtungen,<br />

eine Stilllegung von Nebenbahnen, eine Ausdünnung<br />

des öffentlichen Personennahverkehrs <strong>und</strong> andere Defizite<br />

der Infrastruktur gekennzeichnet sind.<br />

Eines der Hauptprobleme des peripheren, ländlichen<br />

Raums besteht darin, dass er über ein sehr geringes Angebot<br />

an Arbeitsplätzen für hoch qualifizierte Erwerbstätige verfügt.<br />

Auch die modernen Möglichkeiten der Telekommunikation haben<br />

bisher nichts daran geändert, dass sich Arbeitsplätze für<br />

hochrangige Entscheidungsträger, Spezialisten <strong>und</strong> gut ausgebildete<br />

Fachkräfte in fast allen Wirtschaftsklassen immer<br />

mehr in den großen Zentren <strong>und</strong> Verdichtungsräumen konzentrieren.<br />

Durch die Telekommunikation werden in der Regel nur<br />

Routinearbeitsplätze der unteren <strong>und</strong> mittleren Qualifikationsebenen<br />

an die ländliche Peripherie verlagert. Der ländliche<br />

Raum verliert also seit vielen Jahrzehnten ständig den größten<br />

Teil der aus ihm hervorgehenden Abiturienten <strong>und</strong> Hochschulabsolventen<br />

an die Zentren (Abbildung 1).<br />

Angesichts der Tatsache, dass in der Gesellschaft des 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts Wissen, schulisches Ausbildungsniveau <strong>und</strong> berufliche<br />

Qualifikationen eine der wichtigsten Achsen der sozio-<br />

ökonomischen Differenzierung darstellen <strong>und</strong> zu den wichtigsten<br />

Wettbewerbsfaktoren gehören (Kapitel 5), drängen sich<br />

folgende Fragen auf:<br />

• Wie kann ein strukturschwacher, ländlicher Raum, der<br />

ständig den Großteil der aus ihm hervorgehenden Abiturienten<br />

<strong>und</strong> Universitätsabsolventen an die Zentren verliert,<br />

in einer Wissensgesellschaft seine Interessen wahren?<br />

• Muss das in ländlichen Regionen schon stark ausgedünnte<br />

Standortnetz von Gr<strong>und</strong>schulen angesichts der stark zurückgehenden<br />

Schülerzahlen mit weiteren Schließungen<br />

von Schulen rechnen?<br />

• Kann man die Qrganisationsformen von Pflichtschulen so<br />

ändern, dass auch dünn besiedelte ländliche Gebiete noch<br />

schulisch versorgt werden können?<br />

• Mit welchen Problemen <strong>und</strong> Benachteiligungen müssen<br />

jene Dörfer rechnen, die ihre letzte Gr<strong>und</strong>schule verloren<br />

haben?<br />

Keine Politik, keine Planung <strong>und</strong> keine neuen Kommunikationstechnologien<br />

können verhindern, dass sich auch in Zukunft<br />

die überwiegende Mehrzahl der Arbeitsplätze für hoch<br />

qualifizierte Spezialisten <strong>und</strong> hochrangige Entscheidungsträger<br />

vorwiegend in Zentren einer gewissen Größe konzentrieren<br />

wird. Je wettbewerbsintensiver eine Branche ist, je mehr<br />

sie mit Risiko <strong>und</strong> Unsicherheit konfrontiert ist, je mehr Macht<br />

<strong>und</strong> Entscheidungsbefugnisse mit einem Arbeitsplatz verb<strong>und</strong>en<br />

sind, <strong>und</strong> je spezialisierter das für einen Arbeitsplatz benötigte<br />

Ausbildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsniveau ist <strong>und</strong> je mehr<br />

der Erfolg im wirtschaftlichen Wettbewerb von spontanen,<br />

direkten Kontakten mit anderen Entscheidungsträgern verschiedener<br />

Branchen abhängt, umso mehr sind derartige<br />

Arbeitsplätze auf die obersten Hierarchieebenen des Siedlungssystems<br />

oder die Innovationszentren einer Branche konzentriert.<br />

Qhne größere Nachteile kann man nur solche hoch qualifizierte<br />

Arbeitsplätze an die Peripherie oder auf die unteren<br />

Stufen des Siedlungssystems verlagern, die einem geringen<br />

Wettbewerb ausgesetzt sind, langfristig gleichbleibende Ziele<br />

haben oder einem mehr oder weniger geschützten Arbeitsmarktsegment<br />

angehören, sowie jene Dienstleistungen, die<br />

der Versorgung der gesamten Bevölkerung dienen <strong>und</strong> deshalb<br />

mehr oder weniger flächendeckend angeboten werden sollten.<br />

Geschäftsleitungen <strong>und</strong> Forschungsabteilungen erfolgreicher<br />

Unternehmen sind meistens nur dann im ländlichen Raum lokalisiert,<br />

wenn sie sich aus kleinen Anfängen entwickelt haben<br />

<strong>und</strong> nicht auf ein hohes Kontaktpotenzial des Standortes angewiesen<br />

sind.<br />

Mehrere Benachteiligungen des ländlichen Raums sind jedoch<br />

nicht systembedingt <strong>und</strong> nicht Folge einer gleichsam unaufhaltsamen<br />

Gesetzmäßigkeit, sondern wurden durch nicht<br />

adäquate Planungskonzepte, überholte Leitbilder <strong>und</strong> Fehlentscheidungen<br />

von Politikern, Planern <strong>und</strong> Wissenschaftlern verursacht<br />

<strong>und</strong> könnten also auch wieder rückgängig gemacht<br />

werden. Dies soll hier exemplarisch am Beispiel der Versorgung<br />

des ländlichen Raums mit Gr<strong>und</strong>schulen demonstriert<br />

werden. Der hohe Anteil an Kleinschulen, die aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

geringen Schülerzahlen schon heute in ihrer Existenz gefährdet<br />

sind, wird beim anhaltenden Geburtenrückgang in vielen<br />

Teilen Europas ein gravierendes Problem darstellen (Kramer<br />

1993, Meusburger 2006). Die Schließung der letzten Gr<strong>und</strong>schulen<br />

kann je nach Gebietstyp sehr negative regionalpolitische<br />

Konsequenzen haben <strong>und</strong> die Attraktivität des dünn besiedelten,<br />

ländlichen Raums als Wohnort gravierend vermindern.<br />

Wenn man eine weitere Entleerung des dünn besiedel-


Die Ernährung der Weltbevölkerung; Probleme <strong>und</strong> Aussichten 565<br />

Verdichtungsräume <strong>und</strong> ländliche Räume<br />

Verdichtungsräume<br />

Verdichtungsraum<br />

Übrige Räume<br />

ländliche Räume ohne<br />

Entwicklungsprobleme<br />

□ <strong>und</strong> Räume mit Verstädlerungslendenzen<br />

I--------1 stadtnahe bzw.<br />

I____1verstädterte Räume<br />

C ^ landschaftlich<br />

K— attraktive Räume<br />

Städte außerhalb der<br />

Verdichtungsräume<br />

Einwohner in Tsd.<br />

Suburbanisierungs- <strong>und</strong><br />

Umwidmungsdruck in<br />

der Nachbarschaft der<br />

Agglomerationsräume<br />

Ländliche Räume mit<br />

Entwicklungsproblemen<br />

i S'at


566 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

ten, ländlichen Raums verhindern will, wird die Standortfrage<br />

von Gr<strong>und</strong>schulen zu den größten Herausforderungen der<br />

Regionalpolitik <strong>und</strong> Schulentwicklungsplanung der nächsten<br />

zwei bis drei Jahrzehnte gehören.<br />

Während bis zum Ersten Weltkrieg sogenannte niedrig organisierte,<br />

also ein- <strong>und</strong> zweiklassige Gr<strong>und</strong>schulen, in denen<br />

alle Schulstufen unterrichtet wurden, beinahe flächendeckend<br />

<strong>und</strong> sogar in Großstädten anzutreffen waren, haben der kontinuierliche<br />

räumliche Konzentrationsprozess sowie die organisatorische<br />

Diversifizierung des Pflichtschulwesens dazu geführt,<br />

dass ein- oder zweiklassige Gr<strong>und</strong>schulen seit der Mitte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nur noch in peripheren, dünn besiedelten<br />

ländlichen Regionen eine größere Rolle spielen. Es ist allerdings<br />

ein weit verbreitetes Vorurteil, dass die Zafil der Schulen<br />

vor allem von der Entwicklung der Schülerzahlen abhänge.<br />

Eine genauere Analyse der in den letzten drei bis vier Jahrzehnten<br />

durchgeführten Schulschließungen belegt sehr deutlich,<br />

dass die Schulschließungen in vielen Fällen nicht mit<br />

der Entwicklung der Schülerzahlen zusammenhingen, sondern<br />

dass bildungspolitische Leitbilder, finanzielle Überlegungen<br />

oder ein Lehrermangel für die Schulschließungen im ländlichen<br />

Raum verantwortlich waren. In mehreren Ländern wurden<br />

viele Schulen geschlossen, als die Schülerzahlen noch<br />

anstiegen, <strong>und</strong> in manchen Regionen wurden wieder neue<br />

Schulen eingerichtet, als die Schülerzahlen noch deutlich ab-<br />

nahmen.<br />

Zwischen 1950 <strong>und</strong> 1975 befürwortete die Mehrzahl der<br />

Bildungsplaner <strong>und</strong> Bildungspolitiker aus ökonomischen, ideologischen<br />

<strong>und</strong> pädagogischen Gründen das Leitbild der zentral<br />

gelegenen, voll organisierten Gr<strong>und</strong>schule mit mehreren H<strong>und</strong>ert<br />

Schülern, in der es für Jeden Altersjahrgang mindestens<br />

eine Klasse gibt. Zugunsten der großen, voll organisierten<br />

Schule wurden folgende Argumente angeführt:<br />

• Große Schulen hätten eine bessere <strong>und</strong> modernere Ausstattung<br />

mit Lehrmitteln, sodass die Kinder auch eine bessere<br />

Ausbildung erhalten würden.<br />

• Sie würden einen flexibleren <strong>und</strong> kostengünstigeren Einsatz<br />

der Lehrkräfte sowie ein günstigeres Kosten-Nut-<br />

zen-Verhältnis von teuren Anschaffungen ermöglichen.<br />

• Zentral gelegene große Mittelpunktschulen würden höhere<br />

Übertrittsraten in weiterführende Schulen erzielen <strong>und</strong> somit<br />

die soziale <strong>und</strong> regionale Chancengleichheit verbessern.<br />

• Die einkiassige Dorfschule sei ein altmodisches Relikt der<br />

Agrargesellschaft des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Sie repräsentiere<br />

ein bildungsfeindliches Milieu, eine reaktionäre politische<br />

Einstellung <strong>und</strong> eine geistige Enge.<br />

• Die niedrig organisierte Kleinschule sei den modernen Anforderungen<br />

nicht mehr gewachsen <strong>und</strong> verzögere den notwendigen<br />

gesellschaftlichen Wandel. Das mit der Kleinschule<br />

verb<strong>und</strong>ene konservative ländliche Milieu würde<br />

die Bildungschancen der Kinder beeinträchtigen.<br />

Die zentral gelegene Großschule mit möglichst vielen Schülern<br />

wurde als ein Instrument empfohlen, mit welchem negative<br />

Einflüsse des soziokulturellen Milieus des Elternhauses zurückgedrängtwerden<br />

können. Die Verfechter dieses Leitbildes<br />

haben möglichst hohe Schließungsquoten von niedrig organisierten<br />

Schulen geradezu als Indikator einer erfolgreichen <strong>und</strong><br />

fortschrittlichen Schulpolitik <strong>und</strong> einer Modernisierung der Gesellschaft<br />

des ländlichen Raums gepriesen. Die Bildungsplaner<br />

versuchten, das für Städte geeignete Leitbild der großen, voll<br />

organisierten Gr<strong>und</strong>schule auch auf Regionstypen zu übertragen,<br />

in denen die Voraussetzungen völlig anders waren. Durch<br />

diese Planungsideologie <strong>und</strong> die Festlegung von relativ starren<br />

Richtwerten für Klassen- <strong>und</strong> Schulgrößen verlor man die vorher<br />

gegebene Flexibilität, um auf regionale Besonderheiten<br />

Rücksicht nehmen zu können. Die negativen Folgen der großen<br />

Auflassungswelle von Kleinschulen im ländlichen Raum wurden<br />

schon nach kurzer Zeit sichtbar, sodass sich ab Mitte<br />

der 1970er-Jahre (Westösterreich) oder Anfang der 1980er-<br />

Jahre (Baden-Württemberg) wieder mehrere Länder zur Wiedereröffnung<br />

von vorher aufgelassenen Kleinschulen entschlossen<br />

<strong>und</strong> wieder das bildungspolitische Gegenkonzept<br />

der wohnortnahen kleinen Gr<strong>und</strong>schule in den Vordergr<strong>und</strong><br />

rückte.<br />

Diese Trendwende zugunsten der Kleinschule wurde auch<br />

dadurch unterstützt, dass die in den letzten zwei Jahrzehnten<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts bestehenden Kleinschulen nichts mehr<br />

mit Jenen gemeinsam hatten, die zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

existierten <strong>und</strong> sich damals trefflich als Feindbild eigneten.<br />

Ab den 1980er-Jahren waren Kleinschulen im ländlichen<br />

Raum nicht mehr die Orte, die von Lehrkräften gemieden <strong>und</strong><br />

an die unfähige Lehrpersonen strafversetzt wurden, ganz im<br />

Gegenteil, Kleinschulen erschienen pädagogisch interessierten<br />

Lehrpersonen zunehmend als attraktiv. Bei gleicher Lehrerqualifikation<br />

<strong>und</strong> vergleichbarem kulturellem Anregungsmilieu<br />

des Elternhauses wiesen viele ein- <strong>und</strong> zweiklassige<br />

Gr<strong>und</strong>schulen sogar bessere schulische Leistungen auf als<br />

zentral gelegene große Schulen.<br />

Das Leitbild der wohnortnahen Gr<strong>und</strong>schule vertritt die folgenden<br />

Thesen:<br />

• Gr<strong>und</strong>schulen gehören zu den wichtigsten Infrastruktureinrichtungen<br />

einer Ortschaft.<br />

Zumindest den 6-10Jährigen Kindern sollten wohnortnahe<br />

Schulen angeboten werden, die in weniger als 30 Minuten<br />

zu erreichen sind.<br />

• Lehrpersonen im ländlichen Raum haben auch zahlreiche<br />

außerschulische Funktionen zu erfüllen <strong>und</strong> die Schließung<br />

der einzigen Gr<strong>und</strong>schule kann sehr negative außerschulische<br />

Konsequenzen haben.<br />

Für die Überlegenheit des Konzepts der wohnortnahen Gr<strong>und</strong>schule<br />

werden pädagogische, psychologische, kulturelle <strong>und</strong><br />

vor allem auch regionalpolitische Argumente angeführt. Die<br />

Konzentration des Gr<strong>und</strong>schulwesens habe für Kinder des<br />

ländlichen Raums zu unzumutbar langen Schulwegen geführt,<br />

die sowohl körperliche als auch psychische Belastungen mit<br />

sich bringen. Der erhebliche Zeitaufwand der Fahrschüler<br />

gehe auf Kosten der Lern- <strong>und</strong> Erholungszeit.<br />

Psychologen weisen darauf hin, wie wichtig für kleine Kinder<br />

gleichbleibende vertraute Kleingruppen sind <strong>und</strong> wie sehr<br />

eine soziale Überforderung, also ein Herausreißen aus dem<br />

vertrauten Milieu <strong>und</strong> die Trennung der bestehenden sozialen<br />

Beziehungen, zu Verdrängungen, Aggressionen <strong>und</strong> Ängsten<br />

führen kann. Den großen, mehrere H<strong>und</strong>ert Schüler zählenden<br />

Gr<strong>und</strong>schulen werden eine unpersönliche, anonyme Atmosphäre,<br />

eine zu geringere Konstanz der Lehrer-Schüler-Bezie-


Die Ernährung der Weltbevölkerung; Probleme <strong>und</strong> Aussichten 567<br />

hung, ein zu geringes Eingehen auf den Lebensraum der Schüler,<br />

ein aggressives Milieu, Drogenprobleme <strong>und</strong> vieles andere<br />

vorgeworfen.<br />

Zu Gunsten der wohnortnahen Schule beziehungsweise der<br />

Schule im eigenen Dorf wird auch das Argument vorgebracht,<br />

dass die Lebenswelt der Schüler als Ort des Lernens genutzt<br />

werden kann. Es bestehe die Möglichkeit, aktuelle Anlässe im<br />

sozialen Umfeld aufzugreifen <strong>und</strong> im Unterricht zu bearbeiten.<br />

Ein Zusammenführen von Alltagsrealität <strong>und</strong> Lernen führe<br />

nicht nur zu einer aktiveren Auseinandersetzung mit Lerninhalten,<br />

sondern fördere auch die Entstehung einer lokalen oder<br />

regionalen Identität. Die Lehrpersonen können in niedrig organisierten<br />

Schulen stärker auf das individuelle Lerntempo<br />

des einzelnen Schülers eingehen. Da sich die Lehrperson<br />

in einer niedrig organisierten Schule immer nur einer bestimmten<br />

Schulstufe widmen kann, lernen die Kinder früher<br />

als in Großschulen, sich selbst zu beschäftigen, sodass sie<br />

eine größere Selbständigkeit entwickeln. Die schwächeren<br />

Veränderung der Gr<strong>und</strong>schulausstattung 1995-2003<br />

• Zunahme O 10<br />

• Abnahme O 5<br />

keine Änderung o i<br />

Max.: 8 kreisfreie Stadt Mür^chen<br />

Min.: -49 Land Beriin<br />

\ Nationalitlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

Leibniz.|nalltut für Länderk<strong>und</strong>e 2005<br />

> 10,0<br />

0 - 10,0<br />

-7,5 - 0<br />

-15,0 - -7,5<br />

-50,0 - -15,0<br />

-60,0 - -50,0<br />

< -60,0<br />

Max.: 21,1% Landkreis Dachau<br />

Min.: - 73,1% kreisfreie Stadt Piauen<br />

Kreisgrenze<br />

Autor: S. Kinder<br />

0 25 50 75 100 km<br />

Abbildung 2 Veränderung<br />

der Gr<strong>und</strong>schulausstattung<br />

in Deutschland 19 95 -200 3<br />

(Quelle: Kinder, S. Nationalatlas<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard.<br />

Heidelberg (Spektrum<br />

Akademischer Verlag) 2006,<br />

S. 141)


568 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

I<br />

!1<br />

I<br />

i ' 1<br />

1 r-<br />

Schüler werden öfter mit denselben Lehrinhalten konfrontiert,<br />

sodass sie Lernrückstände eher aufholen können. Die<br />

intelligenten <strong>und</strong> begabten Schüler langweilen sich weniger<br />

<strong>und</strong> können eher gefördert werden, weil sie sich früher als<br />

vom Lehrplan vorgesehen auch mit dem Stoff der höheren<br />

Schulstufen auseinandersetzen können.<br />

Eine wohnortnahe Gr<strong>und</strong>schule erfüllt in peripheren Gebieten<br />

nicht nur eine andere Funktion, sie hat hier auch einen<br />

höheren regionalpolitischen Stellenwert als in dicht besiedelten<br />

Stadtregionen. Sie ist das wichtigste Instrument der sozialen<br />

Integration <strong>und</strong> der Schaffung von lokaler Identität. Die<br />

Schließung der eigenen Schule kann zu einem Verlust an kultureller<br />

Identität, an lokalem Wissen, an kollektivem Gedächtnis<br />

<strong>und</strong> an Sensibilität für lokale Probleme führen.<br />

Aber auch das Leitbild der wohnortnahen Gr<strong>und</strong>schule<br />

sollte nicht unkritisch übernommen oder gar zum Dogma<br />

werden. Nicht jede Schließung einer Kleinschule im ländlichen<br />

Raum hat negative Auswirkungen. Nicht alle Lehrpersonen<br />

stellen sich für die vorher erwähnten außerschulischen<br />

Funktionen zur Verfügung. Manche Lehrpersonen, die aus<br />

dem städtischen Milieu stammen oder dieses bevorzugen,<br />

wohnen nicht am Schulstandort, sondern pendeln täglich, sodass<br />

sie innerhalb der dörflichen Strukturen auch nicht die<br />

von ihnen erwartete Schlüsselfunktion ausüben können. Nicht<br />

alle Lehrpersonen können <strong>und</strong> wollen die Erwartungen erfüllen,<br />

welche in Kleinschulen an sie gestellt werden. Hinsichtlich<br />

des Engagements der Bevölkerung für den Erhalt „ihrer eigenen“<br />

Schule gibt es beträchtliche regionale Unterschiede, die<br />

einerseits mit den unterschiedlichen historischen Traditionen<br />

der politischen Selbstbestimmung Zusammenhängen. Andererseits<br />

können lokale Identität <strong>und</strong> Ortsverb<strong>und</strong>enheit im<br />

Laufe der Zeit durch Zuwanderung oder hohe Fluktuation bedeutungslos<br />

werden.<br />

Um die anstehenden Herausforderungen bewältigen zu<br />

können, benötigen wir erstens ein anderes Planungsverständnis,<br />

das heißt eine Abkehr von einer isolierten Fachplanung,<br />

die sich vorwiegend an raumblinden Leitlinien <strong>und</strong> vorwiegend<br />

betriebswirtschaftlichen Richtwerten orientiert <strong>und</strong><br />

deren Kosten-Nutzen-Rechnungen sich nur auf den Bereich<br />

der Schule beschränken. Bei einer Schulschließung müssten<br />

auch die langfristigen, negativen Auswirkungen <strong>und</strong> Folgekosten<br />

berücksichtigt werden. Die meisten Standortplaner<br />

von Gr<strong>und</strong>schulen haben bisher den leicht quantifizierbaren<br />

Einflussgrößen wie Schülerzahlen, Geburtenzahlen, Richtlinien<br />

über maximale <strong>und</strong> minimale Klassengrößen, Distanz zum<br />

nächsten Schulstandort (Kosten des Schülertransports) <strong>und</strong><br />

finanziellen Ressourcen der Gemeinden die größte Bedeutung<br />

zugemessen. Die regionalpolitisch <strong>und</strong> langfristig viel wichtigeren<br />

Faktoren wie zum Beispiel die Identifikation der Bevölkerung<br />

mit dem eigenen Dorf, die Einstellung der betroffenen<br />

Bevölkerung zur eigenen Schule, die Attraktivität als Wohnort,<br />

diverse regionalpolitische Ziele oder sozialpsychologische<br />

Barrieren zwischen Ortschaften wurden meistens vernachlässigt.<br />

Standardisierte Richtwerte, die für ein ganzes B<strong>und</strong>esland<br />

gelten, sind wissenschaftlich <strong>und</strong> regionalpolitisch Unfug.<br />

Obwohl ein so extremer Rückgang der Schülerzahl wie er in<br />

Ostdeutschland (1995 bis 2003 Abnahme um etwa. 50 Prozent)<br />

zu verkraften war, zwangsläufig zu Schulschließungen<br />

führen muss, wurde diese Ausdünnung des Standortnetzes<br />

von Gr<strong>und</strong>schulen viel zu radikal <strong>und</strong> ohne Rücksicht auf<br />

die dadurch ausgelösten negativen Konsequenzen durchgeführt<br />

(Abbildung 2). In einigen ostdeutschen B<strong>und</strong>esländern<br />

(eine der positiven Ausnahmen bildet Thüringen) orientierte<br />

sich die Standortplanung von Gr<strong>und</strong>schulen zwischen 1990<br />

<strong>und</strong> 2005 noch an Leitlinien, die in Süddeutschland oder anderen<br />

europäischen Ländern schon vor 25 Jahren aufgegeben<br />

wurden.<br />

Um den Herausforderungen des Geburtenrückgangs im<br />

ländlichen Raum gerecht zu werden, benötigt man vor allem<br />

neue, flexible Organisationsformen des Gr<strong>und</strong>schulwesens.<br />

Nicht zuletzt muss die Ausbildung der Gr<strong>und</strong>schullehrer an<br />

die neuen Anforderungen eines Jahrgangsübergreifenden Abteilungsunterrichts<br />

angepasst werden. Es ist zwar bekannt,<br />

dass Lehrpersonen, die an Kleinschulen eingesetzt werden,<br />

in der Regel motivierter arbeiten, weil hier der Erfolg oder<br />

Misserfolg ihrer Tätigkeit sichtbarer ist als an anonymen<br />

Großschulen. Aber an pädagogischen Hochschulen oder Universitäten<br />

werden die Gr<strong>und</strong>schullehrer noch nicht oder noch<br />

zu wenig auf die Anforderungen eines jahrgangsübergreifen-<br />

den Abteilungsunterricht vorbereitet. Eine häufig gestellte<br />

Frage lautet: Können wir uns diese pro Schüler höheren<br />

Investitions- <strong>und</strong> Personalkosten von wohnortnahen Kleinschulen<br />

finanziell leisten? Die Antwort lautet „ja“, wenn im<br />

dünn besiedelten Raum Schulgebäude gleichzeitig für mehrere<br />

Funktionen genutzt werden <strong>und</strong> wenn auch die Folgekosten<br />

in mehreren außerschulischen Bereichen berücksichtigt<br />

werden.<br />

P. Meusburger<br />

i<br />

I L<br />

1 i<br />

Sili<br />

I h!M'<br />

Übung landwirtschaftlicher Tätigkeiten in oder nahe<br />

einer urbanen oder städtischen Umgebung. In Ländern<br />

wie China nimmt die offizielle Politik urbane<br />

landwirtschaftliche Tätigkeiten schon seit längerem<br />

wahr <strong>und</strong> fördert sie sogar. In vielen anderen Ländern<br />

wurde urbane Landwirtschaft in.sbesondere nach der<br />

industriellen Revolution unterb<strong>und</strong>en oder erschwert,<br />

indem kultivierbares Land für Wohnungsbau<br />

genutzt oder durch Industrieansiedlungen stark<br />

degradiert wurde.<br />

Ob durch die offizielle Politik gefördert oder gehemmt<br />

- in vielen Regionen der Erde wächst die<br />

Zahl der Stadtbewohner, die Feldfrüchte anbauen<br />

oder Vieh halten, sei es, um die Ernährungssicherheit<br />

zu verbessern, ein zusätzliches Einkommen zu erzielen<br />

oder auch aus Geschmacks- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsgründen.<br />

In den Vereinigten Staaten erfolgt bis zu<br />

einem Drittel der Agrarproduktion in Ballungsräumen,<br />

weltweit sind es bis zu 15 Prozent. In der Kernregion<br />

wird urbane Landwirtschaft überwiegend als


Die Ernährung der Weltbevölkerupg. Probleme <strong>und</strong> Aussichten 569<br />

■t<br />

9.27 Gemüsegarten in<br />

Hongkong ln Hongkong,<br />

einer der am dichtesten besiedelten<br />

Stadtregionen weltweit,<br />

finden sich H<strong>und</strong>erte von<br />

kleinen Gärten, in denen die<br />

Bewohner von Apartmentblöcken<br />

ihre Einkäufe durch<br />

eigenen Anbau ergänzen.<br />

In allen Teilen der Welt, in<br />

Kernregionen wie in der Peripherie,<br />

entwickeln sich private<br />

<strong>und</strong> Gemeinschaftsgärten zunehmend<br />

zu einem Bestandteil<br />

städtischer Räume.<br />

Freizeitbeschäftigung betrieben, die den täglichen<br />

Speisezettel aus gekauften Nahrungsmitteln bereichert.<br />

In der Peripherie ist sie oft das einzige Mittel,<br />

um über die R<strong>und</strong>en zu kommen. Bei Lohneinbrüchen,<br />

steigender Inflation, Verlust des Arbeitsplatzes,<br />

Spannungen innerhalb der Bevölkerung <strong>und</strong> Naturkatastrophen<br />

bietet urbane Landwirtschaft die Chance,<br />

wachsender Ernährungsunsicherheit zu begegnen.<br />

Wie in Kapitel 11 erörtert wird, wächst weltweit<br />

die Bevölkerung in Städten mehr als doppelt so<br />

schnell wie die in ländlichen Gebieten. Nach Angaben<br />

des U. N. Center of Fluman Settlements wird im Jahr<br />

2015 über die Fiälfte der Weltbevölkerung in Städten<br />

leben. In dem Bemühen um nachhaltige Entwicklung<br />

als ein Weg, wirtschaftliches Wachstum zu ermöglichen,<br />

ohne die Umwelt zu zerstören, hat die urbane<br />

Landwirtschaft zunehmend die Aufmerksamkeit der<br />

Experten auf sich gezogen, die in ihr ein Mittel für<br />

mehr Nachhaltigkeit in Städten sehen. Die Befürworter<br />

einer urbanen Landwirtschaft betonen, dass


570 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsmittelsektor<br />

diese nicht als Alternative zur konventionellen Agrarwirtschaft<br />

gesehen werden sollte, sondern als ein zusätzlicher<br />

Zweig des modernen Landwirtschaftssystems.<br />

Für die Mehrzahl der Entwicklungsexperten<br />

würde ein ideales urbanes Agrarwirtschaftssystem<br />

verschiedene Elemente der modernen nachhaltigen<br />

Landwirtschaft einschließen, die auf Wiederverwertung<br />

in geschlossenen Abfall- <strong>und</strong> Nährstoffkreisläufen<br />

durch Ressourcen schonendes Management auf<br />

der Gr<strong>und</strong>lage von natürlicher Düngung <strong>und</strong> natürlicher<br />

Schädlingsbekämpfung basiert.<br />

Zweifelsohne kann die urbane Landwirtschaft<br />

nicht das Problem mangelnder Ernährungssicherheil<br />

im weltweiten Maßstab lösen. Kleine innerstädtische<br />

Gärten können nicht das Agrobusiness als wichtigsten<br />

Teil des globalen Ernährungssystems ersetzen. Außerdem<br />

bestehen im Zusammenhang mit urbaner<br />

Landwirtschaft begründete Ges<strong>und</strong>heitsbedenken,<br />

besonders hinsichtlich des Recycling von Siedlungsabfällen.<br />

In ariden Gebieten der Erde, wo Wasser<br />

knapp ist, scheint die Verwendung von Siedlungs<strong>und</strong><br />

Gewerbeabwässern für die Bewässerung in der<br />

urbanen Landwirtschaft ein naheliegendes Konzept<br />

zu sein. Doch nicht überall werden Abwässer entsprechend<br />

ihrer weiteren Verwendung aufbereitet. Wo<br />

dies nicht geschieht, besteht die Gefahr der Übertragung<br />

von Krankheiten, die sich auf das Nahrungsmittelsystem<br />

ausweiten können, wenn Abwässer auf Felder<br />

aufgebracht werden. Es versteht sich von selbst,<br />

dass Politik <strong>und</strong> Praxis mögliche Ges<strong>und</strong>heitsrisiken<br />

der urbanen Landwirtschaft in den jeweils höchst unterschiedlichen<br />

Umfeldern, in denen sie praktiziert<br />

wird, sorgfältig abwägen müssen.<br />

Gegenwärtig wird urbane Landwirtschaft in den<br />

unterschiedlichsten Formen betrieben, zum Beispiel<br />

auf Dachgärten, als Hydrokultur, in Hausgärten, entlang<br />

von Straßen an der Peripherie von Städten, in<br />

Verbindung mit Direktverkauf <strong>und</strong> dem Weiden<br />

von Vieh in Parkanlagen <strong>und</strong> auf Wiesen (Abbildung<br />

9.27). Als eine weltweit zunehmende Praxis kann urbane<br />

Landwirtschaft die Etablierung eines nachhaltigen<br />

Ernährungssystems in überwiegend städtisch geprägten<br />

Räumen fördern. Es deutet vieles darauf hin,<br />

dass der potenzielle Nutzen der urbanen Landwirtschaft<br />

die Risiken bei weitem überwiegt. Besonders<br />

in weniger entwickelten Ländern <strong>und</strong> ärmeren Innenstadtvierteln<br />

in vielen Teilen der Welt kann urbane<br />

Landwirtschaft entscheidend zum Überleben von<br />

Familien beitragen. LIrbane Landwirtschaft kann darüber<br />

hinaus eine wichtige Rolle für die Bindung <strong>und</strong><br />

Integration von Arbeitskräften - insbesondere von<br />

Frauen <strong>und</strong> jugendlichen - spielen, sodass städtische<br />

Haushalte besser in der Lage sind, die vollen Vorteile<br />

aus ihren Humanressourcen zu ziehen. Sie könnte<br />

vielleicht sogar ein Weg sein, Siedlungsabfälle wieder<br />

in Wert zu setzen, wenn diese unter Beachtung von<br />

Sicherheitsaspekten in das Ernährungssystem einbezogen<br />

werden.<br />

Fazit<br />

Die Agrarwirtschaft hat sich zu einem äußerst komplexen,<br />

in globale Zusammenhänge eingeb<strong>und</strong>enen<br />

System entwickelt. Traditionelle Formen der Landwirtschaft<br />

wie die Subsistenzwirtschaft existieren<br />

zwar bis heute, geraten durch die globale Industrialisierung<br />

der Agrarproduktion jedoch immer stärker<br />

ins Abseits. Die Industrialisierung der Landwirtschaft<br />

war nicht nur mit Mechanisierung <strong>und</strong> dem Einsatz<br />

chemischer Stoffe verb<strong>und</strong>en, sondern führte auch zu<br />

einer zunehmenden Verkoppelung des Agrarsektors<br />

mit dem Industrie-, Dienstleistungs- <strong>und</strong> Finanzsektor.<br />

Ferner wurden Staaten zu wichtigen Akteuren bezüglich<br />

der Regulierung <strong>und</strong> Stützung der Landwirtschaft<br />

von der lokalen bis zur globalen Ebene.<br />

Die dramatischen Veränderungen in der Landwirtschaft<br />

haben verschiedene Orte <strong>und</strong> soziale Gruppen<br />

auf unterschiedliche Weise betroffen. Diese Veränderungen<br />

verlangten den Betrieben <strong>und</strong> Haushalten<br />

in den peripheren wie in den Kernregionen ein<br />

hohes Maß an Anpassung ab <strong>und</strong> zerstörten in vielen<br />

Fällen gewachsene soziale Strukturen <strong>und</strong> Regelwerke<br />

zur Verteilung von Ressourcen. Von der Transformation<br />

der Landwirtschaft wafen nicht nur Menschen,<br />

sondern auch die natürlichen Ressourcen Boden,<br />

Wasser <strong>und</strong> Luft in vielfältiger Weise betroffen.<br />

Der Agrarsektor hat an der Wende vom zweiten<br />

zum dritten Jahrtausend mit Organisationsformen,<br />

wie sie vor 100 oder auch noch vor 50 Jahren bestanden,<br />

nur noch wenig gemein. Die Globalisierung der<br />

Landwirtschaft hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />

ebenso beschleunigt wie die Globalisierung der<br />

Wirtschaft insgesamt. Der globale Wandel der Agrarwirtschaft<br />

ist weder mit einer generell höheren Prosperität<br />

der Kernregionen gleichzusetzen, noch sind<br />

die Auswirkungen dieses Wandels ihrer Natur nach<br />

eindimensional. So bestehen zum Beispiel enge<br />

Wechselwirkungen zwischen der Orangenproduktion<br />

im US-B<strong>und</strong>esstaat Florida <strong>und</strong> der noch jungen<br />

Orangenindustrie Brasiliens. Beide Industrien beeinflussen<br />

den Orangenpreis auf den europäischen <strong>und</strong><br />

asiatischen Märkten. Zudem wird die kritische Einstellung<br />

der Europäer gegenüber genetisch veränder-


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 571<br />

ten Nahrungsmitteln sich auf US-amerikanische Produzenten<br />

ebenso auswirken wie auf zukünftige agrarwissenschaftliche<br />

Forschungsrichtungen, auf den<br />

Handel als solchen sowie auf eine Fülle weiterer Felder<br />

<strong>und</strong> Faktoren, die ihrerseits wiederum auf das<br />

Weltsystem zurückstrahlen.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Adeyemi, A. Urban Agriculture: An Abbreviated List o f References<br />

and Resource Guide 2000. Beltsvilie, MD (U.S. Department<br />

of Agriculture) 2000.<br />

Allen, P. Food for the Future. Conditions and Contradictions o f<br />

Sustainability. New York (Wiley & Sons, Inc.) 1993.<br />

Andreae, B. Allgemeine Agrargeographie. Berlin (de Gruyter)<br />

1985.<br />

Arnold, A. Allgemeine Agrargeographie. Gotha, Stuttgart (Klett-<br />

Perthes) 1997.<br />

Baldenhofer, K. Lexikon des Agrarraums. Gotha, Stuttgart (Klett-<br />

Perthes) 1999.<br />

Baum, S., Weingarten P. Typisierung ländlicher Räume in Mittel<strong>und</strong><br />

Osteuropa. Europa Regional 3 (2004), S. 149-158.<br />

Becker, H. Allgemeine historische Agrargeographie. Stuttgart<br />

(Teubner) 1998.<br />

Beetz, S., Brauer, K., Neu, C. (Hrsg.) Handbuch zur ländlichen<br />

Gesellschaft in Deutschland. Wiesbaden (Verlag für Sozialwissenschaften)<br />

2005.<br />

Belasco, W. Appetite for Change. How the Counterculture Took<br />

on the Food Industry, 1966-1988. New York (Pantheon<br />

Books) 1989.<br />

Bohle, H.G. 20 Jahre Grüne Revolution in Indien. Geographische<br />

R<strong>und</strong>schau A ^(2) (1989) S. 91-98.<br />

Bonanno, A.; Busch, L.; Friedland, W. H.; Gouveia, L.; Mingione,<br />

E. (Hrsg.) From Columbus to ConAgra: The Globalization o f<br />

Agriculture and Food. Lawrence, KS (University Press of Kansas)<br />

1994.<br />

Bowler, I. (Hrsg.) The Geography o f Agriculture in Developed Market<br />

Economies. Harlow (Congman Scientific and Technical)<br />

1992, S. 208.<br />

Burger, K.; de Groot, M.; Post, J.; Zachariasse, V. (Hrsg.) Agricultural<br />

Economics and Policy: International Challenges for the<br />

Nineties. New York (Elsevier) 1991.<br />

Brar, K. K. Green Revolution: Ecological Implications. Delhi (Dominant<br />

Publishers) 1999.<br />

Brown, A. D. Feed or Feedback: Agriculture, Population Dynamics<br />

and the State o f the Planet. Utrecht (International Books)<br />

2003.<br />

Buttel, F.; Newby, H. The Rural Sociology o f the Advanced Societies:<br />

Critical Perspectives. Montclair, NJ (Allanheld, Osmun<br />

Publishers) 1980.<br />

Cheema, G.S.; Smit, J.; Ratta, A.; Nasr, J. Urban Agriculture:<br />

Food, Jobs and Sustainable Cities. New York (United Nations<br />

Development Programme) 1996.<br />

Conway, G. The Double Green Revolution: Food for All in the<br />

Twenty-First Century. Ithaca, NY (Comstock Publishers) 1998.<br />

Grossen, P. R.; Rosenberg, N. J. Strategien für die Landwirtschaft.<br />

In: Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeographie. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 1997, S. 82-89.<br />

Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO)<br />

The State o f Food Insecurity in the World 2004: Monitoring<br />

Progress Towards the World Food Summit and Millennium<br />

Goals. Rom (FAO) 2004.<br />

Goodman, D.; Redclift, M. The International Farm Crisis. London<br />

(Macmillan) 1989.<br />

Goodman, D.; Watts, M. Globalising Food: Agrarian Questions<br />

and Global Restructuring. London (Routledge) 1997.<br />

Grigg, D. B. The Agricultural Systems o f the World: An Evolutionary<br />

Approach. Cambridge, New York (Cambridge University<br />

Press) 1974.<br />

Gruhn, P.; Goletti, F.; Yudelman, M. Integrated Nutrient Management,<br />

Soil Fertility, and Sustainable Agriculture: Current Issues<br />

and Future Challenges. Washington, DC (International<br />

Food Policy Research Institute) 2000.<br />

Harl, N.E. The Farm Debt Crisis o f the 1980s. Ames (Iowa State<br />

University Press) 1990.<br />

Harrison, P. The Greening o f Africa. London (Paladin Grafton<br />

Boots) 1987.<br />

Hecht, S.; Cockburn, A. The Fate o f the Forest: Developers, Destroyers,<br />

and Defenders o f the Amazon. London (Verso)<br />

1989.<br />

Henkel, G. Der ländliche Raum. Stuttgart, Leipzig (Teubner)<br />

2004.<br />

Hewitt de Alcantara, C. The Green Revolution as History: the Mexican<br />

Experience. Development and Change 5 (1973) S. 25 -<br />

44.<br />

Hobbelink, H. Biotechnology and the Future o f World Agriculture.<br />

London (Zed Books Limited) 1991.<br />

Kloppenburg, J. R. Jr. First the Seed: The Political Economy o f<br />

Plant Biotechnology 1492-2000. Cambridge (Cambridge<br />

University Press) 1988.<br />

Lang, T.; Heasman, M. Food Wars: The Global Battle for Minds,<br />

Mouths, and Markets. London (Earthscan) 2004.<br />

Le Heron, R. Globalized Agriculture: Political Choice. Oxford (Pergamon<br />

Press) 1993.<br />

Lebel, L.; Tri, N.H.; Saengnoree, A.; Pasong, S.; Buatama, U.;<br />

Thoa, L. K. Industrial transformation and shrimp aquaculture<br />

in Thailand and Vietnam: pathways to ecological, social and<br />

economic sustainability? Ambio 31 (2002), S. 311 -323.<br />

Manning, R. Foods Frontier: The Next Green Revolution. New<br />

York (North Point Press) 2000.<br />

Manshard, W. Einführung in die Agrargeographie der Tropen.<br />

Mannheim (Bibliograph. Inst.) 1968.<br />

Manshard, W. Entwicklungsprobleme in den Agrarräumen des<br />

tropischen Afrika. Darmstadt (Wiss. Buchgesellschaft) 1988.<br />

Mensching, H. Desertifikation. Ein weltweites Problem der ökologischen<br />

Verwüstung in den Trockengebieten der Erde.<br />

Darmstadt (Wiss. Buchges.) 1990.<br />

Middleton, N.; Thomas, D. (Hrsg.) World Atias o f Desertification.<br />

Oxford (Oxford University Press) 1997.<br />

Molnar, J.; Kinnucan, H. (Hrsg.) Biotechnology and the New Agricultural<br />

Revolution. Boulder, CO (Westview Press) 1989.<br />

Momsen, J. H. Women and Development in the Third World. London,<br />

New York (Routledge) 1991.<br />

Müller-Hohenstein, K. Die Landschaftsgürtel der Erde. Stuttgart<br />

(Teubner Studienbücher) 1981.


1<br />

9 572 9 Landwirtschaft <strong>und</strong> Nahrungsnnittelsektor<br />

Neth, M. Preserving the Family Farm: Women, Community, and<br />

the Fo<strong>und</strong>ations o f Agribusiness in the Midwest, 1 9 0 0-<br />

1940. Baltimore, MD (Johns Hopkins University Press) 1995.<br />

Parry, M. Agriculture as a Resource System. In; Bowler, I. (Hrsg.)<br />

The Geography o f Agriculture in Developed Market Economies.<br />

Harlow (Congman Scientific and Technical) 1992,<br />

S. 208.<br />

Persley, G. Beyond Mendel’s Garden: Biotechnology in the Service<br />

o f World Agriculture. Wallingford, CT (CAB International)<br />

1990.<br />

Poppendieck, J. Sweef Charity? Emergency Food and the End o f<br />

Entitlement. New York (Viking Press) 1998.<br />

Public Citizen Shrimp Stockpile: America's Favorite Imported<br />

Seafood. Washington, DC (Public Citizen) 2005.<br />

Rasmussen, W. D. Landwirtschaft. In: Meusburger, P. (Hrsg.). Anthropogeographie.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag)<br />

1997, S. 66-81.<br />

Raworth, K. Trading Away Our Rights: Women Working in Global<br />

Supply Chains. Oxford (Oxfam) 2004.<br />

Reganold, J.P.; Papendiek, R.J.; Parr, J.F. Nachhaltige Landwirtschaft-d<br />

a s Beispiel USA. In; Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeographie.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag)<br />

1997 S. 90-97.<br />

Repetto, R. Die Entwaldung der Tropen: ein ökonomischer Fehlschlag.<br />

In: Meusburger, P. (Hrsg.) Anthropogeographie. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 1997, S. 104-<br />

111.<br />

Scholz, F. Geographische Entwicklungsforschung. Methoden <strong>und</strong><br />

Theorien. Berlin, Stuttgart (Gebr. Bornträger Verlagsbuchhandlung)<br />

2004.<br />

Scholz, U. „Grüne Revolution" im Reisbau Südostasiens - eine<br />

Bilanz der letzten 35 Jahre. Geographische R<strong>und</strong>schau<br />

50(9) (1998), S. 531-536.<br />

Scholz, U. Die feuchten Tropen. Das Geographische Seminar.<br />

Braunschweig (Westermann) 2003.<br />

Scoones, I. Agricultural Biotechnology and Food Security: Exploring<br />

the Debate. Brighton (Institute of Developmental Studies)<br />

2002.<br />

Shiva, V. Stolen Harvest: the Hijacking o f the Global Food Supply.<br />

Cambridge, MA (South End Press) 2000.<br />

Shiva, V.; Bedi, G. Sustainable Agriculture and Food Security: the<br />

Impact o f Globalization. London (Sage) 2002.<br />

Sick, W. D. Agrargeographie. Braunschweig (Westermann) 1993.<br />

Vogeler, I. The Myth o f the Family Farm: Agribusiness Dominance<br />

o f U.S. Agriculture. Boulder, CO (Westview Press) 1981.<br />

Waser, K. The Newly Recognized Importance o f Urban Agriculture.<br />

Arid Lands Newsletter 42 (1997).<br />

Wojcik, J. The Arguments o f Agriculture. A Casebook in Contemporary<br />

Agricultural Controversy. West Lafayette, IN (Purdue<br />

University Press) 1989.<br />

Woods, M. Rural Geography. London (Sage) 2005.<br />

Wright, A. The Death o f Ramon Gonzalez. Austin (University<br />

Press) 1990.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Faßmann, H.; Klagge, B.; Meusburger, P. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Arbeit <strong>und</strong> Lebensstandard. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 2006.<br />

Friedrich, K.; Hahn, B.; Popp, H. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Dörfer <strong>und</strong> Städte. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2002.<br />

Kramer, C. Die Entwicklung des Standortnetzes von Gr<strong>und</strong>schulen<br />

im ländlichen Raum. Vorarlberg <strong>und</strong> Baden-Württemberg<br />

im Vergleich. Heidelberg (Geographisches Institut) 1993.<br />

Meusburger, P. Schulsystem <strong>und</strong> Bildungsverhalten in alpinen<br />

Bergregionen. Aktuelle <strong>und</strong> zukünftige Probleme. In: Loose,<br />

Rainer (Hrsg.): Von der Via Claudia Augusta zum Oberen<br />

Weg. Schiern Schriften 334, Innsbruck (Wagner) 2006, S.<br />

275-299.<br />

''1


10 Die Geographie<br />

politischer Territorien<br />

<strong>und</strong> Grenzen<br />

Genozid ist eines der aktuellsten Themen der Politischen Geographie -<br />

in Kambodscha, Guatemala, Osttimor, Bosnien, Ruanda <strong>und</strong> im Sudan<br />

wurden <strong>und</strong> werden vorsätzlich <strong>und</strong> systematisch Menschen wegen ihrer<br />

ethnischen Zugehörigkeit, Nationalität, Hautfarbe, Religion oder politischen<br />

Überzeugung getötet. In den letzten 100 Jahren sind über 40 Millionen<br />

Menschen durch Genozid oder andere Formen staatlicher Gewalt<br />

umgekommen. Der jüdische Wissenschaftler Raphael Lemkin führte die<br />

Bezeichnung „Genozid“ Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ein, um damit den<br />

Völkermord der Nationalsozialisten an den Juden im Dritten Reich zu<br />

beschreiben. In der Geschichte der Menschheit war Völkermord jedoch<br />

bei Weitem keine Seltenheit; doch dachte man erst nach dem Holocaust<br />

darüber nach, ihn per Gesetz zu verbieten. Im Dezember 1948 erließ die<br />

Generalversammlung der Vereinten Nationen die Konvention zur Verhütung<br />

<strong>und</strong> Bestrafung von Völkermord. Als die Konvention 1951 in Kraft<br />

trat, waren mit Frankreich <strong>und</strong> China nur zwei der fünf ständigen Mitgliedsstaaten<br />

des UN-Sicherheitsrates Vertragspartner. Die Ratifizierung<br />

des Abkommens erfolgte von den einzelnen Mitgliedsstaaten zeitlich verzögert:<br />

1954 von der damaligen Sowjetunion, 1970 von Großbritannien,<br />

1983 von China <strong>und</strong> 1988 schließlich von den USA. Zur Durchsetzung<br />

dieses internationalen Rechts kam es erst angesichts des Völkermordes<br />

in Ruanda in den 1990er-Jahren.<br />

Der Gründer <strong>und</strong> Präsident der Organisation Genozid Watch in Washington<br />

D. C., Gregory Stanton, beschreibt den Ablauf eines Genozids wie<br />

folgt;<br />

1. Klassifizierung: Die Menschen werden in „Wir“ <strong>und</strong> „die Anderen“<br />

eingeteilt.<br />

2. Symbolisierung: „Die Anderen“ werden mit hasserfüllten Symbolen assoziiert,<br />

<strong>und</strong> es werden Hassreden über sie gehalten.<br />

3. Dehumanisierung: Die geächtete Gruppe wird als unmenschliche Gemeinschaft<br />

stilisiert, sodass die Hemmschwelle sinkt, einen Angehörigen<br />

dieser Gruppe zu töten.<br />

4. Organisation: Oft werden militarisierte Gruppen oder Bürgerwehren<br />

gezielt trainiert <strong>und</strong> bewaffnet.<br />

5. Polarisierung: Fanatiker verbreiten polarisierende Propaganda.<br />

6. Identifikation: Die Opfer werden gesellschaftlich geächtet <strong>und</strong> geoutet.<br />

7. Ausrottung: Ermordungen, Vergewaltigungen, Folter <strong>und</strong> Entführungen<br />

sind an der Tagesordnung.<br />

8. Dementi: Die Täter leugnen, dass sie ein Verbrechen begangen haben.<br />

Diese Abfolge ist natürlich variabel <strong>und</strong> kann jederzeit durch entsprechende<br />

Sicherheits- <strong>und</strong> Vorbeugungsmaßnahmen eines oder mehrerer Staaten<br />

gestoppt werden. Allerdings ist es mitunter äußerst schwierig, in die An-


576 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

gelegenheiten souveräner Staaten einzugreifen. Zu<br />

Beginn des neuen Jahrtausends können weder die<br />

internationale Staatengemeinschaft noch einzelne<br />

Staaten die UN-Konvention zum Völkermord in<br />

der Praxis so anwenden, dass Völkermord auch wirklich<br />

verhindert werden kann oder Verantwortliche<br />

schneller verurteilt werden. Im Sudan leben die Menschen<br />

seit der Staatsgründung 1956 mit Konflikten<br />

<strong>und</strong> seit den 1980er-]ahren stehen sich die regierungstreue<br />

Armee des Nordsudans <strong>und</strong> die Befreiungsarmee<br />

des Südsudans, die für einen unabhängigen<br />

Staat kämpft, gegenüber. Mit diesen beiden<br />

Gegenspielern bekämpfen sich auch Menschen unterschiedlicher<br />

Religion <strong>und</strong> Kultur: Der Norden<br />

des Landes steht unter Einfluss des Islam, während<br />

der Süden des Landes den schwarzafrikanischen Traditionen<br />

verb<strong>und</strong>en ist. Millionen von Menschen<br />

sind auf der Flucht oder starben in den letzten 25 Jahren<br />

als Folge von Hungersnöten <strong>und</strong> Verfolgung. Internationale<br />

Vermittlungsversuche <strong>und</strong> der Einsatz<br />

von internationalen Friedenstruppen konnten den<br />

Konflikt nicht beenden. Heute wird mithilfe von<br />

Blauhelmen versucht, zumindest in den Nachbarstaaten<br />

ob der großen Anzahl an Flüchtlingen die<br />

Situation zu stabilisieren. Das 2005 Unterzeichnete<br />

Friedensabkommen zwischen der Regierung <strong>und</strong><br />

der südsudanesischen Volksbefreiungsarmee brachte<br />

nicht die erhoffte Stabilisierung im Land. Die Menschen<br />

in Dafür leben auch heute immer noch in Angst<br />

vor den gewalttätigen Übergriffen der Regierungstruppen.<br />

In Kambodscha waren die Mitglieder der „Roten<br />

Khmer“ zwischen 1975 <strong>und</strong> 1979 für den Tod von<br />

fast 2 Millionen Menschen, fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung,<br />

verantwortlich. Die Menschen kamen<br />

bei Arbeitseinsätzen ums Leben, verhungerten,<br />

starben in Folge von Krankheit oder wurden exekutiert.<br />

2004 hat das kambodschanische Parlament<br />

zugestimmt, mithilfe der Vereinten Nationen einen<br />

Gerichtshof („außergewöhnliche Kammern“ im Rahmen<br />

des bestehenden Justizsystems) einzurichten, der<br />

die HaupA'^erantwortlichen der Verbrechen aus der<br />

Zeit der Herrschaft der „Roten Khmer“ zur Verantwortung<br />

ziehen soll.<br />

Einem aktuellen Bericht des Internationalen Hilfskomitees<br />

zufolge, kommen im Falle von Völkermord<br />

auf jeden gewaltsamen Tod weitere 62 als Folge von<br />

Unterernährung <strong>und</strong> Krankheiten wie beispielsweise<br />

Diarrhö, Blutarmut, Tuberkulose <strong>und</strong> Fieber sowie<br />

nach Unfällen. Zwar würden heute Organisationen<br />

existieren, die Völkermord verhindern <strong>und</strong> Schuldige<br />

bestrafen könnten, doch fehlt es an konsequenter Anwendung<br />

beziehungsweise Durchsetzung von Gesetzen.<br />

Die Globalisierung hat wesentlich dazu beigetragen,<br />

dass die staatenübergreifende wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit über internationale Organisationen<br />

<strong>und</strong> Handelsabkommen wie die Welthandelsorganisation<br />

<strong>und</strong> das Nordamerikanische Freihandelsabkommen<br />

besser funktioniert. Offen bleibt die Frage,<br />

wie diese Kooperation zwischen einzelnen Staaten in<br />

Zukunft verhindern kann, dass Völkermorde passieren<br />

<strong>und</strong> wie die Wahrung der Menschenrechte weltweit<br />

einen höheren Stellenwert erhalten kann.<br />

Dieses Kapitel zeigt, dass Globalisierung zur Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Produktion neuer Räume <strong>und</strong> Raumvorstellungen<br />

beiträgt, während gleichzeitig politische<br />

Grenzen weiterhin bestehen bleiben <strong>und</strong> Migration<br />

<strong>und</strong> Handel bestimmen. Die Erforschung der<br />

Kontinente, Imperialismus <strong>und</strong> Kolonialismus, Dekolonisation<br />

<strong>und</strong> der Kalte Krieg haben Staatsgrenzen<br />

geschaffen <strong>und</strong> verändert. Viele der politischen Auseinandersetzungen,<br />

welche die Welt heute in Atem<br />

halten, sind lokale <strong>und</strong> regionale Reaktionen auf<br />

die wirtschaftliche Globalisierung sowie repressive<br />

Staatspraktiken. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass<br />

die Beziehung zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie<br />

eine wechselseitige ist. Zudem fokussiert Politische<br />

Geographie nicht einfach nur auf globale <strong>und</strong> internationale<br />

Fragestellungen, sondern beschäftigt sich<br />

mit relevanten Themen des Globalen bis hin zum<br />

Lokalen, das heißt gleichsam sowohl mit weitreichenden<br />

globalen Prozessen als auch mit Themen des<br />

alltäglichen Lebens.<br />

Schlüsselsätze<br />

Politische Geographie untersucht die komplexen<br />

Beziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie, sowohl<br />

der Physischen als auch der <strong>Humangeographie</strong>.<br />

Politische Geographie versteht die Beziehungen<br />

zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie als wechselseitig:<br />

Alles geographische Wissen ist politisch, jede politische<br />

Praxis ist geographisch.<br />

Geographie beeinflusste politische Diskurse <strong>und</strong><br />

politisches Handeln über Jahrh<strong>und</strong>erte. Die Entwicklung<br />

geopolitischer Vorstellungen, vom Imperialismus<br />

<strong>und</strong> Kolonialismus bis zur aktuellen<br />

Repräsentation des „Kriegs der Kulturen“ (Samuel<br />

Huntington), zeugen von diesem Einfluss.<br />

Politische Geographie umfasst nicht nur globale<br />

<strong>und</strong> internationale Beziehungen, sie beschäftigt<br />

sich darüber hinaus auch mit anderen Maßstabs-


Die Entwicklung der Politischen Geographie 577<br />

<strong>und</strong> Handlungsebenen, die von globalen Zusammenhängen<br />

bis zur AJltagswelt jedes Einzelnen reichen.<br />

Die Entwicklung der<br />

Politischen Geographie<br />

Die Politische Geographie ist schon seit langem fester<br />

Bestandteil der Geographie. Als einer ihrer ersten<br />

Vertreter wird immer wieder Aristoteles genannt,<br />

schließlich basiert sein Modell des Staates auf Faktoren<br />

wie Klima, Geländebeschaffenheit <strong>und</strong> Bevölkerungsdichte.<br />

Seither wurden verschiedene Staatstheorien<br />

entwickelt, die Elemente der Landschaft <strong>und</strong><br />

physische Umweltbedingungen ebenso berücksichtigten<br />

wie die Bevölkerungsstruktur einer Region.<br />

Zwischen dem 14. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert basierten<br />

Staatstheorien auf der Überzeugung, dass Staaten<br />

sich zyklisch <strong>und</strong> organisch entwickeln. Damit<br />

meinte man, dass Staaten aufblühen <strong>und</strong> wieder absterben<br />

<strong>und</strong> zwar abhängig von den komplexen<br />

Wechselwirkungen zwischen Bevölkerungsdichte<br />

<strong>und</strong> -Zusammensetzung, landwirtschaftlicher Produktivität,<br />

Größe des Landes <strong>und</strong> Bedeutung der<br />

Städte.<br />

Wie diese Überlegungen zeigen, war die Politische<br />

Geographie während der Wende vom 19. zum 20.<br />

lahrh<strong>und</strong>ert von zwei wichtigen Traditionen innerhalb<br />

der Gesamtdisziplin bestimmt: der Frage nach<br />

dem Verhältnis zwischen Staaten <strong>und</strong> Lebensräumen<br />

<strong>und</strong> den Vorstellungen des Naturdeterminismus.<br />

Während die unterschiedlichen Schulen - gemäß ihren<br />

theoretischen Gr<strong>und</strong>annahmen - mehr auf der<br />

einen oder der anderen Tradition aufbauten, war<br />

ihr Erklärungspotenzial für das Wachstum <strong>und</strong> Veränderungen<br />

des Staates unumstritten. Dass diese Faktoren<br />

für so bedeutsam gehalten wurden, hängt zweifellos<br />

mit dem weit reichenden Einfluss von Charles<br />

Darwin auf das intellektuelle <strong>und</strong> soziale Geschehen<br />

jener Zeit zusammen. Darwins Theorie des Wettbewerbs<br />

inspirierte Politische Geographen zu Konzepten,<br />

nach denen der Staat wie ein lebender Organismus<br />

funktioniert, der unter den äußeren Faktoren<br />

<strong>und</strong> Kräften anwächst <strong>und</strong> wieder schrumpft. Ebenlalls<br />

gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts gelangte auch<br />

die staatliche Außenpolitik ins Blickfeld der Theoretiker.<br />

Dieser neue Schwerpunkt wurde als Geopolitik<br />

bezeichnet.<br />

Das geopolitische Modell<br />

, des Staates____________<br />

Geopolitik beschreibt die Kontrolle des Staates über<br />

Regionen <strong>und</strong> Territorien <strong>und</strong> prägt die Außenpolitik<br />

einzelner Länder wie auch die internationalen politischen<br />

Beziehungen. In Deutschland wurde die geopolitische<br />

Theorie insbesondere vom Geographen<br />

Friedrich Ratzel (1844-1904) beeinflusst. Er orientierte<br />

sich stark an Charles Darwin <strong>und</strong> dem Sozialdarwinismus,<br />

der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand.<br />

Ratzel bediente sich der biologischen Terminologie,<br />

um das räumliche Wachstum eines Staates zu<br />

beschreiben, <strong>und</strong> stellte dazu sieben Gesetze auf:^<br />

1. Der Raum der Staaten wächst mit der Kultur.<br />

2. Das Wachstum der Staaten folgt anderen Wachstumserscheinungen<br />

der Völker, die ihm notwendig<br />

vorausgehen.<br />

3. Das Wachstum der Staaten schreitet durch die Angliederung<br />

kleinerer Teile zur Verschmelzung fort,<br />

mit der zugleich die Verbindung des Volkes mit<br />

dem Boden immer enger wird.<br />

4. Die Grenze ist als peripherisches Organ des Staates<br />

sowohl der Träger seines Wachstums wie auch seiner<br />

Befestigung <strong>und</strong> macht alle Wandlungen des<br />

Organismus des Staates mit.<br />

5. Der Staat strebt im Wachsen nach Umfassung der<br />

politisch wertvollen Stellen.<br />

6. Die ersten Anregungen zum räumlichen Wachstum<br />

der Staaten werden von außen hineingetragen.<br />

7. Die allgemeine Richtung auf räumliche An- <strong>und</strong><br />

Abgleichung pflanzt das Größenwachstum von<br />

Staat zu Staat fort <strong>und</strong> steigert es ununterbrochen.<br />

Ratzels Modell zeigt den Staat als biologischen Organismus.<br />

Wachstum <strong>und</strong> Veränderungen sind demnach<br />

„natürlich“ <strong>und</strong> unvermeidbar. Obwohl Ratzel<br />

sein Modell des Staates um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

weiterentwickelte, hatten seine ursprünglichen Ideen<br />

nachhaltigen Einfluss auf die nachfolgenden Staatstheorien.<br />

Seine Idee der Dynamisierung der Politischen<br />

Geographie durch das „Gesetz der wachsenden<br />

Räume“ gab den entscheidenden Impuls zur Entstehung<br />

der Lebensraumideologie. Er sah den Kampf<br />

um die begrenzte Ressource Raum als zentralen Ausgangspunkt<br />

des Kampfes zwischen den Völkern (Ex-<br />

Ratzel, F. Die Gesetze des räumlichen Wachstums. In: Dr. A. Petermanns<br />

Mitteiiungen 42 (1896). S. 97-107. Zitiert nach Matznetter,<br />

J. (Hrsg.) Politische Geographie. Wege der Forschung 43t. Darmstadt<br />

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1977, S. 29-53.


10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Zur Geschichte der Geopolitik in Deutschland<br />

Auf die Geschichte der deutschen Geopolitik einzugehen ist<br />

wichtig, da ihre Protagonisten in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts große Bedeutung erlangten. So ist der Weg<br />

der geopolitischen Entwürfe der Geographen Friedrich Ratzel<br />

<strong>und</strong> Karl Haushofer zu Hitlers Lebensraumpolitik nicht sehr<br />

weit.<br />

Ratzels Modell des Staates als Organismus<br />

Das gr<strong>und</strong>sätzlich Neue an Friedrich Ratzels Politischer Geographie<br />

(Abbildung 1) bestand in der Dynamisierung des Modells<br />

der natürlichen Abhängigkeit der Staaten durch die biologistische<br />

Auslese Darwins. Ratzel, der von der Zoologie zur<br />

Geographie gekommen war, baute seine Politische Geographie<br />

auf einem durchgängig positivistisch-naturwissenschaftlichen<br />

Weltbild auf. Deshalb ist seine Konstruktion des<br />

Raum-/Politikverhältnisses eindeutig durch die physischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen des Staates bestimmt, während Gesellschaften,<br />

Kultur <strong>und</strong> Wirtschaft in ihren Auswirkungen auf den Staatsraum<br />

kaum behandelt werden. In der historischen Bewegung<br />

<strong>und</strong> Gegenbewegung der Völker <strong>und</strong> Staaten sieht Ratzel den<br />

Kern politisch-geographischer Betrachtung; „Die Völker sind<br />

in beständiger innerer Bewegung, die in äußere Bewegung<br />

übergeht, wenn ein Stück Erdboden neu besetzt oder ein früher<br />

besetztes aufgegeben wird.“<br />

Ein weiterer Fixpunkt seiner Arbeit findet sich in der biologistischen<br />

Analogie des Staates als „bodenständiger Organismus“.<br />

Der Staat ist dabei mit den Eigenschaften eines Organismus<br />

ausgestattet, der nur dann Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> Stärke<br />

ausstrahlt, wenn es zu beständigem Wachstum, das heißt zur<br />

ständigen Territorialexpansion fähig ist. Diese Politische Geographie<br />

legitimiert entsprechend der darwinistischen Gr<strong>und</strong>these<br />

Jeden Imperialismus <strong>und</strong> Expansionismus, solange er<br />

nur geographisch bedingt ist. Wachstums- <strong>und</strong> Schrumpfungsprozesse<br />

der einzelnen Staaten sind deshalb sehr unterschiedlich.<br />

Gründe hierfür sieht Ratzel einmal in der Kulturstufe<br />

des jeweiligen Volkes sowie im natürlichen Potenzial des<br />

von ihm beherrschten Raums. Dem nie ruhenden Raumbedürfnis<br />

des Lebens steht bei ihm der begrenzte Raum der Erdoberfläche<br />

entgegen; aus diesem „Widerspruch“ ergibt sich für ihn<br />

„auf der ganzen Erde“ ein Kampf von „Leben mit Leben um<br />

Raum.“<br />

Wiederholt stellt Ratzel damit einen engen Zusammenhang<br />

zwischen „wachsendem Volk“ <strong>und</strong> „wachsendem Raum“ her.<br />

jeder Staat mit einer wachsenden, ges<strong>und</strong>en Bevölkerung<br />

braucht neuen Lebensraum, um seine zivilisatorische Entwicklung<br />

fortsetzen zu können. Auf dieser Gr<strong>und</strong>lage entwickelt<br />

sich zwischen den Staaten zwangsläufig ein Kampf um den<br />

Lebensraum. Dieser Kampf ist für ihn die Haupttriebfeder jeglicher<br />

menschlichen Entwicklung. In Bezug auf das deutsche<br />

Territorium resultiert für Ratzel folgende Konsequenz: „Wohin<br />

wir sehen, wird also Raum gewonnen <strong>und</strong> Raum verloren.<br />

Rückgang <strong>und</strong> Fortschritt an allen Enden; es wird immer herrschende<br />

<strong>und</strong> dienende Völker geben. Auch die Völker müssen<br />

Amboß <strong>und</strong> Hammer sein. Keinesfalls darf Deutschland sich<br />

auf Europa beschränken; unter Weltmächten kann es nur<br />

als Weltmacht hoffen, seinem Volk den Boden zu sichern,<br />

den es zum Wachstum nötig hat“ (Ratzel 1906). In Kurzform:<br />

„Deutschland besteht nur, wenn es stark ist“ (Ratzel 1898,<br />

aus Schultz 1995).<br />

Ratzel lieferte damit innerhalb der Wissenschaftsarena die<br />

Basis für die Kolonien- <strong>und</strong> Flottenpolitik des Deutschen Kaiserreichs.<br />

Die hier vollzogene Verbindung von Politik <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

sollte auch nach dem Ersten Weltkrieg die Hochschulgeographie<br />

charakterisieren <strong>und</strong> führte zu einem schnellen<br />

Ausbau der Politischen Geographie an deutschen Hochschulen.<br />

Mit der Dynamisierung seiner Politischen Geographie<br />

durch das „Gesetz der wachsenden Räume“ gab Ratzel den<br />

entscheidenden Impuls zur Entstehung der Lebensraumideologie<br />

(Abbildung 2). „Ratzels Theorie war somit nicht nur anschlussfähig<br />

an das klassische Konzept der Geographie, sondern<br />

auch an die Lebensraumideologie des Dritten Reichs. Die<br />

Umorientierung auf die Rasse als die entscheidende Macht<br />

der Geschichte ist bei ihm selbst schon angelegt“ (Schultz<br />

1998).<br />

Der Begriff Geopolitik wurde erstmals im Jahre 1905 von<br />

dem schwedischen Politikwissenschaftler Rudolf Kjellen verwendet.<br />

Seine Geopolitik baut auf den Überlegungen Ratzels<br />

auf <strong>und</strong> legt die begriffliche Gr<strong>und</strong>lage zur Etablierung des geopolitischen<br />

Diskurses.<br />

Karl Haushofer <strong>und</strong> die Geopolitik<br />

Die Frage nach dem Einfluss, den die geopolitischen Konstruktionen<br />

Karl Haushofers, Professor für Geographie in München,<br />

auf Hitler hatten, wird häufig im Hinblick auf seine Mitarbeit an<br />

der konzeptionellen Basis Hitlers - der Lebensraumforderung<br />

<strong>und</strong> dem Führermythos, wie sie in Mein Kampf zum Ausdruck<br />

kommt - festgemacht.<br />

Von besonderer Bedeutung für die Entwicklung von Hitlers<br />

Lebensraumkonzept dürfte die Vermittlung von Haushofers<br />

Schüler Rudolf Heß gewesen sein. Haushofer hatte Heß<br />

nach dem gescheiterten Putsch 1923 in München für einige<br />

Monate bei sich versteckt, <strong>und</strong> überden intensiven Austausch<br />

zwischen Heß <strong>und</strong> seinem Mentor Haushofer floss dessen


Die Entwicklung der Politischen Geographie 579<br />

Die durc^<br />

schnittlidve<br />

Vblk«diohyitf<br />

i'h:<br />

VeuiuMand<br />

139<br />

du tu<br />

80<br />

Südosliyi<br />

4 8<br />

CifttStgh» p än .fiUtin<br />

n o rd o sltM<br />

32<br />

Ocbict d ir<br />

SoHytt-Un.<br />

____ 8<br />

71 000 qkm O e b le tsre rlu st für d as D e u lic h c Reich d u rc h<br />

das V ersailler D iktat verachflrit die R aum not. D er wach«<br />

sende O eburtenrückfU nit wird eine n atio n ale CTefahr.<br />

O strA um polltIk <strong>und</strong> B evO lker<strong>und</strong>spolllik d er naClonalaoslallatlacfaen<br />

R eiller<strong>und</strong> will aus d ieser E rkenntnis<br />

herau s A bhilfe schaffen. — In d er Vorkriefts*«!! d O '<br />

seiüge V erlagerunit d er p atio o ale n .W jrtsch aft ro m ch m -<br />

lieh nach W estd e u tsch lan d . Die fQr R ep aratlo n sta h lu n tte n er^<br />

xwunilene A u siu h rw irtsch aft d er N a ch k rled sie lt stel(tert die Ent><br />

w iddunit. Die B inncnw anderunH o std eu tsch e r BevOlkerunfl nach<br />

dem W e ste n schwAcht den O sten . Erat die W eltw trtschnitskrise<br />

telAt den u ngeheuren Irrtum . N a tio n a lw irtsc h aft, hewufatc ROde-<br />

IfthrunA des d eu tsch e n V olkes auf seine b lu e rltc h e n O ru o d ta d eo<br />

ist dns W erk d e r deulachen R evolution 1933.<br />

„Volk ohne Raum“<br />

basiert auf der<br />

Lebensraumideologie<br />

von F. Ratzel. (Quelle:<br />

Ziegelfeld Hillen, A.,<br />

Braun, F., 1934)<br />

geopolitisches Weltbild in die Ideologie des Nationalsozialismus<br />

ein. In der Festungshaft in Landsberg, in die Hitler <strong>und</strong><br />

Heß verbannt worden waren, entstand daraufhin die Gr<strong>und</strong>lage<br />

des Nationalsozialismus: der Führermythos <strong>und</strong> die Lebensraumforderung,<br />

zu Papier gebracht in „Mein Kampf“.<br />

Dass Haushofer im nationalsozialistischen Machtapparat<br />

nicht augenfälliger in Erscheinung trat, liegt nach Hippier<br />

auch in dessen Selbstsicht. Seine eigene Rolle sah Haushofer<br />

als „idealer Hintergr<strong>und</strong>spieler“, als „Graue Eminenz“.<br />

Haushofer wurde im deutschen <strong>und</strong> im angloamerikanischen<br />

Raum sehr unterschiedlich rezipiert. Während im<br />

deutschsprachigen Raum über die Person Haushofer die<br />

gesamte Geopolitik „abgewickelt“ wurde, entstand aus dem<br />

Mythos des Geopolitischen Instituts <strong>und</strong> seines Direktors<br />

Haushofer ein Teil der amerikanischen Geopolitik der Nachkriegszeit.<br />

Zumindest hier galt Haushofer als scientific brain<br />

behind Hitler. Seine diskursive Überhöhung führte bis nach<br />

Hollywood, wo in einem amerikanischen Propagandafilm<br />

Haushofer <strong>und</strong> sein Geopolitisches Institut als Schaltzentrale<br />

des Nationalsozialismus betrachtet wird. Wie Ö Tuathail in<br />

seinen Critical Geopolitics (Exkurs „Das Weltbild der Critical<br />

Geopolitics“) vorstellt, galten Haushofer <strong>und</strong> sein imaginäres<br />

Geopolitisches Institut in München als Beginn der Überzeugung,<br />

dass „... geopolitics was something America has to<br />

/mow" (Ö Tuathail 1996).<br />

G. Wolkersdorfer


10 580 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Das Weltbild der Critical Geopolitics<br />

„Geography is about power. Although often assumed to be innocent,<br />

the geography o f the world is not a product o f nature<br />

but a product o f histories o f struggle between competing authorities<br />

over the power to organize, occupy, and administer<br />

space" (Ó Tuathail 1996).<br />

Die klassische Geopolitik der Moderne versucht die räumlichen<br />

Kriterien für Stärken <strong>und</strong> Schwächen von Nationalstaaten<br />

zu ermitteln, um daraus Handlungsanleitungen formulieren<br />

zu können (Exkurs „Zur Geschichte der Geopolitik in<br />

Deutschland“). Critical Geopolitics setzt sich dagegen mit<br />

den Entstehungszusammenhängen dieser Weltbilder auseinander.<br />

Ausgehend davon, dass Geographie <strong>und</strong> insbesondere<br />

Politische Geographie nicht eine objektive Beschreibung der<br />

Welt sein kann, sondern dass mit geographischen Beschreibungen<br />

Ordnungsvorstellungen im Sinne bestimmter Machtverhältnisse<br />

produziert <strong>und</strong> reproduziert werden, thematisiert<br />

der Forschungsansatz der Critica! Geopolitics das Verhältnis<br />

von Geographie, Politik <strong>und</strong> Macht. Geopolitik wird als spezifische,<br />

historisch <strong>und</strong> politisch bestimmte <strong>und</strong> damit veränderbare<br />

<strong>und</strong> verhandelbare Form der Realitätskonstruktion<br />

gesehen; es geht nicht um objektive Wahrheiten, sondern<br />

um situierte, subjektive Wahrheiten. Dies entspricht einer<br />

paradigmatischen Wende in der Politischen Geographie<br />

vom Positivismus zum Konstruktivismus, basierend auf der<br />

Überlegung, dass Geopolitik nicht von einem politisch <strong>und</strong><br />

moralisch neutralen Standpunkt aus betrieben werden<br />

kann. „Geopo//i/cs, forus, engages the geographical representations<br />

and practices that produce the spaces o f the world"<br />

(Agnew in: Ó Tuathail <strong>und</strong> Dalby 1998).<br />

Die theoretischen Gr<strong>und</strong>lagen dieser Position sind der Konstruktivismus<br />

(Exkurs „Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen des Paradig­<br />

menwechsels in der Politischen Geographie“), feministische<br />

Theorien, besonders im Hinblick auf die Situiertheit des Wissens<br />

<strong>und</strong> die Auflösung von Kategorien, sowie postkoloniale<br />

Ansätze, vor allem bezüglich der Kritik an eurozentrischen<br />

<strong>und</strong> hegemonialen Sichtweisen.<br />

Ö Tuathail hat fünf Leitfragen formuliert, die Themen <strong>und</strong><br />

Aufgaben der Geopolitik am Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts aufzeigen<br />

(nach Ö Tuathail 1998, S. 27-28):<br />

• Wie wird globaler Raum gedacht <strong>und</strong> repräsentiert?<br />

• Wie wird globaler Raum in essenzielle Blöcke/Zonen der<br />

Identität oder der Differenz eingeteilt?<br />

• Wie wird globale Macht konzeptualisiert?<br />

• Wie werden globale Gefahren verräumlicht <strong>und</strong> Reaktionsstrategien<br />

konzeptualisiert?<br />

• Inwiefern <strong>und</strong> auf welche Arten <strong>und</strong> Weisen formen Hauptakteure<br />

identifizierte <strong>und</strong> konzeptualisierte Geopolitik?<br />

An die Stelle einer essenzialistischen Sichtweise, die beispielsweise<br />

Nationalstaaten untersucht, treten nunmehr in<br />

Anlehnung an ein poststrukturalistisches Verständnis geopolitische<br />

Diskurse <strong>und</strong> die Konstruktion von geopolitischen<br />

Repräsentationen.<br />

Dabei konzentriert man sich auf folgende Forschungsschwerpunkte<br />

(Tabelle 1).<br />

Vereinfacht lässt sich Critical Geopoliticcs auf drei gr<strong>und</strong>legende<br />

Ideen zurückführen: Erstens ist alles geographische<br />

Wissen politisch. Zweitens ist Jede politische Praxis geographisch.<br />

Drittens können die ersten zwei Ideen nur durch ständiges<br />

Herausfordern des als selbstverständlich Betrachteten<br />

aufgedeckt werden (nach Johnston et al. 2000, S. 126).<br />

D. Wastl-Walter<br />

Tabelle 1<br />

Forschungsschwerpunkte der Critical Geopolitics<br />

Forschungsschwerpunkte<br />

Fokus Inhalte Beispiele<br />

formale<br />

Geopolitik<br />

traditionelle geopolitische<br />

Theorien<br />

intellektuelle, Institutionen<br />

<strong>und</strong> ihr politischer <strong>und</strong><br />

kultureller Kontext<br />

Haiford Mackinder, seine geopolitischen<br />

Theorien <strong>und</strong> ihr imperialistischer<br />

Kontext<br />

praktische<br />

Geopolitik<br />

Alltagspraxis des Staates<br />

praktische geopolitische Überlegungen<br />

in der Außenpolitik<br />

„Balkanismus“ <strong>und</strong> sein Einfluss in der<br />

US-Außenpolitik gegenüber Bosnien<br />

populäre<br />

Geopolitik<br />

Kultur, Massenmedien<br />

<strong>und</strong> geographische<br />

Vorstellungen<br />

nationale Identität <strong>und</strong> die<br />

Konstruktion des „Anderen“<br />

die Rolle der Massenmedien bezüglich<br />

der Vorstellung von Bosnien in<br />

Westeuropa<br />

strukturelle<br />

Geopolitik<br />

die aktuellen<br />

geopolitischen<br />

Rahmenbedingungen<br />

globale Prozesse, Tendenzen<br />

<strong>und</strong> Widersprüche<br />

wie Globalisierung, Informationalisierung<br />

<strong>und</strong> Risikogesellschaft geopolitische<br />

Praktiken beeinflussen <strong>und</strong> verändern<br />

Quelle: 0 Tuathail, G. Understanding critical geopolitics: geopolitics and risk society.\n: www.maJbill.vt.edu/geog/faculty/toal/<br />

papers/stratstud.htm (1999)


Die Entwicklung der Politischen Geographie 581<br />

kurs „Zur Geschichte der Geopolitik in Deutschland“).<br />

Auch wenn sich das geopolitische Konzept seit<br />

Ratzel fortentwickelt hat, war es doch von nachhaltigem<br />

Einfluss auf die deutsche Geopolitik in der Zeit<br />

des Nationalsozialismus. Zwar hat man seither den<br />

„organischen“ Ansatz verworfen, aber das Wechselspiel<br />

zwischen Macht <strong>und</strong> Territorium ist noch immer<br />

ein Thema der Politischen Geographie (Exkurs<br />

„Das Weltbild der Critical Geopolitics“).<br />

Politische Grenzen <strong>und</strong><br />

Grenzzonen<br />

Grenzen sind ein bedeutsames soziokulturelles <strong>und</strong><br />

politisches Phänomen; sie definieren Territorien,<br />

an ihnen manifestieren sich Konflikte <strong>und</strong> Differenzen.<br />

Das Ziehen von Grenzen muss daher als ein<br />

wichtiger Bestandteil der Konstruktion von sozialen,<br />

politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Räumen verstanden<br />

werden. Grenzen stellen deshalb den Raum prägende<br />

Elemente dar, sie haben einschließenden <strong>und</strong> ausschließenden<br />

Charakter (Abbildung 10.1). Grenzen<br />

werden gezogen, um Kontrolle über bestimmte Menschen<br />

sowie über die Ressourcen einer Region zu haben.<br />

Ein staatliches Territorium beschreibt das durch<br />

Grenzen definierte Gebiet, das durch einen Staat kontrolliert<br />

<strong>und</strong> von anderen Staaten anerkannt wird.<br />

Dazu können Land- <strong>und</strong> Wasserflächen gehören.<br />

Der Staat, verstanden als Institution, hat über dieses<br />

Territorium Entscheidungsgewalt.<br />

Nationale Grenzen regulieren die Ströme von<br />

Menschen, Gütern, Kapital <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

(Abbildung 10.2). Innerstädtische Grenzen können<br />

den Zuzug in bestimmte Wohnbezirke einschränken,<br />

Mauern <strong>und</strong> Zäune landwirtschaftliche Nutzflächen<br />

teilen <strong>und</strong> so weiter.<br />

Ein wichtiges Merkmal von Grenzen ist, dass sie -<br />

einmal gezogen - die räumliche Differenzierung verstärken.<br />

Zum Teil ist dies das Ergebnis der unterschiedlichen<br />

Gesetzgebung in den angrenzenden<br />

Staaten, aber auch der inoffiziellen Spielregeln innerhalb<br />

der einzelnen Territorien. Infolge eingeschränkter<br />

Interaktionen über Grenzen hinweg <strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

Politikstile <strong>und</strong> Diskurse innerhalb der<br />

Territorien festigen sich Vorurteile <strong>und</strong> Stereotypen.<br />

Dies wiederum verstärkt die Bedeutung von Grenzen.<br />

Grenzen können auf unterschiedliche Art <strong>und</strong><br />

Weise festgelegt werden. Auch sind sie mehr oder weniger<br />

durchlässig. Inoffizielle Grenzen werden stillschweigend<br />

anerkannt <strong>und</strong> finden sich in keiner Kartendarstellung<br />

<strong>und</strong> keinem offiziellen Dokument.<br />

Dazu gehören beispielsweise die Reviere von Straßenbanden,<br />

die Territorien organisierter Verbrechersyndikate<br />

oder die Weidegründe eines Nomadenvolks.<br />

Auf der anderen Seite stehen Territorien, die von<br />

der internationalen Gemeinschaft anerkannt werden<br />

10.1 Die Grenze zwischen<br />

Kanada <strong>und</strong> den<br />

Vereinigten Staaten<br />

Grenzen werden meist gezogen,<br />

um die Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> die Ressourcen eines<br />

Territoriums zu kontrollieren.<br />

In dieser Funktion<br />

müssen Grenzen klar definiert,<br />

aber nicht notwendigerweise<br />

befestigt sein.<br />

Die Fotografie zeigt einen<br />

Abschnitt der Grenze zwischen<br />

Kanada <strong>und</strong> den<br />

Vereinigten Staaten, ein<br />

anschauliches Beispiel<br />

einer nicht befestigten<br />

Grenze. Doch verschärften<br />

sich auch an dieser Grenze<br />

seit den Anschlägen auf<br />

das World Trade Center<br />

in New York 2001 die<br />

Sicherheits- <strong>und</strong> Kontroll-<br />

maßnahmen


582 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

10.2 Die Grenze zwischen Mexiko <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten Grenzen können auch ausschließenden Charakter haben,<br />

wie das Beispiel der Grenze zwischen Mexiko <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten zeigt. Im Unterschied zur Nordgrenze der USA patroulliert<br />

hier die bewaffnete Border Patrol entlang der in den städtischen Zonen errichteten Zäune <strong>und</strong> meterhohen Verbauungen. Zusätzlich<br />

wird das Grenzgebiet zu Mexiko über weite Strecken aus der Luft überwacht. Um den Strom der Einwanderer aus dem Süden<br />

einzudämmen <strong>und</strong> das Land seit den Anschlägen von 2001 vor Terroristen zu schützen, hat die US-Regierung die Zahl der<br />

Border Patrol drastisch erhöht. Die Fotografie zeigt den Grenzverlauf entlang des Tijuana-Flusses, der das südliche Kalifornien<br />

(links im Bild) von Mexiko trennt.<br />

<strong>und</strong> auf offiziellen Karten erscheinen. Deren Grenzzäune<br />

werden bewacht <strong>und</strong> verteidigt, <strong>und</strong> zwar nicht<br />

nur gegen den Zustrom von Menschen, sondern auch<br />

gegen Güter, Devisen <strong>und</strong> sogar gegen Wertvorstellungen.<br />

Die Bedeutung von Grenzen unterliegt einem ständigen<br />

historischen Wandel. So sind beispielsweise die<br />

Grenzen innerhalb der Europäischen Union viel offener<br />

geworden. Zwischen den 27 Mitgliedstaaten<br />

können sich Menschen <strong>und</strong> Güter ohne Pass- <strong>und</strong><br />

Zollkontrollen frei bewegen. Nach außen hin wurde<br />

die Durchlässigkeit durch das Schengen-Abkommen<br />

seit 1995 allerdings für bestimmte Nationalitäten<br />

deutlich verringert.<br />

Doch selbst über Jahrzehnte <strong>und</strong>urchlässig gemachte<br />

Grenzen gewähren keinen Schutz vor Veränderungen.<br />

Der Eiserne Vorhang zwischen der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland <strong>und</strong> der Deutschen Demokratischen<br />

Republik hatte über 40 Jahre Bestand <strong>und</strong><br />

wurde genauso aggressiv verteidigt wie derzeit die<br />

Grenze zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkorea (Abbildung<br />

10.3). Dennoch verschwand er im Jahre 1989 mit<br />

der deutschen Wiedervereinigung aus den Landkarten<br />

(Abbildung 10.4).<br />

Grenzzonen (frontiers) findet man in den Randbereichen<br />

noch weitgehend Undefinierter Territorien.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert gab es zahlreiche solcher oft riesiger<br />

Gebiete. Große Teile der Erde waren noch kaum<br />

erforscht oder kolonisiert. Dazu gehörten zum Beispiel<br />

Australien, der Westen Amerikas, der Norden<br />

Kanadas <strong>und</strong> Afrika südlich der Sahara. Alle diese Regionen<br />

unterliegen heute genau festgelegten territorialen<br />

Ansprüchen, von individuellem Landbesitz<br />

bis hin zur nationalstaatlichen Gerichtsbarkeit.<br />

Es gibt aber noch immer viele Grenzzonen, die<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer Randlage nur teilweise besiedelt <strong>und</strong><br />

wirtschaftlich nicht eingeb<strong>und</strong>en sind, wenngleich<br />

nationale Zugehörigkeit <strong>und</strong> politische Grenzen<br />

meist geklärt zu sein scheinen. Die Rondonia-Region<br />

in den Regenwäldern des Amazonas ist ein Beispiel<br />

dafür, oder auch die Sahelzone in Afrika. Solche Gebiete<br />

sind oft grenzübergreifend, unwirtlich, unzugänglich<br />

<strong>und</strong> - zumindest derzeit - im Kontext der<br />

Globalisierung wirtschaftlich uninteressant. Die poli-


Die Entwicklung der Politischen Geographie 583<br />

10.3 Die Grenze zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkorea Die stark befestigte<br />

<strong>und</strong> kontrollierte Grenze zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkorea ist praktisch<br />

unübenwindbar; neu gibt es seit Anfang 2003 eine Straßenverbindung<br />

über die Demarkationszone hinaus <strong>und</strong> eine Bahnlinie wurde<br />

kurzfristig wieder eröffnet, doch das Verhältnis zwischen den beiden<br />

Staaten ist noch immer äußerst gespannt, a) Sie wurde am Ende des<br />

Koreakriegs (1950-1953) zwischen zwei Staaten errichtet, die bis<br />

heute das Nachbarland für sich beanspruchen. Die knapp einen<br />

Quadratkilometer große Joint Security Area Panmunjom ist der einzige<br />

Raum an der etwa 240 Kilometer langen entmilitarisierten Zone, wo<br />

zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkorea Kontakt gehalten wird b). Unter Anwesenheit<br />

von Beobachtern neutraler Staaten, beispielsweise der<br />

Schweiz, finden regelmäßig Kontakte zwischen der Waffenstillstandskommission<br />

des Internationalen Roten Kreuzes <strong>und</strong> Unterhändlern<br />

beider Seiten in den blauen Konferenzgebäuden statt. Die Waffenstillstandslinie<br />

verläuft mitten durch diese Gebäude, die von beiden<br />

Seiten kontrolliert werden können. Das graue Gebäude im Hintergr<strong>und</strong><br />

ist ein nordkoreanisches Bürogebäude. Der Waffenstillstand von Panmunjom<br />

wurde etwa einen Kilometer weiter im Norden am 27. Juli 1953<br />

ausgehandelt <strong>und</strong> unterzeichnet. Im Juni 2000 kam es zum ersten<br />

innerkoreanischen Treffen <strong>und</strong> schließlich zur Unterzeichnung einer<br />

gemeinsamen Erklärung zur innerkoreanischen Zusammenarbeit.<br />

tischen Grenzen sind hier weitgehend außenbestimmt<br />

<strong>und</strong> stoßen meist auf geringen Widerstand lokaler<br />

Interessensgruppen.<br />

Informelle Grenzen finden sich gerade auch auf lokaler<br />

Ebene. Unterschiedliche Stadtteile <strong>und</strong> Wohngegenden<br />

differenzieren sich nach den dort lebenden<br />

Bevölkerungsgruppen, doch sind die Grenzen dazwischen<br />

fließend. In diesen Übergangszonen kommt es<br />

zu häufigen Veränderungen in Bezug auf Flächennutzung<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur.<br />

I<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Grenzziehung<br />

Politisch-administrative Grenzen folgen oft Flüssen,<br />

Gebirgen oder Küstenlinien, die als natürliche Barrieren<br />

gesehen werden. So bilden beispielsweise die Pyrenäen<br />

die Grenze zwischen Frankreich <strong>und</strong> Spanien.<br />

Andere Länder sind durch Flüsse voneinander abgegrenzt:<br />

Zwischen China <strong>und</strong> Nordkorea fließt der<br />

Yalu, zwischen Laos <strong>und</strong> Thailand der Mekong, zwischen<br />

Sambia <strong>und</strong> Simbabwe der Sambesi. Ob ein


584 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

10.4 Die innerdeutsche Grenze<br />

i ; !<br />

(b)<br />

i s I r<br />

c 5 « «- .*<br />

f*<br />

i - :<br />

a) Die ehemalige Grenze zwischen<br />

Ost- <strong>und</strong> Westdeutschland war eine<br />

der bestbewachten Grenzen der<br />

Erde. Metallgitter- <strong>und</strong> Stacheldrahtzäune,<br />

Kfz-Sperrgräben <strong>und</strong><br />

freigeräumte Geländestreifen, Beobachtungstürme,<br />

H<strong>und</strong>elaufanlagen<br />

<strong>und</strong> zeitweise automatische<br />

Schussanlagen machten die innerdeutsche<br />

Grenze nahezu unüberwindbar.<br />

Die Aufnahme aus dem<br />

Frühjahr 1990 zeigt die im Abbau<br />

befindlichen Anlagen zwischen<br />

Bayern <strong>und</strong> Thüringen, b) Der Blick<br />

Richtung Nordosten über die ehemalige<br />

Grenze zwischen dem Ostberliner<br />

Bezirk Mitte <strong>und</strong> Westberlin<br />

zeigt das von der Mauer halbkreisförmig<br />

umschlossene Brandenburger<br />

Tor <strong>und</strong> im Hintergr<strong>und</strong> die relativ<br />

dichte, wieder zu Westberlin gehörende<br />

Nachkriegsbebauung. Der<br />

einstmals belebte Pariser Platz vor<br />

dem Brandenburger Tor war über<br />

Jahrzehnte unzugänglich. Nach dem<br />

Fall der Berliner Mauer schritt im<br />

Grenzstreifen der Wiederaufbau<br />

rasch voran. Heute steht ein Denkmal/Mahnmal<br />

zur Erinnerung an die<br />

ermordeten Juden Europas zwischendem<br />

Brandenburger Tor <strong>und</strong><br />

Potsdamer Platz. (Quelle: Presse<strong>und</strong><br />

Informationsamt des Landes<br />

Berlin, © Landesbildstelle Berlin)<br />

Fluss, ein Gebirge oder eine Küstenlinie als trennend<br />

oder verbindend gesehen werden, hängt indes von der<br />

Sichtweise ab. So ist beispielsweise der Rhein sowohl<br />

Grenzfluss - zwischen der Schweiz <strong>und</strong> Österreich sowie<br />

zwischen Deutschland <strong>und</strong> Frankreich - wie auch<br />

tragendes Element prosperierender Wirtschaftsräume<br />

- wie im rheinisch-westfälischen Industriegebiet.<br />

Ähnliches gilt für die Donau, die in Österreich<br />

<strong>und</strong> Ungarn die Zentralräume prägt, zwischen der<br />

Slowakei <strong>und</strong> Ungarn sowie zwischen Rumänien<br />

<strong>und</strong> Bulgarien aber die Grenze markiert. Auch die<br />

Großen Seen in Nordamerika, der Genfer See <strong>und</strong><br />

der Victoriasee können sowohl als trennend als<br />

auch als verbindend zwischen Kanada <strong>und</strong> den<br />

USA, Frankreich <strong>und</strong> der Schweiz, Kenia <strong>und</strong> Uganda<br />

gesehen werden.<br />

Wo es derlei natürliche Anhaltspunkte für eine<br />

Grenzziehung nicht gibt, wurden politische Grenzen<br />

von den Kolonialmächten mitunter mit dem einfachsten<br />

Werkzeug der Kartographen gezogen: dem Lineal.<br />

Solche geraden Linien bilden die Grenzen zwischen<br />

Ägypten, dem Sudan <strong>und</strong> Libyen (Abbildung<br />

10.5), Syrien <strong>und</strong> Irak sowie dem westlichen Teil<br />

der USA <strong>und</strong> Kanada. Die Vorteile dieser Grenzen liegen<br />

in ihrer einfachen Geländevermessung. Zudem<br />

lassen sie sich auf Karten bereits ziehen, bevor ein<br />

Territorium umfassend kartiert, in Besitz genommen<br />

<strong>und</strong> besiedelt worden ist. Auf diese Weise entstanden


Die Entwicklung der Politischen Geographie 585 10<br />

10.5 Die Grenzen Ägyptens zu Libyen <strong>und</strong><br />

dem Sudan Staatsgrenzen folgen teilweise natürlichen<br />

Landschaftselementen. Wo markante<br />

geomorphologische Merkmale fehlen, erfolgt die<br />

Grenzziehung häufig entlang von Breiten- <strong>und</strong><br />

Längengraden. Auf diese Weise entstand auch<br />

die westliche Grenze Ägyptens zu Libyen. Bisweilen<br />

erfordern lokale natürliche Barrieren oder<br />

isolierte Siedlungen kleinere Abweichungen, wie<br />

beispielsweise im Falle von Wadi Haifa an der<br />

Grenze des Sudan zu Ägypten. Vor dem Bau des<br />

Assuan-Staudamms lag der Ort auf einem nach<br />

Norden gerichteten Vorsprung am Nubischen<br />

See, dem südlichen Ende des ägyptischen Nasser-Sees<br />

(siehe Karte). Als der Nil aufgestaut<br />

wurde, hat man die Einwohner in weiter östlich<br />

gelegene Regionen umgesiedelt. Bei der Betrachtung<br />

der Karte fällt auch ein Gebiet in Form<br />

eines Dreiecks am Roten Meer auf. Es wurde von<br />

Ägypten an den Sudan abgegeben, um diesen<br />

zum Beitritt in den damaligen B<strong>und</strong> der Vereinigten<br />

Arabischen Republik (United Arab Republic,<br />

UAR) zu bewegen. Sudan ist dem Wunsch<br />

nie gefolgt, behielt aber das neu gewonnene<br />

Land. Dies führt zwischen den beiden Ländern<br />

immer wieder zu Kontroversen <strong>und</strong> ernsthaften<br />

Konflikten.<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert, während der Kolonisation durch<br />

die Europäer, viele Grenzen in Afrika. Die Aktions<strong>und</strong><br />

Interaktionsräume der lokalen Bevölkerung sowie<br />

soziokulturelle Grenzen blieben dabei unberücksichtigt,<br />

was heute zu vielen Problemen <strong>und</strong> ethnischen<br />

Konflikten führt.<br />

In manchen Fällen wurden Grenzen jedoch unter<br />

Berücksichtigung historischer, ökonomischer, politischer<br />

oder strategischer Interessen gezogen. So sollte<br />

beispielsweise die Grenze Kolumbiens das Quellgebiet<br />

des Orinoko einschließen, die Republik Kongo<br />

verfügt über einen Korridor zum Atlantik, <strong>und</strong> die<br />

sudanesische Grenze macht einen Bogen um die Siedlung<br />

Wadi Haifa.<br />

Im Laufe der Geschichte entwickelte sich aus dem<br />

ungleichmäßigen Flickwerk einzelner Territorien mit<br />

immer wieder wechselnden Grenzen die heutige politische<br />

Weltkarte. Innerhalb der Staaten entstanden<br />

interne Hierarchien wie B<strong>und</strong>esländer, Landkreise,<br />

Stadtteile, eingeschränkt zugängliche Gebiete oder<br />

.Ähnliches. Sie sind de jure (von Rechts wegen) definiert<br />

<strong>und</strong> anerkannt. Aufgr<strong>und</strong> ihres besonderen Stellenwerts<br />

<strong>und</strong> ihrer räumlichen Eindeutigkeit sind solche<br />

politisch-administrativen Einheiten häufig die<br />

Basiseinheiten für regionalpolitische Entscheidungen<br />

wie auch für humangeographische Analysen. Vielfach<br />

gibt es nur hier ausreichend zuverlässiges Datenmaterial.<br />

Auch für die Analyse politisch-administrativer<br />

Systeme kommt ihnen wegen ihrer oft eigenständigen<br />

Regierungen <strong>und</strong> Verwaltungen große Bedeutung zu.<br />

Die Europäische Union hat für ihre Zwecke ein eigenes<br />

hierarchisches System von Einheiten geschaffen,<br />

die NUTS-Ebenen. Sie sind derzeit in den politischadministrativen<br />

Strukturen der Mitgliedstaaten als<br />

solche zwar nicht verankert, entsprechen deren Gliederung<br />

aber häufig (Abbildung 10.6).


586 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

10.6 Hierarchische Ordnung in de ;ure-Territorien<br />

Deyi/re-Territorien gibt es - je nach geschichtlichem Ursprung<br />

<strong>und</strong> Funktion - auf verschiedenen räumlichen Ebenen In der^<br />

Europäischen Union erfolgt die Klassifizierung der Regionen<br />

nach einer speziellen Nomenklatur, der NUTS (Nomenclature<br />

des unités territoriales statistiques - Systematik der Gebietseinheiten<br />

für die Statistik). NUTS ist ein hierarchisch gegliedertes<br />

System der Verwaltungseinheiten. Das Gemeinschaftsgebiet<br />

wurde nach drei Ebenen unterteilt: 78 Regionen auf der<br />

Ebene der NUTS 1,211 auf der Ebene der NUTS 2 <strong>und</strong> 1093 auf<br />

der Ebene der NUTS 3. Die Mitgliedstaaten selbst werden als<br />

NUTS 0-Einheiten bezeichnet. Bei allen regionalpolitischen<br />

Entscheidungen liegt der Gemeinschaft dieses geographische<br />

Raster zugr<strong>und</strong>e. Dargestellt sind die Einheiten auf der Ebene<br />

der NUTS 3 für Bayern.


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 587 10<br />

Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung<br />

L<br />

Politische Geographen richteten lange Zeit ihre ganze<br />

Aufmerksamkeit auf den Staat. Der Staat kann mithilfe<br />

seiner Institutionen, wie dem Militär oder<br />

dem Bildungssystem, das eigene Territorium schützen<br />

<strong>und</strong> die Interessen der Bürger harmonisieren.<br />

Man kann somit auch sagen, dass der Staat aus einer<br />

Reihe von Institutionen besteht, deren Aufgabe es ist,<br />

für den Schutz <strong>und</strong> das Wohl der Gesellschaft zu sorgen.<br />

Er agiert über Regeln <strong>und</strong> Regulationen seiner<br />

verschiedenen Einrichtungen, von der Regierung<br />

bis hin zu Wohlfahrtseinrichtungen <strong>und</strong> der Gerichtsbarkeit.<br />

Mit der Erkenntnis, dass der Staat<br />

durch seine Institutionen agiert, wird klar, warum<br />

Politische Geographen <strong>und</strong> Wissenschaftler anderer<br />

Fachrichtungen staatliches Handeln mithilfe differenzierter<br />

Theorien <strong>und</strong> Modelle zu erklären versuchen.<br />

Verstanden als Institution, regelt, unterstützt <strong>und</strong> legitimiert<br />

der Staat auch die Globalisierung der Wirtschaft<br />

oder versucht, ihre Konsequenzen abzufedern.<br />

In diesem Sinn ist das Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Wirtschaft<br />

ständig neu zu konzeptualisieren (Exkurs<br />

„Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen des Paradigmenwechsels<br />

in der Politischen Geographie“).<br />

Staaten <strong>und</strong> Nationen<br />

Wie in Kapitel 2 erläutert wurde, ist der Staat eine<br />

unabhängige politische Einheit mit deutlichen,<br />

wenn auch gelegentlich umstrittenen Grenzen. Im<br />

Gegensatz dazu bezeichnet man als Nation eine<br />

Gruppe von Menschen gemeinsamer Religion, Sprache,<br />

Geschichte oder politischer Identität. Die Mitglieder<br />

einer Nation bekennen sich zu solchen Gemeinsamkeiten,<br />

auch wenn sie nicht in einer Region<br />

vereint sind. Die jüdische Nation umfasst alle Menschen<br />

jüdischer Kultur <strong>und</strong> jüdischen Glaubens,<br />

egal wo sie auf der Erde leben. Der Begriff Nationalstaat<br />

beschreibt den Typus eines Staates, dessen Bevölkerung<br />

in ihrer Gesamtheit aufgr<strong>und</strong> von Gemeinsamkeiten<br />

einer von allen anerkannten Regierung untersteht.<br />

Souveränität ist Ausdruck der höchsten<br />

Staatsgewalt über Bürger <strong>und</strong> Territorium. Sie wird<br />

von anderen Staaten anerkannt <strong>und</strong> entspricht internationalen<br />

Gesetzen.<br />

Nationalstaaten in reiner Ausprägung gibt es heute<br />

nirgendwo. Vielmehr ist der multinationale Staat, in<br />

dem unterschiedliche regionale oder ethnische Gruppen<br />

leben, die Regel. In Spanien sind dies zum Beispiel<br />

Katalanen, Basken, Galicier <strong>und</strong> kastilisch sprechende<br />

Bürger. Auch Frankreich, Kenia, die USA <strong>und</strong><br />

Bolivien gehören zu den multinationalen Staaten. Seit<br />

dem Ersten Weltkrieg kommt es immer häufiger zu<br />

Separationsbewegungen von nationalen Minderheiten<br />

innerhalb eines Landes. Das Streben nach Autonomie<br />

ist eine Folge des im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entstandenen<br />

Nationalismus. Er beschreibt das Gefühl, zu<br />

einer Nation zu gehören, <strong>und</strong> damit den Glauben<br />

an das Recht auf Selbstbestimmung in einem eigenen<br />

Territorium. Nationalismus kann sich in vielen sozialen<br />

<strong>und</strong> kulturellen Bewegungen ausdrücken <strong>und</strong><br />

kann bestimmt sein durch den Glauben an die Überlegenheit<br />

der weißen Rasse. Die Unabhängigkeitsbewegungen<br />

im kanadischen Quebec oder im spanischen<br />

Baskenland begründen sich in der Betonung<br />

der kulturellen Eigenständigkeit (eigene Sprache<br />

<strong>und</strong> Traditionen) bis hin zum Verweis auf die politische<br />

Selbständigkeit in der Vergangenheit. Die<br />

Weltkarten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts sind geprägt von<br />

Unabhängigkeitsbestrebungen vieler Nationen.<br />

Die Veränderungen der politischen Karte in Europa<br />

spiegeln den Zerfall der zum Teil multinationalen<br />

Monarchien des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> die geopolitischen<br />

Veränderungen nach dem Fall des Eisernen<br />

Vorhangs wider (Abbildung 10.7). Am Übergang<br />

zum 21. Jahrh<strong>und</strong>ert sind Estland, Lettland <strong>und</strong><br />

Litauen wieder selbständige Staaten; die Tschechoslowakei<br />

zerfiel in die Tschechische <strong>und</strong> Slowakische<br />

Republik; aus der ehemaligen Sowjetunion wurde<br />

die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) mit<br />

Russland als größtem <strong>und</strong> mächtigstem Staat; Jugoslawien<br />

löste sich - als Folge der Bürgerkriege, die<br />

viele Menschenleben forderten - in mehrere Staaten<br />

auf. Im Mai 2006 erklärte schließlich Montenegro,<br />

in einem Referendum über eine mögliche Selbständigkeit<br />

abstimmen zu lassen. Am 3. luni 2006 erklärte<br />

Montenegro seine Unabhängigkeit, was im Oktober<br />

2006 vom serbischen Parlament anerkannt wurde.<br />

In der Tat sind die Veränderungen in Europa seit<br />

1989 viel dramatischer als in den lahrzehnten zuvor.<br />

Auch der Zerfall der ehemaligen Sowjetunion war<br />

Ausdruck der Spannungen zwischen Staaten <strong>und</strong> Nationen.<br />

Die Geschichte des ehemaligen Russischen<br />

Reichs ist geprägt vom lange währenden Wunsch<br />

nach Nationalstaatlichkeit <strong>und</strong> Souveränität; der<br />

Sturz der Zarenfamilie, die darauf folgende Gründung<br />

der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken<br />

<strong>und</strong> die Ereignisse, die zu einem B<strong>und</strong> unabhängiger<br />

Staaten führten.<br />

Das Russische Reich hatte eine ähnlich lange Geschichte<br />

wie Spanien, Großbritannien <strong>und</strong> andere


10<br />

588 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

^5'-'<br />

Theoretische Gr<strong>und</strong>lagen des Paradigmenwechsels<br />

in der Politischen Geographie<br />

im-.'-<br />

H l<br />

t<br />

I<br />

i<br />

Das Politische ist auf allen Ebenen im Fluss, <strong>und</strong> Becks (1993)<br />

lakonisches Fazit lautet: „Das Politische muss neu erf<strong>und</strong>en<br />

werden.“ Dieser Wandel konnte die Politische Geographie<br />

nicht unberührt lassen, sie musste der „new social andpolitical<br />

Organization of space“ (Scott et al. 1999) angemessene Konzepte<br />

gegenüberstellen, denn alle diese Transformationen berühren<br />

ganz zentral die Fragen um Macht <strong>und</strong> Raum. Sie drehen<br />

sich (auch) um die Verteilung von räumlich lokalisierten<br />

Ressourcen <strong>und</strong> ihre Verfügbarkeit. Dabei haben viele der<br />

globalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen Konflikte nicht erst seit<br />

dem Ende des Kalten Kriegs eine dezidiert geopolitische<br />

beziehungsweise ortsspezifische Komponente. Den gesellschaftlichen<br />

<strong>und</strong> sozialräumlichen Transformationen der<br />

Macht folgend hat die Kulturgeographie vor allem im angloamerikanischen<br />

Sprachraum bereits seit den 1970er-Jahren<br />

sukzessive eine Reihe von politisch-geographischen beziehungsweise<br />

politisch ambitionierten Ansätzen entwickelt, welche<br />

raumbezogene Konflikte <strong>und</strong> geographische Implikationen<br />

politischer Macht untersuchen.<br />

Wenn man bedenkt, dass sich die Kulturgeographie als Gesellschaftswissenschaft<br />

logischerweise im Wechselspiel mit<br />

dem sozialen Kontext entwickelt, den sie beobachtet <strong>und</strong> dessen<br />

Teil sie ist, dann kann man auch die Entwicklungslinien der<br />

konzeptionellen Diskussion in der Politischen Geographie<br />

folgerichtig als Reaktion auf die politischen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Transformationen verstehen. Sie schlugen sich in der<br />

politisch-geographischen Theoriebildung auf zweierlei Weise<br />

nieder:<br />

• in der zunehmenden Pluralisierung (<strong>und</strong> Fragmentierung)<br />

des Politischen entspricht sie durch eine zunehmende<br />

Stärkung akteurs- <strong>und</strong> handlungsorientierter Konzepte.<br />

Aus den noch sehr stark klassisch-strukturalistisch angelegten<br />

Konzepten der Radical Geography entwickelt sich<br />

eine stärker handlungsorientierte geographische Konflikt­<br />

forschung, die auf der Gr<strong>und</strong>lage eines methodologischen<br />

Individualismus die Basis dafür bildet, die neue, hoch flexible<br />

Gestalt politisch-geographischer Prozesse von den<br />

kleinsten Bausteinen, den politischen Handlungen einzelner<br />

Akteure her, aufrollen <strong>und</strong> verstehen zu können.<br />

• in der zunehmenden Sensibilität der Wissenschaften für<br />

den konstruktivistischen Charakter der sozialen Welt<br />

<strong>und</strong> eine entsprechende Bedeutung der Sprache. Sie deutet<br />

sich in der „Macht der Diskurse“ (Foucault 1988) ebenso<br />

an wie in der Enttarnung vieler bis dahin für wahr <strong>und</strong><br />

unverrückbar gehaltener politischer Normen <strong>und</strong> Werte<br />

westlich-demokratischer Gesellschaften als „große Erzählungen“<br />

(Metanarrative, Lyotard 1999). Eine solche Sicht<br />

führt in der Politischen Geographie zur Herausbildung<br />

der konstruktivistischen Konzeption der Critical Geopolitics<br />

(Ö Tuathail 1996; Exkurs „Das Weltbild der Critical<br />

Geopolitics"). Sie konzentriert sich auf die Sprache, das<br />

heißt auf den geopolitischen Diskurs, auf die geopolitischen<br />

Erzählungen, strategischen Raumbilder <strong>und</strong> so weiter<br />

<strong>und</strong> dekonstruiert sie als sprachliche Konstruktionen,<br />

die einen wichtigen Einfluss auf geopolitische Weltsichten<br />

<strong>und</strong> Konstellationen ebenso ausüben wie raumbezogene<br />

Auseinandersetzungen auf lokaler <strong>und</strong> regionaler Maßstabsebene.<br />

Mit solchen Konzepten eröffnet sich der jahrzehntelang vernachlässigten<br />

Politischen Geographie eine spannende Zukunftsperspektive,<br />

die sie aus einer Randposition des Faches<br />

zunehmend ins Zentrum des disziplinären Interesses rückt<br />

<strong>und</strong> nach der „Soziologisierung“ der Kultur-/<strong>Humangeographie</strong><br />

seit den 1970er-Jahren <strong>und</strong> der „Psychologisierung“ in<br />

den 1980er-jahren eine gewisse „Politisierung“ an der Jahrtausendwende<br />

bewirkt.<br />

Quelle: P. Reuber, 2001 (ergänzt)<br />

Kolonialmächte Europas. Wenngleich es bereits im<br />

Mittelalter entstand, so ist erst die territoriale Ausbreitung<br />

der Moskauer Großfürsten im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

für nationalistische Bestrebungen in den nachfolgenden<br />

Jahrh<strong>und</strong>erten entscheidend geworden.<br />

1462 umfasste das Großfürstentum mit Moskau als<br />

Zentrum r<strong>und</strong> 5 790 Quadratkilometer. Während<br />

der folgenden 400 Jahre dehnte sich das spätere<br />

russische Zarenreich vornehmlich nach Osten aus,<br />

drang aber phasenweise auch nach Westen <strong>und</strong><br />

Süden vor (Abbildung 10.8). Im Jahre 1914, am<br />

Vorabend des Ersten Weltkriegs, herrschte der Zar<br />

über mehr als 3,25 Millionen Quadratkilometer.<br />

Das entspricht einem Siebentel der Fläche aller<br />

Kontinente.<br />

Am Ende des 15. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte das Großfürstentum<br />

Moskau schon fast alle russischen Fürsten­<br />

tümer des europäischen Teils von Russland eingenommen.<br />

Während des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden<br />

die von Tartaren bewohnten Gebiete erobert. Begierig<br />

nach den Schätzen der Taiga (vor allem Felle), drangen<br />

die russischen Truppen weiter nach Sibirien vor.<br />

Mitte des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts hatte sich das russische<br />

Zarenreich auch die östlichen <strong>und</strong> zentralen Anteile<br />

Polens an der Ukraine angeeignet. Unter der Führung<br />

von Katharina der Großen wurden im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

die Territorien erobert, aus denen später das<br />

südliche Lettland, Litauen, Weißrussland <strong>und</strong> die<br />

westliche Ukraine hervorgingen. Im Zuge der weiteren<br />

Ausbreitung wurden im 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Gebiete im Transkaukasus, dem heutigen Kasachstan,<br />

ebenso okkupiert wie die Steppenregionen,<br />

die nördlich an das heutige China <strong>und</strong> Afghanistan<br />

grenzen.


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 589 10<br />

' 5" 6“ f ' " ^<br />

^ ^ ft f t f E l t l a n d<br />

, G ro6-,-,<br />

britannien 'I 2<br />

Niedertanda D eutschland<br />

B elgien^Luxem burg<br />

tj 4 /inland<br />

'' Pfauen<br />

\biiitaQ>)liind.<br />

'<br />

Polen<br />

A tlantischer ^ _. T sch ech o slo w ak ei<br />

Ozean Saarland Lichtenstein<br />

P r » n k r e i.h / d s t e r r e ld h ^ ^ n g ^ fn<br />

Frankreicn __t- . ■ r<br />

1924<br />

f<br />

V<br />

Nbrdsee ~ '<br />

m en ^<br />

N i[^ r l|p d b .’<br />

*,r . ' • BRD<br />

.Bnnhdrt^^<br />

f ^ ^ 4 I 1989<br />

.’Sd««9i?9<br />

DDR<br />

‘ ^ ^ ■<br />

'<br />

_J<br />

Polen<br />

^ T sch e ch o slo w ak e i<br />

Luxemburg Lichtensteih - _ -is<br />

\ - . .j/"^sterreigh> *^^9® i®<br />

,FranK reichS5'’w e «<br />

. - R u m ä n ie n<br />

Andorra ^ t '•^ 'u g o slaw ien M eer<br />

B ulgarien<br />

Portugal<br />

Spanien<br />

10.7 Europäischer Wandel: 1924, 1989, 2000 Seit dem Ersten Weltkrieg haben sich die Grenzen der europäischen Länder<br />

in dramatischer Weise verändert. Der Wandel, der sich in diesen Karten widerspiegelt, ist Ausdruck der Instabilitäten <strong>und</strong> der Dynamik<br />

zwischenstaatlicher Beziehungen <strong>und</strong> machtpolitischer Konstellationen des geographischen Systems der Nationalstaaten.<br />

(Quelle: genehmigter Wiederabdruck aus Rubenstein, J.M. The Cultural Landscape: An Introduction to Human Geography. 5. Auflage,<br />

Prentice Hall, 1996, S. 338.)<br />

Russlands imperialistische Expansion wurde von<br />

den gleichen Kräften vorangetrieben wie die der anderen<br />

europäischen Mächte. Dabei galt es unter anderem<br />

durch territoriale Ansprüche Ressourcen -<br />

etwa den Zugang zu einem ganzjährig eisfreien Hafen<br />

- zu sichern. Doch während andere Großmächte Kolonien<br />

in Übersee gründeten, annektierte Russland<br />

die angrenzenden Gebiete des eurasischen Kontinents.<br />

Sowohl Russland als auch einzelne andere europäische<br />

Staaten gründeten keine Kolonien im<br />

eigentlichen Sinn; sie gliederten die fremden Nationen<br />

in ihr eigenes Staatensystem ein. Die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Probleme erschwerten letztlich die Konsolidierung<br />

von Russlands riesigem Machtbereich.<br />

Um der Herausforderung verschiedener Nationen<br />

unter dem Dach eines Staates gerecht zu werden,<br />

musste Russland verschiedene politische Strategien<br />

verfolgen. Dabei fördern zentripetale Kräfte die


590 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

1! I<br />

Nordpolarmeer<br />

Ostsee<br />

st. Petefsbutg'îc'<br />

Laptew-<br />

Moskau m<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Kasan Ochotsk .<br />

Ochotskisches<br />

Meer<br />

ßadiwostofi<br />

■ m<br />

1000 Kilometer<br />

□<br />

□<br />

Moskauer Großfürstentum<br />

vor 1462<br />

[ I Eroberungen bis 1505<br />

Ausw/eitung während<br />

des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Ausweitung während<br />

des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Ausweitung während<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Ausweitung während<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Ausweitung während<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

i<br />

I<br />

internationale Grenzen<br />

der Sowjetunion vor 1991<br />

10.8 Die territoriale Expansion des Moskauer Großfürstentums <strong>und</strong> des Russischen Reichs Das Russische Reich hatte<br />

riesige Ausmaße. Durch Eroberungen dehnte es sich vom 15. Jahrh<strong>und</strong>ert bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein aus. Im Unterschied zu<br />

anderen Ländern vereinnahmte Russland ausschließlich angrenzende Territorien, orientierte sich also nicht nach Übersee. Nachdem<br />

die Bolscheiwisten zu Beginn des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts an die Macht gekommen waren, gingen einige Regionen verloren. Schließlich<br />

kontrollierten sie dennoch den größten Teil des einst von den Zaren beherrschten Landes, das die Basis der Sowjetunion wurde.<br />

(Quelle: Shaw, D.J. B. (Hrsg.) The Post Soviel Republics: A Systematic Geography. New York (John Wiley & Sons) 1995. S. 164.)<br />

Stärke <strong>und</strong> Einheit eines Staates, zentrifugale Kräfte<br />

wirken dem entgegen <strong>und</strong> fördern die Bestrebungen<br />

zur Teilung. Russlands Maßnahmen zur Einbindung<br />

der mehr als 100 nicht russischen Gruppierungen<br />

hatten oft genug den Charakter von Strafmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> waren alles andere als erfolgreich. Andere Nationen<br />

hatten sich schlichtweg den russischen Werten<br />

<strong>und</strong> Normen unterzuordnen <strong>und</strong> mussten gegebenenfalls<br />

mit mehr oder minder strengen Sanktionen<br />

rechnen. Dies führte unter vielen, wenn nicht den<br />

meisten betroffenen Nationen zur Ausbildung von<br />

Oppositionen. Bisweilen rebellierten sie oder lehnten<br />

es gänzlich ab, sich der russischen Vormacht zu<br />

beugen.<br />

Dies war der Zustand des Russischen Reichs, als<br />

1917 das Zarenreich gestürzt wurde <strong>und</strong> Lenin mit<br />

den Bolschewisten die Macht übernahm. Die Lösung<br />

der „nationalen Frage“ sah Lenin in der Anerkennung<br />

der vielen Nationalitäten durch die neu gegründete<br />

Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR).<br />

Lenin glaubte, dass ein föderales System aus föderalen<br />

Einheiten, die weitgehend der räumlichen Verbreitung<br />

der Völker entsprechen sollten, die Gleichberechtigung<br />

wenigstens der großen Nationen im Verb<strong>und</strong><br />

bedingen würde. Dieses politische Arrangement<br />

akzeptierte die Unterschiedlichkeit der Völker <strong>und</strong><br />

sollte ihnen eine gewisse Unabhängigkeit garantieren.<br />

Das föderale System brachte es zudem mit sich, dass<br />

sich jene Gebiete des ehemaligen Russischen Reichs<br />

mit eher ablehnender Haltung schließlich doch<br />

dem B<strong>und</strong> anschlossen. In einem föderalen System<br />

übernimmt die gesamtstaatliche Regierung jene Aufgaben<br />

<strong>und</strong> Kompetenzen, die nicht von den unteren<br />

Ebenen des hierarchischen politisch-administrativen<br />

Systems wahrgenommen werden (können). Dies<br />

trifft etwa auf die heutige USA zu, deren System<br />

der B<strong>und</strong>esstaaten (states), Bezirke (counties) <strong>und</strong><br />

Stadtverwaltungen (municipalities, townships) gewisse<br />

Gemeinsamkeiten mit der föderalen Organisation<br />

Österreichs, der Schweiz <strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 591<br />

UdSSR<br />

Kaspisches<br />

Meer<br />

n U dSSR 1939<br />

I j hinzugewonnene Gebiete von 1940-1947<br />

i<br />

I sowjetische Satellitenstaaten nach dem 2. Weltkrieg<br />

1946 Jahr der kommunistischen Übernahme<br />

[. / ' J unter zeitweiliger sowjetischer Besatzung<br />

■■■" Eiserner Vorhang 1948<br />

10.9 Die Expansion der Sowjetunion während der 1940er- <strong>und</strong> 1950er-Jahre Das Ende des Zweiten Weltkriegs <strong>und</strong> die<br />

machtpolitische Neugestaltung Europas brachte auch die politisch-ideologische Anbindung zahlreicher mitteleuropäischer Staaten an<br />

die Sowjetunion. Damit sollte, laut Stalin, verhindert werden, dass die Sowjetunion über diese Staaten neuerlich bedroht werden<br />

könnte. 1945 sicherte er ihnen demokratische Wahlen zu. Doch nach 1946 wurden alle nicht kommunistischen Parteien in den<br />

sowjetisch kontrollierten Teilen Ost- <strong>und</strong> Mitteleuropas aufgelöst <strong>und</strong> stalinistische Regierungen eingesetzt. (Quelle: Atlas ofTwentieth<br />

Century World History. New York (Harper Collins Carthographic) 1991, S. 86-87.)<br />

Deutschland aufweist, wo sich die Macht auf B<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Länder beziehungsweise Kantone verteilt. Im Gegensatz<br />

dazu konzentriert sich die Macht eines Einheitsstaates<br />

in einer zentralen Regierung, so wie es<br />

in Russland unter der Zarenherrschaft der Fall war,<br />

Lenin war so optimistisch zu glauben, dass das föderale<br />

System dereinst überflüssig werde, sobald sich<br />

die Unterschiede ausgeglichen <strong>und</strong> die zahlreichen<br />

Völker sich in der Sowjetunion vereinigt haben würden.<br />

Dann, so seine Überzeugung, würde der Nationalismus<br />

vom Kommunismus abgelöst. Doch Lenins<br />

politische Vision sollte sich nicht erfüllen. Nach seinem<br />

Tod im Jahre 1924 zerfiel das ursprünglich föderale<br />

System der UdSSR. Stalin übernahm die Macht<br />

<strong>und</strong> setzte auf eine neue Nationalitätenpolitik, die darauf<br />

zielte, den einheitlichen Sowjetbürger zu schaf­


592 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

m<br />

feil, dessen Interesse einem gemeinsamen Ziel jenseits<br />

nationalistischer Bestrebungen gelten würde. Zwar<br />

blieb das föderale System erhalten, doch die Nationen<br />

verloren rasch ihre Unabhängigkeit. Ab 1930 ivurde<br />

schließlich jeder Ausdruck von Nationalität bestraft.<br />

Abbildung 10.9 zeigt wie Stalin während <strong>und</strong> direkt<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg den Machteinfluss<br />

der Sowjetunion nach Westen auf Albanien, Bulgarien,<br />

die Tschechoslowakei, die Deutsche Demokratische<br />

Republik, Ungarn, Polen, Rumänien <strong>und</strong> Jugoslawien<br />

ausdehnte.<br />

Obwohl nominell das föderale System bis in die<br />

Regieruiigsperiode Michail Gorbatschows Bestand<br />

hatte, agierte die UdSSR als zentralistischer Staat, dessen<br />

Machtzentrum Moskau war. Als Gorbatschow im<br />

Jahre 1985 die Führung übernahm, ging er von der<br />

„Sowjetisierung“ der einzelnen Nationalitäten aus<br />

<strong>und</strong> davon, dass der Nationalismus von einer internationalen<br />

Arbeiterschaft abgelöst worden sei. Dies<br />

war allerdings eine Fehleinschätzung, <strong>und</strong> letztlich<br />

schufen seine wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Bestrebungen<br />

in Richtung Perestroika <strong>und</strong> Glasnost Bedingungen,<br />

aus denen der alte Nationalismus neue<br />

Kraft schöpfte (Abbildung 10.10).<br />

Gorbatschows Ziel war eine gr<strong>und</strong>legende Umstrukturierung<br />

der sowjetischen Wirtschaft durch radikale<br />

ökonomische <strong>und</strong> politische Reformen (Perestroika)<br />

sowie die direkte <strong>und</strong> demokratische Beteiligung<br />

der einzelnen Republiken an einer Öffnung der<br />

politischen Diskussionen, an einer freieren Jnformationspolitik<br />

<strong>und</strong> an unabhängigen Wahlen (Glasnost).<br />

Letztlich bewirkte dies, dass sich die unterschiedlichen<br />

Nationalitäten aus dem restriktiven politischen<br />

System befreien konnten. Jm Jahre 1988 formierten<br />

sich zunächst in den baltischen Staaten <strong>und</strong> später<br />

auch im Kaukasus, in der Ukraine <strong>und</strong> in Zentralasien<br />

die ersten nationalen Bewegungen. 1991 war der Zerfall<br />

der Sowjetunion bereits in vollem Gange, <strong>und</strong> die<br />

neu entstandenen Nationalstaaten forderten ihre Unabhängigkeit.<br />

Tatsächlich war es den erhalten gebliebenen<br />

föderalen Strukturen zu verdanken, dass der<br />

Zerfall der Sowjetunion vergleichsweise friedlich vonstatten<br />

ging. Abbildung 10.11 zeigt eine aktuelle Karte<br />

der ehemaligen Sowjetunion, in der die neuen Staaten<br />

der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS) abgebildet<br />

sind. Die GUS ist eine Konföderation, in der<br />

sich Staaten mit gemeinsamen Zielen zusammengeschlossen<br />

haben. In den letzten Jahren hat dieser Zumenu<br />

^>1<br />

%<br />

10.10 Nationalismus in Lettland Die baltischen Republiken Lettland, Estland <strong>und</strong> Litauen waren die ersten, die unter dem von<br />

Gorbatschow angestoßenen Reformprozess der Perestroika auf Wiedererlangung ihrer Souveränität drängten. Alle drei Staaten<br />

blicken auf eine lange Geschichte ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen zurück, die mit der Expansion des russischen Zarenreichs<br />

begann. Ein offensichtlicher Gr<strong>und</strong>, warum sie in früherer Zeit Distanz zu Russland suchten <strong>und</strong> sich bis zu ihrer Zwangseingliederung<br />

als Sowjetrepubliken in die UdSSR im Jahre 1940 einer Vereinnahmung durch die Sowjetunion widersetzten, war der hohe Anteil der<br />

nicht russischen Bevölkerung. Zwischen 1918 <strong>und</strong> 1940 waren alle drei Republiken unabhängige Nationalstaaten gewesen. Im Zuge<br />

des Zerfalls der ehemaligen Sowjetunion im Jahre 1991 hatten Lettland, Estland <strong>und</strong> Litauen aufgr<strong>und</strong> ihrer stabilen wirtschaftlichen<br />

Basis <strong>und</strong> eines höheren Lebensstandards als in weiten Teilen der übrigen UdSSR den Schritt von nationalistischen Bestrebungen zur<br />

Anerkennung als unabhängige Nationalstaaten rasch vollzogen. Seit 2005 sind alle drei Staaten Mitglied der Europäischen Union.


Russland<br />

(Kaliningrad)<br />

, __<br />

Lrtauen \ Estland<br />

'• Lettland<br />

'^ iß ru ss la n d<br />

^ufatne<br />

Georg^<br />

Armoniani<br />

Kasachstan<br />

V - ^<br />

\ - 1 f<br />

( /i r '<br />

/■ \ f-"<br />

\ / k a ik a t -<br />

l<br />

see<br />

■ i i<br />

I<br />

Ci<br />

'^ B alchasch-f<br />

% ■ see<br />

%<br />

% Kirgisistan<br />

Tadschikistan<br />

3(X)<br />

600 Kilometer<br />

10.11 Die Nachfolgestaaten der Sowjetunion Die administrative Struktur der Sowjetunion blieb nach 1991 weitgehend erhalten.<br />

Allerdings verfügen die autonomen Regionen <strong>und</strong> Republiken über mehr als nur eine nominale regionale Kontrolle. Die ehemaligen<br />

Sowjetrepubliken wurden —genau wie die Volksdemokratien Mittel- <strong>und</strong> Osteuropas —zu unabhängigen Staaten. Doch die<br />

Demokratisierung Russlands insgesamt <strong>und</strong> damit auch die Entstehung autonomer Republiken erfolgt zögerlich. Russische<br />

Hegemoniebestrebungen <strong>und</strong> nationalistische Unabhängigkeitsbewegungen führen immer wieder zu Interessenkonflikten <strong>und</strong><br />

bewaffneten Auseinandersetzungen, wie in Tschetschenien. (Quelle: genehmigter Wiederabdruck aus Rubenstein, J.M. The Cultural<br />

Landscape: An Introduction to Human Geography. 5. Auflage, Prentice Hall, 1996, S. 318.)<br />

.sammenschluss für die einzelnen Mitglieder selbst<br />

wie auch überregional an Bedeutung verloren. Einzelne<br />

Mitglieder sind inzwischen anderen Interessen.sgemeinschaften<br />

beigetreten. Ein ähnliches Beispiel<br />

findet sich in den Konföderierten Staaten von<br />

Amerika, jenen elf Südstaaten, die sich 1860/61 aus<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Gründen von den<br />

Vereinigten Staaten lossagten. Diese Unabhängigkeitsbewegung<br />

führte schließlich zum Bürgerkrieg<br />

(Sezessionskrieg 1861-1865), einem blutigen Konflikt,<br />

der aufseiten der Union wie der Konföderation<br />

viele Menschenleben forderte.<br />

Mit dem Niedergang des Kommunismus im Jahre<br />

1991 kam es auch in Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa zu nationalistischen<br />

Bewegungen, in deren Folge die Grenzen<br />

teilweise neu gezogen wurden. Und während<br />

beim Zerfall der Sowjetunion bewaffnete Konflikte<br />

wie im Falle Tschetscheniens eher die Ausnahme<br />

waren, kam es im ehemaligen Jugoslawien zwischen<br />

den ethnischen Gruppen zu erbitterten Auseinandersetzungen.<br />

Die Region befindet sich an einer geopolitisch<br />

sensiblen Nahtstelle, an der einst das<br />

Osmanische Reich <strong>und</strong> die österreichisch-ungarische<br />

Monarchie aneinander grenzten, an der aber auch der<br />

Islam auf das Christentum trifft <strong>und</strong> lange Jahrzehnte<br />

der Kommunismus <strong>und</strong> die westliche Demokratie<br />

aufeinander stießen. Seit Jahrh<strong>und</strong>erten kam es<br />

hier immer wieder zu Konflikten. Als im frühen<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert die ethnischen Auseinandersetzungen<br />

auf dem Balkan schließlich außer Kontrolle gerieten,<br />

war dies letztlich der Auslöser für den Ersten<br />

Weltkrieg.<br />

Die jüngsten Konflikte konzentrierten sich auf jene<br />

Region, die 1918 infolge des Zusammenbruchs der<br />

österreichisch-ungarischen Monarchie als Königreich<br />

der Serben, Kroaten <strong>und</strong> Slowenen entstanden war<br />

<strong>und</strong> ab 1929 Königreich Jugoslawien hieß. Nach<br />

1946 bestand Jugoslawien aus den sechs Republiken<br />

Slowenien, Kroatien, Bosnien-Fierzegowina, Mazedonien,<br />

Serbien <strong>und</strong> Montenegro. Die ersten vier erklärten<br />

1991 ihre Unabhängigkeit, während Serbien<br />

<strong>und</strong> Montenegro 1992 die neue Jugoslawische Re-


594 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

publik bildeten. Montenegro ist seit Juni 2006 ein<br />

souveräner Staat, das heißt unabhängig <strong>und</strong> völkerrechtlich<br />

anerkannt. Durch internationale Intervention<br />

<strong>und</strong> Vermittlungsversuche war die Loslösung<br />

Montenegros wenig problematisch <strong>und</strong> wurde vor allem<br />

über Wahlenentscheide herbeigeführt. Der Weg<br />

in die Selbständigkeit verlief auch für Slowenien <strong>und</strong><br />

Mazedonien Anfang der 1990er-Jahre vergleichsweise<br />

<strong>und</strong>ramatisch, doch in Kroatien, Bosnien-Herzegowina<br />

<strong>und</strong> im Kosovo brachen langjährige, blutige<br />

ethnische Konflikte aus. Mit der Machtübernahme<br />

von Slobodan Milosevic im Jahre 1989 verlor der<br />

Kosovo seinen autonomen Status innerhalb Jugoslawiens,<br />

er wurde unter Militärkontrolle gestellt,<br />

das Parlament aufgelöst, ethnische Albaner verfolgt<br />

<strong>und</strong> in der Folge serbische Flüchtlinge aus Kroatien<br />

angesiedelt. Anfang 1999 besetzte die serbische Armee<br />

den Kosovo <strong>und</strong> terrorisierte die albanische<br />

Bevölkerung. Das Eingreifen der NATO im März<br />

1999 sollte die serbischen Truppen schliesslich<br />

dazu zwingen, sich im Juni 1999 zurückzuziehen.<br />

Bis Ende 1999 hatten 800 000 ethnische Albaner<br />

den Kosovo verlassen. Tausende wurden getötet.<br />

Milosevic wurde am 1. April 2001 in Belgrad verhaftet<br />

<strong>und</strong> am 29. Juni desselben Jahres an den Internationalen<br />

Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien<br />

(ISTY) in Den Haag überstellt. Mit drei verschiedenen<br />

Anklageschriften <strong>und</strong> insgesamt 66 Klagepunkten<br />

wurde Milosevic angeklagt. Im März 2006 wurde<br />

Milosevic noch bevor ein Urteil gesprochen werden<br />

konnte, tot in seiner Zelle aufgef<strong>und</strong>en. Andere<br />

Kriegsverbrecher werden in Abwesenheit angeklagt<br />

<strong>und</strong> verurteilt; noch immer leben viele von ihnen<br />

frei <strong>und</strong> von ihren Anhängern geschützt in Jugoslawien<br />

sowie in den anderen ehemaligen Staaten<br />

Jugoslawiens.<br />

Theorie der Geopolitik <strong>und</strong><br />

, geopolitische Praxis der Staaten<br />

Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, hatte der deutsche<br />

Geograph Friedrich Ratzel den vielleicht größten<br />

Einfluss auf die Geopolitik des 19. <strong>und</strong> frühen 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Ratzel berief sich in seiner organischen<br />

Theorie des Staates auf biologische Mechanismen. Er<br />

glaubte, dass Staaten ähnlich wie lebende Organismen<br />

die Stadien von Jugend, Reife, Alter <strong>und</strong> möglicherweise<br />

sogar die Rückkehr zur Jugend durchlaufen.<br />

Zudem war er der Ansicht, dass man das Wohlergehen<br />

eines Staates an seiner Größe messen kann, die<br />

im Laufe der Zeit Expansion <strong>und</strong> Kontraktion unterliegt.<br />

Auch wenn Ratzel ein Vertreter des Naturdeterminus<br />

war, so glaubte er doch nicht, dass der Staat ein<br />

lebendiges Wesen sei, sondern dass er nur so handeln<br />

<strong>und</strong> mit zunehmender Bevölkerung sein Territorium<br />

ausweiten müsse.<br />

Ratzels Arbeiten erschienen in einer Zeit tief greifender<br />

Veränderungen in Europa, als sich die im Wesentlichen<br />

bis heute existierende politische Ordnung<br />

konsolidierte. Zur gleichen Zeit kam es in Europa, Japan<br />

<strong>und</strong> den USA zu imperialistischen Bestrebungen.<br />

Der Gr<strong>und</strong> für die Expansion auf neue Gebiete <strong>und</strong><br />

Ressourcen wurde im zunehmenden Bevölkerungsdruck<br />

gesehen. Auch bedurfte es neuer Märkte, daher<br />

wurden immer neue Gebiete als Kolonien in die zunehmend<br />

globalisierte Politik <strong>und</strong> in den Welthandel<br />

einbezogen.<br />

I<br />

Imperialismus, Kolonialismus <strong>und</strong> der<br />

Nord-Süd-Konflikt_________________<br />

Geopolitik bedeutet vielfach die Ausweitung des<br />

Machtbereichs, <strong>und</strong> zwar im Sinne von Imperialismus<br />

oder Kolonialismus. Wie in Kapitel 1 erläutert<br />

wurde, versteht man unter Imperialismus die Ausweitung<br />

der staatlichen Autorität auf die politischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Systeme anderer Territorien. Die<br />

Ausführungen in Kapitel 2 machen deutlich, dass<br />

der Imperialismus während der letzten 500 Jahre<br />

die politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Dominanz der Staaten<br />

des Zentrums über die schwächeren peripheren<br />

Regionen geschaffen hatte. Imperialismus muss nicht<br />

zwangsläufig die Übernahme der formalen Regierungsgewalt<br />

bedeuten, er kann sich auch als Druck<br />

manifestieren, den ein Land auf andere Regierungen<br />

ausübt. Dieser Druck kann durch militärische Drohgebärden,<br />

wirtschaftliche Sanktionen oder kulturelle<br />

Übermacht entstehen (Kapitel 6). Imperialismus manifestiert<br />

sich in verschiedenen Formen der Autoritätsausübung<br />

eines Landes über ein anderes.<br />

Im 15. Jahrh<strong>und</strong>ert begann die europäische Expansion<br />

in Afrika, Asien <strong>und</strong> Amerika auf der Suche<br />

nach neuen Ressourcen <strong>und</strong> neuen Einnahmequellen<br />

sowie in der Folge nach neuen Absatzmärkten für die<br />

eigenen Produkte. Die europäische Expansion gipfelte<br />

in der Unterwerfung der kolonisierten Länder sowie<br />

der Ausbeutung von Bevölkerung <strong>und</strong> Rohstoffen.<br />

Kolonialismus bedeutet die formale Einführung<br />

<strong>und</strong> Durchsetzung von Regeln in einem anderen<br />

Land als dem eigenen durch die Gründung von Niederlassungen<br />

<strong>und</strong> Siedlungen. Eine Kolonie besitzt<br />

keinerlei Unabhängigkeit innerhalb der politischen<br />

Weltordnung, sie wird lediglich als Anhängsel der


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 595<br />

Kolonialmacht gesehen. Zwischen 1500 <strong>und</strong> 1900<br />

wurde die Reihe der Kolonialmächte von Großbritannien,<br />

Portugal, Spanien, den Niederlanden <strong>und</strong><br />

Frankreich angeführt. Die Kolonisation Südamerikas<br />

vor allem durch Spanien <strong>und</strong> Portugal veranschaulicht<br />

die Abbildung 10.12.<br />

Auf eine erste Periode extensiver Ausbeutung<br />

folgte meist die vollständige Eroberung <strong>und</strong> formelle<br />

Unterwerfung. Der Begriff Imperialismus beschreibt<br />

diese Ausdehnung von Souveränität politisch <strong>und</strong><br />

ökonomisch dominierender Staaten über andere.<br />

Die Abbildung 10.13 illustriert den europäischen Imperialismus<br />

in Afrika.<br />

Im Allgemeinen nutzten die europäischen Staaten<br />

zu Beginn des Imperialismus zunächst die natürlichen<br />

Rohstoffe der peripheren Regionen. Mit fortschreitender<br />

Industrialisierung erkannte man, dass<br />

diese Kolonien auch neue Märkte für die Industriegüter<br />

des Zentrums darstellen können. Schließlich<br />

konnte, musste aber nicht, die Peripherie aufgr<strong>und</strong><br />

niedriger Lohnkosten, Gr<strong>und</strong>stückspreise <strong>und</strong> anderer<br />

Produktionsfaktoren zu einem neuen Schauplatz<br />

umfangreicher Investitionen werden. Auch wenn die<br />

Kolonisation häufig zu einer politischen Vormachtstellung<br />

der okkupierenden Macht führte, so ist<br />

dies nicht immer der Fall. Großbritannien mag<br />

zwar bei der Errichtung von Kolonien in China erfolgreich<br />

gewesen sein, doch gelang dort nie die umfassende<br />

Übertragung britischer Gesetzes- <strong>und</strong> Verwaltungsstrukturen.<br />

In einigen Fällen wurden ehema-<br />

10.12 Die Kolonisation<br />

Südamerikas (1496-<br />

1667) Südamerika wurde<br />

vor allem von Spanien <strong>und</strong><br />

Portugal vereinnahmt. Die<br />

Niederlande, Frankreich<br />

<strong>und</strong> Großbritannien waren<br />

hier untergeordnet <strong>und</strong> nur<br />

für kurze Zeit vertreten.<br />

Während bei der Eroberung<br />

Afrikas die Erforschung<br />

sowie die Gewinnung<br />

<strong>und</strong> Unterwerfung<br />

neuer Territorien im Vordergr<strong>und</strong><br />

standen, lockten<br />

in Südamerika reiche<br />

Bodenschätze. (Quelle:<br />

McNally, R. Atlas of World<br />

History. Skokie (Rand<br />

McNally) 1992. S. 85.)


596 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

/<br />

Ifni<br />

(1860)<br />

Tunkten<br />

(1881) Hff.<br />

’e©/-<br />

K a n a ris c h e ^t ><br />

Inseln<br />

(1496)<br />

Spanisch-<br />

Sahara<br />

(1912)<br />

Rio de Oro<br />

(1884)<br />

Algerien<br />

(1830)<br />

Libyen<br />

(1911)<br />

] Ägypten<br />

(1882)<br />

I !<br />

4-<br />

Gainbto<br />

^1843)<br />

Sierra<br />

Leone<br />

(1896)<br />

^20—<br />

Französisch-Westafrika<br />

, (1893^1904)<br />

, ■' V<br />

^ Togo S ' ■<br />

Portugiesisch (18M) \ j<br />

Liberia'<br />

Kontrollmächte<br />

I<br />

oasef % ^ Nigeria<br />

' ' (1861/1900)<br />

britisch<br />

französisch<br />

deutsch<br />

italienisch<br />

I holländisch<br />

Goldküste<br />

(1820/1874)<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

Rion Muni<br />

(1843)<br />

portugiesisch<br />

belgisch<br />

spanisch<br />

unabhängige<br />

afrikanische Staaten<br />

Kamerun<br />

(1884)<br />

Französisch- y<br />

Äquatorial- /<br />

k afrika<br />

' ) (1884)<br />

Angola<br />

(1885/1905)<br />

Belgisch-<br />

Kongo<br />

(1885/1908)!<br />

Sudan<br />

(1899)<br />

Nordrhodesien<br />

(1891)<br />

Eritrea •<br />

(1889) Oritisch-<br />

Somaliland<br />

^ (1884)<br />

Franz. ~ / '<br />

Somaliland ^ \<br />

(1896) - ^ /<br />

Abessinien /<br />

(Äthiopien)<br />

Uganda / Ostafrika \<br />

(1890/1894)/ (1888) i<br />

Deutsch-<br />

Ostafrika<br />

_ (1890)<br />

li<br />

Njassaland<br />

(1891)<br />

Südrhodesien Mogambique<br />

(1888) (1505)<br />

Deutsch-<br />

\S ü d w e s t- Betschuana<br />

aidka<br />

(1884)<br />

Italienisch-<br />

Soirialiland<br />

(1889)<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

Kom oren<br />

(1841/1886)<br />

Madagaskar<br />

(1896)<br />

----- Grenzen von 1912<br />

1850 Jah r der 1. Übernahm e durch im perialistische Staaten<br />

^dafrikanische<br />

VUnion<br />

(1^)<br />

Swasiland<br />

__ (1894)<br />

Basutoland<br />

(1868)<br />

0*^ ^ / 5 0 0 ~ ^ 1000 KDomefei—<br />

/ I<br />

10.13 Europäischer Imperialismus in Afrika (1 4 1 8 - 1912) Die Aufteilung Afrikas durch die Kolonialmächte durchschnitt<br />

die bestehenden kulturellen <strong>und</strong> sozialen Gefüge der dort lebenden Völker. Afrika war von Europa aus leicht erreichbar <strong>und</strong> wurde<br />

somit vornehmliches Ziel der frühen europäischen Expansion. Belgien, Italien, Frankreich, Deutschland <strong>und</strong> Portugal teilten den<br />

Kontinent unter sich auf <strong>und</strong> verteidigten ihre territorialen Ansprüche bisweilen mit Waffengewalt. (Quelle: Harper Atlas of History.<br />

New York (Harper Collins) 1992. S.139.)


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 597<br />

lige Kolonien wie beispielsweise die Vereinigten Staaten<br />

oder Kanada mit ihrer Unabhängigkeit selbst zu<br />

Staaten des Zentrums. Andere, wie Ruanda, Bolivien<br />

oder Kambodscha, verbleiben hingegen dauerhaft im<br />

Status peripherer Länder. Einige Staaten, wie Mexiko<br />

oder Brasilien, sind indes auf dem Weg wirtschaftlicher<br />

Entwicklung <strong>und</strong> werden deshalb der Semiperipherie<br />

zugeordnet. .<br />

Die britische Herrschaft über Indien <strong>und</strong> die französische<br />

Machtausdehnung auf Algerien sind nur<br />

zwei Beispiele der Kolonisation. In der Mitte des<br />

18. Jahrh<strong>und</strong>erts nahm der britische Einfluss in Indien<br />

mit der Gründung der East India Trading Company<br />

ihren Anfang. Die britische Regierung übertrug<br />

der Gesellschaft die Befugnis, befestigte Stützpunkte<br />

<strong>und</strong> Siedlungen zu errichten sowie eine eigene Armee<br />

zu unterhalten. Bald entstanden Niederlassungen -<br />

<strong>und</strong> Fabriken - in Mumbai (Bombay), Chennai (Madras)<br />

<strong>und</strong> Kalkutta. Was als begrenzte Handelsunternehmung<br />

begonnen hatte, wuchs rasch zur umfangreichen<br />

militärischen, administrativen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Präsenz der britischen Kolonialmacht<br />

an, die bis zur Unabhängigkeit Indiens im Jahre<br />

1947 Bestand hatte (Abbildung 10.14). Während dieser<br />

200 Jahre war das indische Volk unterdrückt <strong>und</strong><br />

seiner traditionellen Gesellschaftsstrukturen beraubt.<br />

Der britische Einfluss reichte in beinahe jede Institution<br />

<strong>und</strong> bestimmte das alltägliche Leben, die Sprache<br />

<strong>und</strong> die Rechtssprechung ebenso wie das Eisenbahnwesen<br />

<strong>und</strong> die Kultur.<br />

Die postkoloniale Phase Indiens nach der Unabhängigkeit<br />

war gekennzeichnet durch Teilung <strong>und</strong><br />

Neuordnung sowie zahlreiche regionale <strong>und</strong> ethnische<br />

Konflikte. Im Jahre 1947 löste sich Pakistan<br />

von Indien <strong>und</strong> wurde zu einem eigenständigen islamischen<br />

Staat. 1971 erklärte Bangladesh - vormals<br />

ein Teil Pakistans - seine Unabhängigkeit. Unabhängigkeitsbestrebungen<br />

radikaler Sikhs in Kaschmir<br />

<strong>und</strong> Punjab führten zu Konflikten. In jahrzehntelangen<br />

Auseinandersetzungen bekämpften Moslems die<br />

hinduistische Vormachtstellung in Kultur <strong>und</strong> Wirtschaft.<br />

Auch das Kastenwesen spielte eine bedeutende<br />

Rolle in diesen <strong>und</strong> nachfolgenden politischen Konflikten.<br />

Dieses System entstand jedoch lange bevor die<br />

Briten ins Land kamen <strong>und</strong> gliedert bis heute die indische<br />

Gesellschaft in vererbliche soziale Klassen. Es<br />

ist eine rein hinduistische Tradition, in der diskriminierende<br />

Praktiken fortleben. Die hinduistische Gesellschaft<br />

teilt sich in vier übergeordnete soziale Klassen,<br />

die brahmanen (Priester), kschatrija (Krieger),<br />

waischja (Bauern <strong>und</strong> Handwerker) <strong>und</strong> schudra<br />

(Knechte).<br />

10.14 Der britische Kolonialismus in Indien Die britische<br />

Präsenz in Indien hatte Auswirkungen auf Kultur, Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft <strong>und</strong> prägte die Gestaltung der Städte ebenso wie<br />

viele andere Aspekte des Alltagslebens. Das Gemälde zeigt die<br />

Vermischung der britischen mit der indischen Kultur, durch<br />

die sich die eine wie die andere im Laufe der Zeit veränderten.<br />

Die indische Gesellschaft adaptierte viele politische <strong>und</strong><br />

kulturelle Gepflogenheiten der Briten <strong>und</strong> wandelte sie ab,<br />

sodass beispielsweise die gegenwärtige Regierung Indiens in<br />

ihren Wertvorstellungen <strong>und</strong> Handlungsweisen Züge beider<br />

Traditionen trägt. Die britische Gesellschaft ist bis heute durch<br />

die historische Rolle als Kolonialmacht in Indien geprägt.<br />

Am deutlichsten äußert sich dies in der großen Zahl indischer<br />

Migranten, die in allen gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Bereichen vertreten sind.<br />

Erankreichs Präsenz in Algerien ist eine 132 Jahre<br />

dauernde Geschichte der Kolonisation <strong>und</strong> der damit<br />

einhergehenden Gewalt sowie kultureller, sozialer,<br />

politischer <strong>und</strong> wirtschaftlicher Umbrüche. Mehr<br />

als ein Jahrh<strong>und</strong>ert lang hat Frankreich die fruchtbarsten<br />

Regionen des nordafrikanischen Landes besetzt<br />

<strong>und</strong> die koloniale Hauptstadt Alger (Alger la Blanche)<br />

nach westlichem Vorbild neben der bestehenden Altstadt<br />

errichtet. Zudem ignorierten die französischen<br />

Siedler die einheimische Bevölkerung <strong>und</strong> deren tief<br />

verwurzelte islamische Kultur <strong>und</strong> zwangen dem<br />

Land ihre religiösen <strong>und</strong> alltagsweltlichen Gepflogenheiten<br />

auf.<br />

Der Weg in die Unabhängigkeit war für Indien <strong>und</strong><br />

Algerien ebenso wie für die Kolonialherren ein<br />

schmerzlicher <strong>und</strong> oft blutiger Prozess. In Algerien


598 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

H<br />

!1<br />

kam es nach einem jahrelangen harten Unabhängigkeitskrieg<br />

(1954-1962) im Anschluss an einen missglückten<br />

Putsch der Siedler gegen die friedensbereite<br />

Zentralregierung zu einem Massenexodus der französischen<br />

Siedler, von denen viele seit Generationen<br />

dort ansässig waren. Nun gewannen wesentliche<br />

Aspekte einer islamisch-arabischen Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Kultur wieder an Bedeutung; doch blieb Französisch,<br />

neben Arabisch, bis heute Verkehrssprache, insbesondere<br />

in den großen Städten. Nach 1988 wurden<br />

zahlreiche demokratische <strong>und</strong> westlich orientierte<br />

Politiker, Intellektuelle, Künstler <strong>und</strong> Staatsangestellte,<br />

darunter viele Frauen, Opfer von Anschlägen<br />

von radikalen Islamisten, deren Ziel die Errichtung<br />

einer f<strong>und</strong>amental islamischen Gesellschaftsordnung<br />

ist (Kapitel 5). Dank dem Widerstand der algerischen<br />

Zivilgesellschaft - vor allem der Frauen - ist der Einfluss<br />

der Radikal-Islamisten heute aber bedeutend geschwächt.<br />

Die Auswirkungen der Kolonisation reichen also<br />

bis in die heutige Zeit. Noch immer kämpfen viele<br />

Völker um politische <strong>und</strong> wirtschaftliche Unabhängigkeit.<br />

Ein ernüchterndes Zeugnis dieser negativen<br />

Konsequenzen des Kolonialismus war der Bürgerkrieg<br />

in Ruanda im jahre 1994. Ganz ähnlich wie<br />

in Indien, wo der Bürgerkrieg zwischen Hindus<br />

<strong>und</strong> Moslems nach dem Rückzug der Briten Millionen<br />

von Menschenleben forderte, hinterließen die<br />

Belgier in Ruanda viele ungelöste, schwelende Stammesrivalitäten.<br />

Zwar war Deutschland die erste Kolonialmacht<br />

in Ruanda, doch erst die Belgier installierten<br />

nach dem Ersten Weltkrieg eine überaus problematische<br />

politische Hierarchie. Sie räumten den Tutsi<br />

eine politische Vormachtstellung ein <strong>und</strong> gewährten<br />

ihnen einen privilegierten Zugang zum Bildungs- <strong>und</strong><br />

V erwaltungssystem.<br />

Bevor die Belgier ins Land kamen, lebten die Viehzüchter<br />

der Tutsi in symbiotischer Weise mit den<br />

Bauern der Hutu zusammen. Die Belgier störten dieses<br />

Gleichgewicht, indem sie eine hierarchische Gesellschaft<br />

schufen, an deren Spitze die Tutsi standen.<br />

Auf diese Weise geriet ein politisches <strong>und</strong> wirtschaftliches<br />

System ins Wanken, das über Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

mehr oder weniger konfliktfrei funktioniert hatte.<br />

Als es 1959 zu einem Aufstand der Hutu kam, ließen<br />

die Belgier die von ihnen begünstigten Tutsi fallen<br />

<strong>und</strong> stellten sich auf die Seite der Hutu. 1962 entließ<br />

Belgien das Land in die Unabhängigkeit. Die brisante<br />

politische Lage, die sie dabei zurückließen, führte, wie<br />

zuletzt 1994, immer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen.<br />

Nach einem jahr entfesselter Gewaltausbrüche<br />

hatten mehr als eine halbe Million Tutsi ihr<br />

Leben verloren, während die Hutu in die benachbarte<br />

Demokratische Republik Kongo verdrängt wurden.<br />

Schließlich bildeten die Tutsi die neue Regierung<br />

Ruandas. Die Hutu-Flüchtlinge sammelten sich in<br />

Lagern der Vereinten Nationen, die nach <strong>und</strong> nach<br />

unter die Kontrolle bewaffneter Extremisten gerieten.<br />

So wurden aus Flüchtlingslagern militärische Stützpunkte,<br />

von denen aus Vergeltungsschläge gegen<br />

die Tutsi in Ruanda erfolgten. Als die von den Tutsi<br />

dominierte Armee Ruandas mit der Unterstützung<br />

Ugandas in die Demokratische Republik Kongo eindrang,<br />

lösten die Tutsi-Truppen die Lager gewaltsam<br />

auf. Mehr als 1 Million Flüchtlinge mussten weiterziehen,<br />

viele von ihnen flohen in die anderen Länder<br />

Zentralafrikas. Die militantesten unter ihnen stifteten<br />

wiederum in Uganda, in der Demokratischen Republik<br />

Kongo <strong>und</strong> Bur<strong>und</strong>i neue Konflikte an <strong>und</strong> waren<br />

für grausame Übergriffe verantwortlich. Derzeit ist<br />

die politische Situation in Zentralafrika extrem instabil.<br />

Die Kolonisation Afrikas, Südamerikas, einiger pazifischer<br />

Inseln <strong>und</strong> anderer kleinerer Territorien auf<br />

der Südhalbkugel führte schließlich zur politisch-geographischen<br />

Teilung der Welt in Nord <strong>und</strong> Süd, bekannt<br />

als Nord-Süd-Konflikt. Er beschreibt die Kluft<br />

zwischen den einstigen Kolonialmächten der Nordhalbkugel<br />

<strong>und</strong> ihren Kolonien auf der südlichen Hemisphäre.<br />

Auf der Nordhalbkugel befanden sich die<br />

imperialistischen Staaten Europas, die Vereinigten<br />

Staaten, Russland <strong>und</strong> Japan. Deren Kolonien - ausgenommen<br />

die von Russland vereinnahmten Gebiete<br />

- lagen in Regionen, die in etwa der südlichen Halbkugel<br />

zuzuordnen sind. Auch wenn der' Äquator<br />

gerne als Grenze herangezogen wird, muss nicht<br />

betont werden, dass Länder der Südhalbkugel wie<br />

Australien oder Neuseeland aus ökonomischer Sicht<br />

zum Norden gehören.<br />

Entscheidend ist, dass zwischen den Ländern des<br />

Südens (der Peripherie) <strong>und</strong> des Nordens (dem Zentrum)<br />

infolge der Kolonisation bis heute Abhängigkeitsbeziehungen<br />

bestehen. Nur ganz wenige Länder<br />

des Südens kamen nach ihrer politischen Unabhängigkeit<br />

zu Wohlstand <strong>und</strong> wurden wirtschaftlich<br />

wettbewerbsfähig. Dabei gilt es klar zwischen politischer<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Abhängigkeit zu unterscheiden,<br />

denn der Süden orientiert sich noch immer<br />

in hohem Maße an den wirtschaftlichen Bedürfnissen<br />

des Nordens. Ein Beispiel für diese Einbahnstraße<br />

von Süd nach Nord ist der Wandel in der mexikanischen<br />

Landwirtschaft. Ein zunehmender Teil der Produktion<br />

Mexikos dient nicht mehr der Versorgung<br />

der eigenen Bevölkerung oder zielt auf die Beschäftigung<br />

der ländlichen Bevölkerung ab, sondern wird an<br />

der US-amerikanischen Nachfrage orientiert <strong>und</strong>


Agrarprodukte werden auch mehrheitlich dorthin exportiert.<br />

Mexiko wird deshalb auch als die „Salatschüssel“<br />

Nordamerikas bezeichnet.<br />

Die Dekolonisation im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Mit Dekolonisation bezeichnet man den Prozess, in<br />

dem die kolonialisierten Völker die Kontrolle über ihr<br />

eigenes Territorium wiedererlangen. In vielen Fällen<br />

entstanden souveräne Staaten indes erst nach bewaffneten<br />

Auseinandersetzungen. Vom nordamerikanischen<br />

Unabhängigkeitskrieg bis zur Dekolonisation<br />

Afrikas im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert veränderte sich die politische<br />

Weltkarte fortwährend. Heute ist die Dekolonisation<br />

fast vollständig abgeschlossen.<br />

Viele ehemalige Kolonien erhielten ihre Unabhängigkeit<br />

erst nach dem Ersten beziehungsweise nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg. Aus der tief sitzenden Furcht<br />

vor weiteren Kriegen gründeten die Siegermächte -<br />

mit Ausnahme der USA, für die nach dem Ersten<br />

Weltkrieg eine Phase der Isolation anbrach - als<br />

eine der ersten internationalen Organisationen den<br />

Völkerb<strong>und</strong>. Er sollte Frieden <strong>und</strong> Sicherheit auf<br />

Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 599 10<br />

der Welt gewährleisten, wenngleich er letztlich nur<br />

kurzen Bestand hatte (Abbildung 10.15).<br />

Innerhalb des Völkerb<strong>und</strong>s wurde auch nach<br />

Möglichkeiten gesucht, den Übergang der Kolonien<br />

in die Unabhängigkeit in möglichst geregelter Form<br />

zu vollziehen. Es entstand das Mandatssystem des<br />

Völkerb<strong>und</strong>s, das mit einigem Erfolg die Beseitigung<br />

kolonialer Verwaltungsstrukturen in zahlreichen<br />

Ländern überwachte. In den Abbildungen 10.16<br />

<strong>und</strong> 10.17 ist die Dekolonisation am Beispiel Afrikas<br />

<strong>und</strong> Asiens einschließlich des südpazifischen Raums<br />

während des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts dargestellt.<br />

Zwar handelte der Völkerb<strong>und</strong> bei der Schlichtung<br />

kleinerer internationaler Streitigkeiten überaus effektiv,<br />

gleichwohl konnte er gegen die Auseinandersetzungen<br />

zwischen den Großmächten nichts ausrichten.<br />

1946 löste er sich auf, blieb aber Vorbild für<br />

die heutigen Vereinten Nationen.<br />

Die Dekolonisation führt allerdings nicht zwangsläufig<br />

zum Ende von Vorherrschaften auf der Welt.<br />

Auch wenn eine ehemalige Kolonie über zahlreiche<br />

Attribute der Unabhängigkeit wie Nationalflagge, politische<br />

Strukturen, Währung, Bildungssystem <strong>und</strong><br />

dergleichen mehr verfügt, sind die wirtschaftlichen<br />

1<br />

■ I<br />

a □<br />

□<br />

Gründungsmitglieder<br />

M itglieder 1920 durch<br />

Einiadung aufgenommen<br />

später aufgenommene<br />

Mitglieder<br />

Koionien der<br />

M itgliedstaaten<br />

m Mandatsgebiet<br />

Nichtm itglieder<br />

B-1920 Ja h r des Beitritts<br />

A-1927 Ja h r des Austritts<br />

10.15 Mitgliedstaaten des Völkerb<strong>und</strong>s Obwohl bei der Gründung des Völkerb<strong>und</strong>es der damalige US-Präsident Woodrow Wilson<br />

eine zentrale Rolle spielte, konnte er den Senat der Vereinigten Staaten nicht zum Beitritt bewegen. Die erste internationale<br />

Organisation des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts war deshalb in hohem Maße ineffektiv. Zu den mächtigen Mitgliedern gehörten Großbritannien<br />

<strong>und</strong> Frankreich, denen es jedoch nicht gelang, innerhalb des B<strong>und</strong>s Rüstungsbeschränkungen <strong>und</strong> Sicherheitsabkommen durchzusetzen.<br />

(Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung<br />

„Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute,<br />

Santa Barbara, CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)


600 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

M adeira<br />

(Portugal) .<br />

Mitielmeer<br />

A/t<br />

°=“CÄ^onÄ<br />

___ (1941)<br />

Sä<br />

Wä<br />

. K a n a h s c h e ^ s e ln .<br />

/ (Spanien)- ■*<br />

Kapverdische<br />

20 ■ Inseln<br />

(1975)<br />

V<br />

Gambia<br />

(1965)<br />

10' Guinea-:— t<br />

Bissau Guinea<br />

(1974) (1958)<br />

Sierra<br />

1 Leone<br />

(1961)<br />

_|_ 0=-----<br />

Mauretanien<br />

SenpgäiV<br />

Mali<br />

Burkina<br />

Algerien<br />

(1962)<br />

^ Benin<br />

Niger<br />

Ghana<br />

(1957^,<br />

Nigeria<br />

Liberia ^ 2 ;<br />

\ Togo ^ m e r u n<br />

Cote d 'lvoire ;<br />

Aquatorial-G uinea<br />

(1968)<br />

Libyen<br />

(1951)<br />

Unabhängigkeit in Afrika<br />

m n ach 1960<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

n I9 6 0<br />

vor I960<br />

ehemaliger<br />

Kolonialstaat<br />

strittig<br />

Lesotho /<br />

30= ( 1 9 6 6 ) , '.<br />

Swasiland<br />

(1968) -<br />

I<br />

iRéunion<br />

^fsnkreichy - - Mauritius<br />

; ( 1968)<br />

500 /lOdoT^Sometef.' . 3 ^.<br />

60” 70<br />

, - P<br />

10.16 Die Dekolonisation Afrikas vor <strong>und</strong> nach 1960 Die großen europäischen Kolonialmächte Großbritannien, Frankreich<br />

<strong>und</strong> Belgien trennten sich als erste von ihren Territorien auf dem afrikanischen Kontinent. Den Anfang machte Großbritannien,<br />

als es 1957 Ghana in die Unabhängigkeit entließ. Wenig später folgte Frankreich in allen seinen afrikanischen Kolonien diesem<br />

Beispiel. Die Flerrschaft Portugals über Guinea-Bissau, Mozambique <strong>und</strong> Angola dauerte bis 1974. Nicht selten waren die letzten<br />

Kolonialjahre von inneren Kämpfen begleitet; auch nach dem Rückzug der Europäer kam es in vielen Fällen zum Ausbruch von<br />

Bürgerkriegen. Die in der Karte ausgewiesenen „strittigen Gebiete“ sind südlich von Marokko die Westsahara, die seit 1976<br />

unter marokkanischer Besetzung ist, sowie Nambia, das erst 1990, nachdem es noch während des 1. Weltkriegs von Südafrika besetzt<br />

wurde, seine Unabhängigkeit erhielt. (Quelle: The Harper Atlas of World History. Überarbeitete Ausgabe. Librairie Flachette,<br />

© 1992 by Flarper Collins Publishers, Inc. Mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von Harper Collins Publishers, Inc., S. 285)<br />

<strong>und</strong> sozialen Strukturen unter Umständen in vielfältiger<br />

Weise intensiv durch die Länder der Kernregion<br />

geprägt. Die Notwendigkeit finanzieller Zuwendungen<br />

sowie von Handels- <strong>und</strong> Investitionsabkommen<br />

mit den Ländern des Zentrums führen zu Abhängigkeiten<br />

der Peripherie, die sich kaum von denen der<br />

Kolonialzeit unterscheiden.<br />

So führten ausländische Finanzierungen, Maßnahmen<br />

der Entwicklungshilfe <strong>und</strong> der auf Privilegierte<br />

beschränkte Zugang zum Bildungssystem in Kenia<br />

zur Ausbildung eines eigenen Beamtentums. Diese<br />

gesellschaftliche Klasse ist in vielerlei Hinsicht enger<br />

mit den Vorgängen <strong>und</strong> Netzwerken der Länder im<br />

Norden verb<strong>und</strong>en als mit denen ihres Heimatlandes.<br />

Diese vergleichsweise kleine Gruppe von Männern<br />

<strong>und</strong> Frauen, die häufig eine Ausbildung im Ausland<br />

genossen haben, bildet nun die erste kapitalistisch geprägte<br />

Mittelschicht in der Geschichte Kenias. Wie<br />

stark ihre Bindung an die Globalisierungsprozesse<br />

des Zentrums ist, zeigt sich bereits in ihrer suahelischen<br />

Bezeichnung wabenzi, was soviel heißt wie<br />

Mercedes-Benz (benzi) fahrende Leute (wa).<br />

Durch spezifische Wirtschaftsbeziehungen üben<br />

die zentralen Länder zudem maßgeblichen Einfluss<br />

auf die einstigen Kolonien aus. So kam es in den Ländern<br />

der Peripherie zu einer Umstrukturierung der<br />

Agrarproduktion hin zur Vertragslandwirtschaft.<br />

Zur Befriedigung der Bedürfnisse in den Ländern


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 601 10<br />

10.17 Die Unabhängigkeit im asiatischen <strong>und</strong> südpazifischen Raum vor <strong>und</strong> nach 1960 Dekolonisation <strong>und</strong> der nachfolgende<br />

Weg in die Unabhängigkeit liefen nicht überall gleich ab. Die Form der Kolonialherrschaft spielte dabei ebenso eine Rolle wie<br />

Art <strong>und</strong> Entwicklungsstand der politischen Organisation vor der Kolonisation. In einigen Kolonien, zum Beispiel in Indien <strong>und</strong><br />

Australien, erfolgte die Loslösung ohne bewaffnete Konflikte. Andernorts mussten sich die Länder ihre Freiheit in kriegerischen<br />

Auseinandersetzungen mit den Kolonialmächten erkämpfen. In Indochina begannen Frankreich <strong>und</strong> später die USA Krieg mit<br />

dem Vietkong. In Vietnam dauerte der Unabhängigkeitskrieg von 1954 bis 1976 <strong>und</strong> forderte unermessliche Opfer. In den meisten<br />

Fällen führten Dekolonisation <strong>und</strong> politische Unabhängigkeit zur Bildung von Nationalstaaten. Den hieraus erwachsenden neuen<br />

Anforderungen standen die Gesellschaften meist vollkommen unvorbereitet gegenüber. Viele dieser Staaten sehen sich bis<br />

heute mit politischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Problemen konfrontiert. Die kolonialen Strukturen waren zu komplex, als dass<br />

sie die Länder rasch hätten abstreifen können. (Quelle: The Harper Atlas of World Flistory. Überarbeitete Ausgabe. Librairie Flachette,<br />

© 1992 by Flarper Collins Publishers, Inc. Mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung von Flarper Collins Publishers, Inc., S. 283.)<br />

des Nordens werden die Anbaumethoden <strong>und</strong> Produkte<br />

diktiert. Verträge regeln die Erzeugung <strong>und</strong><br />

Verarbeitung von Tee, Schnittblumen, Reis <strong>und</strong> anderem<br />

mehr.<br />

So sind zum Beispiel auch thailändische Hühnerfarmen<br />

durch Verträge an die Vorgaben japanischer<br />

Firmen geb<strong>und</strong>en. Die amerikanische United Fruit<br />

Company bestimmt über den Bananenanbau in Honduras,<br />

<strong>und</strong> viele Obst- <strong>und</strong> Gemüsebauern im Senegal<br />

beliefern ausschließlich libanesische Händler. Diese<br />

Beispiele vertraglicher Bindung zeigen, dass es eine<br />

neue Form des Kolonialismus gibt, <strong>und</strong> zwar auch<br />

in Ländern, die sich zuvor nie in kolonialer Abhängigkeit<br />

befanden. Diese als Neokolonialismus bezeichnete<br />

Erscheinung <strong>und</strong> das hieraus resultierende<br />

Nord-Süd-Gefälle sind nicht Folge politischer Intervention,<br />

wie im Falle des Kolonialismus, sondern Ergebnis<br />

wirtschaftlicher <strong>und</strong> kultureller Einflüsse <strong>und</strong><br />

Steuerungsmechanismen.<br />

Die Ausbreitung der kapitalistischen Weltordnung<br />

hatte unzweifelhaft einen modernisierenden Einfluss<br />

auf traditionelle Gesellschaften bei der Bildung, im<br />

Ges<strong>und</strong>heitswesen <strong>und</strong> in vielen anderen Bereichen.<br />

Andererseits waren Blutvergießen <strong>und</strong> unzählige<br />

Menschenleben der Preis für diese aus Imperialismus<br />

<strong>und</strong> Kolonialismus hervorgegangene Weltordnung.<br />

Ein Beispiel dafür ist das vom Imperialismus geprägte<br />

Südafrika, das bis heute unter den Folgen der Kolonisation<br />

zu leiden hat (Exkurs 10.1 „Geographie in<br />

Beispielen - Imperialismus, Kolonisation <strong>und</strong> das<br />

Ende der Apartheid in Südafrika“). Ähnliches gilt<br />

für Ägypten, Indonesien <strong>und</strong> viele andere ehemalige<br />

Kolonien, in denen die Auswirkungen der globalen<br />

Prozesse von Imperialismus <strong>und</strong> Kolonisation ebenfalls<br />

bis in die Gegenwart reichen.<br />

Aus historischer Sicht hatten Geographen erheblichen<br />

Anteil an der Durchsetzung der imperialistischen<br />

Interessen Europas, denn die Erforschung<br />

fremder Länder stand am Anfang des Imperialismus.


10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Exkurs 10.1<br />

Geographie in Beispielen - Imperialismus, Kolonisation<br />

<strong>und</strong> das Ende der Apartheid in Südafrika<br />

r i<br />

1 1<br />

I ,<br />

Koloniale Eroberung<br />

Imperialismus <strong>und</strong> Kolonisation haben in Südafrika eine lange<br />

Geschichte. Diese reicht bis in das Jahr 1652 zurück, als die<br />

Niederländische Ostindische Kompanie in Kapstadt einen Versorgungsstützpunkt<br />

gründete. Die Holländer, die nur langsam<br />

Fuß fassten, waren von Beginn an für Rassentrennung <strong>und</strong> versuchten,<br />

jeglichen Kontakt der Weißen mit der einheimischen<br />

Bevölkerung zu verhindern. Zu den ersten Siedlern gehörten<br />

auch französische Hugenotten, Deutsche sowie holländische<br />

free burghers, freigelassene Leibeigene der Niederländischen<br />

Ostindischen Kompanie mit Recht auf eigenen Ackerbau. Mit<br />

der Zeit drangen die weißen Siedler auch in die trockeneren<br />

Regionen östlich von Kapstadt vor <strong>und</strong> stießen dort auf die einheimische<br />

Bevölkerung. Diese war politisch schlecht organisiert<br />

<strong>und</strong> konnte keinen effektiven Widerstand gegen die<br />

weiße Landnahme leisten. Am Great Fish River begann<br />

1799 der erste Krieg der Buren gegen die Bantus - fortgesetzt<br />

in zahlreichen von den Buren sogenannten „Kaffernkriegen“<br />

zwischen 1835 <strong>und</strong> 1879 zur Sicherung von Grenzen. Ein<br />

großer Teil der einheimischen Bevölkerung starb in den Kämpfen<br />

mit den Siedlern oder infolge der von ihnen eingeschleppten<br />

Krankheiten. Viele konnten auch nur überleben, indem sie<br />

nach Norden in Richtung des Karoo-Beckens migrierten, während<br />

andere als Bedienstete in die neu entstehende burische<br />

Wirtschaft eingeb<strong>und</strong>en wurden. Aus den Konflikten der Buren<br />

mit den ansässigen Völkern Südafrikas bezogen die „Afrikaaner“<br />

(die Nachkommen der weißen Siedler) einen Gutteil ihrer<br />

Identität.<br />

Im Jahre 1806 gelangte die Kapregion unter britische Kontrolle.<br />

Wie die Holländer vor ihnen vereinnahmten <strong>und</strong> enteigneten<br />

auch die Briten das Land <strong>und</strong> verteidigten ihre neuen<br />

Grenzen zu den meist Bantu sprechenden Nguni <strong>und</strong> Sotho.<br />

Die Konflikte zwischen der einheimischen Bevölkerung <strong>und</strong><br />

den weißen Siedlern dauerten an. Die Siedler rissen immer<br />

neue Gebiete an sich, sodass die einheimische Bevölkerung<br />

ihren Widerstand schließlich aufgeben musste <strong>und</strong> sich<br />

nach Süden <strong>und</strong> Westen zurückzog.<br />

Wer nicht abwanderte, wurde in das weiße Wirtschaftssystem<br />

integriert. Es waren vor allem die Missionare <strong>und</strong> Händler,<br />

die bemüht waren, die in den Auseinandersetzungen unterlegenen<br />

Schwarzen zur Arbeit auf den Farmen <strong>und</strong> in den Haushalten<br />

der Weißen zu bewegen. Die Briten versuchten eine annähernd<br />

humane Behandlung der einheimischen Bevölkerung<br />

durchzusetzen. Das zuvor von den Buren eingeführte System<br />

der Rassentrennung stieß nun auf die britischen Bestrebungen<br />

zur Durchmischung der Bevölkerung, um die Schwarzen mit<br />

europäischen Werten <strong>und</strong> Institutionen in Berührung zu bringen.<br />

Die Abschaffung der Sklaverei im Empire (1834) provozierte<br />

die Buren.<br />

1836 zogen burische Bauern im Great Trek nach Norden.<br />

Diese burischen Voortrekkers \/er\\eP>en die europäischen Siedlungen<br />

in <strong>und</strong> um Kapstadt, weil sie ihr eigenes Wertesystem<br />

nicht aufgeben wollten. Sie protestierten damit gegen die Abschaffung<br />

der Sklaverei <strong>und</strong> gegen die Lockerung von Gesetzen,<br />

welche die Bewegungsfreiheit der schwarzen Arbeitskräfte<br />

einschränkten.<br />

Während ihres Zugs nach Osten <strong>und</strong> Nordosten besetzten<br />

die Voortrekkers Gebiete der Sotho <strong>und</strong> Zulu <strong>und</strong> gründeten<br />

zwei Republiken, Transvaal (1852) <strong>und</strong> Oranje-Freistaat<br />

(1854). Natal (seit 1994 KwaZulu/Natal) wurde unmittelbar<br />

nach seiner Gründung durch die Voortrekkers von den Briten<br />

im Jahre 1843 annektiert. Erst 1881 wurden die beiden anderen<br />

Republiken von den Briten als unabhängig anerkannt. Dort<br />

schufen sie Reservate für die besiegten Schwarzen, während<br />

sie den unabhängigen Zulus weiterhin Ländereien abrangen.<br />

Auf diese Weise kam es nicht nur zur Verdrängung der einheimischen<br />

Bevölkerung, diese war auch gezwungen, sich dem<br />

System der Geldwirtschaft unterzuordnen. Schließlich mussten<br />

sie Steuern zahlen <strong>und</strong> Kleidung kaufen, die sie bei der<br />

Arbeit <strong>und</strong> während des Aufenthalts in weißen Wohngebieten<br />

zu tragen hatten. Sie waren als Bedienstete oder Leibeigene<br />

Teil des Wirtschaftssystems. 1852 trat das F<strong>und</strong>amental<br />

Law in Kraft, <strong>und</strong> die Rassentrennung wurde gesetzlich festgeschrieben.<br />

Die Briten setzen parallel dazu ihre liberale Politik fort. Beispielsweise<br />

wurde den Coloured der Zutritt zu einem Zensus-<br />

Wahlrecht eingeräumt. Sie stellten auch Gebiete mit Flüchtlingen<br />

unter ihren Schutz.<br />

Ausbeutung von Ressourcen<br />

Ohne Berücksichtigung des Diamanten-, Gold- <strong>und</strong> Kohleabbaus<br />

wäre jede Geschichte Südafrikas unvollständig. 1867<br />

wurden bei Kimberley die ersten Diamanten entdeckt. Briten<br />

investierten in den Ausbau der Minen <strong>und</strong> die Förderung. Auch<br />

wurden neue Eisenbahnlinien gebaut, welche die Lagerstätten<br />

mit den Häfen verbanden. Fachkräfte, Maschinen, Technologien<br />

<strong>und</strong> Kapital sowie die Profite <strong>und</strong> Dividenden aus dem<br />

Bergbau verknüpften das weiße Südafrika mit der Weltwirtschaft.<br />

In der Umgebung der Minen <strong>und</strong> Häfen kam es zu<br />

einem rapiden Bevölkerungsanstieg. 1911 lebten 37 Prozent<br />

der städtischen Bevölkerung in den Zentren des Diamanten<strong>und</strong><br />

Goldabbaus Kimberley, Pretoria-Witwatersrand <strong>und</strong> Johannesburg,<br />

während es in den Hafenstädten Kapstadt, Durban,<br />

Port Elizabeth <strong>und</strong> East London 23 Prozent waren. Dieser Anstieg<br />

war einerseits Folge der zunehmenden Zahl europäischer<br />

Einwanderer, andererseits zog es schwarze Saisonarbeiter in<br />

die Städte <strong>und</strong> Minen. Immer mehr Weiße meist englischer Abstammung<br />

forderten wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Gleichstel-


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 603<br />

lung mit den Buren in den von diesen regierten Republiken.<br />

Die daraus folgenden Spannungen zwischen den Briten <strong>und</strong><br />

den Buren mündeten schließlich in den Burenkriegen<br />

(1899- 1902). 1902 wurde den Buren die Autonomie in ihren<br />

Republiken <strong>und</strong> in zusätzlichen Gebieten (Natal) sowie absolut<br />

freie Hand gegenüber der einheimischen Bevölkerung zugesichert.<br />

Die Ära der territorialen Segregation<br />

Während der ersten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kam es zu<br />

einer Stärkung <strong>und</strong> Erweiterung der burischen Prinzipien der<br />

Rassentrennung. Schwarze durften nur eingeschränkt Land<br />

besitzen <strong>und</strong> konnten nur in ausgewiesenen Regionen siedeln.<br />

Die dauerhafte Niederlassung in weißen Wohngebieten war<br />

verboten. Der Natives (Urban Areas) Act (1913) regelte die<br />

Enteignung der einheimischen Bevölkerung, ihre Zuweisung<br />

zu bestimmten Reservaten (7,3 Prozent der Fläche Südafrikas)<br />

<strong>und</strong> legte fest, dass Schwarze in den Städten lediglich geduldet<br />

waren <strong>und</strong> im Falle der Nichtbeschäftigung in ihre Reservate<br />

zurückkehren mussten. Es sollte ihnen nicht mehr möglich<br />

sein, außerhalb dieser Reservate Land zu erwerben. Außerdem<br />

galt es, die Schwarzen innerhalb städtischer Gebiete physisch,<br />

sozial <strong>und</strong> wirtschaftlich strikt von der weißen Bevölkerung<br />

zu trennen.<br />

Die Idee war, dass die Reservate wirtschaftlich unabhängig<br />

sein sollten, ohne indes mit der weißen Ökonomie zu konkurrieren.<br />

Die einheimische Bevölkerung sollte also nur in die<br />

Gazankulu<br />

□ KwaZulu-Natal<br />

KaNgwane<br />

m Lebowa<br />

ED Ndebele<br />

10.1.1 Homelands in Südafrika Das System der<br />

Homelands in Südafrika (oben) <strong>und</strong> nach Rassen<br />

getrennte Wohngebiete im Großraum Kapstadt vor<br />

dem Ende der Arpatheid 1994 (unten). (Quelle:<br />

Smith, D. M. (Hrsg.) Living <strong>und</strong>er Apartheid. London<br />

(Allen & Unwin) 1982)


604 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

■:VU<br />

— Fortsetzung Exkurs 10.1<br />

Städte migrieren (Wanderarbeiter), um dort zu arbeiten, aber<br />

nicht um dort zu leben. Doch niedrige Löhne <strong>und</strong> weit verbreitete<br />

Landlosigkeit machten es den Menschen unmöglich,<br />

eine eigenständige Subsistenzwirtschaft aufzubauen. Mehr<br />

<strong>und</strong> mehr Schwarze strömten auf der Suche nach Arbeit in<br />

die Städte, wo der Anteil der dauerhaft dort lebenden schwarzen<br />

Bevölkerung stetig wuchs. Die florierende Industrie erforderte<br />

immer mehr Arbeitskräfte, <strong>und</strong> so waren die Schwarzen<br />

im Jahre 1946 in den städtischen Regionen in der Überzahl.<br />

Die territoriale Segregation als Instrument der Rassentrennung<br />

war nun kaum noch durchsetzbar <strong>und</strong> hatte bald darauf<br />

ein Ende. Mit dem Wahlsieg radikaler Buren-Natlonalisten im<br />

Jahre 1948 begann die Formalisierung <strong>und</strong> die Vollendung der<br />

Apartheid, ts kam zur Stärkung des Systems der Rassentrennung.<br />

Die siegreichen Afrikaaner setzten strikte Regeln in<br />

Kraft, die Apartheid wurde Gesetz.<br />

Die Ära der Apartheid<br />

Seit 1960 sind die Weißen in allen Städten Südafrikas in der<br />

Minderheit. Das Gesetz der Apartheid zielte darauf ab, den<br />

Weißen die Furcht vor der schwarzen Übermacht zu nehmen.<br />

Es regelte die Bewegungsfreiheit, den Arbeitsmarkt <strong>und</strong> die<br />

Wohnstandorte der Schwarzen, wobei die Homelands - eine<br />

neue Form von Reservaten - eine zentrale Rolle spielten (Abbildung<br />

10.1.1). Zudem gab es ein neues Ausweissystem,<br />

welches die Bewegungsfreiheit der Schwarzen in den weißen<br />

Wohngebieten noch stärker einschränkte.<br />

Über 40 Jahre lang war die Apartheid das Werkzeug, mit<br />

dem eine weiße Minderheit über die schwarze Mehrheit bestimmte.<br />

Durch die Trennung in den Städten, die regionale<br />

Dezentralisierung des Arbeitsmarkts <strong>und</strong> die Unterdrückung<br />

von Konflikten versuchten die Afrikaaner die weiße Vormachtstellung<br />

zu erhalten <strong>und</strong> gleichzeitig die schwarzen<br />

Arbeitskräfte für die rasch wachsende Wirtschaft zu nutzen.<br />

Sämtliche Bewegungen der Schwarzen aus den Homelands<br />

<strong>und</strong> in die proclaimedareas (alle städtischen Gebiete des Landes)<br />

unterlagen strengen Kontrollen. Auch die Verdrängung<br />

der Schwarzen aus den Städten war gesetzlich geregelt.<br />

Wenngleich die industrielle Dezentralisierung weit reichende<br />

Unterstützung erfuhr, war sie doch wenig erfolgreich.<br />

Schließlich führte sie dazu, dass sich in der Umgebung der<br />

Städte sogenannte Homeland townships bildeten, zum Beispiel<br />

Soweto bei Johannesburg. Gegen Widerstände <strong>und</strong><br />

Protestbewegungen ging man rücksichtslos vor, führende<br />

Persönlichkeiten des African National Congress, unter ihnen<br />

Nelson Mandela, kamen ins Gefängnis oder wurden umgebracht.<br />

Das neue Südafrika<br />

In den späten 1980er-Jahren begann sich ein Ende der Apartheid<br />

abzuzeichnen. Nelson Mandela kam aus dem Gefängnis<br />

frei <strong>und</strong> Präsident P. W. Botha war bereit, die politische Macht<br />

mit den Schwarzen zu teilen. Im Jahre 1994 durften sie erstmals<br />

in der Geschichte an Wahlen teilnehmen, aus denen Nelson<br />

Mandela als erster schwarzer Präsident hervorging. 1996<br />

wurde eine neue Verfassung verabschiedet, die ein Jahr darauf<br />

in Kraft trat. Sie umfasst einen der umfangreichsten<br />

Gr<strong>und</strong>wertekataloge <strong>und</strong> verbietet jegliche Diskriminierung<br />

aufgr<strong>und</strong> von Rassenzugehörigkeit, Geschlecht, Schwangerschaft,<br />

Familienstand, ethnischer oder sozialer Herkunft,<br />

Hautfarbe, sexueller Orientierung, Alter, Behinderung, Religion,<br />

Weltanschauung, Glauben, Kultur, Sprache oder Geburt.<br />

Wie in anderen Ländern wurde auch in Südafrika zur Aufarbeitung<br />

der jüngeren Vergangenheit eine Kommission eingesetzt,<br />

die „Wahrheits- <strong>und</strong> Versöhnungskommission“; ein<br />

Abschlussbericht wurde 2003 vorgelegt.<br />

Quellen: Browett, J. (1982) mit Ergänzungen aus Microsoft<br />

Bookshelf (]998), Fischer Weltgeschichte (1989)<br />

Die meisten, wenn nicht alle Reisen der frühen Entdecker<br />

hatten die Ausbeutung von Ressourcen, Kolonisation<br />

<strong>und</strong> territoriale Expansion zum Ziel. Allein<br />

zu diesem Zweck entstanden in England <strong>und</strong> Schottland<br />

die Royal Geographical Societies (Exkurs „Forschungsreisen“).<br />

Die Erforschung <strong>und</strong> Kolonisation sogenannter<br />

unerschlossener Gebiete gehörten selbst in der Mitte<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts noch nicht der Vergangenheit<br />

an. Gleiches findet bis heute in der Antarktis statt,<br />

wenn auch in geringerem Umfang. Die von Eis<br />

bedeckte Landmasse spielt im Imperialismus der<br />

Neuzeit allerdings eher eine Sonderrolle, denn verschiedene<br />

Staaten erheben Anspruch auf einen seit<br />

jeher unbewohnten Kontinent, auf dem folglich niemals<br />

irgendeine Form staatlicher Organisation existierte.<br />

Während die Antarktis derzeit keinem Staat<br />

zugehörig ist, beanspruchen 15 Länder unterschiedlich<br />

große Territorien (Abbildung 10.18) <strong>und</strong> unterhalten<br />

dort unter anderem auch Forschungsstationen<br />

(Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Chile,<br />

Ghina, Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, Neuseeland,<br />

Norwegen, Großbritannien, USA <strong>und</strong> Uruguay).<br />

I<br />

Heartland-Theorie<br />

Imperialismus <strong>und</strong> Kolonisation spielten eine derart<br />

wichtige Rolle für die globale politische Entwicklung,<br />

dass hier zumindest eine der zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Theorien näher beleuchtet werden soll. Bis zum<br />

Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts waren viele Kolonialreiche<br />

entstanden, <strong>und</strong> imperiali.stische Ideologien standen<br />

auf ihrem Höhepunkt. Zur Rechtfertigung des strategischen<br />

Werts der Kolonisation <strong>und</strong> zur Erklärung<br />

der durch eine imperialistische Politik eröffneten<br />

Möglichkeiten entwickelte Haiford Mackinder


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 605<br />

Forschungsreisen<br />

ln den traditionellen Berichten über die Entwicklung der Geographie<br />

als akademische Disziplin spielen wissenschaftliche<br />

Expeditionen <strong>und</strong> Forschungsreisen für die Erweiterung des<br />

Wissensbestands über entfernte oder unbekannte Länder<br />

eine wichtige Rolle. Seit dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert haben europäische<br />

Forschungsreisende, <strong>und</strong> später professionelle Geographen<br />

eine wichtige Rolle bei der Erforschung, Vermessung,<br />

Aufnahme <strong>und</strong> kartographischen Darstellung außereuropäischer<br />

Regionen <strong>und</strong> Kontinente gespielt. Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

als nur noch die Polargebiete zu erforschen waren,<br />

war man überzeugt, dass die weißen Flecken auf der Erde verschw<strong>und</strong>en<br />

seien. Deshalb schlug Albrecht Penck im Jahre<br />

1891 vor, dass Geographen eine neue Weltkarte im Maßstab<br />

1:1 000 000 erstellen sollten, weil nun geographische Aufnahmen<br />

den größten Teil der Erdoberfläche erschlossen hätten.<br />

Im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, als auch die Antarktis in die neuen<br />

Weltkarten aufgenommen wurde, haben sich Forschungsreisen<br />

in den Worten des Romanciers Joseph Conrad von einer<br />

„militanten Geographie“ in eine „triumphierende Geographie“<br />

gewandelt.<br />

Für die Kritiker des Begriffs waren Forschungsreisen ein<br />

durch <strong>und</strong> durch ethnozentrisches <strong>und</strong> zeitweise gewalttätiges<br />

Unternehmen, das häufig zu Kolonisation, Eroberung<br />

<strong>und</strong> Besatzung führte. Revisionistische Berichte stellen die<br />

scheinbare moralische <strong>und</strong> akademische Neutralität von Forschungsreisen<br />

<strong>und</strong> Praktiken wie der Anfertigung von Karten<br />

infrage. In vielen Teilen der kolonialen Welt war die Kartographie<br />

eine Politik mit anderen Mitteln. Die Karte stellte ein<br />

mächtiges Werkzeug für die Rhetorik der territorialen Kontrolle<br />

dar. Angeregt durch Berichte über unerschöpfliche Ressourcen<br />

<strong>und</strong> strategische Vorteile haben Kolonialstaaten wie<br />

Großbritannien <strong>und</strong> Frankreich beträchtliche Energien in die<br />

Finanzierung <strong>und</strong> Unterstützung geographischer Expeditionen<br />

<strong>und</strong> kartographischer Aufnahmen investiert.<br />

Problematisch sind allerdings die extremen Versionen des<br />

Revisionismus, in denen die Geschichte der Forschungsreisen<br />

<strong>und</strong> Explorationen als Momente des Imperialismus, Rassismus<br />

<strong>und</strong> Kolonialismus präsentiert werden. In seiner Arbeit The<br />

Geographica! Tradition argumentiert D. Livingstone für einen<br />

Ansatz, der sowohl „heroische“ als auch „imperiale“ Darstellungen<br />

über wissenschaftliche Forschungsreisen vermeidet.<br />

Livingstone untersucht, wie Ideen über wissenschaftliches<br />

Wissen Akte der Forschungsreisen <strong>und</strong> Explorationen prägten,<br />

<strong>und</strong> welche Rolle die Praktiken der Kartierung <strong>und</strong> Vermessung<br />

bei der Transformation von Informationen über die<br />

Welt in Wissenskörper gespielt haben. Eine Reihe von Institu­<br />

(1861-1947) eine Theorie. Mackinder lehrte als<br />

Geographieprofessor an der Universität in Oxford<br />

<strong>und</strong> war Direktor der London School of Economics.<br />

Von 1910 bis 1922 gehörte er als Abgeordneter dem<br />

britischen Parlament an <strong>und</strong> stand von 1920 bis 1945<br />

dem Imperial Shipping Committee vor. Angesichts<br />

seines Wissens auf den Gebieten Geographie, Wirttionen<br />

wie auch Nationalstaaten haben wissenschaftliche<br />

Gesellschaften wie zum Beispiel die Royal Geographical Society<br />

in London <strong>und</strong> Universitäten bei ihren Forschungsreisen<br />

<strong>und</strong> Expeditionen unterstützt. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert haben Länder<br />

wie Deutschland, Frankreich <strong>und</strong> Großbritannien das Fach<br />

Geographie nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> früherer Verdienste bei<br />

Forschungsreisen <strong>und</strong> Expeditionen als wissenschaftliche<br />

Disziplin an Universitäten institutionalisiert. In seiner Arbeit<br />

über die moderne Geographie gelingt es Livingstone, von<br />

den Forschungsreisen ein Bild zu zeichnen, das weniger auf<br />

den Ansichten des furchtlosen Forschungsreisenden beruht,<br />

der bestrebt ist, die Wahrheit zu entdecken, sondern sich<br />

mehr der Art <strong>und</strong> Weise zuwendet, in der diese Akte der<br />

Entdeckungen durch Interaktionen ermöglicht <strong>und</strong> aufrechterhalten<br />

wurden.<br />

Die Interaktion zwischen vorwiegend europäischen Forschungsreisenden<br />

<strong>und</strong> der nicht westlichen Welt war keine<br />

Serie von gleichberechtigten Interaktionen. Ungleichheiten<br />

existierten vor allem hinsichtlich der politischen <strong>und</strong> militärischen<br />

Macht, die oft diese Akte der Entdeckungen begleitete.<br />

Darüber hinaus haben viele Autoren darauf hingewiesen, wie<br />

sehr westliche Berichte über Forschungsreisen Europas Gefühl<br />

der Einzigartigkeit, Überlegenheit <strong>und</strong> Fortschrittlichkeit<br />

nährten. Der palästinensische Literaturkritiker Edward Said<br />

beschrieb, wie die westliche Repräsentation des Orients auf<br />

Dichotomien wie überlegen/unterlegen, Zivilisation/Barbarei<br />

oder Macht/Ohnmacht zurückgriff. Das Resultat dieser Arbeiten<br />

von Orientalisten war, dass der Vordere Orient als unterlegenes<br />

colonial other dargestellt wurde, das von der westlichen<br />

Kultur <strong>und</strong> den Forschungsreisen profitierte. Dieses Gefühl<br />

der Überlegenheit wurde vielfach reproduziert. Dadurch<br />

haben Forschungsreisende wie Flumboldt <strong>und</strong> Aime Bonpland<br />

in ihrer unterschiedlichen Art mitgeholfen, europäische Identitäten<br />

zu konstruieren, die auf der Beschäftigung mit anderen<br />

Völkern <strong>und</strong> Ländern beruhten.<br />

Die größte Flerausforderung, die sich der modernen Geographie<br />

stellt, besteht darin, dass sie sich mit den Konsequenzen<br />

der Forschungsreisen <strong>und</strong> Explorationen befasst, ohne deren<br />

verschiedene Arten generell als rassistisch, ethnozentrisch<br />

<strong>und</strong> imperialistisch abzutun. In gleicher Weise ist es<br />

nicht sehr hilfreich zu argumentieren, dass die Forschungsreisen<br />

der Europäer vorwiegend wissenschaftlichen Zwecken<br />

dienten <strong>und</strong> nichts mit imperialistischen Ideologien der Kontrolle<br />

zu tun hatten.<br />

Quelle: K. Dodds aus; Lexikon der Geographie<br />

Schaft <strong>und</strong> Politik verw<strong>und</strong>ert es nicht, dass seine<br />

Theorie die Bedeutung der Geographie sowohl für<br />

die Stabilität als auch für Konflikte innerhalb der globalen<br />

politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Systeme herausstellte.<br />

Mackinder argumentierte, dass die zukünftige Eroberung<br />

der Welt am ehesten von Eurasien ausgehen


10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

10.18 Die territoriale Aufteilung der<br />

Antarktis Selbst in der lebensfeindlichen<br />

Antarktis ist der Wettstreit um Territorien<br />

entbrannt. Die radialen Grenzen haben keinerlei<br />

Bezug zu natürlichen Gegebenheiten.<br />

Sie bilden lediglich ein formales Muster, das<br />

die kolonialen Ansprüche legitimieren soll.<br />

(Quelle: genehmigter Wiederabdruck aus<br />

Rubenstein, J. M. The Cultural Landscape: An<br />

Introduction to Human Geography. 5. Auflage,<br />

Prentice Hall, © 1996, S. 294.)<br />

würde. Er sah in dieser Region den geographischen<br />

Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt (pivot area), das politische<br />

„Kernland“ (heartland), das in der Lage sei, globale<br />

Kontrolle auszuüben. Sein Modell basiert auf der Annahme,<br />

dass das Zeitalter der maritimen Entdeckungen<br />

<strong>und</strong> Eroberungen, das mit Kolumbus begonnen<br />

hatte, seinem Ende zuging. Seiner Meinung nach<br />

würden die Fortschritte im Transportwesen - <strong>und</strong><br />

hier vor allem des Schienenverkehrs - den Wechsel<br />

von zu seiner Zeit dominierenden Seemächten zu<br />

Kontinentalmächten herbeiführen. Die pivot areas<br />

Eurasiens, welche in früheren Jahrh<strong>und</strong>erten bereits<br />

politisch einflussreich waren, würden erneut an Kraft<br />

gewinnen. Dafür sah er eine Reihe von Gründen: So<br />

grenzte Eurasien an viele bedeutsame Länder, war<br />

über den Seeweg nicht erreichbar <strong>und</strong> aus seiner Sicht<br />

durch einen inneren Halbkreis (inner crescent) <strong>und</strong><br />

einen äußeren Schutzwall (outer crescent) strategisch<br />

geschützt. Die innere Barriere dieser halbmondförmi-<br />

gen Landmasse bestand aus randlich gelegenen Ländern<br />

wie Ägypten <strong>und</strong> Indien, den äußeren Riegel<br />

bildeten die Seemächte Japan, Großbritannien <strong>und</strong><br />

die USA. Die Abbildung 10.19 zeigt die kartographische<br />

Repräsentation seines Weltbilds.<br />

Als Mackinder seine geostrategische Theorie im<br />

Jahre 1904 veröffentlichte, befand sich ein großer<br />

Teil Eurasiens unter russischer Kontrolle <strong>und</strong> damit<br />

außerhalb des Einflussbereichs der britischen Flotte.<br />

In einem Brief an die British Royal Geographical Society<br />

äußerte Mackinder die Sorge, dass das Britische<br />

Empire bedroht sei, wenn eine oder mehrere Mächte<br />

die Kontrolle über das Kernland gewinnen würden.<br />

Er glaubte, dass Deutschland eine Allianz mit Russland<br />

bilden <strong>und</strong> China sich mit Japan zusammenschließen<br />

würde. Mackinders Theorie ist ein Produkt<br />

des imperialistischen Zeitalters. Wenn man nach den<br />

Gründen dafür sucht, warum sich Großbritannien<br />

diese Argumentation zu eigen machte, muss man


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 607<br />

10<br />

10.19 Die inneren <strong>und</strong> äußeren Zonen des Heartland Mackinders Heartland-Jheone sollte für Jahrzehnte die Gr<strong>und</strong>lage geopolitischer<br />

Argumentationen darstellen. Er sah auf dem eurasischen Kontinent den Zentralraum (pivotarea), der von einer Zone des<br />

sogenannten inneren Halbkreises (inner crescent) umgeben war sowie der äußeren insularen Zone (outer crescent). Mackinder<br />

verwendete für die kartographische Darstellung seiner geostrategischen Theorie wie in der Abbildung die Mercatorprojektion, <strong>und</strong> es<br />

ist interessant, einen Vergleich mit der in diesem Buch häufig verwendeten Dymaxionprojektion zu ziehen: Die Mercatorprojektion<br />

verringert die Bedeutung der nördlichen <strong>und</strong> südlichen Ozeane, die aufgr<strong>und</strong> ihrer Größe beträchtliche natürliche Hindernisse<br />

darstellen. Die Bedeutung des asiatischen Raums wird durch die räumlichen Verzerrungen dagegen überbetont. Darüber hinaus rückt<br />

Asien durch die Aufspaltung des amerikanischen Doppelkontinents, der sowohl am linken als auch am rechten Kartenrand erscheint,<br />

in das Zentrum der Darstellung. Die Dymaxionprojektion hat dagegen den Nordpol als Mittelpunkt <strong>und</strong> gewährleistet somit eine<br />

größere Ausgewogenheit der Landmassen. Dafür werden die Entfernungen zwischen den Kontinenten überschätzt. Mackinders<br />

Weltkarte ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich ideologische Argumente kartographisch untermauern lassen. (Quelle:<br />

Glassner, M.l. <strong>und</strong> DeBrij, H. Systematic Political Geography. 3. Auflage, New York (John Wiley & Sons) 1980, S. 291.)<br />

die zunehmenden Unstimmigkeiten zwischen den<br />

europäischen Staaten berücksichtigen, die ein Jahrzehnt<br />

später schließlich zum Ersten Weltkrieg führten.<br />

Ost-West-Konflikt <strong>und</strong> Domino-Theorie<br />

Neben den Unterschieden zwischen Nord <strong>und</strong> Süd als<br />

Folge von Imperialismus <strong>und</strong> Kolonisation lässt sich<br />

die Welt auch in Ost <strong>und</strong> West gliedern, in einen<br />

kommunistisch <strong>und</strong> einen kapitalistisch geprägten<br />

Teil, zwischen denen eine Kluft besteht. Wenngleich<br />

der Kalte Krieg überw<strong>und</strong>en scheint, so hat der Ost-<br />

West-Konflikt die globale Politik zumindest nach<br />

dem Zweiten Weltkrieg, wenn nicht bereits seit der<br />

Russischen Revolution von 1917 entscheidend geprägt.<br />

Spätestens in den 1920er-Jahren zogen sich<br />

die Großmächte immer mehr aus ihrer Rolle als Kolonialmächte<br />

zurück, obwohl viele befürchteten, dass<br />

die neuen unabhängigen Staaten in Afrika <strong>und</strong> anderswo<br />

sich dem politischen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

System des Kommunismus zuwenden würden.<br />

Kuba ist ein interessantes Beispiel für diese Spannungen<br />

zwischen Ost <strong>und</strong> West, auch wenn der Kalte<br />

Krieg offiziell längst Vergangenheit ist. Obgleich<br />

Kuba erst im Jahre 1902 die Unabhängigkeit von Spanien<br />

erlangte, haben die Interessen der USA an den<br />

Antillen ihre Wurzeln in den frühen Handelsbeziehungen<br />

am Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts. Doch erst<br />

die wirtschaftliche Expansion der USA in der ersten<br />

Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts hat die Beziehungen Kubas<br />

zur Außenwelt entscheidend verändert. Erst jetzt<br />

verdrängte der ökonomische Imperialismus der<br />

Amerikaner die spanische Kolonialstruktur. Zu jener<br />

Zeit entstanden in Kuba zahlreiche Reform- <strong>und</strong> Re-


608 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

h<br />

'<br />

i<br />

I<br />

volutionsbewegungen, die in den 1950er-Jahren<br />

schließlich den Aufstieg von Fidel Castro ermöglichten.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte<br />

die antikommunistische Stimmung in den Vereinigten<br />

Staaten ihren Höhepunkt. In Amerika wuchs die<br />

Angst, dass Kuba zunehmend unter sowjetischen Einfluss<br />

geraten könnte (Abbildung 10.20). Nachdem<br />

Castro 1959 schließlich an die Macht gekommen<br />

war, begannen die USA, in Zentralamerika Exilkubaner<br />

für einen Angriff auf Kuba zu trainieren. Selbst als<br />

Castro 1959 während eines Besuchs in den Vereinigten<br />

Staaten —mitten im Kalten Krieg - öffentlich den<br />

Schulterschluss mit dem Westen suchte, gaben die<br />

Amerikaner diese Ausbildungslager nicht auf. Während<br />

die Niederlage in der Schweinebucht, wo jene<br />

Exilkubaner 1961 nach Kuba eindringen <strong>und</strong> Castro<br />

stürzen sollten, das Ende der Beziehungen Kubas zu<br />

den Vereinigten Staaten bedeutete, öffnete sie den<br />

Weg zu besseren kubanisch-sowjetischen Beziehungen.<br />

Seitdem hat sich die Strategie der Vereinigten Staaten<br />

von militärischen zu ökonomischen Sanktionen<br />

gegen das kommunistische Kuba gewandelt. Nachdem<br />

der Versuch, Castro zu stürzen, fehlgeschlagen<br />

war, besannen sich die Vereinigten Staaten auf das<br />

Embargo von 1960, das die Destabilisierung der kubanischen<br />

Wirtschaft zum Ziel hatte. Es ist bis heute<br />

in Kraft, wurde zwischenzeitlich sogar verschärft, <strong>und</strong><br />

sollte die Unzufriedenheit der Bevölkerung so weit<br />

steigern, dass die Kubaner ihr Schicksal selbst in<br />

die Hand nehmen <strong>und</strong> Castro stürzen.<br />

Das Embargo verbietet den Handel einer Vielzahl<br />

von Produkten <strong>und</strong> Dienstleistungen zwischen den<br />

USA <strong>und</strong> Kuba. Während die Wirtschaftssanktionen<br />

ihr eigentliches Ziel, die Entmachtung Castros, verfehlten,<br />

verschlechterte sich die Situation Kubas<br />

nach dem Zerfall der Sowjetunion in den 1990er-Jahren;<br />

denn nun fehlte der mächtige <strong>und</strong> wirtschaftlich<br />

so wichtige Bündnispartner. Dennoch bleiben die<br />

Fronten zwischen den USA <strong>und</strong> Kuba weiter verhärtet.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs übernahmen<br />

die Vereinigten Staaten die Vormachtstellung in<br />

der westlichen Welt. Die amerikanische Außenpolitik,<br />

die sich zunehmend gegen die ehemalige Sowjetunion<br />

wandte, prägte auch die wachsenden Spannungen<br />

zwischen Ost <strong>und</strong> West. Ausgangspunkt dieser<br />

Politik war die Domino-Theorie, aufgr<strong>und</strong> derer<br />

man mit wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> militärischen<br />

Mitteln die Hegemoniebestrebungen der Sowjetunion<br />

zu untergraben suchte. Diese Theorie beruht<br />

auf dem Gr<strong>und</strong>gedanken, dass ein fallender Dominostein<br />

eine Kettenreaktion auslöst. Demzufolge würden<br />

Länder, die sich dem wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

System des Kommunismus zuwandten, oder<br />

dazu gezwungen wurden, auch die benachbarten Regionen<br />

dazu bewegen, diesen Weg einzuschlagen. Das<br />

einzige Mittel, diese rasche Ausbreitung des Kommunismus<br />

zu verhindern, schien in vielen Fällen die militärische<br />

Intervention.<br />

Große Bedeutung gewann die Domino-Theorie<br />

1947, als die Vereinigten Staaten fürchteten, der<br />

Kommunismus könnte von einzelnen Staaten auf<br />

ganz Europa übergreifen. Es waren diese Überlegungen,<br />

die schließlich auch zu militärischen Eingriffen<br />

der USA in Korea, Vietnam, Nicaragua <strong>und</strong> El Salvador<br />

führten. Allerdings waren Militäraktionen nicht<br />

das einzige Mittel, den Domino-Effekt zu stoppen,<br />

man suchte auch die Kooperation mit Gleichgesinn-<br />

10.20 Kuba <strong>und</strong> die Vereinigten Staaten<br />

Kuba liegt weniger als 200 Kilometer von der<br />

Küste Floridas entfernt. Angesichts der<br />

räumlichen Nähe bestand vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

der Domino-Theorie in den Vereinigten<br />

Staaten die Befürchtung, der Kommunismus<br />

könnte auf sie überspringen. Während der<br />

vergangenen 50 Jahre zielte die amerikanische<br />

Außenpolitik deshalb auf die Isolierung<br />

Kubas.


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 609<br />

ten. So kam es im Jahre 1949 zur Gründung internationaler<br />

Organisationen wie der NATO (North Atlantic<br />

Treaty Organization), die den Schutz des Westens<br />

vor sowjetischen Übergriffen gewährleisten sollte.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden unter den<br />

Ländern des Zentrums eine ganze Reihe von Außenhandels-,<br />

Entwicklungshilfe- <strong>und</strong> Finanzbündnissen.<br />

Sie alle hatten das Ziel, die internationalen Märkte zu<br />

öffnen <strong>und</strong> die peripheren Länder in das globale kapitalistische<br />

Wirtschaftssystem einzugliedern. Diese<br />

Strategie führte nicht nur zur Steigerung der Produktivität<br />

in den Ländern des Zentrums, sie stärkte während<br />

des Kalten Kriegs auch die Position des Westens<br />

gegenüber dem Osten.<br />

Trauriger Höhepunkt des Kalten Kriegs <strong>und</strong> des<br />

damit verb<strong>und</strong>enen Wettrüstens war der Vietnamkrieg,<br />

der verheerende Folgen für Mensch <strong>und</strong> Umwelt<br />

in Südostasien, die Innenpolitik der USA <strong>und</strong> die<br />

internationale Politik hatte. Frankreich engagierte<br />

sich in der 2. Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ähnlich<br />

wie Großbritannien in Indien im südostasiatischen<br />

Raum. 1887 gründete Frankreich zwischen Annam,<br />

Cochinchina - später in Vietnam integriert -, Kambodscha<br />

<strong>und</strong> dem späteren Laos die Union von Indochina.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg kam es zu zahlreichen<br />

kriegerischen Auseinandersetzung um die Vormachtstellung<br />

in diesem Raum: Bürgerlich-nationalistische<br />

Kräfte oder nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs<br />

die vietnamesische Unabhängigkeitsbewegung<br />

Vietminh kämpften gegen die französischen Besatzer;<br />

1940 besetzten die Japaner ganz Indochina. Mit der<br />

Niederlage Frankreichs im Zweiten Weltkrieg <strong>und</strong><br />

schließlich im Indochinakrieg gegen die Vietminh zogen<br />

sich die Franzosen 1954 aus der Region zurück.<br />

Die Region wurde politisch neu organisiert: Die ehemaligen<br />

Kolonien Laos <strong>und</strong> Kambodscha wurden unabhängig,<br />

Vietnam wurde zweigeteilt. Es wurde entlang<br />

des 17. Breitengrads eine entmilitarisierte Zone<br />

eingerichtet; nördlich sicherten sich die Kommunisten<br />

die Macht, im Süden Boa Dai, dessen Regierung<br />

in der Folge von den Vereinigen Staaten militärisch<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich unterstützt wurde. Als im August<br />

1964 ein amerikanisches Kriegsschiff von nordvietnamesischen<br />

Patrouillenbooten beschossen wurde <strong>und</strong><br />

im Februar 1965 Angehörige der südvietnamesischen<br />

Befreiungsbewegung, die der Regierung Korruption<br />

vorwarfen, eine US-amerikanische Helikopterstation<br />

überfielen, wurde die „Operation Brennender Pfeil“<br />

befohlen: US-amerikanische Jagdflieger griffen Ziele<br />

in Nordvietnam an. Bereits im März 1965 wurden<br />

US-Soldaten nach Vietnam geschickt. In diesem<br />

Krieg starben über 2 Millionen Zivilisten bei Luftangriffen<br />

<strong>und</strong> an die 60000 Amerikaner. Zudem besprühten<br />

US-amerikanische Militäreinheiten allein<br />

in Vietnam 2 Millionen Hektar Land mit Herbiziden<br />

wie dem hoch giftigen Agent Orange, das nicht nur die<br />

Umwelt verseuchte, sondern bei Menschen irreparable<br />

Ges<strong>und</strong>heitsschäden verursachte. In Kambodscha<br />

<strong>und</strong> Laos wurden ebenfalls Entlaubungsmittel versprüht<br />

<strong>und</strong> Napalm-Bomben abgeworfen, um die<br />

Versorgungslinien <strong>und</strong> -Stationen des Vietkong, der<br />

in Guerillataktik großen Druck auf die US-Truppen<br />

ausübte, zu zerstören.<br />

Die Bilder der Zerstörung, die um die ganze Welt<br />

gingen, der Tod amerikanischer Soldaten <strong>und</strong> die extrem<br />

hohen Kriegskosten mobilisierten in den USA<br />

eine Widerstandsbewegung unter anderem mit Studentenprotesten<br />

<strong>und</strong> dem Marsch auf Washington;<br />

eine Form des Protests, der sich wiederholte <strong>und</strong><br />

auch heute im Zusammenhang mit dem Engagement<br />

der Vereinigten Staaten im Irak aktuell ist. Die Vereinigten<br />

Staaten zogen seit Beginn der 1970er-Jahre<br />

ihre Militärkräfte nach <strong>und</strong> nach ab. Als sich die Guerillaorganisation<br />

Vietkong, die Nationale Front für<br />

die Befreiung Südvietnams, 1973 Saigon näherte, verließen<br />

die US-Truppen das Land schließlich ganz.<br />

1975 war Vietnam wieder vereint <strong>und</strong> kommunistisch<br />

regiert, Saigon hieß neu Ho-Chi-Minh-Stadt.<br />

Nach der Wiedervereinigung Vietnams flüchteten<br />

2 Millionen Menschen aus Angst vor Repressionen<br />

aus dem ehemaligen Südvietnam. Viele flohen in kleinen,<br />

labilen Booten - in den Zielländern nannte man<br />

die Menschen deshalb boat people. Die kommunistische<br />

Regierung konfiszierte landwirtschaftliche Betriebe<br />

<strong>und</strong> Fabriken, um sie unter staatliche Kontrolle<br />

zu stellen. Die in den Hügelländern lebenden Minderheiten<br />

wurden in landwirtschaftlich intensiv genutzte<br />

Zonen umgesiedelt, <strong>und</strong> über 1 Million Menschen<br />

zogen in sogenannte industrielle Entwicklungsregionen.<br />

Allerdings schränkten die auf Betreiben der<br />

USA von 1973 bis 1993 bestehenden Wirtschaftssanktionen<br />

die Ex- <strong>und</strong> Importmöglichkeiten Vietnams<br />

stark ein, so konnten einige lebenswichtige Güter<br />

wie zum Beispiel Medikamente nicht eingeführt werden.<br />

In den letzten Jahren wurden die Sanktionen gelockert<br />

<strong>und</strong> sowohl die Wirtschafts- als auch die diplomatischen<br />

Beziehungen haben sich seit Mitte der<br />

1990er-Jahre verbessert.<br />

In Kambodscha gelang es der kommunistischen<br />

Bewegung „Rote Khmer“ 1975 in einem Putsch,<br />

die von den USA unterstützte Militärregierung zu<br />

stürzen <strong>und</strong> ein brutales Regime unter der Führung<br />

von Pol Pot einzusetzen. Die Anhänger der Roten<br />

Khmer benannten das Land in Kamputschea um, untersagten<br />

den Einwohnern jegliche schulische Bildung,<br />

vertrieben sie gewaltsam aus den Städten, ver-


610 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

folgten Menschen mit besserer Bildung sowie Reiche<br />

<strong>und</strong> zogen sich vom Rest der Welt zurück. Als die<br />

Rote Khmer die Hauptstadt Phnom Pen 1975 <strong>und</strong><br />

1976 brutal entvölkerte <strong>und</strong> gegenüber der Bevölkerung<br />

die Repressionen verstärkt wurden (Menschen<br />

wurden in den sogenannten killing fields gefoltert<br />

<strong>und</strong> hingerichtet), starben Schätzungen zufolge fast<br />

2 Millionen Menschen - das waren etwa 30 Prozent<br />

der Landesbevölkerung. Der blutige Konflikt in Kambodscha<br />

war auch nach Abschluss des Friedensvertrags<br />

von Paris 1991 <strong>und</strong> der Rückkehr König<br />

Sihanouks nicht beendet. Die Rote Khmer gelangte<br />

1997 durch einen erneuten Putsch wieder an die<br />

Macht. Inzwischen wurde die Organisation jedoch<br />

entmachtet <strong>und</strong> mit Unterstützung der internationalen<br />

Gemeinschaft werden demokratische Strukturen<br />

aufgebaut. Die Einwohner erholen sich allerdings<br />

nur langsam von den emotionalen, physischen <strong>und</strong><br />

wirtschaftlichen Schrecken der jüngeren Vergangenheit.<br />

I<br />

Die neue Weltordnung <strong>und</strong> die Zunahme<br />

des Terrorismus_____________________<br />

Mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 <strong>und</strong> der Transformation<br />

ehemaliger sozialistischer Länder wie China<br />

oder Russland zu Industrienationen endete auch<br />

der Kalte Krieg. US- Präsident George H.W. Bush<br />

hielt im März 1991 eine Rede über die „neue Weltordnung“<br />

nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion.<br />

Francis Fukayamas Buch „Das Ende der Geschichte“,<br />

in dem er die von Bush verwendete Bezeichnung<br />

„neue Weltordnung“ genauer analysiert,<br />

trug wesentlich zu ihrer Verbreitung <strong>und</strong> breiten Rezeption<br />

bei. Die Idee der neuen Weltordnung besagt,<br />

dass mit dem Sieg des Kapitalismus über den Kommunismus<br />

die USA die einzige Supermacht <strong>und</strong> somit<br />

die herrschende Weltmacht sein werden. Die<br />

USA würden durch ihre politische, wirtschaftliche<br />

<strong>und</strong> kulturelle Vormachtstellung die weltweite Verbreitung<br />

liberal-demokratischer Gr<strong>und</strong>sätze fördern.<br />

Zudem ist globales Wirtschaftswachstum, eingebettet<br />

<strong>und</strong> getragen von Organisationen wie der Weltbank<br />

<strong>und</strong> der Welthandelsorganisation, ihr vorrangiges Ziel.<br />

Doch die Orientierung an liberal-demokratischen<br />

Gr<strong>und</strong>sätzen <strong>und</strong> die Übernahme kapitalistischer<br />

Konsumpraktiken bedeuten für viele Länder nicht<br />

gleich Wohlstand oder uneingeschränktes Profitieren<br />

vom globalen Wirtschaftswachstum. Vor allem für<br />

Staaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg Schauplatz<br />

der Konfrontationen zwischen den USA <strong>und</strong> der ehemaligen<br />

Sowjetunion waren, brachte das Ende des<br />

Kalten Kriegs sowie die politische wie auch ökonomische<br />

Neuorientierung Instabilität. Ein aktuelles<br />

Beispiel dafür ist Afghanistan, sowohl im Hinblick<br />

auf die innenpolitische Entwicklung wie auch hinsichtlich<br />

geopolitischer Fragen (Exkurs 10.2 „Fenster<br />

zur Welt - Afghanistan: Vom Kalten Krieg zur neuen<br />

Weltordnung“).<br />

Die neue Weltordnung mit den USA als einziger<br />

Supermacht veränderte sowohl in diplomatischer<br />

wie auch militärischer Hinsicht den Umgang zwischen<br />

Konfliktparteien. Dies zeigte sich besonders deutlich<br />

an den Anschlägen vom 11. September 2001 auf<br />

das World Trade Center in New York <strong>und</strong> das Pentagon<br />

in Washington sowie in der Antwort mit dem<br />

war on terrorism von Seiten der USA. Die terroristischen<br />

Anschläge <strong>und</strong> die Reaktion der USA <strong>und</strong> anderer<br />

Staaten beweisen, dass heute Terrorismus das<br />

bestimmende Thema in geopolitischen Debatten<br />

<strong>und</strong> bei realpolitischen Entscheidungen ist.<br />

Eine Definition von „Terrorismus“ ist sehr schwierig,<br />

zudem ist sie abhängig vom sozialen <strong>und</strong> historischen<br />

Kontext. Ganz allgemein versteht man unter<br />

Terrorismus die Androhung von Gewalt beziehungsweise<br />

deren Ausübung, um einen politischen Wandel<br />

herbeizuführen. Dies sind in der Regel Angriffe von<br />

Menschen oder Gruppierungen (Regierungsgegner,<br />

aufgebrachte Menschenmassen, militante Gruppen,<br />

psychopathische Einzeltäter <strong>und</strong> so weiter) gegen<br />

die Zivilbevölkerung mit dem Ziel, die staatliche<br />

Gewalt oder die institutioneile Ordnung zu schwächen.<br />

Auch Staatsregierungen selbst können im Sinne<br />

dieser allgemeinen Definition terroristisch handeln.<br />

Der Begriff Terrorismus geht auf die Französische<br />

Revolution (1789-1795) zurück, als damit die<br />

„Herrschaft des Schreckens“ des sogenannten Wohlfahrtsausschusses<br />

unter dem Vorsitz von Maximilien<br />

de Robespierre beschrieben wurde. Etwa fünfzig fahre<br />

später verstand man unter Terrorismus Gewalt oder<br />

Gewaltakte revolutionärer Gruppen gegen bestehende<br />

staatliche Ordnungen. Ende des 19. lahrh<strong>und</strong>erts<br />

wurde die Definition dann erweitert, sodass auch militante<br />

Arbeitervereinigungen <strong>und</strong> nationalistische<br />

politische Gruppierungen mit ihren Aktionen darunter<br />

fielen. Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden zahlreiche<br />

linksextreme, nationale Minderheiten oder radikale<br />

ethnische Gruppen als terroristische Vereinigungen<br />

deklariert. In Deutschland, in Frankreich <strong>und</strong> in<br />

Italien entwickelte sich eine linksorientierte, politische<br />

Protestbewegung mehrheitlich getragen von Studenten<br />

gegen die etablierten Staatsstrukturen <strong>und</strong><br />

Ordnungen. Diese Gruppen radikalisierten sowohl<br />

ihre Vorstellungen sowie letztlich ihr Vorgehen<br />

zum Erreichen ihrer Ziele. Die RAF (Rote-Armee-


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 611<br />

Fraktion) in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien<br />

<strong>und</strong> Action directe in Frankreich verübten zahlreiche<br />

terroristische Anschläge. Während die Aktionen,<br />

Drohungen <strong>und</strong> Ermordungen in der Regel gegen<br />

einzelne Vertreter des politischen Systems gerichtet<br />

waren, kam es in allen drei Kontexten zu folgenschweren<br />

<strong>und</strong> brutalen Übergriffen, von denen viele<br />

andere Menschen betroffen waren. Dazu zählen beispielsweise<br />

das Attentat von Bologna 1980, bei dem<br />

H<strong>und</strong>erte Menschen ums Leben kamen <strong>und</strong> der<br />

Bahnhof von Bologna zerstört wurde, der Angriff<br />

auf das Oktoberfest 1980 <strong>und</strong> die Entführung einer<br />

I.ufthansa Maschine im Jahre 1977.<br />

In den 1980er-Jahren wurden die gewaltsamen<br />

Ausschreitungen der hate movements gegenüber<br />

Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder ethnischer<br />

Zugehörigkeit als terroristische Handlungen<br />

verstanden. Die Aktivitäten der Irisch-Republikanischen<br />

Armee (IRA), die gewaltsam für die Unabhängigkeit<br />

Nordirlands von Großbritannien kämpfte,<br />

werden auch als terroristisch bezeichnet - erst<br />

Ende 2006 erklärte eine unabhängige Beobachtergruppe,<br />

dass entsprechend langjährigen Ankündigungen<br />

die IRA nun auf Waffengewalt verzichten werde.<br />

Die Lage in Nordirland ist noch immer sehr angespannt,<br />

denn auch 2007 wurde nur ein Waffenstillstand,<br />

nicht aber ein Friedensvertrag, unterschrieben.<br />

Die IRA als terroristische Organisation zu bezeichnen,<br />

würde aber die Komplexität der Situation zu<br />

sehr vereinfachen. Viele irische Katholiken, die eine<br />

\'ereinigung Nordirlands mit der Republik Irland<br />

wünschen, halten die Mitglieder der IRA für Freiheitskämpfer,<br />

die ihr Leben <strong>und</strong> das Leben Dritter<br />

(oft Zivilisten) opferten, um den Traum vom autonomen<br />

Irland in die Tat umzusetzen. Neben der IRA<br />

gelten auch die Mitglieder des protestantischen Oranier-Ordens,<br />

der sich für den Verbleib bei Großbritannien<br />

einsetzt, als eine Terrorgruppe.<br />

In zahlreichen Ländern wie zum Beispiel in Russland,<br />

Usbekistan, Indien, China, Kolumbien, den<br />

Philippinen, Israel <strong>und</strong> Palästina sind terroristische<br />

Anschläge allgegenwärtig. In Sri Lanka beispielsweise<br />

rebellierte die tamilische Minderheit Anfang der<br />

1980er-Jahre gegen die herrschende singhalesische<br />

Mehrheit. Was zunächst als politische Bewegung begann,<br />

bei der die Liberation Tigers of Tamil Eelam<br />

(LTTE) einen unabhängigen Tamilienstaat forderten,<br />

endete in brutalen terroristischen Anschlägen <strong>und</strong><br />

Selbstmordattentaten, bei denen seither 65 000 Menschen<br />

ums Leben kamen. Hier wie anderen Orts waren<br />

Selbstmordattentäter nicht selten Kinder. Auch in<br />

der russischen Republik Tschetschenien bekämpfen<br />

sich seit Jahren russisches Militär <strong>und</strong> muslimische<br />

Tschetschenen, die die Unabhängigkeit der Republik<br />

fordern. Aus Sicht der Tschetschenen ist Russland ein<br />

„Terrorstaat“, der mit militärischer Gewalt versucht,<br />

die Kontrolle über ein Land aufrecht zu erhalten, mit<br />

dem er nur wenige politische, historische oder kulturelle<br />

Gemeinsamkeiten hat. In Russland dagegen<br />

gelten die Tschetschenen als Extremisten <strong>und</strong> Terroristen<br />

(Exkurs 10.3 „Geographie in Beispielen - Terrorismus<br />

am Beispiel Tschetscheniens“). Im internationalen<br />

Kontext werden Gewalt <strong>und</strong> Anschläge,<br />

unterstützt von verfeindeten Regierungen <strong>und</strong> Organisationen,<br />

gegen öffentliche Einrichtungen <strong>und</strong> die<br />

Zivilbevölkerung eines Staates als Terrorismus verstanden.<br />

Im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert ist vor allem der religiös motivierte<br />

Terrorismus von Bedeutung, was nicht heißen<br />

soll, dass ausschließlich Religion ein Thema ist.<br />

Es geht um den Kampf gegen Werte, Normen <strong>und</strong><br />

Lebensweisen, die ganz gr<strong>und</strong>sätzlich abgelehnt<br />

oder deren Einfluss auf die eigene Kultur verhindert<br />

werden soll. Damit verb<strong>und</strong>en ist oft die Überzeugung,<br />

die eigenen Werte wären besser als jene der anderen.<br />

Dies wurde durch die Anschläge auf das World<br />

Trade Center am 11. September 2001 verdeutlicht.<br />

Der Geograph Neil Smith spricht vom „faith-based<br />

terrorism“. Die Verbindung zwischen Terrorismus<br />

<strong>und</strong> Religion ist jedoch nicht neu; in den letzten<br />

2000 Jahren hat es immer wieder religiös motivierte<br />

Anschläge gegeben. Bezeichnungen wie Fanatiker<br />

(Zelot), Attentäter (Assassine) <strong>und</strong> Gewaltverbrecher<br />

leiten sich aus f<strong>und</strong>mentalistischen religiösen Bewegungen<br />

früherer Zeiten ab. Momentan sind es vor allem<br />

f<strong>und</strong>amentalistische Muslime, die weltweit terroristische<br />

Anschläge verüben. Doch ist es wichtig aufzuzeigen,<br />

dass auch andere religiöse Fanatiker, beispielsweise<br />

aus dem christlichen Umfeld, nicht vor<br />

Gewaltanwendung zurückschrecken.<br />

Einer der schlimmsten Terroranschläge mit christlich-f<strong>und</strong>amentalistischem<br />

<strong>und</strong> rassistischem Hintergr<strong>und</strong><br />

war der Bombenanschlag auf das Alfred P.<br />

Murrah Federal Office Building in Oklahoma in<br />

den USA im April 1995, bei dem 168 Menschen<br />

ums Leben kamen (Abbildung 10.21). Im Juni<br />

1997 wurde der Golfkriegsveteran Timothy MeVeigh<br />

von einem B<strong>und</strong>esgericht als Attentäter verurteilt <strong>und</strong><br />

im Juni 2001 durch eine Giftinjektion hingerichtet.<br />

Sein Komplize Terry L. Nichols wurde zu lebenslanger<br />

Haft verurteilt. MeVeigh <strong>und</strong> Nichols unterhielten<br />

über die Christian-Identity-Bewegung Verbindung<br />

zur Michigan Militia, einer paramilitärischen<br />

Organisation mit 12 000 Mitgliedern. Die Anhänger<br />

der Christlichen Identitätsbewegung glauben, dass<br />

Gott die Weißen zur herrschenden Rasse bestimmt


612 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Exkurs 10.2<br />

Fenster zur Welt - Afghanistan:<br />

Vom Kalten Krieg zur neuen Weltordnung<br />

Afghanistan war einst bekannt für seinen Reichtum, seine<br />

Kunst <strong>und</strong> Kultur (Abbildung 10.2.1). Die Handelszentren<br />

des Landes lagen an den alten Handelsrouten, die Zentralasien<br />

<strong>und</strong> Südasien miteinander verbanden; der Reichtum des Landes<br />

zog über Jahrh<strong>und</strong>erte Eroberer an. Im Jahre 329 vor Christus<br />

fiel Alexander der Große in Afghanistan ein, das damals<br />

zum Persischen Reich gehörte, <strong>und</strong> es begann eine Zeit des<br />

kulturellen Aufbruchs. Die kulturellen Artefakte dieser Zeit,<br />

eine Kombination von indischen <strong>und</strong> griechischen Stilen,<br />

sind heute als Gandhar-Kunst bekannt.<br />

Aber es war bei Weitem leichter, über die Gebirgspässe<br />

nach Afghanistan einzudringen, als sie dann auch dauerhaft<br />

unter Kontrolle zu halten (Abbildung 10.2.2). Die Herausforderung<br />

für Jeden neuen Machthaber war schlichtweg die<br />

naturräumliche Situation des Landes: Afghanistan wird durch<br />

das schroffe <strong>und</strong> zerklüftete Hindukuschgebirge bestimmt,<br />

das sich ost-westwärts bis zur Stadt Herat im Nordwesten<br />

erstreckt. Der Hindukusch erstreckt sich über Zehntausende<br />

Quadratkilometer <strong>und</strong> bildet ein kompliziertes <strong>und</strong> scheinbar<br />

endloses Labyrinth aus Tälern <strong>und</strong> Schluchten. Die zerklüfteten<br />

Berge, die rauen Täler <strong>und</strong> Höhlen sind das ideale<br />

Terrain, um einen Guerillakrieg gegen fremde Eroberer oder<br />

Besatzer zu führen. Zudem fällt bereits im Oktober Schnee,<br />

<strong>und</strong> ab Ende Oktober bis in den Frühling sind Pässe, Täler<br />

<strong>und</strong> Hochplateaus nicht mehr begehbar beziehungsweise<br />

erreichbar, <strong>und</strong> Truppenbewegungen sind für Monate fast<br />

unmöglich.<br />

Diesen Umständen zum Trotz zog die geopolitische Bedeutung<br />

Afghanistans einen ausländischen Eroberer nach dem anderen<br />

an. Im Jahr 642 kamen die Araber <strong>und</strong> mit ihnen der<br />

Islam. Es folgten die Perser, die über die Region bis 998<br />

herrschten, bis sie von den turkstämmigen Ghaznawiden besiegt<br />

wurden. Unter ihrer Herrschaft war die Stadt Ghazna im<br />

heutigen Afghanistan nicht nur Ausgangspunkt für die häufigen<br />

Beutezüge nach Indien, sondern sie stieg auch zu einem<br />

bedeutenden kulturellen Zentrum auf. 1219 drangen die Mongolen,<br />

angeführt vom legendären Dschingis Khan, in das Land<br />

ein. Sie zerstörten viele Städte <strong>und</strong> verwüsteten das fruchtbare<br />

Ackerland. Nachdem Dschingis Khan 1227 gestorben war,<br />

kämpften bis weit in das 14. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein verschiedene<br />

Stammesführer <strong>und</strong> Fürsten um die Vorherrschaft in der Region.<br />

Erst Timur konnte Afghanistan seinem riesigen asiatischen<br />

Reich angliedern <strong>und</strong> Kabul wurde unter Timurs Nachfahren<br />

Babur Anfang des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zur Hauptstadt des<br />

Mogulreichs. 1747 einte Ahmad Shah Durrani die zahlreichen<br />

Stammesgebiete, kleinen Fürstentümer <strong>und</strong> verstreuten Provinzen<br />

zu einem Land. Das Reich Durranis erstreckte sich<br />

von Mashhad, einer Stadt im heutigen Iran, im Westen nach<br />

Delhi im Osten <strong>und</strong> vom Amu-Darya-Fluss im Norden bis<br />

zum Arabischen Meer im Süden.<br />

Usbekistan<br />

> China<br />

Turkmenistan<br />

Sheberghan<br />

Dushanbe<br />

Tadschikistan<br />

. / ^<br />

Taloqar\<br />

, Sharif *<br />

* S a r- e P o l * B agW an ^<br />

- Meyn^aneh .C h ar.kar ’<br />

* Qal eh-ye Now<br />

Kabul o<br />

* J ja la b a d<br />

G äfdez<br />

Is la m a b a d<br />

Kandahar , /' / Lahore *<br />

10.2.1 Afghanistan aktuelle Staatsgrenzen <strong>und</strong><br />

städtische Zentren Wie die Karte zeigt, ist Afghanistan<br />

ein von Festland umschlossenes, bergiges<br />

Land, das seine Grenzen mit sechs anderen Ländern<br />

teilt. Als im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert in der Region Krieg<br />

ausbrach, flohen viele Menschen in diese Nachbar<br />

länder, um in Sicherheit zu leben.


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 613<br />

10.2.2 DerChaiber-Pass Überjahrh<strong>und</strong>erte warder<br />

Chaiber-Pass ein Eingangstor zu Afghanistan <strong>und</strong> hatte<br />

damit eine geopolitische Schlüsselposition zwischen<br />

Zentral- <strong>und</strong> Südasien. Perser, Griechen, Mongolen,<br />

Afghanen <strong>und</strong> Briten - sie alle haben diese Route<br />

genommen, <strong>und</strong> für viele von ihnen wurden die umliegenden<br />

Berge <strong>und</strong> Schluchten zum Friedhof.<br />

Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts wurde die geopolitische Lage<br />

Afghanistans von immer größerer Bedeutung: Für das Russische<br />

Reich, das sich immer weiter nach Osten ausdehnte,<br />

war Afghanistan das letzte Hindernis für einen Vorstoß in Richtung<br />

fruchtbare indische Tiefebene. Für die Briten, die ihren<br />

Einflussbereich in Indien festigten, war Afghanistan stattdessen<br />

eine Bastion gegen die Expansion des Russischen Reichs.<br />

Beide, Russen <strong>und</strong> Briten, versuchten verzweifelt, die Kontrolle<br />

über das Land zu gewinnen. Dies war der Beginn des großen<br />

Kampfs zweier Weltmächte um die Vorherrschaft in Afghanistan.<br />

Die Briten konnten die russische Expansion schließlich<br />

verhindern, aber es gelang ihnen nicht, das Land zu kontrollieren.<br />

Die Afghanen kämpften in drei Kriegen hartnäckig gegen<br />

die Fremdherrschaft, bis die Briten schließlich 1921 die<br />

Unabhängigkeit Afghanistans anerkannten. Im ersten dieser<br />

anglo-afghanischen Kriege, der von 1839 bis 1842 dauerte,<br />

wurden die Briten vernichtend geschlagen. Die Afghanen<br />

kämpften erbittert gegen die Besatzer <strong>und</strong> es zeigte sich,<br />

wie schwierig es war, Truppenbewegungen im Hindukusch vorzunehmen.<br />

Der zweite anglo-afghanische Krieg dauerte von<br />

1878 bis 1880 <strong>und</strong> wurde ausgelöst, weil die Afghanen,<br />

eine russlandfre<strong>und</strong>liche Politik verfolgend, sich weigerten,<br />

eine britische Mission in Kabul anzuerkennen. Er endete mit<br />

einem Sieg für die Briten <strong>und</strong> damit, dass schließlich Russen<br />

<strong>und</strong> Briten gemeinsam die Grenzen des heutigen Afghanistans<br />

festlegten. Mit dem Ziel, sich dem Einfluss der Briten endgültig<br />

zu entziehen, erklärte Afghanistan dem Britischen Empire<br />

1919 den Krieg. Er war bereits im selben Jahr beendet,<br />

denn die kriegsmüden Briten, die sich gleichzeitig mit der indischen<br />

Befreiungsbewegung konfrontiert sahen, gaben die<br />

Kontrolle über das Land auf <strong>und</strong> Unterzeichneten am 8. August<br />

1919 den Vertrag von Rawalpindi, mit der Anerkennung Afghanistans<br />

als souveränen <strong>und</strong> unabhängigen Staat.<br />

Es folgte eine Zeit der afghanischen Unabhängigkeit; Mohammad<br />

Zahir Shah regierte von 1933 bis 1973 das konstitutionelle<br />

Königreich Afghanistan <strong>und</strong> führte eine relativ liberale<br />

Verfassung ein. Trotz seiner demokratischen Gesinnung,<br />

brachte Shah nur wenige dauerhafte Reformen auf den<br />

Weg, während extremistische politische Bewegungen, wie beispielsweise<br />

die ideologisch der Sowjetunion nahe stehende<br />

Afghanische Kommunistische Partei (PDPA), erstarkten.<br />

1973 kam es aufgr<strong>und</strong> von Korruptionsvorwürfen gegenüber<br />

der königlichen Familie <strong>und</strong> schwierigen wirtschaftlichen<br />

Bedingungen <strong>und</strong> wegen einer Dürre im Vorjahr zu einem<br />

Militärputsch, der vom ehemaligen Premierminister Sardar<br />

Mohammad Daoud angeführt wurde. Daoud stürzte die Monarchie,<br />

wandelte das Land in eine Republik um <strong>und</strong> setzte sich<br />

selbst als ersten Präsidenten ein. Seine Bemühungen dringend


614 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Fortsetzung Exkurs 10.2<br />

notwendige wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Reformen durchzuführen,<br />

scheiterten <strong>und</strong> es kam 1978 zu einem blutigen Aufstand<br />

sowie zum Sturz der Regierung durch die PDPA. In den<br />

ersten 18 Monaten des brutalen Regimes der PDPA setzte die<br />

Partei ein marxistisches Reformprogramm durch, das im Gegensatz<br />

zu der tief in der Region verwurzelten islamischen<br />

Tradition stand. Fast augenblicklich regte sich der<br />

Widerstand gegen die kommunistische Regierung.<br />

Die Sowjetunion zog schnell ihren Vorteil aus dem Putsch<br />

von 1978 <strong>und</strong> Unterzeichnete einen neuen bilateralen Fre<strong>und</strong>schafts-<br />

<strong>und</strong> Kooperationsvertrag mit Afghanistan, der unter<br />

anderem ein militärisches Unterstützungsprogramm vorsah.<br />

Da sich der afghanische Widerstand gegen die PDPA-Regierung<br />

rasch verstärkte, hing deren Überleben bald einzig <strong>und</strong><br />

allein vom militärischen Beistand der Sowjetunion ab. Im Dezember<br />

1979 sandte die Sowjetunion - angesichts einer sich<br />

rasch verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan -<br />

zahlreiche Luftlandetruppen <strong>und</strong> Tausende Bodentruppen unter<br />

dem Vorwand einer Feldübung nach Kabul. Den über<br />

120 000 Mann starken entsendeten Truppen gelang es jedoch<br />

nur, die Stadt Kabul zu kontrollieren. Die große Mehrheit<br />

der afghanischen Bevölkerung war gegen das kommunistische<br />

Regime. Islamische Glaubenskämpfer (Mudschaheddin)<br />

erschwerten es der Regierung, die Kontrolle über das Land<br />

auch außerhalb der großen städtischen Zentren aufrecht<br />

zu erhalten.<br />

Die Mudschaheddin, die zunächst nur schlecht mit Waffen<br />

ausgerüstet waren, erhielten 1984 von Seiten der USA, Pakistans<br />

<strong>und</strong> Saudi-Arabiens Unterstützung. Neben der militärischen<br />

Ausbildung wurden sie mit besseren Waffen ausgestattet.<br />

Die Mudschaheddin nutzten ihre genaue Landeskenntnis,<br />

um ihre Angreifer auszuschalten: Von den umliegenden<br />

Bergen beschossen sie jeweils die ersten <strong>und</strong> letzten<br />

Fahrzeuge der russischen Militärkolonnen, um schließlich die<br />

zum Stillstand gekommene Kolonne anzugreifen <strong>und</strong> meist<br />

vernichtend zu schlagen. Der Guerillakrieg endete erst<br />

1989 mit dem Rückzug der russischen Truppen. Als die siegreichen<br />

Mudschaheddin in Kabul eintrafen, um die Regierung<br />

<strong>und</strong> die Kontrolle über die Stadt zu übernehmen, kam es zu<br />

neuen Kämpfen zwischen den verschiedenen militanten<br />

Gruppen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

wieder erstarkt waren.<br />

Nachdem die Sowjetunion besiegt war <strong>und</strong> das Land verlassen<br />

hatte, brach ein Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen<br />

Klans, den ethnisch <strong>und</strong> religiös differenzierten Gruppen,<br />

aus. Vor allem in Kabul <strong>und</strong> in den nördlichen Landesteilen<br />

starben Tausende Zivilisten <strong>und</strong> H<strong>und</strong>erttausende Menschen<br />

wurden zur Flucht gezwungen; sie zogen sich in die Bergregionen<br />

Pakistans zurück. Schließlich erlangten die Anhänger<br />

der radikal-islamischen Fraktion des Mudschaheddin, die<br />

Taliban, die Vorherrschaft über die Hauptstadt Kabul <strong>und</strong><br />

den größten Teil des Landes. Der einzige Widerstand gegen<br />

das Taliban-Regime kam bis 2001 von Seiten der Nordallianz,<br />

ein loser Zusammenschluss von verschiedenen afghanischen<br />

Gruppierungen, unter ihnen auch die Tadschiken, die zwischen<br />

5 <strong>und</strong> 10 Prozent des Landes kontrollierten. Dazu<br />

gehörten beispielsweise das landschaftlich äußerst beeindruckende<br />

Panjshir-Tal, etwa 100 Kilometer nordöstlich<br />

von Kabul gelegen, <strong>und</strong> kleinere Enklaven in den weit im<br />

Norden gelegenen Provinzen Badakhshan <strong>und</strong> Takhar. Die<br />

Taliban führten nicht nur strenge religiöse Gesetze <strong>und</strong> Verhaltensregeln<br />

ein, sie erlaubten extremistischen Gruppen,<br />

wie beispielsweise der Al-Qaida unter Osama bin Laden,<br />

sich geschützt in Afghanistan aufzuhalten <strong>und</strong> ihr weltweites<br />

Terrornetzwerk auszubauen. Al-Qaida wird für zahlreiche<br />

Terroranschläge in den letzten Jahren verantwortlich gemacht<br />

- auch für die Anschläge vom 11. September 2001<br />

auf das World Trade Center in New York <strong>und</strong> das Pentagon<br />

in Washington. Gegenüber Afghanistan wurden schließlich<br />

Sanktionen von Seiten der internationalen Staatengemeinschaft<br />

ausgesprochen. Und als das Taliban-Regime der Forderung<br />

der USA nicht nachkam, Osama bin Laden nach den<br />

Anschlägen vom 11. September auszuliefern, marschierten<br />

US-amerikanische Militärtruppen mit der Unterstützung<br />

Großbritanniens, Australiens, Kanadas <strong>und</strong> der afghanischen<br />

Nordallianz im Oktober 2001 in Afghanistan ein. Die Militäraktion<br />

war Teil des von den USA initiierten „Kampfes gegen<br />

den Terror“ <strong>und</strong> lief unter den Namen „Operation Enduring<br />

Freedom“. Das Ziel war die Gefangennahme Osama bin<br />

Ladens, die Zerstörung des Al-Qaida-Netzwerks <strong>und</strong> der Sturz<br />

des Taliban-Regimes. Auch wenn die Bombenangriffe auf<br />

Afghanistan 2002 eingestellt wurden, halten sich die Truppen<br />

der Koalitionsmächte immer noch im Land auf. In der ersten<br />

direkten demokratischen Präsidentenwahl in der Geschichte<br />

des Landes wurde Hamid Karzai im Oktober 2004 gewählt. Im<br />

September 2005 fanden Parlamentswahlen statt. Heute sind<br />

die Regierungssitze im Unterhaus <strong>und</strong> in den Provinzregierungen<br />

sehr heterogen besetzt, was die gegenwärtige Situation<br />

des Landes widerspiegelt: Warlords, Mudjahedin, ehemalige<br />

Taliban aber auch Frauen wurden gewählt. Das Talibanregime<br />

in Afghanistan konnte zwar gestürzt werden, das Terrornetzwerk<br />

Al-Qaida existiert allerdings weiterhin <strong>und</strong> operiert von<br />

anderen Staaten aus.<br />

oder apokalyptische Kulte ausüben. Aktuellen Schätzungen<br />

zufolge gibt es an die 800 militante Gruppen,<br />

die in fast allen US-B<strong>und</strong>esstaat aktiv sind. Trotz unterschiedlicher<br />

Motivationen <strong>und</strong> Ziele sind alle Vereinigungen<br />

regierungsfeindlich eingestellt. Ihre Mitglieder<br />

vertreten die Auffassung, dass Gott die Überlegenheit<br />

der weißen Rasse festgelegt habe. Dagegen<br />

ist die weiße Bevölkerung für die Anhänger der


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 615<br />

10.21 Das zerstörte Alfred P.<br />

Murrah Federal Office Building in<br />

Oklahoma City, 1995 Bis zu den<br />

Anschlägen vom 11. September<br />

2001 v\/ar der Bombenanschlag in<br />

Oklahoma der schwerste von Einheimischen<br />

oder Fremden verübte<br />

Terrorakt in der Geschichte der USA.<br />

Die Explosion wurde ausgelöst durch<br />

die Detonation einer ferngesteuerten<br />

Bombe, die aus einem tödlichen<br />

Gemisch von Kraftstoff <strong>und</strong> Kunstdünger<br />

bestand <strong>und</strong> in einem vor<br />

dem Gebäude geparkten Lastwagen<br />

platziert war. Zur Erinnerung an die<br />

Opfer des Bombenanschlags wurde<br />

hier das Oklahoma City National<br />

Memorial fertiggestellt. Es umfasst<br />

eine große schimmernde <strong>und</strong> reflektierende<br />

Wasserfläche, die von<br />

149 großen Stühlen, für die getöteten<br />

Erwachsenen, sowie 19 kleineren<br />

Stühlen, für die bei dem Bombenanschlag<br />

ums Leben gekommenen<br />

Kinder, umgeben ist.<br />

Schwarzen Israeliten das personifizierte Böse. Sie<br />

glauben außerdem, dass die wahren Juden des Alten<br />

Testaments schwarz gewesen seien.<br />

Die gefährlichste Form des Terrorismus im 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert ist der Bioterrorismus, bei dem Krankheitserreger<br />

als Waffe eingesetzt werden. Die biologischen<br />

<strong>und</strong> chemischen Waffen, die bei bioterroristischen<br />

Anschlägen eingesetzt werden können, reichen<br />

vom Milzbranderreger bis zum West-Nil-Virus. Das<br />

von US-Präsident Georg W. Bush 2002 erlassene Bioterrorismusgesetz<br />

enthält strenge Regelungen über<br />

die Einfuhr von Lebens- <strong>und</strong> Arzneimitteln in die<br />

USA, um solchen bioterroristischen Anschlägen vorzubeugen.<br />

Seit den Anschlägen vom 11. September<br />

2001 beschäftigen sich sowohl Forscher als auch Medien<br />

mit den möglichen Folgen bioterroristischer Anschläge.<br />

Gesetze wie das Bioterrorismusgesetz haben<br />

dazu geführt, dass sich mittlerweile ein ganzer Industriezweig<br />

mit diesem Thema auseinandersetzt. Auch<br />

die Europäische Union hat nach den Anschlägen 2001<br />

auf mögliche Bedrohungen reagiert <strong>und</strong> beispielsweise<br />

die Vernetzung unter den Mitgliedsstaaten verbessert,<br />

um im Falle eines Ausbruchs einer Krankheit<br />

besser informiert zu sein <strong>und</strong> Hilfsmaßnahmen besser<br />

koordinieren zu können.<br />

Die zusammenfassende Einschätzung ist, dass extremistische,<br />

religiöse Gruppen in den USA sowie in<br />

anderen Teilen der Erde <strong>und</strong> ihre hohe Gewaltbereitschaft<br />

heute eine weit höhere Gefahr darstellen, als<br />

jene Gruppierungen die zu Beginn <strong>und</strong> Mitte des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts für Unabhängigkeit oder in der<br />

ideologischen Auseinandersetzung zwischen dem<br />

Osten <strong>und</strong> dem Westen für die Durchsetzung eines<br />

der beiden politischen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Modelle<br />

gekämpft haben. Diese neue Bedrohung verändert<br />

auch die Reaktion im Hinblick auf Sicherheitsmassnahmen<br />

der Staaten, die sich einem möglichen Anschlag<br />

ausgesetzt sehen. Die US-Regierung reagierte<br />

auf die Terroranschläge vom 11. September, indem<br />

sie 2001 ihren weltweiten Kampf gegen den Terror<br />

ausrief - mit Afghanistan <strong>und</strong> Irak als der größten<br />

Bedrohung für die amerikanische Sicherheit <strong>und</strong><br />

die westlich-christlichen Werte, was in der Folge<br />

auch zahlreiche europäische Staaten bewog, sich am


616 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Exkurs 10.3<br />

Geographie in Beispielen - Terrorismus am Beispiel<br />

Tschetscheniens<br />

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kam es zu zahlreichen<br />

ethnischen <strong>und</strong> politisch motivierten Konflikten, von<br />

denen die Unabhängigkeitsbewegung der Tschetschenen<br />

eine der konfliktreichsten wurde. Traditionell bestimmt in<br />

Tschetschenien, im nördlichen Kaukasus gelegen (Abbildung<br />

10.3.1), der Klan, das heißt die Zugehörigkeit zu einem Stamm<br />

oder einer Sippe, die politische Organisation <strong>und</strong> das Zusammenleben.<br />

Seit der Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzenden<br />

Ausdehnung des Russischen Reichs in Richtung Afghanistan,<br />

leisteten die sunnitischen muslimischen Tschetschenen heftigen<br />

Widerstand. Zeitweise führten sie sogar einen heiligen<br />

Krieg gegen die russischen Christen. Die Oktoberrevolution<br />

von 1917 brachte für die Tschetschenen nicht unbedingt<br />

eine Verbesserung ihrer Lage, denn Religion hatte in der<br />

neu gegründeten Sowjetunion keinen besonders hohen Stellenwert.<br />

Nachdem sich die Bewohner des Nordkaukasus<br />

<strong>und</strong> Transkaukasiens (politisch gesprochen Armenien, Aserbaidschan<br />

<strong>und</strong> Georgien) kurz <strong>und</strong> erfolglos der russischen<br />

O<br />

fCräsRoyqi^/^<br />

1-5 Mio.<br />

• w eniger ais 1 Mio.<br />

I<br />

^<br />

Hauptstädte sind unterstrichen<br />

Georgien<br />

^Grozny<br />

Vtedikavkaz<br />

Ingusthetiei^<br />

togestan<br />

10.3.1 Der nördliche Kaukasus Die Karte zeigt die wesentlichen<br />

geographischen Merkmale, politischen Grenzen<br />

<strong>und</strong> die wichtigsten Städte des nördlichen Kaukasus.<br />

Vorherrschaft widersetzt hatten, wurden sie in die von der<br />

Sowjetunion gegründeten Teilrepubliken eingegliedert. Die regionalen<br />

Strukturen <strong>und</strong> Beziehungen ignorierend, wurden verschiedene<br />

Stämme <strong>und</strong> ethnische Gruppen - zum Beispiel die<br />

antisowjetischen Tschetschenen mit den Inguschen aus dem<br />

Süden - in einer Teilrepublik zusammengefasst.<br />

Die Tschetschenen jedoch widersetzen sich, wenngleich<br />

sie einen hohen Preis dafür zahlten. Stalin ließ Ende der<br />

1930er-Jahre Zehntausende von ihnen in sogenannten Säuberungsaktionen<br />

töten. 1944 drangen deutsche Truppen in den<br />

Nordkaukasus ein, waren aber gezwungen, sich zurückziehen.<br />

Stalin beschuldigte daraufhin die Tschetschenen der Kollaboration<br />

mit dem Feind <strong>und</strong> verbannte die gesamte tschetschenische<br />

Bevölkerung - über 700 000 Menschen - nach Kasachstan<br />

<strong>und</strong> Sibirien. Bei der brutalen Massendeportation<br />

starben über 200 000 Tschetschenen.<br />

Nikita Chruschtschow verfolgte 1957 einen anti-stalinistischen<br />

Kurs <strong>und</strong> setzte sich für die Rehabilitierung der Tschetschenen<br />

ein. Inzwischen hatten jedoch fremde Einwanderer<br />

die Häuser <strong>und</strong> das Land der ehemaligen tschetschenischen<br />

Eigentümer in Besitz genommen. Neue Konflikte waren damit<br />

vorprogrammiert. In den folgenden dreißig Jahren gingen viele<br />

der Zugewanderten in ihre Heimat zurück, während die tschetschenische<br />

Bevölkerung auf fast 1 Million Menschen anwuchs.<br />

Als Michail Gorbatschow 1985 eine Politik der größeren Transparenz<br />

<strong>und</strong> Offenheit der Staatsführung gegenüber der BevöF<br />

kerung (Glasnost) ausrief, sahen viele Tschetschenen endlich<br />

ihre Chance auf Selbstbestimmung gekommen <strong>und</strong> erklärten<br />

unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989<br />

unilateral die völlig Unabhängigkeit Tschetscheniens.<br />

1991 erzwangen die Tschetschenen den Rücktritt der lokalen<br />

Regierung, <strong>und</strong> der in einer von Russland nicht anerkannten<br />

Präsidentschaftswahl gewählte Präsident D. M. Dudajew<br />

rief Ende 1991 die Unabhängigkeit Tschetscheniens aus.<br />

1992 spalteten sich dann die Bewohner der Region Inguschetien<br />

von Tschetschenien (wie oben ausgeführt wurden sie<br />

1934 zur Autonomen Sozialistischen Bergrepublik vereint)<br />

ab <strong>und</strong> Unterzeichneten einen Föderationsvertrag mit Russge<br />

Justizbehörden sind der Ansicht, dass das Vorgehen<br />

der USA gegen die Charta der Vereinten Nationen<br />

verstoßen hat. NATO-Bündnispartner wie<br />

Deutschland, Frankreich <strong>und</strong> Kanada, vor allem<br />

aber Russland lehnten die Aktion der USA ab. Weltweit<br />

demonstrierten H<strong>und</strong>erttausende Kriegsgegner<br />

mehrere Monate gegen den Einmarsch der britischen<br />

<strong>und</strong> US-amerikanischen Truppen in den Irak <strong>und</strong> da-


Geopolitik <strong>und</strong> Weltordnung 617<br />

jL I jM -<br />

\^sm •■CbEl*** W «' '■BSr's<br />

10.3.2 Flüchtlinge in Grosny Im Dezember 1999<br />

rieten russische Militärtruppen den Tschetschenen,<br />

Grosny, die Hauptstadt von Tschetschenien, zu evakuieren,<br />

bevor es zur Zerstörung der Stadt kam.<br />

land, woraufhin Inguschetien eine eigene Republik innerhalb<br />

Russlands wurde. Russland ignorierte die Unabhängigkeitserklärung<br />

Tschetscheniens zunächst. Allerdings konnte sie<br />

einem möglichen Verlust der Region nicht sehr gelassen entgegen<br />

sehen, denn das Gebiet um Grosny ist eines der wichtigsten<br />

Zentren der Erdölraffination innerhalb der Russischen<br />

Föderation <strong>und</strong> es hat bedeutende Erdgasvorkommen. 1994<br />

wurden russische Truppen in Tschetschenien stationiert,<br />

<strong>und</strong> die erbitterten Kämpfe brachten großes Leid über die<br />

tschetschenische Bevölkerung. Es kam zur Massenflucht<br />

aus den Kampfgebieten. Der tschetschenische Widerstand erstarkte<br />

immer mehr, <strong>und</strong> die kriegsmüden russischen Truppen<br />

zogen schließlich ab. 1996 erkannte Russland Tschetschenien<br />

de facto als unabhängigen Staat an. Die Verhandlungen über<br />

die Einzelheiten des Friedensabschlusses dauerten drei Jahre.<br />

Im Sommer 1999 marschierten die russischen Truppen Jedoch<br />

erneut in Tschetschenien ein, nachdem tschetschenische Rebellen<br />

zahlreiche Bombenanschläge auf Wohnhäuser in der benachbarten<br />

russischen Republik Dagestan <strong>und</strong> Russland selbst<br />

verübt hatten. In dem darauffolgenden harten <strong>und</strong> schweren<br />

Kampf wurden auf russischer Seite über 400 Soldaten getötet<br />

<strong>und</strong> fast 1 500 verletzt. Auf tschetschenischer Seite wurden<br />

H<strong>und</strong>erttausende Menschen obdachlos, einige Tausend wurden<br />

getötet oder sind bis heute vermisst. Im Februar 2000<br />

nahmen russische Truppen schließlich die Hauptstadt Grosny<br />

ein, die praktisch unbewohnbar geworden war (Abbildung<br />

10.3.2). Seit Anfang 2000 halten die russischen Truppen trotz<br />

des erbitterten Widerstands seitens der tschetschenischen<br />

Rebellen die Kontrolle über Grosny. Der Widerstand bleibt jedoch<br />

nicht auf Tschetschenien <strong>und</strong> Grosny reduziert. Im Jahre<br />

2002, als tschetschenische Rebellen das Moskauer Dubrowka-Theater<br />

stürmten <strong>und</strong> 700 Geiseln nahmen, starben während<br />

der Befreiungsaktion durch russische Sicherheitskräfte<br />

129 der Geiseln als Folge des Einsatzes giftigen Betäubungsgases.<br />

Die Gewalt erreichte im September 2004 mit der Geiselnahme<br />

von 1 200 Schülern, Lehrern <strong>und</strong> Eltern in Beslan,<br />

Nordossetien, durch tschetschenische Kämpfer einen ihrer<br />

Höhepunkte. Fast 340 Menschen wurden getötet <strong>und</strong> 700<br />

verletzt; darunter vor allem Kinder, ln Tschetschenien selbst,<br />

insbesondere in Grosny, gilt der Ausnahmezustand; Repressionen,<br />

organisiertes Verbrechen, Entführungen <strong>und</strong> Ermordungen<br />

sind Teil des Alltags der Bevölkerung geworden. Das Stadtbild<br />

ist bestimmt durch das Militär. Wer in die Stadt will oder<br />

aus ihr raus, muss einen der vielen bewaffneten Kontrollposten<br />

passieren. Hinweisschilder mit der Aufschrift „In 10 Meter Entfernung<br />

anhalten oder wir schießen“ fordern die Autofahrer<br />

zum Anhalten auf <strong>und</strong> zeugen von der brutalen Situation für<br />

die Menschen dort. Tschetschenien ist nicht nur ein Beispiel<br />

für Staatsterrorismus, sondern zeigt auch die Komplexität de.ssen,<br />

was wir allgemein als Terrorismus benennen. In Tschetschenien<br />

sind einzelne Personen <strong>und</strong> Institutionen, Vertreter<br />

des Staates wie auch Rebellen gleichsam für ihre terroristischen<br />

Aktivitäten zur Verantwortung zu ziehen.<br />

mit gegen den Krieg. Der britische Premierminister<br />

Tony Blair <strong>und</strong> US-Präsident Georg W. Bush begründeten<br />

den Krieg gegen den Irak mit der angeblichen<br />

Existenz von „JVIassenvernichtungswaffen“ —chemischen<br />

<strong>und</strong> biologischen Waffen die in ihrer tödlichen<br />

Wirkung die herkömmlichen Waffen um ein<br />

Vielfaches übertreffen. UN-Waffeninspektor Hans<br />

Blix konnte jedoch trotz intensiver Suche keine Massenvernichtungswaffen<br />

im Irak finden. Georg W.<br />

Bush rechtfertigte den Einmarsch im Irak mit der<br />

Notwendigkeit zum „Kampf gegen den Terror“<br />

(gleich wie zuvor in Afghanistan): Saddam Hussein,<br />

den Präsident des Iraks, zu stürzen <strong>und</strong> den Irak nach<br />

westlichem Vorbild zu demokratisieren, würde Terrornetzwerke<br />

zerstören <strong>und</strong> die weltweite Sicherheit<br />

wieder herstellen.


618 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Die 9/11-Kommission (National Commission on<br />

Terrorist Attacks Upon the United States) stellte Anfang<br />

2004 fest, dass nicht glaubwürdig bewiesen werden<br />

konnte, dass der ehemalige Präsident des Landes,<br />

Saddam Hussein, das Al-Qaida-Netzwerk bei der<br />

Vorbereitung oder Ausführung der Anschläge vom<br />

11. September 2001 unterstützt habe. Im Gegensatz<br />

dazu sind führende US-amerikanische Regierungsmitglieder<br />

<strong>und</strong> -beamte, Sicherheitsverantwortliche<br />

sowie Angehörige des Militärs weiterhin davon überzeugt,<br />

dass die irakische Regierung vor der Kontrolle<br />

durch die UN-Waffeninspektoren alle biologischen<br />

<strong>und</strong> chemischen Waffen vernichtet hat.<br />

In einer Rede auf dem Flugzeugträger USS Abraham<br />

Lincoln vor der Küste Kaliforniens verkündete<br />

George W. Bush am 1. Mai 2003, dass ab sofort „größere<br />

Kampfhandlungen“ im Irak eingestellt werden,<br />

was allerdings nicht bedeutete, dass Frieden im Irak<br />

eingekehrt wäre. Seither kommt es immer wieder zu<br />

gewalttätigen Übergriffen, zu Anschlägen auf zivile<br />

<strong>und</strong> öffentliche Einrichtungen sowie zu militärischen<br />

Auseinandersetzungen zwischen US-Soldaten <strong>und</strong><br />

irakischen Kämpfern, wobei Letztere von den amerikanischen<br />

Besatzern als Aufständische bezeichnet<br />

werden. In den Kampfhandlungen kommen Granatwerfer,<br />

Straßenbomben, kleine Handfeuerwaffen <strong>und</strong><br />

Panzerfäuste zum Einsatz. Zudem sprengen sich<br />

Selbstmordattentäter mit Bomben in die Luft. Zusätzlich<br />

dazu werden die irakischen Ölleitungen <strong>und</strong> -förderanlagen<br />

sabotiert. Auf beiden Seiten sind Tote <strong>und</strong><br />

Verletzte zu beklagen, auch die Zahl der zivilen Opfer<br />

steigt ständig <strong>und</strong> die fortwährenden Kampfhandlungen<br />

lösten in den letzten Jahren eine Massenflucht aus<br />

dem Irak in die Nachbarstaaten, vor allem nach Jordanien<br />

<strong>und</strong> Syrien, aus.<br />

Zwischen 2003 <strong>und</strong> Frühjahr 2007 starben im<br />

Irakkrieg über 3 000 US-Soldaten <strong>und</strong> über 20 000<br />

wurden verletzt. Die meisten von ihnen waren junge<br />

Männer im Alter zwischen 18 <strong>und</strong> 22 Jahren. Nach<br />

offiziellen Quellen wie einem Bericht der Vereinten<br />

Nationen starben auf irakischer Seite bis zum Frühjahr<br />

2007 an die 150 000 Iraker.<br />

Aus geographischer Sicht bemerkenswert ist die<br />

Tatsache, dass der Irakkrieg auch die Beziehungen<br />

der führenden Weltnationen untereinander beeinflusst<br />

hat. Nicht alle Staatsregierungen sind mit der<br />

globalen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten <strong>und</strong><br />

deren Hang zu einseitig geopolitischen Aktionen<br />

einverstanden, wie sich an den Reaktionen auf den<br />

Irakkrieg, vor allem auch ausgelöst durch den Druck<br />

der jeweiligen Bevölkerungen auf ihre Regierungen,<br />

zum Beispiel durch Demonstrationen, zeigte: Während<br />

die USA <strong>und</strong> Großbritannien ihre Truppen<br />

gemeinsam in den Irak schickten, lehnten andere<br />

Staaten wie Deutschland <strong>und</strong> Frankreich den Irakkrieg<br />

kategorisch ab. Länder wie Bulgarien, die<br />

Mongolei oder Äthiopien befürworteten andererseits<br />

den Irakkrieg. Es wird angenommen, dass die<br />

Unterstützung der USA an die Hoffnung auf wirtschaftliche<br />

Unterstützung von Seiten der USA geb<strong>und</strong>en<br />

war.<br />

internationale <strong>und</strong> supranationale<br />

Organisationen<br />

sowie Formen der G lo b a l<br />

G o v e rn a n c e<br />

Neben einzelnen Staaten als den Hauptakteuren der<br />

Politischen Geographie wurden während des letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts auch internationale <strong>und</strong> supranationale<br />

Organisationen immer wichtiger. Diese Organisationen<br />

gewinnen an Bedeutung, wenn es darum geht,<br />

den Einfluss von politischen Grenzen zu vermindern<br />

<strong>und</strong> einen erleichterten Austausch von Gütern <strong>und</strong><br />

Informationen zu ermöglichen oder auch die Nutzung<br />

gemeinsamer Ressourcen wie zum Beispiel<br />

Wasser besser zu koordinieren.<br />

Transnationale politische<br />

I Integration____________<br />

Unter einer internationalen Organisation versteht<br />

man den Zusammenschluss <strong>und</strong> die Kooperation<br />

von mindestens zwei Staaten auf politischer <strong>und</strong>/<br />

oder wirtschaftlicher Ebene. Zu den weithin bekannten<br />

Beispielen gehören heute die Vereinten Nationen<br />

(UN) (Abbildung 10.22), die OECD (Organization<br />

for Economic Cooperation and Development), die<br />

OPEC (Organization of Petroleum Exporting Countries)<br />

<strong>und</strong> die ASEAN (Association of South-East<br />

Asian Nations). Wenn diese Organisationen auch<br />

ganz unterschiedliche Ziele verfolgen, so bündeln<br />

sie doch alle die Interessen <strong>und</strong> Bedürfnisse mehrerer<br />

Länder, ohne dabei deren Souveränität zu untergraben.<br />

Die Mitgliedstaaten dieser Organisationen sind<br />

in Abbildung 10.23 wiedergegeben.<br />

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden<br />

nicht nur große internationale Organisationen gegründet,<br />

die zunehmend an Bedeutung gewannen,<br />

sondern es entstanden auch neue überregionale Kooperationen.<br />

Sie können, wie im Falle des gemeinsa-


Internationale <strong>und</strong> supranationale Organisationen sowie Formen der G lobal Governance 619<br />

10.22 Die Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Nach dem Zweiten Weltkrieg bemühte man sich erneut um die Gründung<br />

einer internationalen Organisation, die auf internationaler Ebene Frieden <strong>und</strong> Sicherheit gewährleisten sollte. Vom 25. April bis<br />

zum 26. Juni 1945 trafen sich Vertreter von 50 Staaten auf einer United Nations Conference in San Francisco (der Name „United<br />

Nations“ wurde erstmals in der Declaration by United Nations am 1. Januar 1942 verwendet). Basierend auf Vorschlägen von<br />

Vertretern aus China, der Sowjetunion, Großbritannien <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten wurde die Charta der Vereinten Nationen von den<br />

anwesenden Vertretern der 50 Staaten unterschrieben. Am 24. Oktober 1945 wurde die Charta ratifiziert. Die Vereinten Nationen -<br />

mit Sitz in New York - bestehen aus einem Sicherheitsrat, in dem die fünf ständigen Mitglieder USA, Großbritannien, China,<br />

Frankreich <strong>und</strong> Russland vertreten sind, <strong>und</strong> zehn nichtständigen Vertretern. Nur die fünf ständigen Mitglieder besitzen ein<br />

Vetorecht. Gleichzeitig mit den Vereinten Nationen wurden auch der Internationale Währungsfond (IWF) <strong>und</strong> die Weltbank ins Leben<br />

gerufen. Die US-Regierung war der Auffassung, der Zweite Weltkrieg sei letztlich Folge des zusammenbrechenden Welthandels<br />

<strong>und</strong> der Weltwirtschaftskrise gewesen. Der Internationale Währungsfond <strong>und</strong> die Weltbank sollten mit Krediten Währungen stützen<br />

sowie Handel <strong>und</strong> Wirtschaft fördern. (Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Füller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa<br />

Barbara, CA. Die Bezeichnung „Dymaxion“ <strong>und</strong> das Füller Projection Dymaxion Map Design sind eingetragene Warenzeichen<br />

des Buckminster Füller Institute, Santa Barbara, CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

men Betriebs des schweizerisch-französischen Flughafens<br />

Basel-Mulhouse, sehr spezifischer Natur<br />

sein, sie können aber auch eher generellen Charakter<br />

haben, wie das Beispiel des North American Free<br />

Trade Agreement (NAFTA) verdeutlicht. Dieses<br />

Bündnis fasst Kanada, die Vereinigten Staaten <strong>und</strong><br />

Mexiko in einem Handelsraum zusammen. Heute<br />

gibt es derlei regionale Organisationen <strong>und</strong> Übereinkünfte<br />

auf den unterschiedlichsten Gebieten bis hin<br />

zur Regelung der Nutzung internationaler Wasserreserven<br />

(zum Beispiel die Great Lakes in Nordamerika<br />

oder die Flusssysteme von Rhein <strong>und</strong> Donau).<br />

Andere koordinieren eine gemeinsame Raumplanung<br />

oder die Entwicklung des Tourismus. So sollen gemeinsame<br />

Probleme rational <strong>und</strong> ohne Behinderung<br />

durch politische Grenzen gelöst werden. Zudem<br />

schaffen sie größere Bezugsräume für die Verfolgung<br />

politischer, wirtschaftlicher, sozialer <strong>und</strong> kultureller<br />

Ziele.<br />

Im Unterschied zu internationalen Organisationen<br />

schränken supranationale Organisationen die Souveränität<br />

der einzelnen Staaten ein. Durch gemeinsame<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> ihre Durchsetzung auf nationaler<br />

Ebene geben die einzelnen Länder im Interesse<br />

des gemeinsamen Ziels einen Teil ihrer staatlichen<br />

Souveränität auf. Die Europäische Union (EU) ist<br />

vielleicht das beste Beispiel einer solchen überstaatlichen<br />

Organisation (Abbildung 10.24).


620 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Kubd<br />

v ' '.v<br />

.,3 3 ,, ^ i><br />

Vereinigte<br />

, Arabische Emirate<br />

(1967)<br />

CO M ECO N , 1949 gegründet<br />

m O PEC , 1960 gegründet<br />

1 ^ 1 OECD, 1961 gegründet<br />

Libyen<br />

^ i (1962)<br />

Ji969) .<br />

I<br />

I ASEAN, 1967 gegründet<br />

1985 Ja h r des Beitritts<br />

Gabun^<br />

(1975)<br />

10.23 Internationale Wirtschaftsgemeinschaften Zur gemeinsamen Regulierung der Weltmarktpreise für Rohöl fanden sich<br />

im Jahre 1960 die Staaten der OPEC (Organization of Petroleum Exporting Countries) zusammen. Die ASEAN (Association of<br />

Southeast Asian Nations), 1967 gegründet, zielt auf die wirtschaftliche Förderung Südostasiens. Die OECD (Organization of Economic<br />

Cooperation and Development) wurde 1961 von den Vereinigten Staaten, Kanada <strong>und</strong> 18 europäischen Staaten gegründet. Ihre<br />

Aufgabe ist es, finanzielle Sicherheiten zu gewähren <strong>und</strong> dadurch den internationalen Handel zu fördern. Organisationen wie<br />

diese sind Ausdruck der Tatsache, dass Staaten allein seit geraumer Zeit nicht mehr in der Lage sind, ihre eigene wirtschaftliche<br />

Entwicklung voranzutreiben. 1949 entstand der COMECON (Council of Mutual Economic Assistance), eine Organisation, die den<br />

Handel innerhalb der kommunistischen <strong>und</strong> sozialistischen Staaten fördern sollte. Im Jahre 1991 wurde diese Organisation aufgelöst.<br />

(Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung<br />

„Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion^^ Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Fuller Institute,<br />

Santa Barbara, CA © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

Schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg erkannten<br />

die führenden Politiker Europas, dass die kleinräumige<br />

Staatenstruktur dem zunehmenden Wettbewerb<br />

im Rahmen globaler Politik <strong>und</strong> Wirtschaft im<br />

Wege stand. Sie strebten nach einer Einheit, welche<br />

trotzdem die wichtigsten Merkmale von Souveränität<br />

<strong>und</strong> Individualität bewahren sollte. Gleichzeitig sollten<br />

ein effizientes innereuropäisches Handelssystem<br />

<strong>und</strong> ein international wettbewerbsfähiger B<strong>und</strong> entstehen.<br />

Auch wollte man mit diesem Zusammenschluss<br />

die vormaligen Kontrahenten in den Weltkriegen<br />

auf ihre gemeinsamen Interessen fokussieren<br />

<strong>und</strong> damit die Basis für einen dauerhaften Frieden in<br />

Europa schaffen. Das Ziel war, einen gemeinsamen<br />

Wirtschaftsraum <strong>und</strong> politischen Raum zu schaffen,<br />

in dem sich Menschen, Güter, Dienstleistungen <strong>und</strong><br />

Kapital vor allem aber auch Informationen ungehindert<br />

bewegen können. Mit dem Vertrag von Amsterdam<br />

1999, unter Berücksichtigung des Übereinkommens<br />

von Schengen 1995, hat es sich die Europäische<br />

Union zum Ziel gesetzt, einen gemeinsamen Sicherheits-<br />

<strong>und</strong> Rechtsraum zu errichten. Das sollte auch<br />

heißen, dass die nationalen Politikbereiche Justiz <strong>und</strong><br />

Inneres besser abgestimmt <strong>und</strong> in manchen Bereichen<br />

sogar angeglichen werden sollten. Die Europäische<br />

Union wurde von einer bloßen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

zu einer Rechtsgemeinschaft. Seit 1. Januar<br />

2007 zählt die Europäische Union 27 Mitglieder. Es<br />

gibt ein Europäisches Parlament, auf nationaler Ebene<br />

Wahlen ins Parlament <strong>und</strong> einen eigenen Gerichtshof.<br />

Seit 1. Januar 2002 haben jene Staaten,<br />

die die Konvergenzkriterien (beispielsweise Preisstabilität<br />

<strong>und</strong> stabiler Wechselkurs gegenüber der Währung<br />

anderer Mitgliedsstaaten) erfüllt haben, eine gemeinsame<br />

Währung, den Euro. In den letzten Jahren<br />

kontrovers diskutiert wurde eine gemeinsame Verfassung,<br />

auch verstanden als Gr<strong>und</strong>lage für eine gemeinsame<br />

Außenpolitik. Schließlich wurde in mehreren<br />

nationalen Befragungen jedoch gegen ihre Einführung<br />

entschieden. Für viele Menschen würde die Ver-


Internationale <strong>und</strong> supranationale Organisationen sowie Formen der Global Governance 621<br />

3 Island \<br />

A tla n tis c h e jL<br />

O ze a n<br />

10.24 Die Europäische Union Ziel der Europäischen Union ist die wirtschaftliche Integration <strong>und</strong> Kooperation der Mitgliedstaaten.<br />

Sie wurde am 1. November 1993 gegründet, als zwölf Mitglieder der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (Belgien, Dänemark,<br />

Deutschland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Portugal <strong>und</strong> Spanien) das<br />

Abkommen von Maastricht ratifizierten. Mit der Ratifizierung erfolgte die Umbenennung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

in Europäische Union, die auch eine politische Gemeinschaft bilden sollte. Das Abkommen von Maastricht erleichterte die Zoll<strong>und</strong><br />

Reisebestimmungen <strong>und</strong> legte die Basis für eine gemeinsame Währung, den Euro. Die Europäische Union besteht zum einen<br />

aus den supranationalen Einrichtungen der Europäischen Kommission <strong>und</strong> des Europäischen Parlaments, zum anderen aus den<br />

Regierungen der Mitgliedstaaten, die Vertreter in den Ministerrat entsenden. 2007 erfolgte die vorerst letzte Erweiterung der<br />

Europäischen Union.<br />

pflichtLing auf eine gemeinsame Verfassung die finale<br />

Aufgabe nationalstaatlicher Souveränität bedeuten.<br />

Globalisierung, transnationale<br />

Governance <strong>und</strong> ihre Einflüsse<br />

I auf den Staat_______________<br />

Globalisierung heißt, wie bereits diskutiert, zum<br />

einen eine Neuorganisation der Weltwirtschaft <strong>und</strong><br />

zum anderen eine Veränderung geopolitischer Konstellationen.<br />

Einige Globalisierungsexperten —auch<br />

hyper globalists genannt - meinen, dass durch die Globalisierung<br />

der Einfluss <strong>und</strong> die Bedeutung von Nationalstaaten<br />

verringert werden, manche sagen sogar<br />

das Ende des Nationalstaates voraus. Nach Annahme<br />

mancher Forscher sind moderne Staaten nicht in der<br />

Lage, den Bedürfnissen einer globalisierten Wirtschaft<br />

zu entsprechen, die anders als auf Territorien<br />

begrenzte Staaten transnational, das heißt grenzüberschreitend<br />

<strong>und</strong> mit Niederlassungen r<strong>und</strong> um den<br />

Globus, agiert. Auch wenn es darüber verschiedene<br />

Meinungen gibt, steht außer Frage, dass sich die Nationalstaaten<br />

durch die Globalisierung gravierend<br />

verändern <strong>und</strong> ihre Rolle sowohl in nationaler als<br />

auch internationaler Hinsicht neu definieren müssen.<br />

Von 1945 bis zum Fall der Berliner Mauer 1989<br />

wurde die Weltpolitik im Wesentlichen von zwei Supeimächleii<br />

bestiiiiiiit: Die USA im Zentrum des kapitalistischen<br />

Westens <strong>und</strong> die Sowjetunion mit den<br />

sozialistischen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Der<br />

Fall der Berliner Mauer bedeutete gleichsam auch das<br />

Ende des Kommunismus. Die politische Zweiteilung


622 10 Die Geographie,politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

der Welt wurde aufgehoben un,d auf Gr<strong>und</strong>lage<br />

der freien Marktwirtschaft entwickelte sich eine<br />

neue Weltordnung. Damit bekamen neue politische<br />

Kräfte <strong>und</strong> Institutionen neben . dem Nationalstaat<br />

wachsende Bedeutung. / ‘<br />

Bereits in den Kapiteln 2 <strong>und</strong> 7 w rd e die Bedeutung<br />

überregionaler <strong>und</strong> internationaler Organisationen<br />

wie der EU, des Nordamerikaniseben Freihandelsabkommens<br />

(NAFTA), der ASEAN (Association<br />

of Southeast Asian Nations), der Organisation erdölexportierender<br />

Länder (OPEC) <strong>und</strong> der Welthandelsorganisation<br />

(WTO) für die aktuelle Entwicklung der<br />

Weltwirtschaft hervorgehoben. Sie sind allesamt bisher<br />

einzigartige Strukturen, denn sie formulieren den<br />

Anspruch, die Welt lediglich nach den Gesetzen des<br />

freien Marktes, unabhängig von nationalen Regulationen,<br />

zu organisieren. Die zunehmende Bedeutung<br />

dieser den Handel erleichternden Organisationen<br />

zeigt deutlich, dass die Welt sich nicht nur in einen<br />

globalen Wirtschaftsraum verwandelt, sondern dass<br />

es weltweit zu einschneidenden geopolitischen Veränderungen<br />

kommt. Die Rolle <strong>und</strong> die Bedeutung<br />

der Nationalstaaten ändern sich. Es entstehen neue<br />

politische Institutionen, Interessensgemeinschaften<br />

<strong>und</strong> Netzwerke, mit denen es zu kommunizieren<br />

gilt (Abbildung 10.25).<br />

Nationalstaaten hören nicht auf zu existieren, aber<br />

sie erfahren entscheidende Veränderungen im Hinblick<br />

auf ihre Rolle als politische Akteure, <strong>und</strong> sie sehen<br />

sich sowohl auf internationaler als auch nationaler<br />

Ebene neuen Akteuren gegenüber. Der Geograph<br />

Andrew Leyshon zeigte, wie in den 1980er-Jahren ein<br />

transnationales Finanznetzwerk aufgebaut wurde, das<br />

sich der Kontrolle der Staaten entzieht. Sogar einflussreiche<br />

Akteure wie die USA sind nicht mehr in<br />

der Lage, steuernd einzugreifen. Die zunehmende Bedeutung<br />

internationaler Ströme <strong>und</strong> Verflechtungen<br />

zeigt, dass der Staat seine Rolle als entscheidende politische<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Gestaltungskraft weitgehend<br />

verloren hat.<br />

Durch die Globalisierung wird die Welt immer<br />

weiter vernetzt. Menschen, Waren <strong>und</strong> Informationen<br />

gelangen schneller von einem Ort zum andern,<br />

Distanzen haben sich verringert. Die Welt wird<br />

zum Dorf. Dasselbe gilt für Politik <strong>und</strong> politische Entscheidungen,<br />

auch diese haben eine neue globale<br />

Reichweite. Es bauen sich mittels schneller Kommunikation<br />

komplexe Unterstützungsnetzwerke auf, die<br />

Interaktionen <strong>und</strong> Entscheidungsfindungsprozesse in<br />

einem globalen Maßstab fördern. Beispielsweise<br />

konnten die Demonstanten gegen das WTO-Treffen<br />

1999 in Seattle mit Hilfe der modernen Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> des Internets ihre Protestaktionen welt-<br />

10.25 Wachstum von staatlichen <strong>und</strong> internationalen<br />

Organisationen <strong>und</strong> Nichtregierungsorganisationen im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert Die Anzahl der Staaten hat im Laufe des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts stetig zugenommen. Noch gravierender, besonders<br />

seit den 1960er-Jahren, war die Zunahme internationaler<br />

Organisationen (Intergovernmental Organizations, IGO)<br />

<strong>und</strong> internationaler Nichtregierungsorganisationen (International<br />

Nongovernmental Organizations, INGO). Während es 1909<br />

noch 37 internationale Organisationen <strong>und</strong> 176 internationale<br />

Nichtregierungsorganisationen gab, waren es 1996 bereits<br />

260 beziehungsweise 5 472. Ein anderes wesentliches Merkmal<br />

der Internationalisierung von Regierungsgewalt <strong>und</strong> Steuerung<br />

(governance) ist die Anzahl internationaler Verträge, die von<br />

6 351 im Jahr 1946 auf 14 061 im Jahr 1975 gestiegen ist.<br />

Die Nationalstaaten sind zwar weiterhin die Hauptakteure innerhalb<br />

ihrer nationalen Kontexte, allerdings haben sie einen<br />

Teil ihrer Regierungsverantwortlichkeiten an internationale<br />

Regierungs- <strong>und</strong> Nichtregierungsorganisationen abgegeben.<br />

weit planen <strong>und</strong> koordinieren. Die Widerstände von<br />

Seattle waren Ausdruck einer wahrhaft globalen Politik:<br />

Es standen sich institutionalisierte Machtpolitik<br />

<strong>und</strong> politische Widerstandsbewegung gegenüber, <strong>und</strong><br />

beide bezogen sich beziehungsweise bedienten sich<br />

der Instrumente der Globalisierung, zum Beispiel<br />

der schnellen Verbreitung von Informationen. Wie<br />

bereits in Kapitel 4 ausführlicher beschrieben, sind<br />

es vor allem auch Umweltorganisationen, die weltweit<br />

agieren, deren Mitglieder ebenfalls aus der ganzen<br />

Welt kommen <strong>und</strong> die ihre Interessen <strong>und</strong> Anliegen<br />

zunehmend global durchsetzen.<br />

Bei der zunehmenden Institutionalisierung der<br />

Weltpolitik standen weniger zwischenstaatiiehe Beziehungen<br />

<strong>und</strong> Fragen der nationalen Sicherheit im


Internationale <strong>und</strong> supranationale Organisationen sowie Formen der G lobal Governance 623<br />

Vordergr<strong>und</strong>, sondern vielmehr Fragen der wirtschaftlichen,<br />

ökologischen <strong>und</strong> sozialen Sicherheit.<br />

Die massiv gesteigerten Austauschbeziehungen <strong>und</strong><br />

Ströme von Handelsgütern, ausländischen Direktinvestitionen,<br />

Finanzen <strong>und</strong> Dienstleistungen, sowie<br />

der Tourismus <strong>und</strong> internationale Migration, der vermehrte<br />

Austausch von Ideen <strong>und</strong> Kulturgütern, aber<br />

auch die zunehmende globale Verbreitung von Kriminalität<br />

<strong>und</strong> Drogen begünstigten die Entstehung<br />

globaler <strong>und</strong> internationaler Institutionen. Sie ermöglichen<br />

letzüich den Austausch, den sie gleichzeitig<br />

auch regulieren. Die modernen Nationalstaaten<br />

werden immer stärker in globale <strong>und</strong> multilaterale<br />

Beziehungen eingeb<strong>und</strong>en. Dadurch verlieren sie<br />

allerdings auch einige ihrer früheren Verantwortungsbereiche<br />

wie zum Beispiel die Aufrechterhaltiing<br />

der sozialen Fürsorge oder die Garantie für<br />

Sicherheit.<br />

Die Einbettung der Staaten in neue globale Abläufe,<br />

die Entstehung neuer supranationaler <strong>und</strong> internationaler<br />

Institutionen <strong>und</strong> Organisationen, die große<br />

Bedeutung von transnationalen Finanzgemeinschaften<br />

<strong>und</strong> die Zunahme transnationaler sozialer Bewegungen<br />

<strong>und</strong> Organisationen wird mit der Bezeichnung<br />

internationales Regime umschrieben. Alle<br />

Arten von politischen Entscheidungen werden zunehmend<br />

in einem internationalen Kontext getroffen:<br />

Das bedeutet, dass sogar Stadtverwaltungen<br />

<strong>und</strong> lokale Interessensgruppen, von Partnerstädten<br />

bis hin zu Automobilclubs, weltweite Netzwerke aufbauen<br />

<strong>und</strong> nicht nur inner- sondern auch außerhalb<br />

des Nationalstaates tätig werden. Ein Beispiel hierfür<br />

ist die internationale Menschenrechtsbewegung, die<br />

in den letzten 50 Jahren bedeutend an Einfluss gewonnen<br />

hat.<br />

Menschenrechte, wie zum Beispiel das Recht auf<br />

Freiheit <strong>und</strong> Gleichheit vor dem Gesetz, sind in den<br />

meisten Gesellschaften als Gr<strong>und</strong>rechte des Menschen<br />

anerkannt. Bis zum Zweiten Weltkrieg war<br />

es vor allem das Bewusstsein einzelner Staaten, dass<br />

alle Bürger, egal ob Gefängnisinsassen oder Schulkinder,<br />

durch Verfassung <strong>und</strong> Gesetzgebung eine korrekte<br />

Behandlung zugesichert bekommen müssen.<br />

Seit den späten 1940er- <strong>und</strong> 1950er-Jahren haben<br />

fast alle Staatsregierungen anerkannt, dass Menschenrechte<br />

politisch <strong>und</strong> rechtlich entsprechend verankert<br />

werden müssen. Gleichzeitig wird auf Gr<strong>und</strong>lage dieser<br />

Festschreibungen akzeptiert, dass internationale<br />

Organisationen bei Verletzung der von der UN-Generalversammlung<br />

1948 verabschiedeten „Allgemeinen<br />

Erklärung der Menschenrechte“ intervenieren<br />

dürfen. 50 Jahre später gingen die Vereinten Nationen<br />

für den Schutz <strong>und</strong> die Einhaltung der Menschenrechte<br />

noch einen Schritt weiter <strong>und</strong> gründeten<br />

1998 den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH).<br />

Anlässlich dieses Aktes sprach der damalige UN-Generalsekretär<br />

Kofi Annan die Hoffnung aus, „dass der<br />

Internationale Strafgerichtshof die Schuldigen bestrafen<br />

<strong>und</strong> sowohl den überlebenden Opfern als auch<br />

den betroffenen Gemeinschaften Gerechtigkeit bringen<br />

wird. Mehr noch hoffen wir allerdings, dass<br />

durch seine Einrichtung zukünftige Kriegsverbrechen<br />

verhindert werden können <strong>und</strong> dass der Tag in greifbare<br />

Nähe rückt, an dem jeder, egal ob Machthaber,<br />

Staat, Militärdiktatur oder Armee, bestraft wird, der<br />

irgendwo auf der Welt gegen die Menschenrechte<br />

verstößt“.<br />

Der IStGH ist als dauerhafte Einrichtung gedacht,<br />

durch die es möglich ist, die Täter <strong>und</strong> Verantwortlichen<br />

von Genozid, ethnischer Säuberung, sexueller<br />

Gewalt <strong>und</strong> Verstümmelung vor Gericht zu bringen<br />

<strong>und</strong> zu verurteilen. Der IStGH hat das Mandat, Personen<br />

(jedoch keine Staaten) für Verbrechen, die seit<br />

Juli 2002 begangen wurden, zur Verantwortung zu<br />

ziehen. Die Möglichkeit den ISTGH anzurufen, begründet<br />

sich mit dem Gr<strong>und</strong>satz der Komplementarität.<br />

Das bedeutet, er kann nur dann strafverfolgend<br />

tätig werden, wenn Staaten nicht willens oder in der<br />

Lage sind, eine schwere Straftat ernsthaft zu verfolgen.<br />

Obwohl es ganz offensichtlich ist, dass innerhalb<br />

der Politik die internationale Ebene in den letzten<br />

50 Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen<br />

hat, was sich vermutlich auch im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

fortsetzen wird, muss gesagt werden, dass nicht alle<br />

Staaten den IStGH akzeptieren. Die sieben UN-Mitgliedsstaaten<br />

USA, China, Irak, Israel, Libyen, Katar<br />

<strong>und</strong> Jemen sprachen sich gegen die Gründung des<br />

IStGH aus.<br />

Es wird oft vergessen, dass zu den Internationalen<br />

Menschenrechten auch die Kinderrechtskonvention<br />

der Vereinten Nationen (Resolution 44/25; 20. November<br />

1989) gehört. 1989 erließen die Vereinten<br />

Nationen das Übereinkommen über die Rechte des<br />

Kindes, kurz UN-Kinderrechtskonvention, die mit<br />

Ausnahme von den USA <strong>und</strong> Somalia von allen Nationen<br />

weltweit ratifiziert wurde. Dennoch werden<br />

bis heute zahlreiche Gr<strong>und</strong>rechte von Kindern nicht<br />

anerkannt beziehungsweise missachtet. Die Konvention<br />

sichert Kindern auf der ganzen Welt das Recht<br />

auf Leben, Freiheit, Bildung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge<br />

zu. Neben anderen wichtigen Schutzmaßnahmen<br />

soll das Abkommen Kinder bei bewaffneten Konflikten<br />

vor Diskriminierung, Folter, Misshandlung, unmenschlicher<br />

oder entwürdigender Behandlung oder<br />

Bestrafung sowie wirtschaftlicher Ausbeutung schützen,<br />

<strong>und</strong> sie garantiert ihnen Rechtsschutz. Die Kon-


624 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

vention ist mit Ausnahme der zwei oben erwähnten<br />

Staaten anerkannt, dennoch werden weiterhin Straßenkinder<br />

von der Polizei misshandelt, gefoltert<br />

oder umgebracht, Kinder als Kindersoldaten angeworben<br />

oder entführt, um sie gegen ihren Willen<br />

zu rekrutieren, zu Kinderarbeit unter extremen Bedingungen<br />

oder zur Prostitution gezwungen. Besonders<br />

Flüchtlingskinder, die meist von ihren Familien<br />

getrennt sind, erfahren ökonomische Ausbeutung,<br />

sexuellen Missbrauch oder häusliche Gewalt. Eine<br />

der größten Fierausforderungen des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

besteht darin, die Versprechen einzuhalten, die in der<br />

UN-Kinderrechtskonvention gegeben wurden.<br />

Die Anerkennung <strong>und</strong> Achtung der Menschenrechte<br />

hat unter anderem deshalb zugenommen,<br />

weil sowohl Regierungs- als auch Nichtregierungsgruppen<br />

<strong>und</strong> Organisationen sich international<br />

über Konferenzen, E-Mails, Listserver <strong>und</strong> Veranstaltungen<br />

miteinander vernetzen <strong>und</strong> gemeinsam über<br />

aktuelle Probleme <strong>und</strong> Fragen diskutieren können.<br />

Das Phänomen, dass über die ganze Welt verteilt Personen<br />

<strong>und</strong> Gruppen eine gemeinsame Sache vertreten,<br />

bezeichnet man als globale Zivilgesellschaft.<br />

Sie setzt sich aus verschiedenen Institutionen zusammen,<br />

die im Spannungsfeld von privatem Markt <strong>und</strong><br />

Staat agieren.<br />

Der nächste Abschnitt wendet sich nach der internationalen<br />

nun der nationalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen<br />

Ebene zu. Politische Geographie bezieht alle politischen<br />

Organisationsebenen mit ein.<br />

Die Wechselbeziehungen<br />

zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie<br />

Politische Geographie kann auf zweierlei Weise verstanden<br />

werden. Die eine Ausrichtung begreift Politische<br />

Geographie als Politik der Geographie. Alles<br />

geographische Wissen ist politisch, Geographie hat<br />

Einfluss auf die Politik. Dieser Zugang betont die<br />

räumliche Verteilung <strong>und</strong> Differenzierung von Menschen<br />

<strong>und</strong> Objekten, aber auch alle geographischen<br />

Konzepte, Vorstellungen <strong>und</strong> Interpretationen davon,<br />

welche die politische Praxis ganz konkret beeinflussen.<br />

Regionalismus <strong>und</strong> Partikularismus - Phänomene,<br />

auf die später eingegangen wird - sind Beispiele<br />

für den bedeutsamen Einfluss der Geographie<br />

beziehungsweise der geographischen Argumentationen<br />

auf politische Entscheidungen. Die Sichtweise<br />

der Politik der Geographie zeigt auch, dass Politik<br />

auf allen Ebenen des menschlichen Daseins stattfindet,<br />

gleich ob auf der internationalen Ebene oder im<br />

alltagsweltlichen Kontext von Nachbarschaft, Familie<br />

<strong>und</strong> eigenem Körper<br />

Die zweite Ausrichtung versteht unter Politischer<br />

Geographie die Geographie der Politik, Jede politische<br />

Praxis ist geographisch, hat Auswirkungen auf<br />

den Raum <strong>und</strong> unsere Raumvorstellungen. Dieser<br />

Zugang untersucht im Gegensatz zur ersten Definition<br />

den Einfluss politischer Handlungen <strong>und</strong> Strategien<br />

auf die Geographie. Die politischen Karten des<br />

Nahen Ostens zeigen, wie sehr sich die Geographie<br />

dieser Region seit 1923 infolge internationaler, nationaler,<br />

regionaler <strong>und</strong> lokaler Politik gewandelt hat<br />

(Exkurs 10.4 „Fenster zur Welt - Der israelisch-palästinensische<br />

Konflikt“).<br />

I Die Politik der Geographie<br />

Territorium versteht man oft auch als Bezugsraum,<br />

mit dem sich eine bestimmte Gruppe identifiziert.<br />

Damit eng verb<strong>und</strong>en ist die Vorstellung von Selbstbestimmung,<br />

dem Recht einer Gruppe mit einer bestimmten<br />

politisch-territorialen Identität, über sich<br />

selbst <strong>und</strong> ihr Territorium frei <strong>und</strong> unabhängig zu<br />

entscheiden.<br />

I<br />

Regionalismus <strong>und</strong> Partikularismus<br />

Normalerweise leben mehrere Gruppen unterschiedlicher<br />

religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit innerhalb<br />

eines Staates. Wenn binnenstaatliche Grenzen<br />

nicht mit der tatsächlichen Verteilung einzelner Bevölkerungsgruppen<br />

mit jeweils spezifischen Identitäten<br />

übereinstimmen, kann dies zu Gebietsansprüchen<br />

führen. Derlei regionale Bewegungen können friedlicher<br />

Natur oder konfliktreich sein. Regionalismus<br />

beschreibt den Versuch einer Bevölkerungsgruppe,<br />

ihre - innerhalb eines Staates oder aber über Ländergrenzen<br />

hinweg - territorial definierten, kulturellen,<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Interessen gegenüber<br />

einer staatlichen Zentralmacht oder supranationalen<br />

Organisation durchzusetzen. Meist geht es vor<br />

allem um die Bewahrung ihrer regionalen Identität.<br />

Regionalismus äußert sich beispielsweise in der Forderung<br />

nach mehr Autonomie bis hin zur Eigenstaatlichkeit,<br />

aber auch in der Forderung nach Sprachautonomie<br />

innerhalb des jeweiligen Staates.<br />

Regionalismus bezieht sich unter anderem auf ethnische<br />

Gruppen, die sich gegen den Einfluss des Staa­


Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie 625 10<br />

tes wenden <strong>und</strong> politische Selbstbestimmung anstreben.<br />

Die Basken repräsentieren eine solche regionalistische<br />

Bewegung, deren Ursprünge in die Zeit der<br />

Industrialisierung <strong>und</strong> Modernisierung zu Beginn<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zurückreichen. Sie gehören zu<br />

den ältesten Völkern Europas, mit einer eigenen Sprache<br />

<strong>und</strong> Kultur. Sie fürchteten, dass die neuen Werte<br />

<strong>und</strong> Normen ihre vorindustriellen Traditionen gefährden<br />

würden. Aus diesem Gr<strong>und</strong> strebten die baskischen<br />

Provinzen im nördlichen Spanien <strong>und</strong> südlichen<br />

Frankreich im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nach Unabhängigkeit.<br />

Trotz ihres über 100 Jahre andauernden Unabhängigkeitskanipfs<br />

haben die spanischen <strong>und</strong> französischen<br />

Basken weiterhin nur Minderheitenstatus<br />

<strong>und</strong> eine sehr eingeschränkte Autonomie. Seit den<br />

1950er-Jahren kam es - vor allem im spanischen Baskenland<br />

- vermehrt zu Unruhen <strong>und</strong> Terroranschlägen.<br />

Weder der Wandel Spaniens zur parlamentarischen<br />

Demokratie noch die Gewährung der Autonomie<br />

vermochten den Drang der spanischen Basken<br />

nach Unabhängigkeit zu verringern (Abbildung<br />

10.26). Durch zahlreiche Verhaftungen versuchen<br />

französische, spanische <strong>und</strong> selbst baskische Lokalpolitiker<br />

seit mehr als 25 Jahren die baskische Freiheitsbewegung<br />

insbesondere die radikale ETA zu schwächen.<br />

Im Frühjahr 1993 hoffte man beispielsweise<br />

nach der Festnahme einiger Anführer der baskischen<br />

Untergr<strong>und</strong>organisation ETA in Frankreich, dass der<br />

Terrorismus dieser Gruppe nun ein Ende habe. Seither<br />

wurden Waffenruhen ausgerufen <strong>und</strong> wieder aufgekündigt<br />

sowie der politische Arm der ETA verboten.<br />

2004 wurde der ETA unter der Bedingung des<br />

Gewaltverzichts ein Dialogangebot gemacht. Erst<br />

im März 2006 erklärte die ETA einen dauerhaften<br />

Waffenstillstand, der bereits Ende desselben Jahres<br />

mit einem neuerlichen Bombenanschlag wieder gebrochen<br />

wurde. Auch unter den Basken auf der französischen<br />

Seite der Pyrenäen gibt es separatistische<br />

Bewegungen, die aber nie so vehement <strong>und</strong> gewalttätig<br />

waren wie jene in Spanien.<br />

Man muss nur die lange Liste territorialer Konflikte<br />

seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachten,<br />

um zu verstehen, in welchem Umfang ethnisch<br />

geprägter Territorialismus auch weiterhin die Politik<br />

der Geographie bestimmt. So kämpfen die Kurden<br />

nach wie vor für einen eigenen Staat, der von der Türkei,<br />

dem Irak <strong>und</strong> dem Iran unabhängig ist. Ein großer<br />

Teil der Französisch sprechenden Bevölkerung im<br />

kanadischen B<strong>und</strong>esstaat Quebec strebt noch immer<br />

nach vollständiger Unabhängigkeit, obwohl ihnen<br />

schon jetzt weitgehende Autonomie zugesichert<br />

wird. Im Jahre 1996 verfehlten die Separatisten in<br />

einer Volksabstimmung nur knapp die Mehrheit.<br />

10.26 Baskisches Unabhängigkeitsplakat Das Plakat<br />

wurde über der Eingangstür eines Ladens in Donostia (San<br />

Sebastian) in einer der baskischen Provinzen Spaniens angebracht.<br />

Es steht als Zeichen für den heftigen Widerstand der<br />

Basken gegen die Madrider Zentralregierung. Solange die<br />

Basken an ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit festhalten,<br />

werden auch die überall in Spanien verübten Terroranschläge<br />

nicht aufhören. Besonders interessant an diesem Plakat ist,<br />

dass es weder in Kastilisch (der offiziellen Landessprache)<br />

noch in Euskadi (der Sprache der Basken) verfasst ist.<br />

Offensichtlich richtet sich diese Botschaft, wie viele andere<br />

Erklärungen auch, an die Touristen, für die Donostia ein<br />

beliebtes Ziel geworden ist.<br />

Schließlich denke man nur an Jugoslawien, das entlang<br />

ethnischer Grenzen zerfiel (Abbildung 10.27),<br />

oder an die schottischen Bestrebungen zur Loslösung<br />

von Großbritannien.<br />

Regionalismus ist aber nicht unbedingt eine Folge<br />

ethnischer Unterschiede, vielmehr dienen diese häufig<br />

nur als Vorwand. Er kann auch, wie in Kalifornien,<br />

das Ergebnis wirtschaftlicher Überlegungen sein.<br />

1993 wurde den Wählern ein unverbindliches Referendum<br />

vorgelegt, in dem es um ein mehr als 100 Jahre<br />

altes Anliegen ging. Die Bewohner der nördlichen<br />

<strong>und</strong> überwiegend ländlichen Gebiete des US-B<strong>und</strong>esstaates<br />

stimmten für die Loslösung vom städtisch geprägten<br />

Landesteil im Süden. Dem Ergebnis liegt die<br />

Sorge zugr<strong>und</strong>e, dass der Süden durch seine politi-


10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Exkurs 10.4<br />

Fenster zur Welt -<br />

Der israelisch-palästinensische Konflikt<br />

Der Konflikt zwischen Israel <strong>und</strong> Palästina - trotz anhaltenden<br />

regionalen <strong>und</strong> internationalen Versuchen, Frieden in die Region<br />

zu bringen - <strong>und</strong> damit verb<strong>und</strong>en der Wunsch der Palästinenser<br />

nach Selbstbestimmung - hat eine komplexe Geschichte.<br />

Die Gewalt zwischen Israel <strong>und</strong> den Palästinensern<br />

brach im Herbst 2000, als der Friedenprozess am aussichtsreichsten<br />

erschien, erneut aus <strong>und</strong> hält bis heute an. Doch sind<br />

es nicht nur die jüngsten Gewaltakte, die es zu betrachten gilt,<br />

um den Konflikt <strong>und</strong> das Scheitern der vielen Friedensverhandlungen<br />

zu verstehen. Es braucht einen historischen Rückblick,<br />

denn wie im Falle des Irans, des Iraks <strong>und</strong> Kuwaits wird die<br />

politische Gegenwart <strong>und</strong> die geopolitische Situation der Region<br />

durch die von den Briten nach dem Ende des 1. Weltkriegs<br />

vorgenommene Aufteilung der Region bestimmt.<br />

Israel, als offizieller Staat der Juden, ist eine Neuschöpfung<br />

aus der Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Der Ursprung der Idee für<br />

einen eigenen Staat lag in der Entstehung des Zionismus,<br />

einer Bewegung, die Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in Europa aufkam.<br />

Das Hauptziel der Zionisten war die Gründung einer<br />

rechtlich anerkannten Heimat für das Jüdische Volk in Palästina.<br />

Tausende europäische Juden wanderten, beflügelt von der<br />

zionistischen Bewegung, Ende des 19. <strong>und</strong> Anfang des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts nach Palästina aus, wo nach dem Ende des Os-<br />

manischen Reichs 1917 die Briten die Kontrolle über Palästina<br />

<strong>und</strong> Transjordanien hatten. Mit der Balfour-Deklaration wurde<br />

den Zionisten von Seiten der Briten auch ein eigener Staat zugesichert.<br />

Für die ansässige, einheimische palästinensische<br />

Bevölkerung war das Eintreffen einer immer größeren Zahl<br />

an Jüdischen oder sympathisierenden Zuwanderern, die in Palästina<br />

ein Jüdisches Heimatland gründen wollten, gleich einem<br />

Einfall in das heilige islamische Land. Als Reaktion auf die zunehmenden<br />

Spannungen zwischen Arabern <strong>und</strong> Juden entschied<br />

die britische Mandatsmacht, die Jüdische Einwanderung<br />

nach Palästina von Ende der 1930er-Jahre bis zum<br />

Ende des Zweiten Weltkriegs einzuschränken. Trotzdem<br />

konnte der Konflikt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen<br />

nicht gelöst werden. 1947 erklärte Großbritannien, sich<br />

1948 aus Palästina zurückziehen zu wollen. Die Vereinten Nationen<br />

sollten sich um eine Lösung des Konflikts in Palästina<br />

bemühen. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen,<br />

unter dem Druck der USA, stimmte am 29. November 1947<br />

mit einer Zweidrittelmehrheit für den Plan, Palästina in einen<br />

Jüdischen <strong>und</strong> einen palästinensisch-arabischen Staat zu teilen.<br />

Der arabische Staat sollte 43 Prozent, der Jüdische 56 Prozent<br />

des Territoriums Palästinas umfassen <strong>und</strong> für Jerusalem,<br />

die heilige Stadt der Juden, Moslems <strong>und</strong> Christen, war ein „internationales<br />

Regime“ vorgesehen. Keine der beiden Gruppen<br />

sollte die alleinige Kontrolle über die Stadt haben. Der Plan der<br />

Vereinten Nationen wurde von der Jüdischen Bevölkerung akzeptiert,<br />

von den Arabern allerdings verärgert mit der Erklärung<br />

zurückgewiesen, dass es rechtlich nicht möglich sein<br />

kann, einer ursprünglich ansässigen Bevölkerung ihr Territorium<br />

zu nehmen.<br />

1948 brach der arabisch-israelische Krieg aus: Die militärisch<br />

schwachen Palästinenser wurden militärisch von Ägypten,<br />

Jordanien <strong>und</strong> dem Libanon sowie mit kleineren Einheiten<br />

von Syrien, dem Irak <strong>und</strong> Saudi-Arabien unterstützt. Sie wollten<br />

verhindern, dass weitere palästinensische Gebiete verloren<br />

gingen <strong>und</strong> zugleich den neu gegründeten Jüdischen Staat<br />

vernichten. Dieser erste arabisch-israelische Krieg von 1948<br />

bis 1949 endete mit der Niederlage der arabischen Truppen,<br />

<strong>und</strong> der Sicherung von 77 Prozent des ehemaligen Mandatsgebietes<br />

für den Jüdischen Staat, für Israel. 1950 erklärte Israel<br />

Jerusalem zur Hauptstadt, was allerdings nur von wenigen<br />

Ländern anerkannt wurde.<br />

Der israelische Staat behielt nach dem ersten arabisch-israelischen<br />

Krieg für 18 Jahre seine Grenzen bei, bis es 1967<br />

zum Sechstagekrieg kam. Israel brachte die Sinaihalbinsel,<br />

die Golanhöhen <strong>und</strong> den südwestlichen Zipfel Syriens unter<br />

seine Kontrolle. Auch der östliche Teil Jerusalems, der bis dahin<br />

von Jordanien kontrolliert worden war, wurde annektiert.<br />

Abbildung 10.4.1 zeigt, dass die Grenzen Israels bis in die<br />

1980er-Jahre unverändert blieben. Es kam in der Folge zu<br />

mehreren Aussöhnungsbemühungen mit Ägypten bis schließlich<br />

die gesamte Sinaihalbinsel 1988 wieder an Ägypten abgetreten<br />

wurde. Doch verschärfte sich die Situation in Israel<br />

selbst.<br />

In den 1970er-Jahren verschärfte sich der Konflikt zwischen<br />

Israel <strong>und</strong> den Palästinensern. H<strong>und</strong>erttausende Palästinenser<br />

wurden aus ihrer Heimat vertrieben. Das Land wurde<br />

administrativ neu organisiert <strong>und</strong> zahlreiche israelische Siedlungen<br />

errichtet. Damit einher ging die Zerstörung palästinensche<br />

Repräsentanz in der Legislative wirtschaftlich<br />

<strong>und</strong> politisch bevorzugt wird. Viele Bürger äußerten<br />

die Meinung, dass der Staat unkontrollierbar groß geworden<br />

sei <strong>und</strong> die Regierung immer weniger auf die<br />

Sorgen der Menschen reagiere. Auch wenn neben der<br />

Zustimmung zu jenem Referendum noch zahlreiche<br />

weitere Schritte notwendig sind (zum Beispiel die<br />

Billigung durch den Senat, den Gouverneur, die Bevölkerung<br />

<strong>und</strong> schließlich durch den Kongress der<br />

Vereinigten Staaten), ist die kalifornische Separatismusbewegung<br />

ein interessantes Beispiel für die Erscheinungsform<br />

des wirtschaftlich motivierten Regio-


Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie 627<br />

Teilungsplan der<br />

Vereinten Nationen 1947<br />

yJüdischer Staat<br />

internationale Zone<br />

(UN-Verwaitung)<br />

Arabischer Staat<br />

Ägypten<br />

Saudi-<br />

Arabien<br />

Saudi-<br />

Arabien<br />

' — ^Rotes Meer\<br />

^ o i e s Meer .<br />

0 25 50 Kilometer<br />

'— rilotes Meer<br />

Israel 1967<br />

Libanon<br />

1 1 von Israel<br />

G o t ä n - ^ ) «<br />

1_____1 besetztes höhen \ j<br />

Gebiet Haifa® .'''N<br />

M itte lm e e r<br />

Gaza* t.az^<br />

Gaza astreifon;;^^<br />

streifen;;<br />

West-<br />

Tel-Aviv • bank<br />

V<br />

Jerusalem<br />

Totes<br />

Meer<br />

Israei 1996<br />

[ 7 ^ ^ von Israel<br />

iLy -l-A besetztes<br />

Gebiet<br />

Libanon v<br />

Golan-


628 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

— Fortsetzung Exkurs 10.4<br />

die sich gegen die Repressionen Israels <strong>und</strong> die Besetzung<br />

palästinensischen Landes wehrten. Dieser Widerstand ist<br />

auch bekannt als Intifada („Aufstand“). Dabei standen sich<br />

bewaffnete israelische Soldaten <strong>und</strong> Steine werfenden junge<br />

Palästinenser gegenüber. Neben der Intifada organisierte sich<br />

der Widerstand aber auch in anderer, organisierter Form. 1964<br />

wurde die Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) gegründet,<br />

die für die Rückgabe Palästinas an die Palästinenser<br />

kämpft. Nach ihrer offiziellen Anerkennung als einzige <strong>und</strong><br />

rechtmäßige Vertretung der palästinensischen Bevölkerung<br />

von Seiten der arabischen Staaten, entwickelte sich die<br />

PLO zu einer Art Exilregierung; als solche wurde sie 1974<br />

zum UN-Sicherheitsrat zugelassen. Mit dem Ende des 5. israelisch-arabischen<br />

Kriegs 1982 verlegte die PLO ihre Stützpunkte<br />

aus Beirut in andere arabische Staaten <strong>und</strong> den Hauptsitz<br />

nach Tunis. Seit 1994 hat sie ihr Hauptquartier in Gaza.<br />

1996 kam es zu den ersten Wahlen des Palästinensischen<br />

Rats. Auf die Ausrufung eines palästinensischen Staates wurde<br />

jedoch nach langen Überlegungen verzichtet. Neben der<br />

PLO bestimmen aber auch andere, weit radikalere <strong>und</strong> extremere<br />

Gruppen, wie beispielsweise die Hamas (Islamische Widerstandsbewegung),<br />

die Entwicklungen in der Region. Ihre<br />

Aktivitäten erstrecken sich vor allem auf das Westjordanland<br />

<strong>und</strong> den Gazastreifen.<br />

Wie schwierig <strong>und</strong> gleichzeitig labil die Situation in der Region<br />

vor allem auch seit Mitte der 1990iger-Jahre ist, zeigten<br />

beispielsweise die Friedensverhandlungen im Herbst 2000.<br />

Nach wochenlangen schwierigen, wenngleich viel versprechenden,<br />

von den USA geförderten Friedensverhandlungen<br />

zwischen Jassir Arafat, dem damaligen Vorsitzenden der Palästinensischen<br />

Autonomiebehörde, <strong>und</strong> Ehud Barak, dem damaligen<br />

Ministerpräsidenten Israels, mussten die Friedensverhandlungen<br />

schließlich als gescheitert erklärt werden. Auslöser<br />

für neuerliche Eskalationen <strong>und</strong> damit für eine zweite<br />

Intifada war ein Besuch des Likudvorsitzenden Ariel Scharon,<br />

späterer Ministerpräsident Israels, auf dem Tempelberg im<br />

September 2000. Hier steht auch die Al-Aksa-Moschee, für<br />

die Muslime nach Mekka <strong>und</strong> Medina die heiligste Stätte. In<br />

den folgenden Jahren verschärfte sich der Konflikt schließlich<br />

dahingehend, dass den Palästinensern <strong>und</strong> der Autonomiebehörde<br />

zugestandene Rechte abgesprochen wurden. Im<br />

März 2003 besetzte Israel fast alle großen Städte im Autonomiegebiet<br />

<strong>und</strong> zerstörte Autonomiestrukturen. Jassir Arafat<br />

wurde zudem bis zu seinem Tod unter Hausarrest gestellt.<br />

Im Juli 2006 wurde ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet.<br />

Nach dem Tod von Jassir Arafat im November<br />

2004 keimte die Hoffnung auf Frieden erneut auf. Arafat<br />

war während seiner gesamten politischen Karriere äußerst umstritten<br />

gewesen: Seine Anhänger sahen ihn als heroischen<br />

Friedenskämpfer, der die nationale Sehnsucht des palästinensischen<br />

Volks nach Selbstbestimmung verkörperte. Für seine<br />

Gegner war Arafat dagegen ein Terrorist, der die Gewalt<br />

zwischen Palästinensern <strong>und</strong> Israelis förderte. An seinen<br />

Tod war für viele daher auch die Hoffnung geb<strong>und</strong>en, einem<br />

neuen Vorsitzenden der Autonomiebehörde könnte es gelingen,<br />

endlich den Frieden auszuhandeln, den Arafat nicht<br />

verwirklichen konnte.<br />

Am 9. Januar 2005 wurde Mahmud Abbas in der ersten palästinensischen<br />

Wahl seit 1996 durch die Wähler im Westjordanland<br />

<strong>und</strong> dem Gazastreifen zum Vorsitzenden der Palästinensischen<br />

Autonomiebehörde gewählt. Viele der militanten<br />

islamischen Organisationen, wieHamas <strong>und</strong> Islamischer Dschihad,<br />

boykottierten die Wahlen zwar, aber Schätzungen zufolge<br />

gaben über 66 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ihre<br />

Stimme ab. Im Januar 2006 konnte die Hamas die zweiten<br />

Wahlen zum Autonomierat für sich entscheiden, was von Seiten<br />

Israels <strong>und</strong> der internationalen Staatengemeinschaft mit<br />

Finanzboykott sanktioniert wurde. Trotzdem, zeichnet sich<br />

jüngst ein erster Fortschritt in Richtung der palästinensischen<br />

Eigenstaatlichkeit ab, <strong>und</strong> Israel hat damit begonnen, israelische<br />

Siedler trotz erbitterten Widerstands aus den Palästinensergebieten<br />

abzuziehen.<br />

Auch wenn Israel damit begonnen hat, besetzte Gebiete an<br />

Palästina zurückzugeben, bleibt die strikte Abgrenzung gegenüber<br />

den palästinensisch bewohnten Gebieten bestehen, sie<br />

wird sogar verstärkt. 1994 beispielsweise wurde die 52 Kilometer<br />

lange Grenze des Gazastreifens größtenteils mit Stacheldraht,<br />

Wachposten, Sensoren <strong>und</strong> Pufferzonen ausgestattet.<br />

Israel behauptet, dass die Grenze zum Schutz der israelischen<br />

Bevölkerung vor palästinensischen Terroranschlägen errichtet<br />

wurde. Die Palästinenser <strong>und</strong> andere Grenzgegner halten<br />

dagegen, dass mit dem Grenzzaun zum einen eine räumliche<br />

Ausdehnung der Palästinenser verhindert wird <strong>und</strong> zum<br />

anderen Israel mit dieser Demarkation in künftigen Verhandlungen<br />

auf die Existenz einer bereits institutionalisierten Grenze<br />

verweisen würde. Verhandlungen über den Verlauf <strong>und</strong> die<br />

Länge der Grenze wären in Zukunft nicht mehr möglich. Zusätzlich<br />

begann Israel 2002 mit dem Bau einer Mauer entlang<br />

der Grenze zum Westjordanland. Diese Grenzsicherung trennt<br />

in weiten Teilen als meterhohe Mauer beispielsweise Siedlungen<br />

von ihrem landwirtschaftlichen Hinterland (Abbildung<br />

10.4.2). Seit Mai 2005 wurden durch den Bau der Grenzanlagen<br />

bereits über 100 000 palästinensische Oliven- <strong>und</strong> Zitrusbäume,<br />

über 300 000 Quadratmeter Anbaufläche für Treibhauspflanzen<br />

<strong>und</strong> 37 Kilometer Bewässerungsleitungen zerstört.<br />

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen entschied<br />

im Oktober 2003 mit 144 zu 4 Stimmen, dass der<br />

Grenzzaun beziehungsweise die Grenzmauer „gegen das internationale<br />

Recht verstößt“ <strong>und</strong> deshalb illegal ist. Israel nannte<br />

die Resolution eine J a rc e “.<br />

Zudem hat die Europäische Union in den 1990iger<br />

Jahren zahlreiche Programme lanciert <strong>und</strong> Projekte<br />

finanziert, die regionale Unterschiede ausgleichen <strong>und</strong><br />

Regionen als neue politische Einheit stärken sollten.<br />

Partikularismus, eine extreme Form der Hervorhebung<br />

lokaler Interessen <strong>und</strong> Traditionen, darf nicht<br />

mit Regionalismus verwechselt werden. Er beschreibt<br />

die Bestrebungen zur Durchsetzung politischer, wirtschaftlicher<br />

Lind/oder kultureller Sonderinteressen<br />

eines Teilgebiets im Sinne staatsrechtlicher Eigenständigkeit<br />

beziehungsweise völliger Loslösung aus<br />

der jeweiligen Gemeinschaft. Partikularistische Be-


Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie 629 10<br />

(a)<br />

Stacheldrahtspiralen<br />

Stacheldrahtzaun<br />

Feinsand zur Sicherung<br />

von Fußabdrücken<br />

befestigte Straße<br />

für Militärpatrouillen<br />

unbefestigte Straße<br />

für Militärpatrouillen<br />

3 m<br />

2 m<br />

1 m<br />

0 m<br />

1 m<br />

2 m<br />

3 m<br />

H / — Drahtzaun mit elektronischen<br />

Sensoren (3 m)<br />

Graben (2 m)<br />

Überwachungskamera<br />

Stacheldrahtspiralen<br />

(1,8 m)<br />

10.4.2 Der israelische Sicherheitszaun,<br />

2005 Die Abbildungen zeigen die geplanten <strong>und</strong><br />

bereits errichteten Teile des israelischen<br />

Sicherheitszauns, der von den Palästinensern<br />

<strong>und</strong> anderen Gegner der Anlage „die Mauer“ oder<br />

„Apartheidmauer“ genannt wird. Die physische<br />

Barriere besteht aus einem Netzwerk von<br />

Zäunen, Mauern <strong>und</strong> Schützengräben. Israel<br />

erklärte die Anlage damit, dass es eine Sicherheitszone<br />

zwischen sich <strong>und</strong> dem Westjordanland<br />

schaffen wolle.<br />

Strebungen gelten als eine der Hauptursachen des<br />

amerikanischen Bürgerkriegs. Er war die Folge der<br />

Sklaverei <strong>und</strong> der daraus erwachsenen politischen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Bedingungen in den Südstaaten,<br />

die aus der Union austraten. Ziel der Unionstruppen<br />

war es, derlei partikularistische Bestrebungen im<br />

Interesse einer übergeordneten Einheit im Keim zu<br />

ersticken. Die Rechte einzelner Staaten durften keinesfalls<br />

über denen der B<strong>und</strong>esregierung stehen.<br />

Auch wenn der Bürgerkrieg aus dem Streit um die<br />

Legitimation der Sklaverei entbrannt war, ging es<br />

auch um etwas anderes, nämlich um die Machtposi-


630 10 Die G eo g ra p h ie ^ i,^ ^ ^ ^<br />

Österreich<br />

50 100 Kilometer<br />

Rumänien<br />

; Ô ;<br />

B elg ra d<br />

1<br />

i ■<br />

Serbien<br />

Albaner<br />

Bulgaren<br />

I" 1 Kroaten | | Ungarn<br />

m m Mazedonier |<br />

ÜSHÜ Moslems<br />

I I Slowenen [<br />

T<br />

I<br />

Montenegriner<br />

Serben<br />

keine dominante<br />

Volksgruppe<br />

- f « S k o p je<br />

Ü °<br />

y MazedonierT=<br />

Griechenland 'V<br />

10.27 Ethnische Vielfalt im ehemaligen Jugoslawien Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts kam es in Europa <strong>und</strong> insbesondere in<br />

Jugoslawien zu radikalen politischen Veränderungen. Ehemalige Teilrepubliken - Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina <strong>und</strong><br />

Mazedonien - erklärten ihre Unabhängigkeit. Bis 2006 gehörten die beiden Teilrepubliken Serbien <strong>und</strong> Montenegro zu Jugoslawien;<br />

Montenegro ist seit Juni 2006 ein unabhängiger Staat. Die Grenzen der meisten dieser Staaten haben ihre Gr<strong>und</strong>lagen in der<br />

österreichisch-ungarischen Monarchie <strong>und</strong> im Osmanischen Reich, aus denen eine komplexe Mischung unterschiedlicher ethnischer<br />

Gruppen hervorging. Die jüngste Geschichte dieser Staaten ist gleichzeitig eine Geschichte ethnischer Konflikte. Wie die Karte zeigt,<br />

ist Jeder der neuen Staaten - ausgenommen Slowenien - Heimat mehrerer Nationalitäten. In fast allen Staaten bestimmten<br />

grauenhafte kriegerische Auseinandersetzungen die ersten Jahre der Selbstständigkeit. Noch heute ist es nur mit internationaler<br />

Unterstützung möglich, in Bosnien-Herzegowina <strong>und</strong> im Kosovo ein mehr oder weniger konfliktfreies Zusammenleben zwischen den<br />

Menschen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeit zu gewährleisten. (Quelle: genehmigter Wiederabdruck aus Rubenstein,<br />

J.M. The Cultural Landscape: An Introduction to Human Geography. 5. Auflage, Prentice Hall, © 1996, S. 260)<br />

tion des Staates. Der seitens des Südens betriebene<br />

Partikularismus spiegelte sich im Jahre 1860 in der<br />

Wahl Abraham Lincolns zum Präsidenten wieder:<br />

Von den Staaten, in denen die Sklaverei blühte, erhielt<br />

er keinerlei Unterstützung.<br />

Die Politik der unterschiedlichen<br />

Bezugsräume<br />

Auf den Regionalismus <strong>und</strong> Partikularismus bezogen,<br />

spiegelt sich der Einfluss geographischer Raummerkmale<br />

auf politisches Handeln im Sinne von Politik<br />

der Geographie heute beispielsweise in den unterschiedlichen<br />

politischen Strukturen ländlicher <strong>und</strong><br />

städtischer Räume wieder. Es gilt dabei gr<strong>und</strong>sätzlich,<br />

dass die Gründe für Regionalismus <strong>und</strong> partikularistische<br />

Bestrebungen nie einfach <strong>und</strong> eindeutig<br />

sind; meist spielen viele Faktoren zusammen, die<br />

eine Gruppe auf Basis gemeinsamer Interessen zusammenführt,<br />

um gegen andere Interessensgruppen<br />

oder politische Entscheide anzutreten - <strong>und</strong> im Extremfall<br />

die Loslösung von einem Verb<strong>und</strong> einzufordern.<br />

So wird in Frankreich das Thema der Geburtenkontrolle<br />

im städtisch geprägten Norden ganz anders<br />

behandelt als im stärker ländlichen Süden. In anderen<br />

Fällen richten sich einzelne Gruppen gegen Entscheidungen<br />

internationaler Organisationen. Beispielsweise<br />

wehrten sich in den 1990er-Jahren Bauern überall<br />

in der Europäischen Union gegen die Abschaffung


Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie 631<br />

der Subventionen <strong>und</strong> Steuervergünstigungen. Unterstützt<br />

wurden sie dabei auch von Politikern in<br />

den Städten, die lange Zeit ihre schützende Hand<br />

über die Landwirtschaft gehalten hatten.<br />

In Mexiko finden Streitigkeiten vor allem zwischen<br />

den lokalen <strong>und</strong> nationalen Ebenen statt. Bauern aus<br />

dem B<strong>und</strong>esstaat Chiapas zwangen die Regierung in<br />

Mexiko-Stadt, sich des Problems der ländlichen Armut<br />

anzunehmen. Die Verschlechterung der Situation<br />

für die ländliche Bevölkerung wurde insbesondere<br />

der Regierung angelastet, die sich auf den Ausbau der<br />

Städte <strong>und</strong> einer industriellen Landwirtschaft konzentriert<br />

hatte. Auch die Abwanderung vom Land<br />

in die Städte erzeugt enorme soziale <strong>und</strong> politische<br />

Spannungen. So sind etwa Städte wie Lima (Peru),<br />

Nairobi (Kenia) oder Jakarta (Indonesien) längst<br />

aus den Nähten geplatzt. Die Herausforderungen<br />

an die Politiker sind gewaltig, sie müssen sich schwierigen<br />

Fragen stellen: Wie viel der ohnehin knappen<br />

Mittel kann in Projekte zur Verlangsamung (oder<br />

Umkehr) dieses Trends investiert werden? Welche<br />

Summen können für die Bedürfnisse der zugezogenen<br />

Einwohner ausgegeben werden, deren Lebensbedingungen<br />

in den Städten meist schlechter sind als in<br />

ihrer ländlichen Heimat?<br />

Auch innerhalb <strong>und</strong> zwischen den Städten <strong>und</strong><br />

Ländern gibt es Konkurrenzbeziehungen. Zu den<br />

am weitesten verbreiteten Formen gehören die Bemühungen<br />

lokaler <strong>und</strong> überregionaler Behörden<br />

um private Investitionen (Kapitel 8). Häufig sind<br />

es die Firmen, die Konkurrenten gegeneinander ausspielen<br />

<strong>und</strong> auf diese Weise ein optimales Angebot<br />

erhalten. In anderen Fällen werben Länder <strong>und</strong> Gemeinden<br />

um die Ansiedlung von Einrichtungen des<br />

B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> konkurrieren in anderen Fällen untereinander<br />

beispielsweise mit besseren Steuerbedingungen<br />

bis hin zur Steuerbefreiung im ersten Jahr der<br />

Niederlassung. Nach dem Zweiten Weltkrieg konkurrierten<br />

Städte beispielsweise um Militärstützpunkte.<br />

Dabei hoffte man, neue Arbeitsplätze generieren zu<br />

können <strong>und</strong> die wirtschaftliche Situation im Allgemeinen<br />

zu verbessern. Später war es das vorrangige<br />

Interesse große, produzierende Unternehmen mit<br />

beispielsweise Steuererleichterungen zu einer Ansiedlung<br />

zu motivieren.<br />

Die Geographie der Politik <strong>und</strong><br />

die räumliche Strukturierung<br />

, politischer Systeme__________<br />

Wie stark Politik die Geographie bestimmen kann,<br />

zeigt sich insbesondere in der räumlichen Strukturierung<br />

politisch-administrativer Systeme. Moderne<br />

Flächenstaaten sind nach dem Prinzip einer hierarchischen<br />

territorialen Gliederung organisiert.<br />

I<br />

Politische Systeme <strong>und</strong> territoriale<br />

Gliederung______________________<br />

In einem demokratischen System wählt das Volk<br />

seine politischen Vertreter <strong>und</strong> bestimmt über die politischen<br />

Gr<strong>und</strong>sätze. In einem nach dem Territorialprinzip<br />

gegliederten Staat ist die Regierungsmacht<br />

nicht nach gesellschaftlichen Gruppen <strong>und</strong> Funktionen<br />

organisiert, sondern nach Gebietseinheiten. Die<br />

Wähler entscheiden sich also für Parteien <strong>und</strong> damit<br />

Politiker, die sich für die Belange ihrer Region einsetzen.<br />

Die Vereinigten Staaten sind ebenso wie Deutschland,<br />

Österreich <strong>und</strong> die Schweiz eine Konföderation<br />

aus B<strong>und</strong>esstaaten beziehungsweise Ländern <strong>und</strong><br />

Kantonen. Diese gliedern sich in Bezirke <strong>und</strong> Gemeinden.<br />

Darüber hinaus gibt es Städte mit Sonderstatus<br />

<strong>und</strong> spezielle Distrikte. Letztere sind für besondere<br />

Aufgaben zuständig, wie soziale Wohlfahrt, die<br />

Nutzung von Wasserreserven oder Bildungseinrichtungen.<br />

In allen genannten Staaten erfolgt die Wahl politischer<br />

Mandatsträger im Prinzip auf der Basis von<br />

Wahlbezirken von der lokalen bis hin zur b<strong>und</strong>esstaatlichen<br />

Ebene. Der Staat operiert bezogen auf geographische<br />

Räume, aus denen die Politiker als Repräsentanten<br />

in die Parlamente entsandt werden. Dabei<br />

manifestieren sich zwei Prinzipien föderaler Demokratien:<br />

das demokratische, in dem alle Stimmberechtigten<br />

formal dasselbe Gewicht haben, <strong>und</strong> das<br />

föderalistische, das alle territoriale Einheiten (B<strong>und</strong>esstaaten,<br />

Länder <strong>und</strong> Kantone) auf dieselbe Stufe<br />

stellt. Zwei Wahlsysteme stehen einander gegenüber:<br />

Die Verhältniswahl, die eine möglichst genaue Repräsentation<br />

des Stimmenanteils einer Partei in ihrem<br />

Mandatsanteil im Parlament vorsieht, <strong>und</strong> die Mehrheitswahl,<br />

bei der jeder der möglichst gleich großen<br />

Wahlkreise einen Vertreter ins Parlament entsendet.<br />

Die Verhältniswahl bietet kleineren Parteien bessere<br />

Startbedingungen - wenn sie die meist bei fünf Prozent<br />

angesetzte Hürde überwinden können - <strong>und</strong> för­


632 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

dert die Bildung von Koalitionen. Bei der Mehrheitswahl<br />

in Form der relativen Mehrheitswahl (wie in den<br />

Vereinigten Staaten) ist jeweils der stimmenstärkste<br />

Kandidat gewählt.<br />

Im territorial orientierten politischen System der<br />

USA hat die Legitimität lokaler Interessen lange Tradition,<br />

das heißt auch, dass beispielsweise ländlich geprägte<br />

B<strong>und</strong>esstaaten ihre Interessen am besten von<br />

Republikanern vertreten sehen, während B<strong>und</strong>esstaaten<br />

mit vielen oder großen städtischen Zentren demokratisch<br />

wählen. Dritte Parteien haben es ziemlich<br />

schwer, Einfluss zu gewinnen. Wenn diese sich nicht<br />

auf regionale Schwerpunkte konzentrieren, können<br />

sie niemals ausreichend viele Staaten für sich gewinnen<br />

- <strong>und</strong> somit den Sieger stellen. So kann es sein,<br />

dass ein Präsidentschaftskandidat zwar 19 Prozent<br />

(zum Beispiel Ross Perot 1992) aller Stimmen erhält,<br />

jedoch keinen B<strong>und</strong>esstaat für sich gewinnen konnte,<br />

denn wer die Mehrheit in einem Staat gewonnen hat,<br />

erhält die jeweiligen state elecoral votes{zum Beispiel<br />

für Kalifornien 54, für Florida 25 jedoch nur 5 für<br />

Utah oder 4 für Main).<br />

Neben dem Verhältniswahl- <strong>und</strong> Mehrheitswahlrecht<br />

gibt es regional spezifische Wahlsysteme, die<br />

beispielsweise daran orientiert sind, dass ausgewählte<br />

Bevölkerungsgruppen in der Legislative entsprechend<br />

vertreten sind. Beispielsweise gibt es im pakistanischen<br />

Parlament vier Sitze für Christen, vier für Hindus<br />

<strong>und</strong> Angehörige höherer Kasten <strong>und</strong> je einen Sitz<br />

für Buddhisten, Sikhs <strong>und</strong> Parsen. Italien hat seit 1993<br />

ein Mischwahlsystem. Die große Mehrheit der Sitze<br />

der ersten Kammer (Abgeordnetenhaus) werden<br />

nach dem Mehrheitsprinzip vergeben; ein Drittel<br />

der Stimmen nach dem Verhältnisprinzip, orientiert<br />

an den abgegebenen Listenstimmen. Die Entsendung<br />

in die zweite Kammer (Senat) spiegelt das zusammengefasste<br />

Ergebnis der Regionen wider, wobei<br />

232 Sitze entsprechend dem Bevölkerungsanteil der<br />

20 italienischen Wahlsprengel verteilt werden. Bis<br />

auf das Valle d’Aosta <strong>und</strong> Molise erhalten die anderen<br />

Regionen mindestens sieben Sitze. Mitberücksichtigt<br />

werden Auslandsstimmabgaben.<br />

Die Art <strong>und</strong> Weise wie politische Systeme funktionieren,<br />

werden wesentlich durch die Geschichte <strong>und</strong><br />

Geographie (wer wo lebt <strong>und</strong> vor allem wie viele wo<br />

leben) eines Landes sowie durch deren Zusammenspiel<br />

bestimmt. Politische Systeme entstehen aus<br />

der politischen Kultur eines Landes heraus <strong>und</strong> wirken<br />

gleichzeitig auf diese zurück.<br />

Die Abbildung 10.28 veranschaulicht die räumliche<br />

Differenzierung des Wahlverhaltens in Deutschland.<br />

I<br />

Reformen des Wahlrechts <strong>und</strong> der<br />

Wahlbezirke____________________<br />

Das Problem der Verhältnismäßigkeit von politischer<br />

Vertretung zu Territorium entsteht dann, wenn sich<br />

die Einwohnerzahlen von Gebietseinheiten ändern,<br />

denn auf diese beziehen sich die meisten Formen<br />

der Repräsentanz. Um die Gesamtbevölkerung möglichst<br />

gleichmäßig zu erfassen, ist es immer wieder<br />

notwendig, die Wahlbezirke den neuen Gegebenheiten<br />

anzupassen. So ist in den Vereinigten Staaten die<br />

Zahl der Abgeordneten des Repräsentantenhauses auf<br />

435 Sitze festgelegt. Hinzu kommen 100 Sitze im Senat,<br />

der zweiten Kammer des Kongresses, der die gesetzgebende<br />

Gewalt im politischen System der Vereinigten<br />

Staaten ist. Diese Sitze müssen infolge der Bevölkerungsentwicklung<br />

alle zehn jahre neu organisiert<br />

werden. In Kapitel 3 wurde daraufhingewiesen,<br />

dass die amerikanische Regierung alle zehn Jahre zur<br />

Durchführung einer Volkszählung verpflichtet ist.<br />

Einer der wesentlichen Gründe dafür ist die Gewährleistung<br />

des Gleichgewichts zwischen Einwohnerzahl<br />

<strong>und</strong> politischer Repräsentanz. Dies geschieht durch<br />

das Verfahren des Reapportionment, bei dem die<br />

parlamentarischen Sitze regional neu zugeordnet<br />

werden. Beim Redistricting erfolgt eine Neufestlegung<br />

der Distriktgrenzen. Beide Maßnahmen haben<br />

ihre Gr<strong>und</strong>lage in politischen, geographischen <strong>und</strong><br />

demographischen Überlegungen.<br />

Ebenso wie sich die Bevölkerungsstruktur innerhalb<br />

von Staaten verändert, <strong>und</strong> daher die Aufteilung<br />

der Mandate beziehungsweise die Wahlbezirke angepasst<br />

werden müssten, so muss die Aufteilung der<br />

Mandate auch nach bedeutenden Veränderungen<br />

der räumlichen Bezugsbasis nachjustiert werden. In<br />

Deutschland mussten nach der Wiedervereinigung<br />

in den neuen B<strong>und</strong>esländern Wahlkreise neu geschaffen<br />

<strong>und</strong> damit der Situation in den alten B<strong>und</strong>esländern<br />

angepasst werden. Die Zahl der B<strong>und</strong>estagsmandate<br />

von bis dahin 496 Sitzen wurde bei der ersten<br />

gesamtdeutschen Wahl im Jahre 1990 um 22 Sitze<br />

für Berliner Abgeordnete <strong>und</strong> weitere 138 Sitze für<br />

das Gebiet der neuen Länder auf 656 erhöht. Die<br />

Zahl der Wahlkreise stieg auf 328.<br />

Für die Europäische Union bedeutete das, dass im<br />

Hinblick auf die Erweiterung, die Vertretung der einzelnen<br />

Mitgliedstaaten im Europäischen Parlament<br />

neu verhandelt werden musste. Dies wurde schließlich<br />

im Vertrag von Nizza (Februar 2001) für 27 Mitgliedstaaten<br />

(ohne die Schweiz) geregelt. Das Europäische<br />

Parlament hat mit Beitritt Rumäniens <strong>und</strong><br />

Bulgariens neu 732 Abgeordnete: Deutschland hat<br />

99 Sitze, Österreich hat 18 Sitze.


Die Wechselbeziehungen zwischen Politik <strong>und</strong> Geographie 633<br />

Ergebnisse der B<strong>und</strong>estagswahl 2005<br />

nach Wahlkreisen<br />

CD U /CSU mit >10% Vorspnjr>g<br />

C D U /C SlP^ e h rh eit<br />

Autor: Atio*-’*f


634 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

l a r«<br />

m<br />

Manipulation der Wahlkreise<br />

Die administrative Reorganisation der Wahlkreise<br />

soll eine gerechte Vertretung aller Gruppen in den<br />

Entscheidungsgremien gewährleisten. Geschieht<br />

diese Reform des Wahlrechts <strong>und</strong> der Wahlbezirke<br />

missbräuchlich aufgr<strong>und</strong> bestimmter Machtinteressen,<br />

so spricht man von Gerrymandering. Dabei erfolgt<br />

der Neuzuschnitt von Wahlbezirken zum Vorteil<br />

einer politischen Partei oder eines Abgeordneten,<br />

oder um den Machtverlust bei bestimmten Bevölkerungsgruppen<br />

zu verhindern. Der Begriff geht auf Elbridge<br />

Gerry, den Gouverneur von Massachusetts,<br />

zurück, der im Hinblick auf die Wahlen von 1812<br />

ein Gesetz einbrachte, das den Sieg der Republican<br />

Democrats über die Föderalisten sicherstellte. Wenngleich<br />

die Föderalisten insgesamt die Mehrheit erhielten,<br />

konnten die Republican Democrats 29 der 40 Sitze<br />

für sich verbuchen, denn sie hatten die meisten<br />

Wahlbezirke gewonnen. Die zeitgenössische Darstellung<br />

in Abbildung 10.29 zeigt, wie ein Wahlbezirk<br />

nördlich von Boston so manipuliert wurde, dass<br />

sich die föderalistisch gesinnten Wähler auf ein möglichst<br />

kleines Gebiet konzentrierten. Deren Stimmen<br />

waren somit auf wenige Wahlbezirke beschränkt <strong>und</strong><br />

verloren deshalb gegenüber der Gesamtheit der Bezir-<br />

10.29 G errym andering (1812) Dieses seltsame Wesen, das<br />

an einen Salamander erinnert, symbolisiert eine fragwürdige<br />

politische Manipulation von Wahlen. Um einen Wahlsieg der<br />

Föderalisten auszuschlielien, wurden die Grenzen von Wahlbezirken<br />

so festgelegt, dass alle Anhänger der Föderalisten in<br />

einem Wahlbezirk konzentriert waren. Der Ausgang der Wahl<br />

war somit vorab bestimmt. Heute gibt es Gesetze, die solche<br />

Manipulationen der Wahlkreisgeometrie unterbinden sollen.<br />

ke an Gewicht. Die Karikatur hat die groteske Form<br />

dieses Wahlkreises zu einem bedrohlichen Ungeheuer<br />

stilisiert.<br />

Gerrymandering ist bis heute ein Problem. Wenngleich<br />

in den Vereinigten Staaten der Federal Voting<br />

Rights Act mit der Neugliederung der Wahlbezirke<br />

das politische Mitspracherecht von Minoritäten sicherstellen<br />

soll, gibt es nur eine feine Grenze zwischen<br />

der Herstellung von Chancengleichheit <strong>und</strong> der Veränderung<br />

der Wahlkreisgeometrie mit dem Zweck,<br />

einem Minderheitenvertreter zum Wahlerfolg zu verhelfen.<br />

Abgesehen davon hat der Supreme Court (das<br />

Oberste Gericht der Vereinigten Staaten) bis heute<br />

keine Richtlinien erstellt, nach welchen ethnische<br />

Gruppen oder Minderheiten bei der Festiegung von<br />

Distriktgrenzen berücksichtigt werden.<br />

Fazit<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft geht immer einher<br />

mit der Veränderung von Zuständigkeiten, von Einflussbereichen<br />

<strong>und</strong> -reichweiten der Staaten. Politische<br />

Geographie heute, berücksichtigt diese Veränderungen<br />

<strong>und</strong> beschäftigt sich intensiv mit Entwicklungen<br />

auf der globalen <strong>und</strong> internationalen Ebene.<br />

Doch bleibt ihr Fokus ein weiter, denn daneben<br />

sind weiterhin kleinräumige Prozesse <strong>und</strong> Phänomene,<br />

die Regionen, Siedlungen, Einzelhaushalte oder<br />

Individuen im Zentrum des Interesses.<br />

Die Produktion <strong>und</strong> Dekonstruktion von Weltbildern<br />

<strong>und</strong> raumbezogenen Staatstheorien gehören zu<br />

den wichtigsten Beiträgen der Politischen Geographie<br />

für ein besseres Verständnis politischer Handlungsweisen.<br />

Ratzels Betonung der Beziehung zwischen<br />

Macht <strong>und</strong> Territorium <strong>und</strong> Mackinders Modell<br />

des geostrategischen Kerngebiets verdeutlichen,<br />

dass Räume <strong>und</strong> Territorien das Handeln der Staaten<br />

mitbestimmen. Raum <strong>und</strong> Zeit beeinflussen politische<br />

Strukturen, <strong>und</strong> selbst bereits weitgehend überw<strong>und</strong>ene<br />

Geschehnisse wie der Kolonialismus haben<br />

noch heute ihre Auswirkungen.<br />

Aus der nach wie vor bestehenden Kluft zwischen<br />

Nord <strong>und</strong> Süd, zwischen den Ländern des Zentrums<br />

<strong>und</strong> den peripheren Staaten, von denen die Mehrzahl<br />

ehemalige Kolonien sind, resultieren noch immer andauernde<br />

Spannungen. Die wohl überraschendste<br />

politisch-geographische Veränderung am Ende des<br />

vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erts waren der Zusammenbruch<br />

der Sowjetunion <strong>und</strong> in Folge die Wiedervereinigung<br />

Deutschlands. Wenn auch die zukünftige


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 635<br />

Entwicklung noch nicht abzusehen ist, so steht fest,<br />

dass die zunehmende Globalisierung die bisherigen<br />

Unterschiede zwischen den Wirtschaftssystemen in<br />

bisher unbekannten Ausmaß mehr <strong>und</strong> mehr verwischt,<br />

dafür aber neue Gegensätze <strong>und</strong> Disparitäten<br />

schafft (Kapitel 13).<br />

Globalisierung wird in den nächsten fahren eines<br />

der wichtigsten Themen der Politischen Geographie<br />

bleiben. Im Zentrum des Interesses wird die Frage<br />

nach der Entstehung <strong>und</strong> Gestaltung einer wie<br />

oben skizzierten neuen Weltordnung <strong>und</strong> ihrer Institutionen,<br />

insbesondere jener mit transnationaler Einbettung<br />

<strong>und</strong> Verflechtung sein. Politische Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> ökonomische Prozesse erfahren eine<br />

Neuorientierung, beispielsweise durch die Einführung<br />

neuer Entscheidungsebenen <strong>und</strong> durch veränderte<br />

Wechselbeziehungen zwischen <strong>und</strong> innerhalb<br />

von Nationalstaaten. Aber auch im Alltag erfahren<br />

wir diese Veränderung wie beispielsweise mit der<br />

Tendenz zu verbesserten persönlichen Sicherheitsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> der Neuinterpretation der Menschenrechte.<br />

Die Kombination der Begriffe „Politik“<br />

<strong>und</strong> „Geographie“ macht deutlich, wie eng das eine<br />

mit dem anderen verknüpft ist. Geographie hat<br />

immer mit Politik, Politik immer mit Geographie<br />

zu tun - dies bestätigt in demokratischen Systemen<br />

die raumbezogene politische Repräsentanz<br />

ebenso wie der Zusammenhang zwischen gemeinsamen<br />

historischen Wurzeln <strong>und</strong> regionaler politischer<br />

Identität.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Agnew, J.A. Corbridge, S. Mastering Space: Hegemony, Territory<br />

and international political Economy. London (Routledge)<br />

1998.<br />

Agnew J.A. Hegemony: The New Shape o f Global Power. Philadelphia<br />

(Temple University Press) 2005.<br />

Agnew, J.; Mitchell, K.; Toal, G. A Companion to Political Geography.<br />

Oxford (Blackwell) 2002.<br />

Agnew, J. Geopolitics. Re-Visioning World Politics. London (Rout-<br />

ledge) 1999.<br />

Agnew, J.; Mitchell, K; Toal, G. A Companion to Political Geography.<br />

Oxford (Blackwell) 2002.<br />

Anderson, J.; Brook, C.; Cochrane, A. (Hrsg.) A Global World? Re-<br />

ording Political Space. Oxford (Oxford University Press)<br />

1995.<br />

Anderson, j. Separation and Devolution: The Basques in Spain. In:<br />

Environment and Planning D: Society and Space 8 (4) ( 1990)<br />

S. 427-428.<br />

Andreas, P.; Snyder, T. The Wall aro<strong>und</strong> the (Vest. Boston (Row-<br />

man & Littlefield) 2000.<br />

Appelbaum, R. P.; Robinson, W. I. (Hrsg.) Critical Globalization<br />

Studies. New York (Routledge) 2005.<br />

Beck Die Erfindung des Politischen. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)<br />

1993.<br />

Benz, W.; GramI, H. (Hrsg.) Das Zwanzigste Jahrh<strong>und</strong>ert III: Weltprobleme<br />

zwischen den Machtblöcken. Fischer Weltgeschichte<br />

Band 36. Frankfurt/M. (Fischer Taschenbuch)<br />

1989, S. 82-86.<br />

Blomley, N. Law, Space and the Geographies o f Power. New York<br />

(Guilford Press) 1994.<br />

Bradshaw, Y.W.; Wallace, M. Global Inequalities. Thousand<br />

Oaks, CA (Pine Forge Press) 1996.<br />

Browett, J. The Evolution o f Unequal Development within South<br />

Africa: An Overview. In: Smith, D.M. (Hrsg.) Living <strong>und</strong>er<br />

Apartheid. London (Allen & Unwin) 1982, S. 10-23.<br />

Campbell, D. Writing Security. United States Foreign Policy and<br />

the Politics o f Identity. Minneapolis (University of Minnesota<br />

Press) 1998.<br />

Cox, K. R. Political Geography: Teritory, State, Society. Oxford<br />

(Blackwell) 2002.<br />

Crang, M.; Thrift, N. Thinking Space. London (Routledge) 2000.<br />

Dodds, K. Geopolitics in a Changing World. London (Prentice<br />

Hall) 2000.<br />

Enloe, C. Bananas, Beaches and Bases. Making Feminist Sense<br />

o f International Politics. Berkeley (University of California<br />

Press) 2000.<br />

Epic Project Web site. Comparative and Country-by-Country Data<br />

on Election Systems, Laws, Management and Administration,<br />

www.epicproject.org/en/ (24.09.2005).<br />

Ferguson, Y. H.; Jones, J. B. Political Space: Frontiers o f Change<br />

and Governance in a Globalizing Word. Albany, NY (State University<br />

of New York Press) 2002.<br />

Foucault, M. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen<br />

Blicks. Frankfurt (Fischer) 1988.<br />

Fukayama, F. The End o f History and the Last Man. London (Penguin)<br />

1992.<br />

Gettleman, M.E.; Schaar, S. (Hrsg.) The Middle East and Islamic<br />

World Reader. New York (Grove Press) 2003.<br />

Gregory, D. The Colonial Present: Afghanistan, Palestine and<br />

Iraq. Maiden, MA (Blackwell) 2004.<br />

Harff, B. Early Warning o f Communal Conflict and Genocide: Linking<br />

Empirical Research to International Response. Boulder,<br />

CO (Westview Press) 2003.<br />

Heinritz, G.; Tzschaschel, S.; Wolf, K. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Gesellschaft <strong>und</strong> Staat. Heidelberg<br />

(Spektrum Akademischer Verlag) 2000.<br />

Held, D.; McGrew, A.; Goldblatt, D.; Perraton, J. Global Transformations.<br />

Maiden (Blackwell) 1999.<br />

Hippier, B. Hitlers Lehrm eister-Karl Haushofer als Vater der NS-<br />

Ideologie. St. Otilien 1996.<br />

Hirst, P.; Thompson, G. Globalization in Question. Cambridge<br />

(Polity Press) 1999.<br />

Hoffman, B. Inside Terrorism. London (Victor Gollancz) 1998.<br />

Huntington, S.P. The Clash o f Civilisations? In: Foreign Affairs<br />

(Sommer 1993) S. 23-49. [Deutsche Ausgabe: Kampf<br />

der Kulturen: die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

2. Aufl. München (btb, Goldmann Verlag) 1998.]<br />

Johnston, R.J. et al. (Hrsg.). The Dictionary o f Human Geography.<br />

Oxford (Blackwell Publishers) 2000.


636 10 Die Geographie politischer Territorien <strong>und</strong> Grenzen<br />

Juergensmeyer, M. The New Cold War? Religious Nationalism<br />

Confronts the State. Berkeley (University of California Press)<br />

1993.<br />

Kofman, E.; Youngs, G. Globalization : Theory and Practice. London<br />

(Pinter Publ.) 1996.<br />

Lexikon der Geographie. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag) 2001.<br />

Livingstone, D. The Geographical Tradition. Oxford (Blackwell)<br />

1992.<br />

Lyotard, F. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien (Edition<br />

Passagen 7) 1999.<br />

Microsoft Bookshelf Sot/f/7 7l/r/ca, Republic 0/'(Enzyklopädischer<br />

Eintrag) 1998.<br />

Muir, R. Political Geography. A New Introduction. Hong Kong<br />

(Macmillan Press) 1997.<br />

Ö Tuathail, G. Critical Geopolitics. The Politics o f Writing Global<br />

Space. Minneapolis (University of Minnesota Press) 1996.<br />

Paasi, A. Territories, Bo<strong>und</strong>aries and Consciousness. The Changing<br />

Geographies o f the Finnish-Russian Border. Chichester<br />

(John Wiley & Sons) 1996.<br />

Raffestin, C.; Lopreno, D.; Pasteur, Y. Géopolitique et Histoire.<br />

Lausanne (Éditions Payot) 1995.<br />

Ratzel, F. Kleine Schriften Bd. 2. München (1906).<br />

Ratzel, F. Deutschland. München (1898).<br />

Riesebrodt, M. Pious Passion: The Emergence o f Modern F<strong>und</strong>amentalism<br />

in the United States and Iran. Berkeley (University<br />

of California Press) 1993.<br />

Salamon, L. M.; Sobolowski, S.; Wojciech, S.; List, R. Global Civil<br />

Society: An Overview. Baltimore, MD (Johns Hopkins University<br />

Institute for Policy Studies) 2003.<br />

Staeheli, L.; Kofman, E.; Peake, L. J. (Hrsg). Mapping Women, Making<br />

Politics: Feminist Perspectives on Political Geography.<br />

New York (Routledge) 2004.<br />

Taylor, P.; Flint, C. Political Geography: World Economy, Nation-<br />

State, and Locality. Upper Saddle River, NJ (Prentice Hall)<br />

2000.<br />

Thurnow, L. The Future o f Capitalism. New York (Morrow) 1996.<br />

Totten, S.; Parson, W. S.; Charny, I.W. (Hrsg.) Century of Genocide:<br />

Critical Essays and Eyewitness Accounts. New York<br />

(Routledge Press) 2004.<br />

U.N. Office for Coordination of Humanitarian Affairs and U.N.<br />

Relief and Work Agency for Palestinian Refugees The Humanitarian<br />

Impact o f the West Bank Barrier on Palestinian Communities.<br />

2005.<br />

van den Anker, C. The Political Economy o f New Slavery. New<br />

York (Palgrave Macmillan) 2004.<br />

White, J. Terrorism: An lUntroduction. Toronto (Wadsworth)<br />

2002.<br />

i


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 637<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Ossenbrügge, J. Die Renaissance der Poiitischen Geographie:<br />

Aufgaben <strong>und</strong> Probleme. In: HGG-Journal 11(1997) S. 1-18.<br />

Ö Tuathail, G. Critical Geopolitics. The Politics o f Writing Globai<br />

Space. Minneapolis (University of Minnesota Press) 1996.<br />

Ö Tuathail, G.; Dalby, S. Rethinking Geopolitics: Towards a Critical<br />

Geopolitics. London (Routledge) 1998.<br />

Ö Tuathail, G. Postmodern Geopolitics? The Modern Geopolitical<br />

Imagination and Beyond. In: Ö Tuathail, G.; Dalby, S. Rethinking<br />

Geopolitics: Towards a Critical Geopolitics. London<br />

(Routledge) 1998.<br />

Ö Tuathail; G. Understanding Criticai Geopolitics: Geopolitics and<br />

Risk Society. In: www.majbill.vt.edu/geog/faculty/toal/pa-<br />

pers/stratstud.htm (1999).<br />

Reuber, P. Conflict Studies and Criticai Geopolitics - Theoretical<br />

Concepts and Recent Research in Political Geography. In:<br />

Geojournal 50 (2000) S. 37-43.<br />

Reuber, P. Politische Geographie - neuere Ansätze <strong>und</strong> empirische<br />

Bef<strong>und</strong>e. Berichte aus dem Arbeitsbereich Anthropo-<br />

geographie 7. Heidelberg 2001, S. 8f.<br />

Reuber, P. Raumbezogene politische Konflikte: Geographische<br />

Konfliktforschung am Beispiel von Gemeindegebietsreformen.<br />

Erdk<strong>und</strong>liches Wissen Bd. 131. Stuttgart (Steiner)<br />

1999.<br />

Schultz, H.-D. „Was ist des Deutschen Vaterland?“ Geographie<br />

<strong>und</strong> Nationaistaat vor dem Ersten Weltkrieg. In: Geographische<br />

R<strong>und</strong>schau 47(9) (1995), S. 492-497.<br />

Schultz, H.-D. „Deutschland? aber wo liegt es?“ Zum Naturalismus<br />

im Weltbild der deutschen Nationalbewegung <strong>und</strong> der<br />

klassischen deutschen Geographie. In: Ehlers, E. Deutschland<br />

<strong>und</strong> Europa.<br />

Historische, poiitische <strong>und</strong> geographische<br />

Aspekte. Festschrift zum 51. Deutschen Geographentag<br />

Bonn 1997: „Europa in einer Welt im Wandel“. Bonn (Collo-<br />

qium Geographicum, 24) 1997, S. 85-104.<br />

Schultz, H.-D. Herder <strong>und</strong> Ratzel: Zwei Extreme, ein Paradigma?<br />

In: Erdk<strong>und</strong>e 52 (1998) S. 127-143.<br />

Scott, A.J. et a i (Hrsg.) Global city regions. Conference theme<br />

paper (1999). www.spssr.ucla.edu/globalcityregions/Abstracts/abstracts.html.<br />

Wolkersdorfer, G. Karl Haushofer and Geopolitics - the History o f<br />

a German Mythos. In: Geopolitics 4(3) (1999) S. 145- 160.<br />

Wolkersdorfer, G. Politische Geographie <strong>und</strong> Geopolitik zwischen<br />

Moderne <strong>und</strong> Postmoderne. Heidelberger Geographische Arbeiten,<br />

Heidelberg, Bd. 111 (2001).<br />

Ziegfeld, A. H.; Braun, F. Deutschlands Schicksalswende 1 9 1 3 -<br />

1933 in geopolitischer Darstellung. Geopolitischer Geschichtsatlas<br />

4. Dresden (Ehlermann) 1934.


11 Verstädterung<br />

I-.—.—<br />

z l .<br />

.4 * .<br />

iiii^i<br />

a<br />

Der United Nations International Children’s F<strong>und</strong> (UNICEF)' hat die<br />

unkontrolliert ablaufende Verstädterung in weniger entwickelten Ländern<br />

für die weit verbreitete Entstehung von „Gefahrenzonen“ verantwortlich<br />

gemacht, in denen eine wachsende Zahl von Kindern unter zwölf Jahren<br />

zum Betteln, zur Prostitution <strong>und</strong> zu manueller Arbeit gezwungen sind.<br />

Unter Hinweis auf die Tatsache, dass die Einwohnerzahl von Städten<br />

doppelt so rasch wächst wie die Bevölkerung insgesamt, machte die<br />

UNICEF darauf aufmerksam, dass zu viele Menschen in Städte gedrängt<br />

werden, für die dort weder Arbeitsplätze <strong>und</strong> Wohnungen noch Schulen<br />

zur Verfügung stehen. Die Folge ist, dass Familien- <strong>und</strong> Gemeinschaftsstrukturen,<br />

die Kindern Schutz <strong>und</strong> Versorgung bieten, zerstört werden<br />

<strong>und</strong> immer mehr Kinder arbeiten müssen. Für H<strong>und</strong>erttausende von<br />

ihnen in den weniger entwickelten Ländern bedeutet dabei Arbeit alles,<br />

was irgendwie das Überleben ermöglicht: Schuhe putzen, Autos zum<br />

Parken einweisen, andere Kinder von den Gästen eines Straßencafes fernhalten,<br />

im Haushalt arbeiten, Feuerwerkskörper herstellen, mit Drogen<br />

handeln.<br />

In der Welt von heute ist Verstädterung eines der wichtigsten geographischen<br />

Phänomene. Das United Nations Center for Human Settlements<br />

(UNCHS)^ hat festgestellt, dass das Wachstum von Städten <strong>und</strong> die Verstädterung<br />

ländlicher Räume aufgr<strong>und</strong> des weltweiten Übergangs zu technologisch,<br />

industriell <strong>und</strong> dienstleistungsorientierten Wirtschaftsformen<br />

irreversible Entwicklungen sind. Der Anteil der in Städten lebenden<br />

Bevölkerung nimmt sehr rasch zu, <strong>und</strong> wirtschaftliche, soziale, kulturelle<br />

<strong>und</strong> politische Prozesse spielen sich überall auf der Welt immer mehr<br />

innerhalb von Städten <strong>und</strong> zwischen den städtischen Siedlungssystemen<br />

ab. Die UNCHS hat auch festgehalten, dass nur wenige Länder in der<br />

Lage sind, adäquat auf den Bevölkerungsdruck zu reagieren, der auf<br />

den Städten lastet. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Problemen bisher<br />

nicht gekannten Ausmaßes auf allen Ebenen, von der Bereitstellung<br />

sauberen Trinkwassers bis hin zur Prävention von Krankheiten. Jährlich<br />

sterben in dicht besiedelten städtischen Räumen mehr als 10 Millionen<br />

Menschen aufgr<strong>und</strong> mangelhafter Wohnverhältnisse <strong>und</strong> schlechter hygienischer<br />

Bedingungen. Weltweit sind ungefähr 600 Millionen Menschen<br />

obdachlos oder leben in ungeeigneten, ja lebensgefährlichen Behausungen.<br />

Dieses Kapitel behandelt das weltweite Ausmaß <strong>und</strong> die globalen Muster<br />

der Verstädterung sowie ihre Ursachen.<br />

United Nations International Children’s F<strong>und</strong> (UNICEF) The Progress o f Nations. New York. 1995<br />

United Nations Center for Human Settlements Global Report on Human Settlements: An Urbanizing<br />

World. New York. 1995


640 11 Verstädterung<br />

Schlüsselsätze<br />

Die Städte der Erde bilden auf lokaler, regionaler<br />

<strong>und</strong> globaler Maßstabsebene zentrale Objekte humangeographischer<br />

Forschung.<br />

Die frühesten Formen der Verstädterung entwickelten<br />

sich unabhängig voneinander in verschiedenen<br />

Ursprungsgebieten der ersten agrarischen<br />

Revolution.<br />

Mit der weltweiten Ausbreitung des Handels, verb<strong>und</strong>en<br />

mit Kolonialismus <strong>und</strong> Imperialismus,<br />

entstand eine große Zahl nahe der Küste gelegener<br />

Kolonialstädte, die den Zugang zum Hinterland<br />

erschlossen, sogenannte gateway cities.<br />

Mit der industriellen Revolution nahm nicht nur<br />

die Zahl der Städte erheblich zu, sondern es entstanden<br />

auch neue Stadttypen.<br />

Der aus geographischer Sicht heute weitaus wichtigste<br />

Aspekt der weltweiten Verstädterung ist der<br />

markante Gegensatz zwischen den Kernräumen<br />

der Weltwirtschaft <strong>und</strong> Peripherregionen.<br />

Eine kleine Zahl von world cities, die mehrheitlich<br />

in den Kernregionen des Weltsystems liegen, nehmen<br />

eine Schlüsselposition hinsichtlich der Organisation<br />

der globalen Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur ein.<br />

In vielen der größten Städte der Peripherie verdoppelt<br />

sich die Einwohnerzahl innerhalb von nur 10<br />

bis 15 Jahren.<br />

Viele Megastädte der Peripherie sind Primatstädte<br />

mit hoher Zentralität innerhalb des jeweiligen<br />

Städtesystems.<br />

Durch die Vernetzung von Transport-, Verkehrs-,<br />

Informationswesen <strong>und</strong> Technologie entsteht eine<br />

enge Verbindung zwischen Globalisierung <strong>und</strong><br />

Verstädterung.<br />

Stadtgeographie<br />

<strong>und</strong> Verstädterung<br />

Die städtischen Räume der Erde, von kleinen Marktstädten<br />

<strong>und</strong> Fischereihäfen bis zu Megastädten mit<br />

Millionen von Einwohnern, sind Kernthemen humangeographischer<br />

Betrachtung (Exkurs „Stadtgeographie<br />

als ,Summe’ ihrer Forschungsgcschichtc“).<br />

Städte waren schon immer ein zentrales Element in<br />

der räumlichen Organisation <strong>und</strong> Entwicklung von<br />

Gesellschaften, aber heute ist ihre Bedeutung größer<br />

als jemals zuvor. Zwischen 1980 <strong>und</strong> 2000 ist die Zahl<br />

der Stadtbewohner um 1,1 Milliarden angestiegen.<br />

Fast die Hälfte der Weltbevölkerung lebt heute in<br />

Städten. Ein großer Teil der Industriestaaten ist fast<br />

vollständig verstädtert, <strong>und</strong> in den peripheren <strong>und</strong><br />

semiperipheren Ländern ist die Verstädterungsrate<br />

gegenwärtig höher denn je (Abbildung 11.1). 1996<br />

fand in Istanbul der Weltsiedlungsgipfel der Vereinten<br />

Nationen (United Nations Human Settlements<br />

Programme, UN-HABITAT) statt. Statistiken, die<br />

für den Tagungsbericht erstellt wurden, gehen davon<br />

aus, dass um das Jahr 2030 circa 60 Prozent der Weltbevölkerung<br />

in Städten leben werden, <strong>und</strong> zwar 80<br />

Prozent davon in den Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländern.<br />

Das bedeutet, dass es pro Monat eine Stadt<br />

mit 1 Million Menschen mehr geben wird. Verstädterung<br />

dieses Ausmaßes ist ein geographisches Phänomen<br />

von außerordentlicher Tragweite.<br />

Städte sind die Motoren wirtschaftlicher Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Zentren kultureller Innovation, sozialer<br />

Veränderungen <strong>und</strong> politischen Wandels. Sie können<br />

auch Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung sein.<br />

Große Städte wie London, Los Angeles, Mexiko-Stadt<br />

oder Paris erreichen ungefähr die gleiche Wertschöpfung<br />

wie ganze Länder insgesamt, zum Beispiel<br />

Australien oder Schweden. Die Wertschöpfung von<br />

New York entspricht sogar der von ganz China.<br />

Obwohl in den Städten oft soziale Probleme <strong>und</strong><br />

Umweltprobleme bestehen, sind sie doch wichtige<br />

Elemente der wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen Organisation.<br />

Experten weisen auf vier gr<strong>und</strong>legende Funktionen<br />

von Städten hin:<br />

• Städte bringen Entwicklungen in Gang. Mit ihrer<br />

technischen Infrastruktur <strong>und</strong> ihrer großen <strong>und</strong><br />

sehr heterogen zusammengesetzten Bevölkerung<br />

bilden sie Orte, an denen Unternehmer aktiv werden<br />

können. Mit anderen Worten: Städte stellen<br />

einen effizienten Rahmen für die Organisation<br />

von Arbeit <strong>und</strong> Kapital sowie für den Absatz<br />

von Konsumgütern dar. In Entwicklungsländern<br />

erwirtschaftet die städtische Bevölkerung, die<br />

nur ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmacht,<br />

immerhin 60 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts.<br />

• In Städten werden Entscheidungen getroffen. Da<br />

die Entscheidungsträger öffentlicher wie privater<br />

Institutionen ihre Standorte in Städten haben,<br />

konzentriert sich hier politische <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Macht.<br />

• In Städten werden neue Entwicklungen angestoßen.<br />

Die Bevölkerungskonzentration in Städten<br />

führt zu intensiver Interaktion <strong>und</strong> starker Konkurrenz.<br />

Dadurch kommt es eher zu Innovationen,<br />

Wissenszuwachs <strong>und</strong> Informationsaustausch.


Stadtgeographie <strong>und</strong> Verstädterung 641<br />

11.1 Entwicklung der Verstädterung 2000-2005 Die Abbildung zeigt die jährliche Zunahme der Verstädterung zwischen<br />

2000 <strong>und</strong> 2005 in Relation zur Bevölkerungszahl. Schon stark verstädterte Kernräume der Weltwirtschaft wachsen nur noch langsam,<br />

während die städtische Bevölkerung in Peripherregionen wie Angola, Bur<strong>und</strong>i, Liberia oder Somalia mehr als 5 Prozent Jedes<br />

Jahr angestiegen ist. Daraus resultieren große Probleme bei der Schaffung von Wohnraum, Arbeitsplätzen <strong>und</strong> öffentlichen<br />

Dienstleistungen. (Quelle: Daten aus United Nations Department o f Economic and Social Affairs, Population Division, World Urbanization<br />

Prospects: The 2003 Revision, 2004, S. 70-78)<br />

• In Städten werden Dinge verändert. Größe, Dichte<br />

<strong>und</strong> Vielfalt der städtischen Bevölkerungen bewirken<br />

eine Liberalisierung der Lebensverhältnisse.<br />

Menschen können sich aus den Zwängen einer traditionellen<br />

ländlichen Gesellschaft lösen <strong>und</strong> an<br />

unterschiedlichen Lebensstilen <strong>und</strong> Verhaltensweisen<br />

teilhaben.<br />

Die Stadtgeographie beschäftigt sich mit der Entwicklung<br />

von Städten in allen Teilen der Welt, wobei sie<br />

Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Unterschieden sowohl zwischen<br />

Städten wie auch innerhalb von städtischen Siedlungen<br />

besondere Aufmerksamkeit widmet. Im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehen dabei unter anderem die folgenden<br />

Fragen: In welchen Merkmalen unterscheiden sich<br />

Städte? Wie haben sich diese Unterschiede entwickelt?<br />

Welche Beziehungen <strong>und</strong> Interdependenzen<br />

bestehen zwischen bestimmten Gruppen von Städten?<br />

Welche Beziehungen bestehen zwischen Städten<br />

<strong>und</strong> ihrem Umland? Gibt es erkennbare Regelhaftigkeiten<br />

hinsichtlich räumlicher Landnutzungsmuster,<br />

sozialräumlicher Gliederungsmerkmale oder im<br />

Gr<strong>und</strong>riss <strong>und</strong> der baulichen Gestalt bestimmter<br />

Arten von Städten?<br />

Stadtgeographen interessieren sich nicht nur für<br />

Raumstrukturen <strong>und</strong> Regelhaftigkeiten als solche,<br />

sondern auch für deren Ursachen. Wie entwickeln<br />

sich zum Beispiel einzelne Stadtteile, warum sind<br />

Städte in einer bestimmten Region in einem bestimmten<br />

Zeitraum entstanden <strong>und</strong> gewachsen,<br />

<strong>und</strong> warum hat das Stadtwachstum in einer bestimmten<br />

Periode zu einer charakteristischen baulichen Gestalt<br />

geführt? Die Beschäftigung mit solchen Fragen<br />

hat Stadtgeographen zu der Erkenntnis geführt,<br />

dass Antworten darauf letztlich nur im größeren<br />

Kontext wirtschaftlicher, sozialer, kultureller <strong>und</strong> politischer<br />

Entwicklungen zu finden sind. Mit anderen<br />

Worten: Städte müssen als Teil der ökonomischen<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichen Systeme betrachtet werden,<br />

in die sie eingebettet sind.<br />

Verstädterung kann daher nicht einfach als demographischer<br />

Wachstumsprozess gesehen werden. Mit<br />

ihm verb<strong>und</strong>en sind viele andere Veränderungen<br />

quantitativer wie qualitativer Art. Aus geographischer


642 11 Verstädterung<br />

Gr<strong>und</strong>begriffe der Stadtgeographie<br />

i :<br />

i ■I<br />

Der geographische Stadtbegriff ist sehr komplex <strong>und</strong> beinhaltet<br />

eine Vielzahl von Merkmalen, beispielsweise Größe nach<br />

Einwohnerzahl, hohe Bebauungsdichte oder ein Mindestmaß<br />

an Zentralität. Demgegenüber bezieht sich der statistischadministrative<br />

Stadtbegriff im Allgemeinen auf einen Mindesteinwohnerschwellenwert,<br />

in Deutschland traditionell auf mindestens<br />

2 000 Einwohner. Darüber hinaus lassen sich, je nach<br />

an der Stadtforschung beteiligter Disziplin, unterschiedliche<br />

Stadtbegriffe ausmachen oder definieren (zum Beispiel soziologischer<br />

Stadtbegriff, Heineberg 2001).<br />

Suburbanisierung lässt sich allgemein als ein Prozess bezeichnen,<br />

„in dem sich Städte über die Grenzen ihrer bislang<br />

erreichten Besiedlung“ - in Deutschland seit dem 18./19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert - ausdehnen (Brake 2001). Meist wird darunter<br />

die Jüngere Expansion der Städte verstanden - in Deutschland<br />

vor allem seit den 1960er-Jahren - in ihr Jeweiliges Umland,<br />

genauer die Jüngere intraregionale Dekonzentration von Bevölkerung<br />

(Bevölkerungssuburbanisierung), Produktion (Gewerbe-<br />

oder Industriesuburbanisierung) sowie von Handel<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen (tertiäre Suburbanisierung, zum Beispiel<br />

auch Freizeitsuburbanisierung) in städtisch verdichteten Regionen<br />

in hoch industrialisierten Ländern.<br />

Exurbanisierung bedeutet dagegen die Verlagerung des<br />

Siedlungs- <strong>und</strong> Bevölkerungswachstums von (Groß-)Stadtre-<br />

gionen in benachbarte, noch überwiegend ländlich strukturierte<br />

oder „zwischenstädtische“ Regionen, die allerdings<br />

durch den Berufspendlerverkehr noch mit der Jeweiligen<br />

(Groß-)Stadtregion oder Kernstadt verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Zur Kennzeichnung der baulichen <strong>und</strong> auch sozio-ökonomi-<br />

schen Umformung des heute in Industriestaaten im Allgemeinen<br />

über den suburbanen Raum hinausgehenden weiteren<br />

Stadtumlands ist seit den 1960er-Jahren in der Stadtforschung<br />

Frankreichs, später auch der Schweiz <strong>und</strong> Belgiens,<br />

die Bezeichnung Periurbanisierung (périurbanisation) eingeführt<br />

worden. Charakteristisch ist bezüglich der Bebauung<br />

das Vorherrschen von Eigenheimen.<br />

Eine neuere, allerdings inhaltlich recht vage zusammenfassende<br />

Bezeichnung für verschiedene Formen dezentraler<br />

Siedlungsentwicklung ist der von dem Städtebauer Sieverts<br />

(1997) eingeführte Terminus Zwischenstadt. Aus der Sicht<br />

der Stadtforschung lässt sich inzwischen - auch international<br />

- viel diskutierte Terminus nach Hesse (2004) in verschiedener<br />

Hinsicht deuten:<br />

„Er meint sowohl die klassischen suburbanen Räume am<br />

Agglomerationsrand als auch solche Teile Suburbias, die zwischen<br />

den Kernstädten liegen <strong>und</strong> eher hybriden Charakter<br />

aufweisen, schließlich ländliche Räume mit Verstädterungsansätzen,<br />

die bisher eher als Peripherie tituliert wurden. Gelegentlich<br />

sind Stadtregionen als Ganzes adressiert. Damit<br />

hat der Autor eine erhebliche definitorische Unschärfe hintcrlassen,<br />

die nur zum Teil Ausdruck der vielfältigen Erscheinungsformen<br />

suburbaner Räume ist. Auch hinsichtlich einer<br />

Verallgemeinerung der Aussagen blieb die Zwischenstadt<br />

eher vage; Sie wurde vor allem anhand des Ruhrgebiets<br />

<strong>und</strong> der Region Rhein-Main konzeptualisiert, zweier prototypisch<br />

polyzentrischer Räume, die dem klassischen Bild von<br />

Stadt <strong>und</strong> Umland ferner sind als die meisten anderen Stadtregionen<br />

Deutschlands“.<br />

Counterurbanization (Counterurbanisierung) bezeichnet<br />

die - seit den 1970er-Jahren in hoch entwickelten westlichen<br />

Industrieländern, zunächst in den USA, beobachtete - Tendenz<br />

zur Stagnation beziehungsweise zu Bevölkerungs- <strong>und</strong><br />

Arbeitsplatzverlusten größerer Verdichtungsräume oder<br />

Stadtregionen zugunsten des Wachstums von Mittel- <strong>und</strong><br />

Kleinstädten sowie auch von ländlichen Gemeinden in häufig<br />

(nationaler) peripherer Lage oder zwischen den Verdichtungsräumen.<br />

Counterurbanisierung schließt sowohl die Suburbanisierung<br />

als auch Exurbanisierung sowie darüber hinaus auch<br />

Umverteilungen zwischen Großstädten oder Stadtregionen<br />

aus.<br />

Verstädterung, häufig auch als Urbanisierung bezeichnet,<br />

ist - wie der Begriff „Stadt“ - sehr komplex. Unterscheiden<br />

lassen sich verschiedene Dimensionen, beispielsweise die<br />

demographische, physiognomische, funktionale, soziale Verstädterung<br />

H. Heineberg 2006<br />

Sicht lässt sich das Phänomen der Verstädterung auf<br />

unterschiedliche Weise erfassen. Einer der wichtigsten<br />

Zugänge ist die Analyse der Merkmale <strong>und</strong> der<br />

Dynamik städtischer Systeme. Unter einem Städtesystem<br />

versteht man eine Anzahl von Städten in einer<br />

bestimmten Region, die durch Wechselwirkungen<br />

miteinander verflochten sind. So spricht man etwa<br />

vom Städtesystem Frankreichs oder Afrikas oder<br />

auch von einem globalen städtischen Siedlungssystem.<br />

Im Verlauf der Verstädterung waren die Merkmale<br />

städtischer Systeme naturgemäß von der Tatsache<br />

bestimmt, dass eine immer größere Zahl von<br />

Menschen in immer größeren Städten lebt. Darüber<br />

hinaus kommt es zu Verschiebungen der Größenverhältnisse,<br />

zu Veränderungen der funktionalen Beziehungen<br />

zwischen Städten <strong>und</strong> zu einem strukturellen<br />

Wandel des Arbeitsmarktes <strong>und</strong> der Bevölkerung.<br />

Ein weiterer wichtiger Aspekt des Verstädterungsprozesses<br />

bezieht sich auf die Veränderung der Stadtmorphologie.<br />

Als Stadtmorphologie bezeichnet man<br />

die physische Struktur <strong>und</strong> die Organisation von<br />

Städten hinsichtlich Landnutzung, Gr<strong>und</strong>rissgestaltung<br />

<strong>und</strong> Bauformen. Mit der Verstädterung dehnen<br />

sich Städte nicht nur räumlich aus, indem sie in die<br />

Fläche <strong>und</strong> in die Höhe wachsen; sie erfahren außerdem<br />

Veränderungen bezüglich ihrer räumlichen Organisation,<br />

ihrer inneren Differenzierung <strong>und</strong> ihrer<br />

baulichen Gestaltungsmerkmale.


Stadtgeographie <strong>und</strong> Verstädterung 643<br />

Stadtgeographie als „Summe“ ihrer Forschungsgeschichte<br />

Stadtgeographie ist wie viele Teildisziplinen der Allgemeinen<br />

Geographie kein klar gegen andere Zweige der Geographie<br />

beziehungsweise gegen die Nachbarwissenschaften abgegrenztes<br />

Fachgebiet, sondern ein interdisziplinäres Forschungsfeld.<br />

Notwendigerweise bestehen enge Beziehungen<br />

der geographischen Stadtforschung zur Stadtsoziologie wie<br />

auch zu anderen Sozial- <strong>und</strong> Verhaltenswissenschaften sowie<br />

zur Planung <strong>und</strong> Kommunalwissenschaft, natürlich auch zu<br />

Architektur <strong>und</strong> Städtebau, Verkehrswissenschaft <strong>und</strong> Demographie.<br />

Was Stadtgeographen heute forschen, wie stadtgeographische<br />

Lehrbücher aufgebaut sind, versteht man am besten,<br />

wenn man die Geschichte der Stadtgeographie besser kennt.<br />

Die heutige Stadtgeographie ist gewissermaßen die Summe<br />

ihrer Forschungsgeschichte, eine Art medley verschiedener<br />

Fragestellungen <strong>und</strong> Forschungsmethoden.<br />

Die morphogenetische Stadtgeographie, die seit dem<br />

Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand <strong>und</strong> in den 1920-Jahren<br />

einen ersten Flöhepunkt erfuhr, hat die Analyse von Lage,<br />

Gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Aufrissgestaltung der Städte (also der formalen<br />

Elemente der Stadt, ihrer Physiognomie) zum Thema, ferner<br />

die Genese, das heißt Entwicklung dieser Formenelemente<br />

im Laufe der Stadtgeschichte. Fleute sind physiognomische<br />

beziehungsweise genetische Aspekte vor allem bei Fragen<br />

der Stadterhaltung beziehungsweise behutsamen Stadterneuerungen<br />

von Bedeutung.<br />

Die funktionale Stadtgeographie knüpft an stadtgeographische<br />

Pionierarbeiten der späten 1920er- <strong>und</strong> 30er-Jahre an<br />

(Bobek 1928; Christaller 1933). Flierbei geht es nicht um in<br />

der Landschaft direkt wahrnehmbare Phänomene, sondern<br />

um funktionale Beziehungen, beispielsweise Stadt-Umland-<br />

Beziehungen, sowie um wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Tätigkeiten<br />

<strong>und</strong> Nutzungen in der Stadt. Die Zentralitätsforschung, die<br />

Städte als zentrale Versorgungsorte für ihr Umland begreift,<br />

ist eine typische Forschungsrichtung funktionaler Stadtgeographie.<br />

Mit der sozialgeographischen Umorientierung der Flu-<br />

mangeographie seit den 1960er-Jahren bezog auch die geographische<br />

Stadtforschung stärker soziologische Fragestellungen<br />

mit ein, beispielsweise die nach den Gruppen <strong>und</strong><br />

Schichten, welche Städte prägen - insbesondere die räumliche<br />

Analyse der Daseinsgr<strong>und</strong>funktionen (Wohnen, Arbeiten,<br />

Methodenverb<strong>und</strong><br />

(u.a. statistische Methoden, EDV, geographische Informationssysteme,<br />

computergestützte Kartographie, Stadtkartographie,<br />

Luftbild- <strong>und</strong> Karteninterpretation)<br />

Stadtbezogene Forschung in anderen Teildisziplinen<br />

der Geographie<br />

{u.a. Sozial-, Bevölkerungs-, Wirtschafts- <strong>und</strong> Verkehrsgeographie,<br />

Geographie des tertiären Wirtschaftssektors, Stadtökologie)<br />

angewandte<br />

Stadtgeogr.<br />

globale/internationale Ebene<br />

T<br />

1910<br />

1<br />

1920<br />

Verhaltensorient.<br />

Stadtgeographie<br />

quantitative<br />

Stadtgeographie<br />

kulturgenetische<br />

Stadtgeographie<br />

funktionale Stadtgeographie/Zentralitäts-/<br />

Städtesystemforschung<br />

morphogenetische Stadtgeographie<br />

(Stadtmorphologie, Stadtgestaltungsforschung)<br />

1 1 \ 1 1<br />

1930 1940 1950 1960 1970 1980<br />

allgemeine Stadtgeographie<br />

Entwicklung nach Hauptforschungsrichtungen<br />

D<br />

XüCO<br />

cc:<br />

O u.<br />

O<br />

CO<br />

Ul<br />

X<br />

ü<br />

X o.<br />

ü<br />

o<br />

Ul<br />

ü<br />

nationale/interregionale Ebene<br />

intraregionale Ebene<br />

(z. B. Stadtregion)<br />

gesamtstädtische/gemeindliche<br />

Ebene<br />

Mesoebene in der Stadt<br />

(z. B. City, Stadtviertel)<br />

Mikroebene in der Stadt<br />

(z. B. Einzelstandorte)<br />

räumliche Bezugsebenen<br />

*Ḏ<br />

£<br />

<br />

.E CO<br />

historische Stadtgeographie<br />

regionale Stadtgeographie<br />

(u.a. Stadtmonographie, -vergleiche)<br />

Nachbarwissenschaften/interdiszipiinäre Stadtforschung<br />

(u.a. historische Stadtforschung, empirische Sozialforschung,<br />

Stadtsoziologie, Städtebau, Raumplanung)<br />

regionale Geographie/Regional- <strong>und</strong> Entwicklungsforschung<br />

Die<br />

Stadtgeographie in Deutschland im Rahmen der interdisziplinären Stadtforschung


644 11 Verstädterung<br />

Sich Versorgen, Freizeitgestaltung <strong>und</strong> so weiter), ihrer Standorte,<br />

Flächenansprüche <strong>und</strong> räumlichen Wirkungen. Die Untersuchung<br />

von gruppenspezifischen Aktionsräumen gehören<br />

seit dieser Zeit zum Themenbestand der Stadtgeographie.<br />

Während sich seit den 1960er-Jahren die Stadtgeographie<br />

stärker an der Soziologie orientierte, waren die späten<br />

1970er- <strong>und</strong> 80er-Jahre durch stärker psychologische, verhaltenswissenschaftliche<br />

Fragestellungen gekennzeichnet. Die<br />

verhaltensorientierte Stadtgeographie beschäftigt sich<br />

mit der Wahrnehmung städtischer Strukturen <strong>und</strong> deren Auswirkungen<br />

auf das raumrelevante Verhalten, mit den kognitiven<br />

Karten (mental maps) in den Köpfen von Stadtbewohnern<br />

sowie der Analyse von Flandlungen, zum Beispiel aktionsräumlichem<br />

Verhalten.<br />

Gewissermaßen quer zu diesem Entwicklungsstrang der<br />

Stadtgeographie liegen einige weitere Kategorien, die Fleine-<br />

berg (2000) in seinem Lehrbuch der Stadtgeographie nennt.<br />

Die kulturgenetische, stadtvergleichende Stadtgeographie<br />

reicht bis in die 1930er-Jahre zurück (Passarge 1930).<br />

Seit den 1950er-Jahren, mit der Zunahme an Forschungen<br />

zu außereuropäischen Städten, wurde dieser Ansatz systematisch<br />

fortentwickelt. Hierbei geht es um typische Kennzeichen<br />

<strong>und</strong> Strukturmerkmale von Städten in unterschiedlichen Kulturräumen<br />

- zum Beispiel in Lateinamerika, in Japan, im islamischen<br />

Orient - <strong>und</strong> die Entwicklung von Modellvorstellungen<br />

zur inneren Gliederung dieser Städte. Auch lassen sich<br />

Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich analysieren.<br />

Mit der quantitativ-theoretischen Revolution der Geographie<br />

seit den 1960er-jahren, mit der Hinwendung zur analy-<br />

tisch-szientistischen Wissenschaftstheorie, erfuhr auch die<br />

Stadtgeographie eine stärker quantitative <strong>und</strong> theoretische<br />

Ausrichtung. Diese äußerte sich einerseits in (erneuten) Ansätzen<br />

zur Schaffung beziehungsweise Weiterentwicklung von<br />

Stadtstrukturmodellen (zum Beispiel Fortentwicklung der<br />

Stadtstrukturmodelle der Chicagoer Schule zu Simulationsmodellen<br />

städtischer Entwicklung), andererseits im Einsatz<br />

von EDV <strong>und</strong> multivariaten statistischen Verfahren zur inneren<br />

Differenzierung von Städten, zur Analyse städtischer Segregationsprozesse<br />

<strong>und</strong> so weiter.<br />

Seit Schaffung der Diplomstudiengänge Geographie in<br />

Deutschland in den 1970er-Jahren wandte sich die geographische<br />

Stadtforschung verstärkt angewandten, planungsbezogenen<br />

Fragestellungen zu. Dieses Feld ist heute sehr<br />

vielfältig <strong>und</strong> ausdifferenziert. Es reicht von integrierenden<br />

Studien <strong>und</strong> Gutachten zur Stadterneuerung über Einzelhandelsforschung<br />

<strong>und</strong> sektorale Planungen, zum Beispiel zur Verkehrsberuhigung,<br />

Grünplanung oder Infrastrukturplanung, bis<br />

hin zu Fragen des Stadtmarketing <strong>und</strong> anderem mehr.<br />

H. Gebhardt, nach Heineberg (2000) verändert <strong>und</strong> ergänzt<br />

Diese Transformationen stehen wiederum in engem<br />

Zusammenhang mit einem dritten Aspekt des<br />

Wandels: dem der städtischen Sozial- <strong>und</strong> Bevölkerungsstruktur.<br />

Der im ersten Drittel des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts insbesondere von Soziologen der Universität<br />

Chicago entwickelte Ansatz der Sozialökologie<br />

betrachtet die soziale <strong>und</strong> demographische Struktur<br />

der Bevölkerung in Stadtteilen <strong>und</strong> Stadtvierteln.<br />

Im Zuge der Verstädterung kommen nicht nur mehr<br />

Menschen in die Städte, sondern auch ein breiteres<br />

Spektrum unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen.<br />

Mit der räumlichen Trennung sozialer, wirtschaftlicher,<br />

demographischer <strong>und</strong> ethnischer Teilgruppen<br />

entstehen deutlich unterscheidbare sozialräumliche<br />

Viertel, die sich wandeln, wenn neue Gruppen zuwandern<br />

<strong>und</strong> ältere verschwinden.<br />

Ein vierter Gesichtspunkt des Wandels durch Verstädterung<br />

bezieht sich auf die Einstellungen <strong>und</strong> das<br />

Verhalten von Menschen. Die Befreiung von Zwängen<br />

in der städtischen Umgebung führt zu neuen Formen<br />

der sozialen Interaktion <strong>und</strong> zu neuen Lebensstilen.<br />

Diese Veränderungen lassen sich im Konzept<br />

der Urbanität zusammenfassen, das die Formen sozialer<br />

<strong>und</strong> kultureller Organisation in städtischen<br />

Umwelten beschreibt. Als Urbanität werden die<br />

sich unter dem Einfluss städtischer Umgebungen herausbildenden<br />

Lebensweisen bezeichnet, wobei die<br />

Anzahl <strong>und</strong> Unterschiedlichkeit der Individuen sowie<br />

die räumliche Dichte häufig zu ganz bestimmten<br />

Haltungen, Wertmaßstäben <strong>und</strong> Verhaltensmustern<br />

führen. Geographen interessieren sich für Urbanität,<br />

weil sich diesbezüglich Unterschiede sowohl innerhalb<br />

von Städten wie auch zwischen Städten erkennen<br />

lassen.<br />

, Frühe städtische Siedlungen<br />

Eine geographische Analyse muss Städte in ihren historischen<br />

Kontext stellen, schließlich haben sich<br />

viele Städte der Welt über einen langen Zeitraum hinweg<br />

entwickelt. Eine Stadt, egal ob sie erst seit wenigen<br />

Jahrzehnten oder schon seit Jahrh<strong>und</strong>erten oder<br />

Jahrtausenden besteht, ist nur zu begreifen, wenn<br />

man etwas darüber weiß, warum <strong>und</strong> in welchem<br />

Tempo sie gewachsen ist <strong>und</strong> welche Prozesse sie<br />

wachsen ließen.<br />

Man kann festhalten, dass die frühesten Städtebildungen<br />

unabhängig voneinander in verschiedenen<br />

Kerngebieten der ersten agrarischen Revolution aiiftraten.<br />

Im Vorderen Orient begannen sich um etwa<br />

3500 V . ehr. eigenständige städtische Kulturen in<br />

den Flussniederungen von Euphrat <strong>und</strong> Tigris in<br />

Mesopotamien sowie im Niltal herauszuhilden


Frühe städtische Siedlungen 645<br />

11.2 Erbil Erbil im nordwestlichen<br />

Irak liegt auf der Spitze eines Teils,<br />

eines Hügels, der aus den Überresten<br />

von Generationen von Lehmziegelgebäuden<br />

aufgebaut wird. Dieser<br />

über 30 Meter hohe Hügel repräsentiert<br />

möglicherweise 6 000 Jahre<br />

kontinuierliche Besiedlung im Zweistromland.<br />

(Kapitel 4). Die intensiv agrarisch genutzten<br />

Schwemmebenen bildeten den sogenannten fruchtbaren<br />

Halbmond. In Mesopotamien entwickelten<br />

sich einige Ackerbaustädte, die in den fruchtbaren alluvialen<br />

Talauen lagen, zu großen konkurrierenden<br />

Stadtstaaten des sumerischen Reichs wie zum Beispiel<br />

Ur im heutigen Irak, das von 2300 bis 2180 v. Chr. die<br />

Hauptstadt des sumerischen Reiches war, Eridu,<br />

Uruk <strong>und</strong> Erbil im heutigen Kurdistan (Abbildung<br />

11.2). In diesen befestigten Stadtstaaten wohnten<br />

Zehntausende Menschen unterschiedlichster sozialer,<br />

religiöser, politischer <strong>und</strong> militärischer Schichten, die<br />

innovative Technologien, wie zum Beispiel gewaltige<br />

Bewässerungsanlagen, entwickelten <strong>und</strong> ausdehnte<br />

Handelsbeziehungen unterhielten. Seit dem fahr<br />

11.3 Euphrat Der Euphrat neben dem Tigris der wichtigste<br />

Strom des Zweistromlandes, durchquert heute die Staaten<br />

Türkei, Syrien <strong>und</strong> Irak, ehe er in einem Delta ins Persische Meer<br />

mündet.<br />

1885 V . Chr. hatten die Babylonier die Herrschaft<br />

über das Sumerische Reich übernommen <strong>und</strong> regierten<br />

es von Babylon aus, der Hauptstadt des Reichs.<br />

Ägypten war bereits 3100 v. Chr. zu einem Staat geeint<br />

worden. Die Ägypter legten gewaltige Bewässerungssysteme<br />

an, die mit dem Wasser des Nils gespeist<br />

wurden <strong>und</strong> unter anderem der Bewässerung<br />

der Felder dienten. Außerdem versorgten sie viele<br />

Hauptstädte wie Theben, Achet-Aton (Amarna)<br />

<strong>und</strong> Tanis mit Trinkwasser. Zur dieser Zeit herrschte<br />

in Ägypten Frieden, sodass die Städte ihren Reichtum<br />

nicht in aufwendige Verteidigungsanlagen investieren<br />

mussten. leder Pharao konnte eine neue Hauptstadt<br />

an der Stelle seines späteren Grabes anlegen. Nach seinem<br />

Tod wurde die Stadt allerdings für gewöhnlich<br />

aufgegeben.<br />

Ab etwa 2500 v. Chr. gab es schon Städte im Industal,<br />

<strong>und</strong> um 1800 v. Chr. treten im nördlichen<br />

China städtische Siedlungen auf. In Mittelamerika<br />

entstand ab etwa 100 v. Chr. ein eigenständiges Städtewesen,<br />

während sich im andinen Südamerika die<br />

ersten Städte um 800 n. Chr. etablierten. Gleichzeitig<br />

bildeten sich, ausgehend vom Kerngebiet der Stadtentstehung<br />

im Vorderen Orient, weitere Generationen<br />

von Großreichen heraus, die wie das alte Griechenland<br />

(Abbildung 11.4), das Römische Imperium<br />

<strong>und</strong> das Byzantinische Reich auf Städten aufbauten.<br />

Die Frage, wie <strong>und</strong> weshalb sich diese frühen Übergänge<br />

von Minisystemen auf der Basis von Subsistenzwirtschaft<br />

zu städtisch geprägten Weltreichen<br />

vollzogen, beantworten Wissenschaftler unterschiedlich.<br />

Die klassische Interpretation aus archäologischer<br />

Sicht betont das Vorhandensein eines Überschusses<br />

an Agrarprodukten, der ausreichte, spezialisierte<br />

nicht landwirtschaftliche Arbeitskräfte mitzuernähren.<br />

Ein Teil der Verstädterung dürfte aber wohl<br />

auch auf den zunehmenden Bevölkerungsdruck zurückzuführen<br />

sein, der, so nimmt man an, das Gleich-


646 11 Verstädterung<br />

11.4 Die griechische<br />

Kolonisation Die Griechen<br />

betrieben ab dem<br />

8. Jahrh<strong>und</strong>ert v. Chr. im<br />

gesamten Raum der Ägäis<br />

Handel <strong>und</strong> kolonisierten<br />

diese Gebiete. Später<br />

dehnten sie ihre Aktivitäten<br />

in das zentrale Mittelmeergebiet<br />

<strong>und</strong> zum<br />

Schwarzen Meer hin aus,<br />

wo ihre Siedlungen wichtige<br />

Ansatzpunkte der<br />

nachfolgenden Verstädterung<br />

bildeten. Die in der<br />

Karte farbig unterlegten<br />

Flächen markieren das<br />

Verbreitungsgebiet der<br />

poHs, des griechischen<br />

Ideals eines demokratischen<br />

Stadtstaates.<br />

(Quelle: Karte in Rieh, j.;<br />

Wallace-Hadrill, A. (Hrsg.)<br />

City and Country in the<br />

Ancient World. London<br />

(Routledge) 1991.)<br />

gewicht zwischen Bevölkerung <strong>und</strong> Ressourcen gestört<br />

hat, sodass Teile der Bevölkerung gezwungen<br />

waren, in landwirtschaftliche Ungunsträume abzuwandern.<br />

Dort musste die Bevölkerung entweder<br />

neue Techniken der Nahrungsmittelproduktion<br />

<strong>und</strong> -Bevorratung entwickeln oder aber eine neue<br />

ökonomische Basis suchen, die auf Dienstleistungen,<br />

etwa in den Bereichen des Handels, der Religion oder<br />

der Verteidigung, beruhte. Jede dieser Wirtschaftsformen<br />

erforderte eine Konzentration von Bevölkerung<br />

in städtischen Siedlungen.<br />

Die meisten Wissenschaftler stimmen darin überein,<br />

dass der Wandel sozialer Organisationsformen<br />

eine wichtige Voraussetzung der Verstädterung darstellte.<br />

Insbesondere mussten sich Gruppen herausbilden,<br />

die in der Lage waren, Tributleistungen zu erzwingen,<br />

Steuern aufzuerlegen <strong>und</strong> das Arbeitskräftepotenzial<br />

organisiert einzusetzen - meist geschah dies<br />

entweder auf der Basis religiöser Überzeugungen oder<br />

aber durch militärische Gewalt. Hatten sich solche<br />

Elitegruppen einmal etabliert, regten sie die Entwicklung<br />

von Städten an, indem sie ihren Reichtum für<br />

den Bau von Palästen, Arenen <strong>und</strong> Denkmälern einsetzten,<br />

um so ihrer Macht <strong>und</strong> ihrem Status Aus-<br />

druck zu verleihen. Diese Aktivitäten führten nicht<br />

nur zur Ausbildung der baulichen Kerne früher Städte,<br />

sie erforderten auch zunehmende Spezialisierungen<br />

in nicht agrarischen Bereichen wie Bauwesen,<br />

Handwerk, Verwaltung, Priestertum, Militär <strong>und</strong> anderes<br />

mehr. Derlei Tätigkeiten <strong>und</strong> Funktionen<br />

konnten allesamt nur in einem städtischen Milieu erfolgreich<br />

organisiert werden. Um 1000 n. Chr. hatten<br />

sich auf Stadtkulturen basierende Großreiche in<br />

Europa, im Vorderen Orient <strong>und</strong> in China herausgebildet,<br />

in denen es ein Dutzend größerer Städte<br />

mit 100 000 <strong>und</strong> mehr Einwohnern gab.<br />

Die auf Städten begründeten Wirtschaften von<br />

Weltreichen waren allerdings sehr krisenanfällig,<br />

<strong>und</strong> vielfach fielen sie auf den Stand von Agrargesellschaften<br />

zurück, bevor sie neue Impulse erfuhren<br />

oder abermals kolonisiert wurden. In einigen Fällen<br />

resultierte der Niedergang von Weltreichen aus demographischen<br />

Krisen infolge von Kriegen oder Epidemien.<br />

Solche Ereignisse ließen die Bevölkerung<br />

häufig so stark abnehmen, dass die soziale <strong>und</strong> ökonomische<br />

Infrastruktur als unabdingbare Voraussetzung<br />

für Urbanität nicht aufrechterhalten werden<br />

konnte. Der Mangel an Arbeitskräften scheint we-


Frühe städtische Siedlungen 647<br />

sentlich zum späteren Zerfall des mesopotamischen<br />

Reichs beigetragen zu haben, <strong>und</strong> Ähnliches mag<br />

beim Niedergang des Maya-Reichs mehr als 500 Jahre<br />

vor dem Eintreffen der Spanier der Fall gewesen sein.<br />

Auch die BevöLkerungszahl des Römischen Imperiums<br />

war ab dem 2. Jahrh<strong>und</strong>ert n. Chr. rückläufig.<br />

Infolge des daraus resultierenden Arbeitskräftemangels<br />

fiel Ackerland brach, <strong>und</strong> Städte entvölkerten<br />

sich. So konnten Siedler <strong>und</strong> schließlich ganze Stämme<br />

von „Barbaren“ aus den germanischen Gebieten<br />

Ostmitteleuropas Vordringen.<br />

Ursprünge <strong>und</strong> Ausweitung des<br />

I europäischen Städtewesens<br />

Während der dunklen Jahrh<strong>und</strong>erte des frühen Mittelalters<br />

von 476 bis 1000 n. Chr. brach das Städtewesen,<br />

das die Griechen etabliert <strong>und</strong> die Römer<br />

zur Blüte gebracht hatten, in Europa fast vollständig<br />

zusammen. In dieser Periode entstanden feudalistische<br />

Herrschaftsgebilde mit einem kleinteiligen Mosaik<br />

statischer, nach innen gerichteter Herrschaftsbereiche.<br />

Die ökonomische <strong>und</strong> soziale Organisation<br />

der germanischen Stämme, welche in das sich auflösende<br />

Römerreich eingedrungen waren, war überwiegend<br />

landwirtschaftlich orientiert. Gleichwohl bildete<br />

sich in den folgenden Jahrh<strong>und</strong>erten allmählich ein<br />

komplexes Städtesystem heraus.<br />

Das frühmittelalterliche Europa bestand überwiegend<br />

aus agrarisch geprägten Königreichen <strong>und</strong> Fürstentümern.<br />

Jede dieser Herrschaften produzierte<br />

mehr oder weniger ausreichend Nahrungsmittel,<br />

um die eigene Bevölkerung zu ernähren, <strong>und</strong> jede verfügte<br />

über mehr oder weniger ausreichende Rohstoffe,<br />

die für die Herstellung einfacher Produkte notwendig<br />

waren. Darüber hinaus gab es in den meisten<br />

Regionen einige wenige Kleinstädte, die ihre Existenz<br />

weitgehend den folgenden Funktionen verdankten:<br />

• Geistliche Zentren oder Zentren der Gelehrsamkeit<br />

- Beispiele dafür sind etwa St. Andrews in<br />

Schottland; Canterbury, Cambridge <strong>und</strong> Coventry<br />

in England; Reims <strong>und</strong> Chartres in Frankreich;<br />

Lüttich in Belgien; Köln in Deutschland; Trondheim<br />

in Norwegen <strong>und</strong> L<strong>und</strong> in Schweden.<br />

• Festungsstädte - Beispiele dafür sind unter anderem<br />

die auf Bergkuppen errichteten Städte in Mittelitalien,<br />

wie Urbino, Foligno <strong>und</strong> Montecompatri,<br />

oder Burgstädte wie Aigues-Mortes oder Montauban<br />

in Südwestfrankreich <strong>und</strong> Städte an wichtigen<br />

Einfallsrouten wie das schweizerische Bellinzona.<br />

• Verwaltungszentren - als Sitz der höherrangigen<br />

Einrichtungen in der Feudalgesellschaft. Beispiele<br />

dafür sind Köln (Abbildung 11.5), Mainz <strong>und</strong><br />

Magdeburg in Deutschland, Falkland in Schottland,<br />

Winchester in England <strong>und</strong> Toulouse in<br />

Frankreich.<br />

Ab dem 11. Jahrh<strong>und</strong>ert jedoch zerfiel das Feudalsystem<br />

allmählich, <strong>und</strong> zwar aufgr<strong>und</strong> aufeinanderfolgender<br />

demographischer, wirtschaftlicher <strong>und</strong> politischer<br />

Krisen, deren Ursachen in stetigem Bevölkerungswachstum<br />

bei gleichzeitig geringem technischem<br />

Fortschritt <strong>und</strong> nur begrenzt vorhandenem<br />

kultivierbarem Land lagen. Um ihre Einkünfte zu erhöhen<br />

<strong>und</strong> die Stärke ihrer Heere zu erhalten, forderten<br />

die Feudalherren immer höhere Abgaben, sodass<br />

die Bauern einen steigenden Anteil ihrer Erzeugnisse<br />

auf den Märkten verkaufen mussten. Dadurch entwickelte<br />

sich mit dem gleichzeitig entstehenden Handel<br />

mit landwirtschaftlichen Produkten <strong>und</strong> handwerklichen<br />

Erzeugnissen eine komplexere Geldwirtschaft.<br />

Daneben bildete sich in Mitteleuropa der Fernhandel<br />

mit Luxusgütern wie Gewürzen, Pelzen, Seide, Obst<br />

<strong>und</strong> Wein heraus. Auf dieser Basis gewannen die<br />

Städte an Größe <strong>und</strong> Bedeutung.<br />

Die so entstehenden regionalen Spezialisierungen<br />

<strong>und</strong> Handelsbeziehungen waren Gr<strong>und</strong>lage für eine<br />

neue Phase der Verstädterung auf der Basis des Merkantilismus<br />

(Abbildung 11.6). Ausgehend von den<br />

Handelsbeziehungen, die Kaufleute aus Venedig,<br />

Pisa, Genua <strong>und</strong> Florenz aufgebaut hatten, sowie<br />

den Handelsaktivitäten der Hanse - einem B<strong>und</strong><br />

von Städten vorwiegend an der Ostseeküste <strong>und</strong> im<br />

11.5 Köln Im späten 14. Jahrh<strong>und</strong>ert, als dieser Holzschnitt<br />

entstand, hatte Köln eine Bevölkerung von weniger als 25 000<br />

Einwohnern. Gleichwohl war die Stadt ein wichtiges Zentrum<br />

von Produktion <strong>und</strong> Handel, besaß den mächtigen Dom sowie<br />

eine Universität.


648 11 Verstädterung<br />

o 200 400 Kilometer / '<br />

® Großstadt<br />

größere Stadt<br />

Gent,<br />

Belgien<br />

A tla n tis c h e r<br />

Ozean<br />

Prag,<br />

Tschechien<br />

Barcflhma<br />

M itte lm e e r<br />

Palermo<br />

Venedig,<br />

Italien<br />

Pisa,<br />

Italien<br />

11.6 Europäische Städte in der Mitte des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts. Außer in Norditalien <strong>und</strong> Flandern, wo die Ausweitung der<br />

Tuchproduktion <strong>und</strong> des Handels eine vergleichsweise intensive Verstädterung erlaubten, gab es im mittelalterlichen Europa nur<br />

wenige Städte mit mehr als 10 000 Einwohnern. Ihre Größe resultierte aus herausragenden Funktionen in Venwaltung, Religion,<br />

Bildung <strong>und</strong> Wirtschaft. Um 1350 verfügten viele der größeren Städte, zum Beispiel Venedig, Prag, Gent <strong>und</strong> Pisa, schon über<br />

Universitäten <strong>und</strong> eine Vielzahl kirchlicher Einrichtungen. Entsprechend den wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Gegebenheiten der<br />

Zeit besaßen die meisten Städte eine relativ geringe Ausdehnung. (Quelle: Karte in Hohenberg, P. M.; Lees, L. H. The Making<br />

o f Urban Europa 1000- 1950. Cambridge, MA (Harvard University Press) 1985.)<br />

Baltikum - entwickelte sich bald ein überaus komplexes<br />

Handelsnetz, das Europa von Bergen bis Athen<br />

<strong>und</strong> von Lissabon bis Wien überspannte. Um 1400<br />

war der Fernhandel gut ausgebaut. Anders als in<br />

der Frühphase des Handels, als Luxusgüter im Vordergr<strong>und</strong><br />

standen, basierte dieser nun auf Massengütern<br />

wie Getreide, Wein, Salz, Wolle, Tuch <strong>und</strong><br />

Metallen. Mailand, Genua, Venedig <strong>und</strong> Brügge<br />

hatten 100 000 <strong>und</strong> mehr Einwohner. Paris war mit<br />

einer Bevölkerung von etwa 275 000 die führende<br />

Stadt Europas, jenes Kontinents, der bald nach der<br />

ganzen Welt greifen sollte.<br />

Zwischen dem 15. <strong>und</strong> dem 17. Jahrh<strong>und</strong>ert vollzogen<br />

sich eine Reihe von Wandlungen, die nicht nur<br />

die Städte <strong>und</strong> das Städtesystem Europas veränderten,<br />

sondern die gesamte Weltwirtschaft. Der Merkantilismus<br />

gewann an Bedeutung <strong>und</strong> Komplexität, die Reformation<br />

<strong>und</strong> wissenschaftliche Revolutionen gaben<br />

den Anstoß zur Neuordnung von Ökonomie <strong>und</strong> Gesellschaft.<br />

Gleichzeitig machte eine aggressiv vorangetriebene<br />

Kolonisation in Übersee die Europäer zur<br />

weltweit führenden Macht, welche die Ökonomien<br />

<strong>und</strong> Gesellschaften in den übrigen Teilen der Erde<br />

maßgeblich beeinflusste <strong>und</strong> prägte. Spanische <strong>und</strong><br />

portugiesische Kolonisten waren die ersten, die das<br />

europäische Städtesystem in die peripheren Regionen<br />

der Welt trugen. In nur 60 Jahren, zwischen 1520 <strong>und</strong><br />

1580, schufen sie die Basis für das lateinamerikanische<br />

Städtesystem. Die Spanier gründeten ihre Siedlungen<br />

vor allem dort, wo sich die Zentren indianischer<br />

Hochkulturen befanden - zum Beispiel Oaxaca<br />

<strong>und</strong> Mexiko-Stadt in Mexiko, Cajamarca <strong>und</strong> Cuzco<br />

in Peru, Quito in Ecuador - oder in Gebieten mit<br />

dichter Besiedlung durch indigene Bevölkerungsgruppen<br />

wie Puebla <strong>und</strong> Guadalajara in Mexiko<br />

oder Arequipa <strong>und</strong> Lima in Peru. Die Kolonialstädtc


Frühe städtische Siedlungen 649<br />

hatten hauptsächlich die Funktion von Verwaltungszentren<br />

<strong>und</strong> Militärstandorten, von denen aus die<br />

spanische Krone die Neue Welt erobern <strong>und</strong> ausbeuten<br />

konnte. Die portugiesischen Kolonisten ließen<br />

sich dagegen bei der Anlage ihrer Städte - Recife, Salvador,<br />

Säo Paulo <strong>und</strong> Rio de Janeiro - eher von Handelszielen<br />

leiten. Ihr Hauptmotiv war wohl ebenfalls<br />

Ausbeutung, aber sie verfolgten die Strategie, die Kolonialstädte<br />

dort zu errichten, wo der Antransport<br />

<strong>und</strong> die Ausfuhr von Erzen <strong>und</strong> Metallen sowie Plantagenerzeugnissen<br />

am besten zu organisieren waren.<br />

Die Epoche der Renaissance war eine Zeit der<br />

Umwälzungen in Europa. Es kam zu einer Konzentration<br />

politischer Macht, Staaten entstanden, erste<br />

Ansätze einer gewerblich-industrieller Entwicklung<br />

bildeten sich heraus, in weit entfernten Kolonien erbeutete<br />

Reichtümer <strong>und</strong> Produkte aus Übersee flössen<br />

in die Länder der Alten Welt. Unter diesen neuen<br />

Bedingungen genossen die Hafenstädte an der Nordsee<br />

<strong>und</strong> am Atlantik entscheidende Standortvorteile.<br />

Um 1700 hatte London eine Einwohnerzahl von<br />

500 000 erreicht, Lissabon <strong>und</strong> Amsterdam zählten<br />

beide r<strong>und</strong> 175 000 Einwohner. Die Städte im Innern<br />

des Kontinents <strong>und</strong> am Mittelmeer wuchsen deutlich<br />

langsamer. So hatte sich zur gleichen Zeit etwa<br />

die Bevölkerung Venedigs gegenüber 110 000 Einwohnern<br />

um 1400 um nur 30 000 vermehrt, <strong>und</strong><br />

Mailand war in diesem Zeitraum überhaupt nicht<br />

gewachsen.<br />

Der wichtigste Aspekt der Verstädterung während<br />

dieser Periode war allerdings die Gründung von Städten<br />

außerhalb Europas, die überall in der Welt den<br />

Zugang zum jeweiligen Hinterland eröffneten. Diese<br />

auch als gateway cities bezeichneten Städte bildeten<br />

aufgr<strong>und</strong> ihrer Lage Bindeglieder zwischen Ländern<br />

oder Regionen. Sie kontrollierten Warenströme<br />

<strong>und</strong> Personen, die in ein Gebiet gelangten oder dieses<br />

verließen. Im Zuge der Kolonisation <strong>und</strong> der Ausweitung<br />

ihrer Handelsnetze gründeten <strong>und</strong> erweiterten<br />

die europäischen Mächte Tausende von Städten. In<br />

der Mehrzahl waren es Hafenstädte, die meist aus<br />

Handelsposten <strong>und</strong> Verwaltungszentren der Kolonialmächte<br />

hervorgingen. Durch Befestigungen <strong>und</strong><br />

die Seemacht der Europäer geschützt, entwickelten<br />

sich an diesen Stützpunkten rasch Gewerbe zur Deckung<br />

des Bedarfs der Siedler sowie weiter gehende<br />

Handels- <strong>und</strong> Finanzdienstleistungen.<br />

Mit der Entwicklung der Kolonien <strong>und</strong> dem Ausbau<br />

der Handelsnetze wuchsen einige Hafenstädte<br />

sehr rasch <strong>und</strong> bildeten Ausgangspunkte für die Erweiterung<br />

der Kolonien in das Landesinnere. Wellen<br />

europäischer Siedler kamen über diese Siedlungen ins<br />

Land, <strong>und</strong> von hier aus wurden die Produkte des Binnenlandes<br />

nach Europa verschifft. Rio de Janeiro in<br />

Brasilien verdankte sein Wachstum dem Goldbergbau,<br />

Accra in Ghana dem Kakao, Buenos Aires in Argentinien<br />

dem Schaffleisch, der Wolle <strong>und</strong> dem Getreide,<br />

Kolkata - ehemals Kalkutta - in Indien der<br />

Jute, der Baumwolle <strong>und</strong> den Textilien, Säo Paulo<br />

ebenfalls in Brasilien dem Kaffee <strong>und</strong> so weiter. Da<br />

ihre Bevölkerung rasch zunahm, wurden diese Städte<br />

zu wichtigen Märkten für Importe aus Europa <strong>und</strong><br />

gewannen dadurch eine Schlüsselstellung im internationalen<br />

Handels- <strong>und</strong> Transportwesen.<br />

Industrialisierung <strong>und</strong><br />

I Verstädterung<br />

Erst im späten 18. Jahrh<strong>und</strong>ert wurde die Verstädterung<br />

zu einem bedeutenden eigenständigen Phänomen<br />

innerhalb der weltwirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Um 1800 lebten noch weniger als 5 Prozent der damaligen<br />

Weltbevölkerung von r<strong>und</strong> 980 Millionen<br />

Menschen in städtischen Siedlungen, 1950 waren es<br />

dann schon 16 Prozent, <strong>und</strong> es gab bereits über<br />

900 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern. Die Industrielle<br />

Revolution <strong>und</strong> der europäische Imperialismus<br />

hatten Bevölkerungskonzentrationen bislang<br />

nicht gekannten Ausmaßes hervorgeb rächt, die<br />

über ein dichtes, hierarchisch strukturiertes Netzwerk<br />

gegenseitiger Abhängigkeiten miteinander verflochten<br />

waren.<br />

Stadt <strong>und</strong> Industrialisierung waren untrennbar<br />

miteinander verb<strong>und</strong>ene Phänomene. Die Organisation<br />

industriell ausgerichteter Volkswirtschaften erforderte<br />

ein bedeutendes Reservoir an Arbeitskräften,<br />

ein entsprechendes Verkehrsnetz, Fabrikgebäude, Lagerhäuser,<br />

Geschäfte, Büros <strong>und</strong> schließlich die großen<br />

Absatzmärkte der Städte. In der ersten Hälfte des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts nahm mit der Ausbreitung der Industrialisierung<br />

über ganz Europa - <strong>und</strong> später in andere<br />

Teile der Welt - das Tempo der Verstädterung<br />

stetig zu. Höhere Löhne <strong>und</strong> eine große Auswahl an<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten in den Städten zogen<br />

Menschen aus den umliegenden Regionen an. Der<br />

ländliche Raum begann sich zu entvölkern. Der<br />

demographische Übergang ließ in Europa die Bevölkerungszahl<br />

rasant anwachsen, da die Sterberate<br />

dramatisch sank (Kapitel 3). Aufgr<strong>und</strong> der wachsenden<br />

Bevölkerungszahl nahm das Angebot an Arbeitskräften<br />

während des gesamten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts rasch<br />

zu. Dadurch beschleunigte sich der Verstädterungsprozess<br />

weiter, <strong>und</strong> zwar nicht nur in Europa, sondern<br />

ebenso in Australien, Kanada, Neuseeland, Südafrika<br />

<strong>und</strong> den Vereinigten Staaten, da sich mit der


650 11 Verstädterung<br />

Einwanderung die Industrialisierung <strong>und</strong> die Verstädterung<br />

an die äußeren Grenzen des Weltsystems<br />

vorschoben.<br />

Ein extremes Beispiel für Stadtwachstum im europäischen<br />

Industriezeitalter des 19. lahrh<strong>und</strong>erts bietet<br />

Manchester (England). Seine Bevölkerung wuchs von<br />

der Dimension einer Kleinstadt mit 15 000 Einwohnern<br />

im fahre 1750 auf 70 000 im fahre 1801 an. 1861<br />

war Manchester mit 500 000 Einwohnern zur Großstadt<br />

geworden <strong>und</strong> im fahre 1911 mit 2,3 Millionen<br />

in den Rang einer Weltstadt aufgerückt. Manchester<br />

gilt als die shock city schlechthin, als eine Stadt also, in<br />

der sich gewissermaßen modellhaft ein rascher, geradezu<br />

beängstigender Wandel vollzog. Als die Industrialisierung<br />

in Nordamerika um sich griff, wurde<br />

dort Chicago zur shock city. Chicago wurde 1837 zur<br />

Stadt erhoben; damals wohnten nur 4 200 Menschen<br />

in der Stadt. Der Aufschwung <strong>und</strong> das Wachstum<br />

Chicagos kamen mit dem Bau der Eisenbahnlinien<br />

- die Stadt wurde zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt.<br />

Per Schiene wurde in der zweiten Hälfte<br />

des 19. lahrh<strong>und</strong>erts Eisenerz sowie große Mengen<br />

an Vieh zu den Schmelzöfen <strong>und</strong> Schlachtereien<br />

der Stadt transportiert. Die ausgezeichnete geographische<br />

Lage Chicagos begünstigte ihren Aufstieg zum<br />

wichtigsten Zentrum der Holzindustrie Ende des<br />

19. lahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Chicago <strong>und</strong> Manchester können gleichermaßen<br />

als Archetyp einer neuen Art von Städten, der Industriestadt,<br />

angesprochen werden. Ihre Existenz beruhte<br />

nicht mehr wie bei früheren Städtegenerationen<br />

auf der Funktion der militärischen Sicherung, der politischen<br />

oder geistlichen Repräsentanz oder des Handels.<br />

Vielmehr bestand ihre Aufgabe allein darin, auf<br />

der Basis von Rohmaterialien Industriegüter herzustellen<br />

<strong>und</strong> zu vermarkten. Beide Städte, Manchester<br />

wie Chicago, mussten allerdings mit beispiellosen<br />

Wachstumsraten <strong>und</strong> den sich daraus ergebenden<br />

wirtschaftlichen, sozialen <strong>und</strong> politischen Problemen<br />

fertig werden. Beide wurden auch zu world cities, in<br />

denen ein überproportionaler Anteil der weltweit<br />

wichtigsten Transaktionen in den Sektoren Wirtschaft,<br />

Politik <strong>und</strong> Kultur stattfmdet. An der Spitze<br />

eines globalen Städtesystems stehend, resultiert ihr<br />

Wachstum hauptsächlich aus ihrer Bedeutung als<br />

zentrale Knoten der Weltwirtschaft.<br />

In der Zeit der Industriellen Revolution <strong>und</strong> während<br />

des größten Teils des 20. lahrh<strong>und</strong>erts war die<br />

Entwicklung ländlicher <strong>und</strong> städtischer Räume in den<br />

Kernregionen der Erde eng miteinander verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> beeinflusste sich gegenseitig positiv. Die Anlage<br />

neuer landwirtschaftlicher Nutzflächen sowie Mechanisierung<br />

<strong>und</strong> innovative Technologien, die bereits<br />

zur Verstädterung beigetragen hatten, erhöhten<br />

auch auf dem Land die Produktivitätsrate. Viele<br />

Landarbeiter verloren aufgr<strong>und</strong> dieser Überproduktion<br />

ihre Arbeitsplätze <strong>und</strong> suchten sich neue Arbeit in<br />

städtischen Fabriken <strong>und</strong> Betrieben, die durch das<br />

Wachstum der verarbeitenden Industrie entstanden<br />

waren. Verstärkt wurde dieser Prozess durch die industrielle<br />

Herstellung von landwirtschaftlichen Geräten,<br />

Maschinen, Düngern <strong>und</strong> anderen Produkten,<br />

die dazu beitrugen, dass die Produktionsrate in der<br />

Landwirtschaft weiter stieg.<br />

Während des gesamten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war es<br />

der europäische Imperialismus, der die Verstädterung<br />

in den peripheren Regionen der Welt vorantrieb.<br />

Neue Städte wurden als eine Art Brückenkopf gegründet,<br />

<strong>und</strong> im Wettstreit der europäischen Nationen<br />

um die wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Kontrolle<br />

der kontinentalen Binnenräume entstanden Kolonialstädte<br />

als politische, administrative <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Zentren. Kolonialstädte wurden von<br />

den Kolonialmächten ganz gezielt als Verwaltungsoder<br />

Handelszentren angelegt oder ausgebaut. Stadtgeographen<br />

unterscheiden zwischen zwei Typen:<br />

Reine Kolonialstädte wurden meist an Standorten<br />

gegründet, an denen es vorher keine bedeutendere<br />

städtische Siedlung gegeben hatte. Sie erfüllten spezifische<br />

Funktionen für die Kolonialmacht, man errichtete<br />

daher gezielt Kanzleien <strong>und</strong> Niederlassungen für<br />

Regierungsbeamte, Plantagenverwalter <strong>und</strong> Händler,<br />

baute Lagerhäuser für Handelsware, legte Plätze für<br />

staatliche Feiern an <strong>und</strong> schuf Kasernen für eine<br />

Garnison sowie Wohngebäude für Kolonisten. Später,<br />

als die Städte wuchsen, wurden sie um zusätzliche<br />

Unterkünfte <strong>und</strong> Gewerbeflächen für die einheimische<br />

Bevölkerung erweitert, die Arbeit als Hauspersonal,<br />

Büroangestellte oder Pförtner suchte. Beispiele<br />

für solche Städte sind Mumbai - früher Bombay -,<br />

Kolkata - ehemals Kalkutta -, Ho-Chi-Minh-Stadt<br />

- das frühere Saigon-, Hongkong, lakarta, Manila<br />

<strong>und</strong> Nairobi.<br />

Im Falle des zweiten Typs der Kolonialstadt wurden<br />

einer bereits bestehenden Siedlung zusätzliche<br />

Funktionen unter Ausnutzung der Lagevorteile <strong>und</strong><br />

des schon vorhandenen Arbeitskräftepotenzials zugewiesen.<br />

Als Beispiele wären Delhi, Mexiko-Stadt,<br />

Shanghai <strong>und</strong> Tunis zu nennen. In diesen Städten<br />

prägen regelhaft angelegte Plätze, öffentiiehe Räume,<br />

ein geometrisches Straßennetz, Denkmäler sowie eine<br />

entsprechende Architektur als Zeugnisse der Kolonialherrschaft<br />

vor allem die an das Stadtzentrum angrenzenden<br />

Bezirke. Die im Kolonialstil errichteten<br />

Gebäude umfassen Kirchen, Rathäuser <strong>und</strong> Bahnhöfe,<br />

Gouverneurs- <strong>und</strong> Bischofspaläste sowie die


Verstädterung in heutiger Zeit 651<br />

11.7 Koloniale Architektur<br />

Viele Städte in Entwicklungsländern sind<br />

seit der Kolonialzeit rasch gewachsen.<br />

Gleichwohl lässt sich die Kolonialzeit bis<br />

heute in architektonischen Zeugnissen <strong>und</strong><br />

baulichen Monumenten gut erkennen. Die<br />

Fotos zeigen die 1753 erbaute niederländische<br />

Kirche in malaysischen Malakka<br />

(links) sowie eine portugiesische Kirche im<br />

brasilianischen Olinda (rechts).<br />

repräsentativen Häuser vermögender Kaufleute, der<br />

Verwaltungsbeamten <strong>und</strong> Großgr<strong>und</strong>besitzer,<br />

Das Erbe der Kolonialzeit wirkt in vielen dieser<br />

Städte auch in den Bau- <strong>und</strong> Planungsvorschriften<br />

nach. Häufig wurden einfach die im Mutterland geltenden<br />

Bestimmungen übernommen. Da diese aber<br />

den Gegebenheiten der westlichen Welt entsprachen,<br />

waren sie in den Kolonien oft völlig unangemessen.<br />

So basierten die Bauvorschriften meist auf westlichen<br />

Vorstellungen über getrenntes Wohnen <strong>und</strong> Arbeiten<br />

<strong>und</strong> das Leben in Kleinfamilien. Vielköpfige Familienverbände,<br />

deren Mitglieder Tätigkeiten in Großhaushalten<br />

<strong>und</strong> Familienbetrieben ausüben, die traditionell<br />

in das Wohnumfeld integriert sind, fanden dabei<br />

keine Berücksichtigung. Koloniale Planungen mit<br />

einem regelmäßigen Gr<strong>und</strong>rissmuster, einer Einteilung<br />

in Zonen, die keine Mischung verschiedener<br />

Nutzungen erlaubten, <strong>und</strong> Bauvorschriften, die an<br />

europäischen Klimabedingungen orientiert waren,<br />

ignorierten die spezifischen Bedürfnisse der Einheimischen<br />

<strong>und</strong> verkannten deren andere Kultur.<br />

Verstädterung in heutiger<br />

Zeit<br />

Der gegenwärtige Stand der Verstädterung ist schwer<br />

abzuschätzen. In vielen Teilen der Erde wachsen die<br />

Städte so rasant <strong>und</strong> so chaotisch, dass selbst erfahrene<br />

Experten das Ausmaß bestenfalls näherungsweise<br />

angeben können. Die Vereinten Nationen verfügen<br />

über die umfangreichsten Statistiken, <strong>und</strong> ihre Daten<br />

lassen vermuten, dass heute bereits fast die Hälfte der<br />

Weltbevölkerung in Städten lebt. Dabei ist zu beachten,<br />

dass „Stadt“ <strong>und</strong> „städtisch“ in verschiedenen<br />

Ländern Verschiedenes bedeuten. In einigen Staaten,<br />

zum Beispiel Australien <strong>und</strong> Kanada, gelten schon<br />

Siedlungen mit mehr als 1 000 Einwohnern als Städte,<br />

während andere, etwa Italien <strong>und</strong> Jordanien, ein Minimum<br />

von 10 000 ansetzen. In Japan liegt die Untergrenze<br />

bei 50 000 Einwohnern. Bereits hieraus wird<br />

deutlich, dass Verstädterung ein relatives Phänomen<br />

ist. In Ländern wie Peru, in denen die Bevölkerungsdichte<br />

gering ist <strong>und</strong> die Menschen verstreut leben, ist<br />

eine Siedlung mit 2 000 Einwohnern schon ein bedeutendes<br />

Zentrum. In Staaten wie Japan, mit einer<br />

großen Bevölkerungszahl, höheren Einwohnerdichten<br />

<strong>und</strong> einer Tradition von konzentrierten, nicht<br />

räumlich gestreuten landwirtschaftlichen Siedlungen,<br />

Tabelle 11.1<br />

im Jahre 2000<br />

Die Verstädterung der Erde nach Großregionen<br />

Prozentanteil<br />

der Gesamtbevölkerung<br />

in städtischen<br />

Siedlungen<br />

Prozentanteil<br />

der Stadtbevölkerung<br />

in<br />

Städten mit<br />

weniger als<br />

500 000 Einwohnern<br />

Prozentanteil:<br />

der Stadtbevölkerung<br />

in<br />

Städten mit<br />

5 Millionen |<br />

oder mehr<br />

Einwohnern '<br />

Afrika 37,8 57,0 9,4<br />

Asien 37,6 53,4 18,9<br />

Lateinamerika<br />

Nordamerika<br />

75,4 47,3 20,2<br />

77,2 38,6 15,4<br />

Europa 74,9 63,2 7,0<br />

Ozeanien 70,0 44,1 0,0<br />

weltweit 47,4 53,5 15,4<br />

Quelle: United Nations World Urbanization Prospects. New York<br />

(U.N. Department of Economic and Social Affairs) 1998


652 11 Verstädterung<br />

muss eine viel größere Konzentration von Menschen<br />

vorliegen, bevor man von einer Stadt spricht.<br />

Wie die Tabelle 11.1 zeigt, ist Nordamerika mit<br />

einem Anteil der städtischen Bevölkerung von mehr<br />

als 77 Prozent der am stärksten verstädterte Kontinent<br />

(wenngleich die Schwellenwerte für Städte hinsichtlich<br />

der Einwohnerzahl dort auch innerhalb der<br />

Staaten variieren). Im Gegensatz dazu weisen Afrika<br />

<strong>und</strong> Asien Werte unter 40 Prozent auf.<br />

Um diese Angaben entsprechend einordnen zu<br />

können, muss man bedenken, dass nach den heute<br />

gültigen Grenzwerten im Jahre 1950 erst 29,7 Prozent<br />

der Weltbevölkerung in Städten lebten. Damals gab es<br />

nur 83 Metropolen mit 1 Million <strong>und</strong> mehr Einwohnern<br />

<strong>und</strong> nur acht mit 5 Millionen <strong>und</strong> mehr, während<br />

im Jahre 2000 ungefähr 370 Städte die Millionengrenze<br />

<strong>und</strong> 45 die 5-Millionen Grenze erreicht<br />

oder überschritten haben. Sollten sich die Prognosen<br />

erfüllen, werden 2015 mehr als 53 Prozent der Weltbevölkerung<br />

in Städten leben, <strong>und</strong> es wird etwa 541<br />

Millionenstädte <strong>und</strong> 61 Städte mit 5 Millionen Einwohnern<br />

geben.<br />

Regionale Trends <strong>und</strong> Prognosen<br />

Aus geographischer Sicht ist der wichtigste Aspekt der<br />

weltweiten Verstädterung der markante Unterschied<br />

in den jeweiligen Entwicklungstrends der Kernregionen,<br />

der semiperipheren <strong>und</strong> der peripheren Länder.<br />

Im Jahre 1950 konzentrierten sich zwei Drittel der in<br />

Städten lebenden Weltbevölkerung auf die wirtschaftlich<br />

höher entwickelten Länder. Seitdem hat sich die<br />

städtische Bevölkerung verdreifacht, wobei dieser Zuwachs<br />

in erster Linie in den gering entwickelten Ländern<br />

der Peripherie erfolgte (Abbildung 11.8). 1950<br />

lagen noch 21 der 30 größten Metropolitanregionen<br />

in den Kernländern - 11 davon in Europa, 6 in Nordamerika.<br />

1980 hatten sich die Verhältnisse vollständig<br />

umgekehrt: 19 der 30 größten Metropolen befanden<br />

sich in gering entwickelten Ländern beziehungsweise<br />

in Schwellenländern, <strong>und</strong> bis zum Jahr 2010 werden<br />

wahrscheinlich nur mehr 7 der 30 größten Metropolen<br />

in den Ländern des Zentrums <strong>und</strong> der Semiperipherie<br />

zu finden sein (Tabelle 11.2).<br />

Einige drastische Beispiele für diesen Trend hat<br />

Asien aufzuweisen. Aus einem Erdteil der dörflichen<br />

Siedlungen wird in naher Zukunft ein Kontinent der<br />

Städte <strong>und</strong> Großstädte geworden sein. So stieg beispielsweise<br />

zwischen 1950 <strong>und</strong> 2003 die städtische Bevölkerung<br />

um mehr als das Zehnfache auf 1,5 Milliarden<br />

an, <strong>und</strong> um das Jahr 2020 werden schon ungefähr<br />

zwei Drittel der Bevölkerung Asiens in Städten leben.<br />

2030<br />

2025<br />

2020<br />

2015<br />

2010<br />

2005<br />

2000<br />

1995<br />

1990<br />

1985<br />

1980<br />

1975<br />

1970<br />

1965<br />

1960<br />

1955<br />

1950<br />

Kernregionen<br />

periphere <strong>und</strong> semiperiphere Regionen<br />

0 1 2 3 4 5<br />

städtische Bevölkerung (in Milliarden)<br />

11.8 Die Zunahme der städtischen Bevölkerung 1950-<br />

2030 Wenngleich die städtischen Agglomerationen der Industriestaaten<br />

kontinuierlich weiter wachsen, wurden die<br />

meisten von ihnen durch die Bevölkerungszunahme in den sich<br />

unkontrolliert ausdehnenden Metropolen der peripheren <strong>und</strong><br />

semiperipheren Länder überholt. (Quelle: Daten aus United<br />

Nations World Urbanization Prospects. New York (U.N. Department<br />

of Economic and Social Affairs) 1998.)<br />

Nirgendwo sonst ist der Trend zur Verstädterung so<br />

stark ausgeprägt wie in China, wo die kommunistische<br />

Führung über Jahrzehnte hinweg streng festlegte<br />

<strong>und</strong> kontrollierte, wo die Menschen leben durften,<br />

denn sie fürchtete die liberalisierenden <strong>und</strong> Veränderungen<br />

begünstigenden Effekte von Städten. Indem<br />

sie den Zugang zu einem Arbeits- oder Ausbildungsplatz<br />

<strong>und</strong> sogar das Recht, Lebensmittel einzukaufen,<br />

auf den Ort beschränkte, in dem eine Person als Einwohner<br />

registriert war, machte es die Regierung der<br />

Landbevölkerung so gut wie unmöglich, in die Städte<br />

abzuwandern. Aufgr<strong>und</strong> dieser Maßnahmen lebten<br />

1985 mehr als 70 Prozent der eine Milliarde zählenden<br />

chinesischen Bevölkerung in ländlichen Räumen.<br />

Dafür vollzieht sich der Umbruch jetzt umso schneller.<br />

Da die Regierung mittlerweile der Auffassung ist,<br />

dass Städte auch in einem kommunistischen System<br />

wichtige Motoren der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

sein können, wurden nicht nur die Ansiedlungsbeschränkungen<br />

gelockert, sondern auch Pläne für<br />

die Gründung von mehr als 430 neuen Städten ausgearbeitet.<br />

In den Jahren zwischen 1981 <strong>und</strong> 2003 hat<br />

sich in China die Zahl der Stadtbewohner von 162 auf<br />

504 Millionen mehr als verdreifacht, die Zahl der<br />

Städte mit 500 000 oder mehr Einwohnern stieg<br />

von 16 auf 97.


Verstädterung in heutiger Zeit 653<br />

Tabelle 11.2<br />

Die 30 größten Metropolen der Erde nach Einwohnern 1950, 1980 <strong>und</strong> 2010 (in Millionen)<br />

1950 Einwohner 1980 Einwohner 2010 Einwohner<br />

New York 12,3 Tokio 21,9 Tokio 28,8<br />

London 8,7 New York 15,6 Mumbai (Bombay) 23,7<br />

Tokio 6,9 Mexiko 13,9 Lagos 21,0<br />

Paris 5,4 . Säo Paulo 12,1 Säo Paulo 19,7<br />

Moskau 5,4 Shanghai 11,7 Mexiko-Stadt 18,7<br />

Shanghai 5,3 Osaka 10,0 New York 17,2<br />

Ruhrgebiet 5,3 Buenos Aires 9,9 Karachi 16,7<br />

Buenos Aires 5,0 Los Angeles 9,5 Dhaka 16,7<br />

Chicago 4,9 Kolkata (Kalkutta) 9,0 Shanghai 16,6<br />

Kolkata (Kalkutta) 4,4 Beijing (Peking) 9,8 Kolkata (Kalkutta) 15,6<br />

Osaka 4,1 Paris 8,7 Delhi 15,2<br />

Los Angeles 4,0 Rio de Janeiro 8,7 Beijing (Peking) 14,3<br />

Beijing (Peking) 3,9 Seoul 8,3 Los Angeles 13,9<br />

Mailand 3,6 Moskau 8,2 Manila 13,7<br />

Berlin 3,3 Mumbai (Bombay) 8,0 Buenos Aires 13,5<br />

Mexiko-Stadt 3,1 London 7,8 Kairo 13,2<br />

Philadelphia 2,9 Tianjin 7,7 Seoul 12,9<br />

St. Petersburg 2,9 Kairo 6,9 Jakarta 12,7<br />

Mumbai (Bombay) 2,9 Chicago 6,8 Tianjin 12,4<br />

Rio de Janeiro 2,9 Ruhrgebiet 6,7 Istanbul 11,7<br />

Detroit 2,8 Jakarta 6,4 Rio de Janeiro 11,4<br />

Neapel 2,8 Metro Manila 6,0 Osaka 10,6<br />

Manchester 2,5 Delhi 5,5 Guangzhou 10,3<br />

Säo Paulo 2,4 Mailand 5,4 Paris 9,7<br />

Kairo 2,4 Teheran 5,4 Hyderabad 9,5<br />

Tianjin 2,4 Karachi 5,0 Moskau 9,3<br />

Birmingham 2,3 Bangkok 4,8 Teheran 9,2<br />

Frankfurt 2,3 St. Petersburg 4,7 Lima 8,8<br />

Boston 2,2 Hongkong 4,5 Bangkok 8,8<br />

Hamburg 2,2 Lima 4,4 Lahore 8,6<br />

Quelle: United Nations World Urbanization Prospects. New York (U.N. Department of Economic and Social Affairs) 1998.<br />

ln den Kernländern der Welt ist das Verstädterungsniveau<br />

schon seit längerem hoch. Gemäß den<br />

jeweils üblichen Definitionen sind die Einwohner<br />

Ikdgiens, der Niederlande <strong>und</strong> des Vereinigten Königreichs<br />

zu mehr als 90 Prozent Städter, ln Frankreich,<br />

Deutschland, Norwegen, Spanien, Schweden <strong>und</strong><br />

Großbritannien liegt der Anteil der in Städten lebenden<br />

Bevölkerung über 75 Prozent. In diesen Ländern<br />

nimmt jedoch der Anteil der Stadtbewohner nur<br />

noch langsam zu (Kapitel 3).


654 11 Verstädterung<br />

I !<br />

Viele Länder der Semiperipherie weisen ebenfalls<br />

einen hohen Verstädterungsgrad auf. So leben etwa<br />

in Brasilien, Hongkong, Mexiko, Taiwan, Singapur<br />

<strong>und</strong> Südkorea mindestens drei Viertel der Bevölkerung<br />

in Städten. Im Gegensatz zu den oben angeführten<br />

Ländern war <strong>und</strong> ist hier die aktuelle Verstädterungsrate<br />

hoch. In peripheren Ländern sind<br />

die Kontraste noch ausgeprägter.<br />

Unabhängig von ihrem jetzigen Verstädterungsniveau<br />

weisen fast alle Peripherieländer hohe Zuwachsraten<br />

der städtischen Bevölkerung auf - <strong>und</strong><br />

man rechnet mit einer weiteren Steigerung bisher ungekannten<br />

Ausmaßes. Karachi war im lahre 1950 eine<br />

Metropole mit etwas über 1 Million Einwohnern.<br />

1995 lebten in der pakistanischen Küstenstadt 8,5 Millionen<br />

Menschen, für 2015 rechnet man mit einer Einwohnerzahl<br />

von 16,2 Millionen. In ähnlicher Geschwindigkeit<br />

wuchs Kairo, dessen Bevölkerung zwischen<br />

1950 <strong>und</strong> 1995 von 2,4 auf 9,7 Millionen anstieg<br />

<strong>und</strong> 2015 wahrscheinlich 16 Millionen erreicht haben<br />

wird. Für Mumbai - ehemals Bombay - <strong>und</strong> Dehli,<br />

Mexiko-Stadt, Dhaka, jakarta, Lagos, Säo Paulo <strong>und</strong><br />

Shanghai wird für 2015 das Überschreiten der 17-Millionen-Grenze<br />

vorhergesagt. Dieses enorme Städtewachstum<br />

hat verschiedene Ursachen. In Liberia<br />

<strong>und</strong> Sierra Leone trieben Kriege H<strong>und</strong>erttausende<br />

von Menschen in die Hauptstädte Monrovia <strong>und</strong><br />

Freetown. Entwaldung <strong>und</strong> Überweidung haben in<br />

Mauretanien, Niger <strong>und</strong> anderen an die Sahara angrenzenden<br />

Staaten zu einer Ausdehnung der Wüste<br />

geführt, der Dörfer zum Opfer fielen, <strong>und</strong> die Menschen<br />

zur Abwanderung in die Städte zwang. Städtewachstum<br />

in den Peripherregionen ist in der Regel<br />

eine Folge des einsetzenden demographischen Übergangs<br />

(Kapitel 3). Im Zuge dieser Entwicklung kam<br />

es zu einem starken Bevölkerungsanstieg in den ländlichen<br />

Gebieten, in denen nun die Agrarwirtschaft mit<br />

rasant wachsenden Problemen konfrontiert ist<br />

(Kapitel 9). Dies veranlasst viele Menschen zur Abwanderung<br />

in die Städte, in der Hoffnung dort ein<br />

besseres Leben führen zu können.<br />

Viele der größten Städte der Peripherie weisen<br />

jährliche Wachstumsraten zwischen 4 <strong>und</strong> 7 Prozent<br />

auf - in letzterem Fall verdoppelt sich die Bevölkerung<br />

innerhalb von 10 fahren, bei der geringeren<br />

Rate innerhalb von 17 fahren. In Zahlen ausgedrückt:<br />

In Metropolen wie Mexiko-Stadt oder Säo Paulo<br />

wächst die Bevölkerung unter Berücksichtigung der<br />

Todesfälle <strong>und</strong> der Abwanderung jährlich um<br />

500 000, das heißt, wöchentlich kommen fast 10 000<br />

Menschen hinzu. In London dauerte es 190 fahre<br />

<strong>und</strong> in New York 140 fahre, bis sich die Einwohnerzahl<br />

von 500 000 auf 10 Millionen erhöht hat. Dagegen<br />

erlebten Mexiko-Stadt, Säo Paulo, Buenos Aires,<br />

Kolkata - ehemals Kalkutta -, Rio de faneiro, Seoul<br />

<strong>und</strong> Mumbai - ehemals Bombay - denselben Bevölkerungszuwachs<br />

in weniger als 75 fahren.<br />

Städtische Siedlungs-<br />

, Systeme<br />

lede Stadt ist Teil eines miteinander verzahnten Städtesystems<br />

<strong>und</strong> damit auf der regionalen, nationalen<br />

<strong>und</strong> internationalen Ebene in ein komplexes Netzwerk<br />

von Wechselwirkungen eingeb<strong>und</strong>en. Städtische<br />

Siedlungssysteme strukturieren den Raum durch<br />

Hierarchien von Städten unterschiedlicher Größe<br />

<strong>und</strong> Funktion. Viele dieser Systeme weisen gewisse<br />

Gemeinsamkeiten ihrer Merkmale <strong>und</strong> Eigenschaften<br />

auf, insbesondere hinsichtlich der Größenverhältnisse<br />

der einbezogenen Städte <strong>und</strong> der Entfernungen<br />

zwischen den einzelnen Städten.<br />

Zentrale Orte In der Geographie ist seit langem<br />

bekannt, dass die Funktion von Städten als Absatz<strong>und</strong><br />

Dienstleistungszentren die Ausbildung eines<br />

hierarchischen Systems von Zentralen Orten unterstützt.<br />

Ein Zentraler Ort ist eine Siedlung, welche<br />

über den Bedarf ihrer unmittelbaren Bewohner hinaus<br />

bestimmte Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen bereitstellt.<br />

In den dreißiger fahren untersuchte der deutsche<br />

Geograph Walter Christaller als erster die<br />

Tendenz Zentraler Orte, ein hierarchisches System<br />

zu bilden. Seine Erkenntnisse führten zur Theorie<br />

der Zentralen Orte. Sie versucht, die relative Größe<br />

<strong>und</strong> die räumliche Anordnung von Städten als eine<br />

Funktion des Verbraucherverhaltens zu erklären (Exkurs<br />

„Zentrale Orte in Geographie <strong>und</strong> Raumplanung“).<br />

Die Theorie der zentralen Orte besagt unter anderem,<br />

dass die kleinsten Siedlungen dieses System nur<br />

Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen des täglichen Bedarfs,<br />

beispielsweise Brot, Backwaren, Milchprodukte <strong>und</strong><br />

Fleisch, anbieten <strong>und</strong> dass sich diese Unterzentren<br />

in relativ geringer Entfernung voneinander befinden,<br />

damit die Bewohner des Umlands ihre Waren des täglichen<br />

Bedarfs in einem kleinen Radius erreichen<br />

können. Andererseits sind die Konsumenten auch bereit,<br />

eine größere Entfernung in Kauf zu nehmen, um<br />

teure <strong>und</strong> selten nachgefragte Güter zu kaufen. Das<br />

bedeutet, je größer eine Siedlung mit einer breiten<br />

Auswahl an Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen des mittel<strong>und</strong><br />

langfristigen Bedarfs ist, umso weiter weg beim-


Städtische Siedlungssysteme 655<br />

Zentrale Orte in Geographie <strong>und</strong> Raumplanung<br />

Bereits 1933 entwickelte der Geograph Walter Christaller die<br />

Theorie der Zentralen Orte. Er verfolgte dabei das Ziel, Gesetzmäßigkeiten<br />

über Größe, Anzahl <strong>und</strong> räumliche Verteilung von<br />

Siedlungen mit städtischen - das heißt zentralörtlichen -<br />

Funktionen, abzuleiten. Christaller erstellte einer Hierarchie<br />

von Siedlungen unterschiedlicher Größe, in welcher die jeweils<br />

größeren Siedlungen eine größere Vielfalt an Gütern <strong>und</strong><br />

Dienstleistungen anbieten <strong>und</strong> somit ein größeres Marktgebiet<br />

besitzen.<br />

Zentrale Orte im Christaller’schen Sinne sind somit einerseits<br />

geometrische Standortmuster, Standortcluster von Einrichtungen,<br />

die Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen für räumlich begrenzte<br />

Marktgebiete anbieten wie auch konkrete Gemeinden<br />

oder Siedlungen, welche ihr Umland mit Gütern <strong>und</strong> Diensten<br />

versorgen. Konstituierend ist, dass diese Standortkonzentrationen<br />

beziehungsweise Siedlungen einen wirtschaftlichen<br />

Bedeutungsüberschuss aufweisen, also ein größeres oder kleineres<br />

Umland mitversorgen <strong>und</strong> dass sie ein hierarchisches,<br />

idealtypisch geometrisches Sechseckmuster bilden.<br />

Seit Christallers bahnbrechender Arbeit sind r<strong>und</strong> 70 Jahre<br />

vergangen. Die Wertschätzung des Modells Zentraler Orte in<br />

Geographie <strong>und</strong> Raumordnung war dabei über die Jahrzehnte<br />

durch ein deutliches Auf <strong>und</strong> Ab geprägt. Herausragende Bedeutung<br />

erlangten Zentrale Orte vor allem in den 1960er-Jah-<br />

ren, als sie zum wichtigsten Baustein der sich entwickelnden<br />

überörtlichen Raumplanung des B<strong>und</strong>es <strong>und</strong> der Länder avancierten.<br />

Alle B<strong>und</strong>esländer legten damals in ihren Programmen<br />

<strong>und</strong> Plänen Gemeinden mit zentralörtlicher Bedeutung fest<br />

<strong>und</strong> bis heute werden diese Festlegungen in den Neuauflagen<br />

der Landesentwicklungspläne <strong>und</strong> Regionalpläne fortgeschrieben.<br />

In der Raumordnung in Deutschland werden drei beziehungsweise<br />

vier Stufen zur Kennzeichnung von Zentralität unterschieden:<br />

Ober-, Mittel- <strong>und</strong> Unterzentren sowie Kleinzentren<br />

(Gr<strong>und</strong>zentren). Oberzentren sind in der Regel Städte mit<br />

mehr als 100 000 Einwohnern; Mittelzentren erfüllen wichtige<br />

Funktionen in der regionalen Versorgung mit Arbeitsplätzen<br />

sowie mit Diensten <strong>und</strong> Gütern für den gehobenen <strong>und</strong> mittelfristigen<br />

Bedarf, zum Beispiel mit Fachärzten oder Bekleidungsgeschäften.<br />

Vor allem In dünn besiedelten ländlichen<br />

Regionen übernehmen die Zentralen Orte unterer Stufe die<br />

Gr<strong>und</strong>versorgung der Bevölkerung.<br />

Nach einer großen Zahl empirischer <strong>und</strong> theoretischer Untersuchungen<br />

zur Zentralitätsforschung in den 1960er- <strong>und</strong><br />

1970er-Jahren wurde es danach eher still um solche Arbeiten.<br />

Das Thema schien wissenschaftlich ausgereizt, die Forschungsfronten<br />

bewegten sich in andere Richtungen. Auf<br />

der Ebene der Planung zeigte sich gleichwohl vor allem seit<br />

der deutschen Wiedervereinigung ein akuter Planungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsbedarf bei der räumlichen Ordnung des Siedlungs<strong>und</strong><br />

Versorgungssystems. In den neuen B<strong>und</strong>esländern wurden<br />

nach dem Muster der alten B<strong>und</strong>esländer Zentrale Orte<br />

in allen Programmen <strong>und</strong> Plänen der neu geschaffenen B<strong>und</strong>esländer<br />

festgeschrieben <strong>und</strong> dienen wiederum als Leitlinie<br />

für weit reichende Infrastrukturplanungen.<br />

Dabei wurde das Zentrale Orte-Konzept in den 1990er-Jah-<br />

ren vor allem als Instrument zur Steuerung der Einzelhandels<strong>und</strong><br />

der Verkehrsentwicklung wieder entdeckt. Der Einzelhandel<br />

verkauft seit über 10 Jahren in einem gesättigten Markt.<br />

Neugründungen auf der grünen Wiese, neue Standortformen<br />

wie Factory Outlet Center, postmoderne Bahnhofswelten oder<br />

künftig vielleicht ein höherer Anteil an E-commerce führen zu<br />

räumlichen Umverteilungsprozessen, meistens zuungunsten<br />

von Standorten in der Innenstadt. Zur Standortsicherung<br />

oder zur Abwehr großflächiger Einrichtungen mit innenstadtrelevanten<br />

Sortimenten auf der „grünen Wiese“ wird von Seiten<br />

der Raumplanung häufig mit zentralörtlichen Strukturen<br />

argumentiert; ähnliches gilt aktuell in der Schulnetz- oder allgemeiner<br />

Infrastrukturplanung unter „Schrumpfungsbedingungen“.<br />

Damit ändert aber das ursprüngliche Zentrale-Orte-Kon-<br />

zept im Sinne von Christaller seinen Charakter. Ursprünglich<br />

als neoklassisches, normatives, wirtschaftstheoretisches Partialmodell<br />

konzipiert, gerät es im Kontext der Moderation von<br />

Einzelhandelsentwicklungen mehr zu einem Instrument für<br />

das framing diskursiver Planungsprozesse, zum Beispiel bei<br />

der Erstellung von Einzelhandelskonzepten in einem Verdichtungsraum.<br />

Das Zentrale-Orte-Konzept ist hierfür aufgr<strong>und</strong><br />

seiner Bekanntheit <strong>und</strong> Akzeptanz sowohl in der Planung<br />

als auch in der politischen Öffentlichkeit gut tauglich. Überdies<br />

vermögen Zentrale Orte dem europäischen Prinzip der<br />

„Stadtregionen der kurzen Wege“, also einer auf Multifunktionalität,<br />

Nutzungsmischung, Verkehrsminimierung <strong>und</strong> den Erhalt<br />

kompakter, freiraumschonender Strukturen gerichteten<br />

Stadtentwicklung eine konzeptionelle Basis zu vermitteln.<br />

Das Zentrale-Orte-Konzept wird damit zu einem „Raumordnungspolitischen<br />

Organisationsmittel, das sich in hervorragender<br />

Weise dazu eignet, die abstrakte Leitvorstellung einer<br />

nachhaltigen Raumentwicklung räumlich zu konkretisieren“<br />

(Blotevogel 1999).<br />

H. Gebhardt<br />

det sie sich von anderen Städten, die dieselben Funktionen<br />

haben.<br />

Christaller führte für die Gesamtheit der Geschäfte,<br />

Dienstleistungen <strong>und</strong> Einrichtungen den Begriff<br />

der „zentralörtlichen Funktionen“ ein. Klein-, Mittel<strong>und</strong><br />

Großstädte als Zentrale Orte verschiedener Größenordnung<br />

versorgen unterschiedlich große Gebiete<br />

<strong>und</strong> Bevölkerungen. Um die beobachtete Tendenz<br />

der Herausbildung einer zentralörtlichen Hierarchie<br />

erklären zu können, zog Christaller Prinzipien der<br />

Reichweite heran. Die äußere Reichweite eines Produkts<br />

oder einer Dienstleistung entspricht der maximalen<br />

Distanz, die ein K<strong>und</strong>e oder Klient unter normalen<br />

Umständen in Kauf nimmt, um eine Ware zu<br />

erwerben beziehungsweise eine Leistung in Anspruch<br />

zu nehmen. Der Bereich, der von einem Zentralen


656 11 Verstädterung<br />

Ort mit einer bestimmten Funktion bedient wird, ist<br />

daher eine mehr oder weniger kreisförmige Fläche,<br />

deren Radius der Reichweite dieser Funktion entspricht.<br />

Fiochwertige Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

sind solche, die relativ teuer sind <strong>und</strong> eher seltener<br />

benötigt werden, zum Beispiel besondere Werkzeuge<br />

<strong>und</strong> Ausrüstungen, Sportgeräte für den Profi oder<br />

spezielle medizinische Dienste. Sie haben die größte<br />

Reichweite, die 100 <strong>und</strong> mehr Kilometer betragen<br />

kann. Im Unterschied dazu sind geringwertige Güter<br />

<strong>und</strong> Dienstleistungen vergleichsweise billig <strong>und</strong> werden<br />

in kurzen Zeitabständen benötigt, zum Beispiel<br />

Backwaren, Molkereiprodukte <strong>und</strong> andere Lebensmittel.<br />

Sie haben eine geringe Reichweite, oft nicht<br />

mehr als 500 Meter.<br />

Die innere Reichweite bezeichnet das Gebiet um<br />

einen Zentralen Ort, in dem gerade so viele Konsumenten<br />

leben, wie erforderlich sind, um ein Gut rentabel<br />

anbieten zu können. Flochwertige Dienste, wie<br />

etwa Krankenhäuser, haben einen Schwellenwert von<br />

mehreren 10 000 Menschen, geringwertige Dienste,<br />

wie kleine Lebensmittelläden, kommen unter Umständen<br />

mit einem Schwellenwert von 200 bis 300<br />

K<strong>und</strong>en <strong>und</strong> einem entsprechend Ideinen Einzugsgebiet<br />

aus.<br />

Daraus ergibt sich, dass in jeder beliebigen Region<br />

nur eine begrenzte Zahl von Orten hoher Zentralitätsstufe<br />

notwendig ist, in denen alle höherwertigen<br />

Güter <strong>und</strong> Dienste zugänglich sind. Dementsprechend<br />

werden diese Orte das gesamte Spektrum an<br />

Gütern <strong>und</strong> Diensten anbieten. Die Zahl <strong>und</strong> räumliche<br />

Verteilung von Orten niedrigerer Zentralitätsstufe<br />

ergibt sich aus dem Zusammenspiel unterschiedlicher<br />

Reichweiten <strong>und</strong> Reichweitengrenzen.<br />

Ausgehend von verschiedenen Prämissen konnte<br />

Christaller zeigen, dass sich unter idealen Bedingungen<br />

- in ebenen, homogenen Gebieten mit flächendeckend<br />

guten Verkehrsverbindungen - städtische<br />

Siedlungen hierarchisch ordnen, indem sich hexagonale<br />

Marktgebiete (oder Ergänzungsbereiche) unterschiedlicher<br />

Ausdehnung um Orte unterschiedlicher<br />

Größe <strong>und</strong> Zentralität herausbilden (Abbildung<br />

11.9). Obwohl diese Bedingungen in der Realität nirgendwo<br />

anzutreffen sind, fanden Geographen in der<br />

Folgezeit dennoch zahlreiche Beispiele für zentralörtliche<br />

Hierarchien mit regelmäßigen Größenverhältnissen<br />

<strong>und</strong> Raummustern.<br />

Indem man das Verbraucherverhalten untersucht,<br />

kann man einige Aspekte städtischer Siedlungssysteme<br />

erklären, es gibt heute allerdings nur noch relativ<br />

wenige Regionen, in denen die Funktionen der<br />

meisten städtischen Siedlungen von lokalen Märkten<br />

<strong>und</strong> Einkaufsbeziehungen bestimmt sind. Dennoch<br />

★ — ■Oberzentrum<br />

A — Mittelzentrum<br />

Unterzentrum<br />

Kleinzentrum<br />

11.9. Zentrale Orte <strong>und</strong> räumliche Hierarchien Das Diagramm<br />

illustriert Walter Christallers Konzept einer Hierarchie<br />

von Siedlungen unterschiedlicher Größe, in welcher die jeweils<br />

größeren Siedlungen eine größere Vielfalt an Gütern <strong>und</strong><br />

Dienstleistungen anbieten <strong>und</strong> somit ein größeres Marktgebiet<br />

besitzen. Die sechseckige Form der Markt- oder Ergänzungsgebiete<br />

ist hypothetischer Natur. Christaller wählte die hexagonale<br />

Anordnung, um Lücken oder Überlappungen zwischen<br />

den zentralörtlichen Bereichen zu vermeiden, die aus der vereinfachenden<br />

Annahme kreisförmiger Reichweitengrenzen<br />

einzelner Güter resultieren würden.<br />

weisen die Städtesysteme vielerorts eine klare hierarchische<br />

Struktur auf, die teilweise aus früheren Epochen<br />

ererbt ist, in denen die Städte hauptsächlich als<br />

Marktzentren eines ländlich geprägten Umlands fungierten.<br />

Die Abbildung 11.10 zeigt als typisches Beispiel<br />

das städtische Siedlungssystem Spaniens, in dem<br />

kleinere Städte mit den jeweils nächst größeren funktional<br />

verknüpft sind, wobei ein oder zwei Großstädte<br />

mit landesweiten Verflechtungen das gesamte System<br />

dominieren.<br />

Die Tatsache, dass zwischen den hierarchischen<br />

Stufen der Städtesysteme auch funktionale Unterschiede<br />

bestehen, ist ein weiteres Merkmal der Interdependenz<br />

von Orten. Die räumliche Arbeitsteilung,<br />

die aus Prozessen der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

resultiert (Kapitel 8), hat zur Folge, dass viele Mittel<strong>und</strong><br />

Großstädte ganz bestimmte wirtschaftliche<br />

Funktionen erfüllen (Funktionsspezialisierung) <strong>und</strong><br />

somit auch ganz bestimmte Merkmale aufweisen.<br />

So gibt es etwa Stahlindustriestädte, zum Beispiel<br />

Pittsburgh im US-B<strong>und</strong>esstaat Pennsylvania oder<br />

Sheffield in England, Textilindustriestädte, zum<br />

Beispiel Lowell im US-B<strong>und</strong>esstaat Massachusetts<br />

oder Manchester in England, <strong>und</strong> Automobilindustriestädte,<br />

zum Beispiel Detroit in den Vereinigten<br />

Staaten, Turin in Italien, Toyota City in Japan oder


Städtische Siedlungssysteme 657<br />

□<br />

Regionen mit<br />

hoher Bevölkerungsdichte<br />

Regionen mit starker<br />

Zunahme der Einkommen<br />

Regionen mit hoher<br />

Bevölkerungsdichte<br />

<strong>und</strong> starker Zunahme<br />

der Einkommen<br />

Metropolen<br />

nationalen Zuschnitts<br />

regionale Metropolen<br />

Mittelstädte<br />

Kleinstädte<br />

wichtige Verknüpfungen<br />

200 Kilometer<br />

11.10 Das Städtesystem Spaniens Die Abbildung veranschaulicht, dass Kleinstädte eng mit Mittelstädten verknüpft sind,<br />

die wiederum mit regionalen Metropolen verb<strong>und</strong>en sind. Diese zeigen ihrerseits eine Bindung an die nationalen Metropolen.<br />

Die Verknüpfungen stellen die größeren Kapital-, Informations- <strong>und</strong> Güterströme im Städtesystem Spaniens dar. (Quelle: Bourne, B.;<br />

Sinclair, R.; Ferrer, M.; d’Entremont, A. (Hrsg.) The Changing Geography o f Urban Systems. Department of Human Geography<br />

(Universidad de Navarra) 1989. Abbildung 2, S. 46)<br />

Togliattigrad in Russland. Daneben existieren natürlich<br />

auch städtische Zentren ohne besondere Spezialisierung,<br />

die ein breites Spektrum an Funktionen<br />

für ihr Umland erfüllen. Die Abbildung 11.11 zeigt<br />

als Beispiel das städtische System der Vereinigten<br />

Staaten, wo ein höchstrangiges Zentrensystem mit<br />

globaler Bedeutung besteht, das Funktionen im<br />

internationalen Marktgeschehen erfüllt, darunter<br />

Chicago, New York <strong>und</strong> Los Angeles. Die zweite Stufe<br />

setzt sich aus Städten ohne besondere Spezialisierung<br />

mit unterschiedlichen Funktionen zusammen, die<br />

nur von regionaler Bedeutung sind, darunter Atlanta,<br />

Miami <strong>und</strong> Boston. Die dritte <strong>und</strong> vierte Schicht<br />

umfassen stärker spezialisierte Zentren von subregionaler<br />

<strong>und</strong> lokaler Wichtigkeit.<br />

Städtegrößenverteilungen, primacy <strong>und</strong> Zentralität<br />

Die funktionale Verknüpfung von Siedlungen<br />

innerhalb städtischer Systeme führt meist zu einem<br />

charakteristischen Verhältnis zwischen der Einwohnerzahl<br />

einer Stadt <strong>und</strong> ihrem Rang in der Gesamthierarchie<br />

des Städtesystems. Diese Relation, die als<br />

Ranggrößenregel (rank-size riile) bezeichnet wird,<br />

beschreibt eine bestimmte statistische Regelhaftigkeit<br />

in der Stadtgrößenrangfolge von Ländern oder Regionen.<br />

Sie besagt, dass die «-größte Stadt den «-ten<br />

Bruchteil der Einwohnerzahl der größten Stadt aufweist.<br />

Besitzt die größte Stadt eines Siedlungssystems<br />

1 Million Einwohner, so sollte die fünftgrößte Stadt<br />

ein Fünftel davon, also 200 000 Einwohner haben, die<br />

Stadt mit dem Rang 100 ein H<strong>und</strong>ertstel, also 10 000<br />

Einwohner <strong>und</strong> so weiter. Stellt man diese Relation in<br />

einem Diagramm mit logarithmischen Skalen für die<br />

Einwohnerzahl <strong>und</strong> den Rangplatz der Städte dar, so<br />

ergibt sich eine Gerade.<br />

In manchen Städtesystemen erscheint die Spitze<br />

der Ranggrößenverteilung wegen der überproportional<br />

großen Einwohnerzahl der größten (<strong>und</strong> manchmal<br />

auch noch der zweitgrößten) Stadt verzerrt. So ist<br />

etwa die argentinische Hauptstadt Buenos Aires mehr<br />

als zehnmal so groß wie Rosario, die zweitgrößte<br />

Stadt des Landes (nach der Ranggrößenregel sollte<br />

sie nur doppelt so groß sein) Im Vereinigten Königreich<br />

übertrifft London die zweitgrößte Stadt, Birmingham,<br />

um mehr als das Achtfache; in Frankreich<br />

ist Paris achtmal so groß wie Marseilles; in Brasilien<br />

sind sowohl Rio de Janeiro als auch Säo Paulo fünfmal<br />

so groß wie Belo Horizonte, die drittgrößte Stadt<br />

des Landes. Die Tatsache, dass die größte Stadt innerhalb<br />

eines nationalen Siedlungssystems eine gegenüber<br />

der zweit- <strong>und</strong> drittgrößten Stadt um ein Vielfaches<br />

höhere Bevölkerungszahl hat, bezeichnen Geographen<br />

als primacy. Städte wie London oder Buenos<br />

Aires werden Primatstädte (primate eitles) genannt.<br />

Primacy ist nicht allein eine Frage der Größe. So<br />

sind einige der größten Metropolen der Erde -<br />

zum Beispiel Karachi, New York <strong>und</strong> Mumbay (Born-


Ebene 1 Ebene 3<br />

^ dominierende A funktionaler<br />

^ w o r id C ity * Knotenpunkt<br />

A bedeutende ■ Verwaltung <strong>und</strong><br />

" Ausbildungszentmm<br />

" W o r ld C ity<br />

^ sek<strong>und</strong>äre<br />

• w o r l d c it y<br />

Ebene 2<br />

^ Knoten-<br />

“ Punkt<br />

Unterhaltungs-, Erholungs<strong>und</strong><br />

Ruhestandszentren<br />

^ Zentoim der<br />

^ verarbeitenden Industrie<br />

• regionaler ^ Industrie- <strong>und</strong><br />

Kriotenpunkt militärisches Zentrum<br />

y C \ Bergbau <strong>und</strong><br />

Z '* Gewerbezentren<br />

11.11 Funktionale Spezialisierung innerhalb eines Städtesystems Städte pflegen sich in Richtung bestimmter wirtschaftlicher<br />

Aktivitäten zu spezialisieren, wobei manche ein sehr viel breiteres Spektrum besitzen als andere. Die Abbildung zeigt eine funktionale<br />

Klassifizierung des US-amerikanischen Städtesystems. Die höchste Ebene des Systems besteht aus sogenannten worid cities,<br />

Städten, die hochrangige Funktionen im globalen Marktgeschehen erfüllen. Unter ihnen hat New York eine Sonderstellung als die<br />

dominierende Metropole. Die nächste Schicht umfasst Städte mit regionaler Bedeutung <strong>und</strong> unterschiedlichen Funktionen, zum<br />

Beispiel Atlanta <strong>und</strong> Minneapolis. Auf der dritten Rangstufe finden sich stärker spezialisierte Zentren des Geschäftslebens, der<br />

Verwaltung <strong>und</strong> der unternehmensorientierten Dienstleistungen, zum Beispiel Austin in Texas, Albany im Staat New York <strong>und</strong> Flartford<br />

in Connecticut, während die vierte Schicht aus noch stärker spezialisierten Städten unterschiedlicher Art besteht, etwa aus Zentren<br />

der verarbeitenden Industrie wie Buffalo im Staat New York oder Chattanooga in Tennesee, Bergbau- <strong>und</strong> Gewerbezentren wie<br />

Charleston in West Virginia oder Duluth in Minnesota, Industrie- <strong>und</strong> militärischen Zentren wie Newport News in Virginia oder<br />

San Diego in Kalifornien <strong>und</strong> Unterhaltungs-, Erholungs- <strong>und</strong> Ruhestandszentren wie Las Vegas in Nevada oder Orlando in Florida.<br />

(Quelle: Wiedergabe mit Genehmigung von Prentice Flall; aus <strong>Knox</strong>, P. L. Urbanization. 1994 S. 64)<br />

bay) - keine Primatstädte. Außerdem XriXtprimacy sowohl<br />

in der Kernregion als auch in der Peripherie des<br />

Weltsystems auf. Dies lässt vermuten, dass primacy<br />

eine Auswirkung der Rolle ist, die bestimmte Städte<br />

innerhalb des jeweiligen nationalen Städtesystems<br />

spielen. Es besteht aber auch eine Verknüpfung mit<br />

der Weltwirtschaft. In peripheren Ländern resultiert<br />

primacy für gewöhnlich aus der früheren Rolle der<br />

Primatstädte als Brückenkopf der kolonialen Erschließung.<br />

In den Kernstaaten sind Primatstädte<br />

vorwiegend aus Residenzen, Verwaltungs- oder Handelszentren<br />

mit weit über ihr unmittelbares städtisches<br />

Siedlungssystem hinausgehender Bedeutung<br />

entstanden.<br />

Von funktionaler Dominanz (functional primacy)<br />

innerhalb eines Städtesystems spricht man, wenn die<br />

wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> kulturellen Funktionen<br />

einer Stadt eine an der Bevölkerungszahl gemessen<br />

überproportional starke Konzentration aufweisen.<br />

Solche Städte besitzen innerhalb des städtischen<br />

Siedlungssystems einen hohen Zentralitätsgrad.<br />

Dies ist vielfach bei Primatstädten der Fall. Städte<br />

können ein Städtesystem aber auch funktional dominieren,<br />

ohne Primatstädte zu sein. Die Abbildung<br />

11.13 zeigt einige Beispiele für die überragende Dominanz<br />

einiger Städte in der Peripherie des modernen<br />

kapitalistischen Weltsystems. So trägt etwa Bangkok<br />

mit etwa 12 Prozent der Bevölkerung Thailands zu


Städtische Siedlungssysteme 659<br />

11.12 Ranggrößenverteilung in US-amerikanischen<br />

Städten 1790-1990 Die Grafik zeigt, dass sich das Städtesystem<br />

in den USA relativ einheitlich an die Ranggrößenregel<br />

angepasst hat. Als die Urbanisierung zu steigenden Bevölkerungszahlen<br />

in den Städten auf jeder Ebene des Städtesystems<br />

führte, hat sich die Ranggrößenkurve nach rechts verschoben.<br />

Mittlerweile hat das Wachstum einiger Städte, wie zum Beispiel<br />

San Diego, dazu geführt, dass diese Städte vom niedrigen Ende<br />

der Hierarchie nach ganz oben gerückt sind, während andere<br />

Städte, beispielsweise Savannah in Georgia, gesunken sind<br />

(zumindest in relativer Hinsicht), sodass sie in der Größenordnung<br />

gefallen sind.<br />

ungefähr 38 Prozent zum gesamten Bruttoinlandsprodukt<br />

<strong>und</strong> zu mehr als 85 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt<br />

im Banken-, Versicherungs- <strong>und</strong> Immobilienwesen<br />

bei. Ferner werden hier 75 Prozent<br />

der landesweiten Wertschöpfung aus dem produzierenden<br />

Gewerbe erzielt.<br />

World eitles <strong>und</strong> das globale Städtesystem Wie<br />

bereits in Kapitel 8 erläutert, gab es seit der Ausbildung<br />

eines Weltsystems im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert zu<br />

jeder Zeit bestimmte world cities - oder global eitles<br />

-, die weit über nationale Grenzen hinaus eine Schlüsselstellung<br />

besaßen. In vergangenen Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

bestand ihre Rolle in der Organisation des Handels<br />

<strong>und</strong> in der Verfolgung kolonialer, imperialer <strong>und</strong> geopolitischer<br />

Strategien. Die world cities des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

waren London, Amsterdam, Antwerpen, Genua,<br />

Lissabon <strong>und</strong> Venedig. Im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert rückten<br />

auch Paris, Rom <strong>und</strong> Wien in diesen Rang auf, während<br />

Antwerpen <strong>und</strong> Genua an Bedeutung verloren.<br />

Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert entwickelten sich Berlin, Chicago,<br />

Manchester, New York <strong>und</strong> St. Petersburg zu world<br />

cities, <strong>und</strong> Venedig fiel zurück.<br />

Heute, im Zeitalter der Globalisierung der Wirtschaft,<br />

besteht die Schlüsselrolle von Weltstädten<br />

weniger in der Ausübung imperialer Macht <strong>und</strong><br />

der Organisation des Handels als vielmehr in ihrer<br />

Bedeutung im Zusammenhang mit transnationalen<br />

Unternehmen, dem internationalen Banken- <strong>und</strong><br />

Finanzwesen, übernationalen politischen Organisationen<br />

<strong>und</strong> internationalen Konzernen. World cities<br />

haben sich zu Knotenpunkten von Informationsströmen,<br />

Zentren der Kultur <strong>und</strong> der Investitionen entwickelt,<br />

die in ihrer Gesamtheit die ökonomische <strong>und</strong><br />

kulturelle Globalisierung weltweit in Gang halten.<br />

World cities sind auch als Schnittstelle zwischen<br />

dem Globalen <strong>und</strong> dem Lokalen anzusehen. Sie verfügen<br />

über den entsprechenden wirtschaftlichen, kulturellen<br />

<strong>und</strong> institutionellen Apparat, um nationale<br />

<strong>und</strong> subnationale Ressourcen in die globale Ökonomie<br />

einzuspeisen <strong>und</strong> Impulse der Globalisierung an<br />

nationale <strong>und</strong> subnationale Zentren zu vermitteln.<br />

Global cities weisen daher eine Reihe gemeinsamer<br />

funktionaler Merkmale auf:<br />

• Sie sind Standorte für global gehandelte Wirtschaftsgüter<br />

<strong>und</strong> Warentermingeschäfte, Investitionen,<br />

Devisen, Aktien <strong>und</strong> Anleihen.<br />

• Sie sind Standorte von Clustern hoch spezialisierter<br />

unternehmensorientierter Dienstleistungen,<br />

vor allem solcher, die in den Bereichen Finanzierung,<br />

Controlling, Werbung, Gr<strong>und</strong>stückserschließung,<br />

Vermögensentwicklung <strong>und</strong> Rechtswesen<br />

international agieren.<br />

• Sie sind Standorte, an denen sich die Zentralen<br />

transnationaler Konzerne sowie wichtiger inländischer<br />

<strong>und</strong> großer ausländischer Firmen konzentrieren.<br />

• Sie sind Standorte nationaler <strong>und</strong> internationaler<br />

Handelszentralen <strong>und</strong> Berufsverbände.<br />

• Sie sind Standorte der meisten führenden Nichtregierungsorganisationen<br />

{nongovernmental organizationSy<br />

NGO’s) <strong>und</strong> zwischenstaatlichen Organisationen<br />

{intergovernmental organizations, IGOs)<br />

mit internationaler Bedeutung, wie beispielsweise<br />

der World Health Organization (WHO), der United<br />

Nations Educational, Scientific, and Cultural<br />

Organization (UNESCO), der International Labor<br />

Organization (ILO) oder der International Federation<br />

of Agricultural Producers (IFAP).<br />

• Sie sind Standorte der mächtigsten <strong>und</strong> international<br />

einflussreichsten Medienkonzerne (Zeitungen,<br />

Zeitschriften, Verlage, Satellitenfernsehen <strong>und</strong> so<br />

weiter), Nachrichten- <strong>und</strong> Informationsdienste<br />

(über herkömmliche Netze oder online via Internet)<br />

<strong>und</strong> von Kultur schaffenden Industrien (in<br />

den Sektoren Kunst <strong>und</strong> Gestaltung, Mode,<br />

Film, Fernsehen).<br />

Aufgr<strong>und</strong> ihrer Bedeutung <strong>und</strong> Sichtbarkeit können<br />

Weltstädte auch Ziele terroristischer Anschläge<br />

werden (Exkurs 11.1 „Fenster zur Welt - Terroristische<br />

Akte in Städten“


660 11 Verstädterung<br />

Mexiko-Stadt, mit 18 Prozent<br />

der Bevölkerung Mexikos,<br />

verfügt über mehr als ein<br />

Drittel des Handels- <strong>und</strong><br />

Dienstleistungssektors <strong>und</strong><br />

fast zwei Drittel der<br />

Vermögenswerte. Zwei Drittel<br />

des Etats für das höhere<br />

Schulwesen <strong>und</strong> mehr als<br />

drei Viertel des Kapitals für<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

werden in der mexikanischen<br />

Hauptstadt investiert.<br />

Managua, mit etwa 28<br />

Prozent der Bevölkerung<br />

Nicaraguas, erwirtschaftet<br />

ungefähr 40 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts<br />

des Landes.<br />

Port au Prince, mit<br />

etwa 23 Prozent der<br />

Bevölkerung Haitis, erzielt<br />

ungefähr 40 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts.<br />

Dhaka, die Hauptstadt von<br />

Bangladesh, vereinigt 9 Prozent<br />

der Bevölkerung des Landes,<br />

verfügt jedoch über fast 50<br />

Prozent der Arbeitsplätze in der<br />

verarbeitenden Industrie.<br />

Bangkok, mit 12 Prozent der<br />

Bevölkerung Thailands, hat<br />

einen Anteil von mehr als 38<br />

Prozent am Bruttolnlandsprodukt.<br />

Hier werden mehr<br />

als 75 Prozent der Einkünfte<br />

aus der Industrieproduktion<br />

<strong>und</strong> mehr als 85 Prozent der<br />

Gewinne im Banken- <strong>und</strong><br />

Finanzdienstleistungsgewerbe<br />

erzielt.<br />

Shanghai, mit weniger<br />

als 2 Prozent der<br />

Bevölkerung Chinas,<br />

ast 14 Prozent<br />

Säo Paulo, mit etwa<br />

10 Prozent der Einwohner<br />

Brasiliens, vereinigt<br />

ungefähr 25 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts <strong>und</strong><br />

mehr als 40 Prozent des<br />

verarbeitenden Gewerbes<br />

auf sich.<br />

Lagos, mit etwa 10 Prozent der<br />

Bevölkerung Nigerias, verfügt<br />

über etwa 25 Prozent des<br />

Einzelhandels <strong>und</strong> 40 Prozent<br />

des Großhandels sowie über 40<br />

Prozent des Exports <strong>und</strong> 70<br />

Prozent der Industriekapazität.<br />

Nairobi, mit 8 Prozent der<br />

Einwohner Kenias, stellt mehr<br />

als 50 Prozent der Arbeitsplätze<br />

in der verarbeitenden<br />

Industrie.<br />

Rangun, mit weniger als<br />

10 Prozent der Bevölkerung<br />

von Myanmar (Birma), stellt in<br />

der verarbeitenden Industrie<br />

mehr als 50 Prozent <strong>und</strong> im<br />

Dienstleistungssektor mehr als<br />

80 Prozent der Arbeitsplätze.<br />

In der Verwaltung, im höheren<br />

Schulwesen <strong>und</strong> im internationalen<br />

Handel sind es fast<br />

100 Prozent.<br />

Manila, mit etwa 15<br />

Prozent der Bevölkerung<br />

der Philippinen,<br />

erwirtschaftet mehr<br />

als 30 Prozent des<br />

Bruttoinlandsprodukts<br />

<strong>und</strong> liefert 60 Prozent<br />

der Erzeugnisse der<br />

verarbeitenden<br />

Industrie.<br />

11.13 Beispiele für die Zentralität von Städten Die wirtschaftliche, politische <strong>und</strong> kulturelle Bedeutung mancher Städte steht in<br />

keinem Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl. Sie besitzen also eine hohe Zentralität innerhalb der jeweiligen Volkswirtschaften. In diesem<br />

Sachverhalt spiegelt sich ein Zentrum-Peripherie-Gefälle innerhalb von Ländern wider, das aufgr<strong>und</strong> der daraus resultierenden<br />

ökonomischen Disparitäten in vielen Fällen zu einer politischen Frage wird. Die relative Bedeutung dieser Städte führt darüber hinaus<br />

zu lokalen Problemen, die sich in überhöhter Dichte, inflationären Bodenpreisen <strong>und</strong> wachsenden Umweltbelastungen äußern.<br />

(Quelle: Kartenprojektion: Buckminster Füller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung „Oymax/bn“ <strong>und</strong><br />

das Füller Projection Dymaxion Map Design sind eingetragene Warenzeichen des Buckminster Füller Institute, Santa Barbara, CA.<br />

1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten)<br />

Zwischen diesen verschiedenen funktionalen Komponenten<br />

bestehen vielfältige Synergieeffekte. Eine<br />

Stadt wie New York zum Beispiel zieht transnationale<br />

Unternehmen an, weil sie ein Zentrum der Kultur<br />

<strong>und</strong> der Kommunikation ist; als Mittelpunkt von<br />

Konzernzentralen <strong>und</strong> globalen Märkten ist New<br />

York attraktiv für hoch spezialisierte Dienstleistungsunternehmen.<br />

Diese Wechselwirkungen stellen eine<br />

Sonderform räumlicher Agglomerationseffekte dar,<br />

die in Kapitel 8 behandelt wurden, wobei Agglome-


Städtische Siedlungssysteme 661<br />

ration in diesem Zusammenhang die Häufung funktional<br />

verflochtener Aktivitäten bezeichnet. Im Falle<br />

New York treten Konzernzentralen <strong>und</strong> spezialisierte<br />

Rechts-, Finanz- <strong>und</strong> unternehmensorientierte<br />

Dienstleistungen räumlich konzentriert auf, weil<br />

sich daraus Fühlungsvorteile <strong>und</strong> Kostenersparnisse<br />

ergeben. Gleichzeitig kommen aber den einzelnen<br />

World eitles oder global eitles jeweils unterschiedliche<br />

Rollen im globalen System zu, <strong>und</strong> zwar sowohl infolge<br />

unterschiedlicher Schwerpunkte <strong>und</strong> Kombinationen,<br />

also durch Unterschiede in der Art ihrer globalen<br />

Funktionen, als auch aufgr<strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

absoluter <strong>und</strong> relativer Standortbedingungen bestimmter<br />

Weltstadtfunktionen, also durch Unterschiede<br />

hinsichtlich ihres Ranges als world eitles. Brüssel<br />

beispielsweise hat eine relativ geringe Bedeutung<br />

als führender Sitz von Firmenzentralen. Da die Stadt<br />

aber Hauptsitz der Europäischen Gemeinschaft ist,<br />

hat sie quasi die Funktion einer Weltstadt, sodass<br />

sich hier zahlreiche Nichtregierungsorganisationen<br />

<strong>und</strong> führende Dienstleistungsunternehmen angesiedelt<br />

haben, die auf transnationaler Ebene agieren.<br />

Auch Mailand weist weniger führende Dienstleistungsunternehmen<br />

auf, besitzt aber einen weltweit<br />

bedeutsamen Status hinsichtlich seines kulturellen<br />

Einflusses, besonders in den Bereichen Mode <strong>und</strong> Design.<br />

Festzuhalten ist aber auch, dass es in der Regel<br />

nicht die Masse der Bevölkerung dieser Städte ist,<br />

die von deren herausragender Bedeutung im globalen<br />

Wirtschaftsgeschehen profitiert (Exkurs „Die Kehrseite<br />

der global eitles“).<br />

Heute wird das globale städtische Siedlungssystem<br />

dominiert von London <strong>und</strong> New York, die einen<br />

weltweiten Einfluss haben, der sich auf alle drei wirtschaftlichen<br />

Hauptzentren der Welt (Amerika, Europa/Afrika/Naher<br />

Osten <strong>und</strong> Asien/Ozeanien) (Abbildung<br />

11.14) erstreckt.<br />

Die zweite Rangebene des globalen Städtesystems<br />

schließt Weltstädte ein, die große Teile des Weltsystems<br />

beeinflussen. Hierher gehören zum Beispiel Miami<br />

als regionales Zentrum für Lateinamerika, Hong<br />

Kong als regionales Zentrum für Nordostasien <strong>und</strong><br />

Singapur als regionales Zentrum für Südostasien.<br />

Die dritte Schicht umfasst international bedeutende<br />

Städte mit stärker eingeschränkten oder spezialisierten<br />

Funktionen, unter anderem Brüssel, Paris, Johannesburg<br />

<strong>und</strong> Tokio. Darunter folgt noch eine<br />

vierte Ebene von Städten mit nationaler Bedeutung<br />

<strong>und</strong> gewissen übernationalen Funktionen wie Barcelona,<br />

Dallas, Manchester, München, Melbourne, Philadelphia<br />

<strong>und</strong> andere.<br />

Megastädte Megastädte sind nicht notwendigerweise<br />

global eitles, wenngleich es solche gibt, beispielsweise<br />

London <strong>und</strong> Tokio. Megastädte sind sehr große<br />

Städte, die sowohl Primatstellung als auch hohe Zentralität<br />

innerhalb der jeweiligen nationalen Ökonomien<br />

aufweisen. Die wichtigste Gemeinsamkeit besteht<br />

in ihrer gewaltigen Dimension - die meisten<br />

Megastädte haben 10 Millionen <strong>und</strong> mehr Einwohner<br />

(Abbildung 11.15). In allen genannten Merkmalen<br />

heben sie sich von kleineren Großstädten <strong>und</strong> anderen<br />

städtischen Siedlungen der entsprechenden Länder<br />

deutlich ab. Beispiele für Megastädte sind Bangkok,<br />

Beijing (Peking), Kairo, Kolkata (Kalkutta),<br />

/ < O R D - i JAPaX<br />

, A°IEN 'jokyoVv<br />

I iM IT TLERER<br />

|französisch-j OSTEN<br />

sprachiges \<br />

' Afrika ^ \<br />

^Johannesburg<br />

E U R O P A -A FR IK A - M IT T LER E R O S T E N<br />

'' ^ Hongkong i<br />

Singapur<br />

I SÜD- ,<br />

y» OST- 0Oz e a n ie n ;<br />

\« ASIEN ACICM ' y<br />

A S IE N UND O Z E A N IE N<br />

überregionale Zentren bedeutende regionale Zentren ^ untergeordnete regionale Zentren<br />

11.14 Weltstädte<br />

im globalen Städtesystem<br />

Die Karte<br />

zeigt den Einflussbereich<br />

von Weltstädten,<br />

basierend auf einer<br />

Analyse der regionalen<br />

Steuerungsfunktionen<br />

der weltgrößten führenden<br />

Dienstleistungsunternchmen<br />

(Rechnungswesen,<br />

Werbung, Bank-,<br />

Finanz- <strong>und</strong> Rechtswesen).


662 11 Verstädterung<br />

Exkurs 11.1<br />

Fenster zur W e lt - Terroristische A kte in Städten<br />

Im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert haben international organisierte terroristische<br />

Gruppen <strong>und</strong> Vereinigungen auch Städte zu Schauplätzen<br />

terroristischer Anschläge gemacht <strong>und</strong> in das<br />

Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit gerückt. Allerdings<br />

sind Städte nicht erst seit den Anschlägen vom 11. September<br />

2001 auf das World Trade Center <strong>und</strong> das Pentagon in<br />

den USA, auf die Pendlerzüge in Madrid im Jahr 2004 <strong>und</strong><br />

auf Busse <strong>und</strong> U-Bahnen in Londons Innenstadt 2005 Orte<br />

des Terrors ge\ft/orden. Bereits zwischen 1993 <strong>und</strong> 2000<br />

wurden weltweit in Städten über 500 Terroranschläge verübt.<br />

Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Zunächst haben<br />

Städte, insbesondere Weltstädte, einen starken Symbolcharakter.<br />

Sie sind nicht nur Orte starker räumlicher Konzentration<br />

von Menschen <strong>und</strong> Gebäuden, sondern sie stehen auch<br />

für das Ansehen <strong>und</strong> die militärische, politische <strong>und</strong> finanzielle<br />

Machtposition einer Nation. Anschläge in solchen Städten<br />

erregen bei Weitem mehr Aufsehen <strong>und</strong> sorgen für weltweit<br />

größere Angst als Terroranschläge in kleinen oder abgelegenen<br />

Städten. Die Anschläge auf die Wall Street in New<br />

York, ein Massaker am Piccadilly Circus in London, ein Bombenanschlag<br />

auf den Eiffelturm in Paris oder eine Giftgasattacke<br />

in der U-Bahn von Tokio beunruhigen die ganze<br />

Welt. Hinzu kommt, dass Städte durch ihre dichte Baustruktur<br />

<strong>und</strong> die große Bandbreite an industrieller <strong>und</strong> kommerzieller<br />

Infrastruktur bedeutende Infrastruktur- <strong>und</strong> Vermögenswerte<br />

besitzen <strong>und</strong> deshalb für potenzielle Terroristen attraktive<br />

Ziele sind. Überdies sind Städte verletzlicher als andere<br />

Orte. Das bedeutet, eine gut platzierte Bombenexplosion<br />

kann extreme Nachwirkungen haben, eine ganze Stadt paralysieren,<br />

große Angst <strong>und</strong> Panik verbreiten <strong>und</strong> die Wirtschaft<br />

für eine Weile lahm legen. Und auch die Nachricht eines Anschlags<br />

in einer großen Stadt verbreitet sich natürlich viel<br />

schneller als in dünn besiedelten Gegenden. Städtische Milieus<br />

sind für potenzielle Terroristen also aus verschiedenen<br />

Gründen interessante Ziele, nicht zuletzt deshalb, weil sie hier<br />

neue Mitglieder anwerben können.<br />

Eine Statistik hat ergeben, dass die von 1993 bis 2000<br />

weltweit am häufigsten von Terroranschlägen betroffenen<br />

Städte Srinagar (Indien), Athen (Griechenland), Paris, Istanbul<br />

(Türkei), Lima (Peru), Jerusalem, Algier <strong>und</strong> Duschanbe<br />

(Tadschikistan) sind. Nairobi in Kenia führt die Liste der Städte<br />

mit den meisten Todesopfern von 1993 bis 2000 an. Hier<br />

wurden 291 Menschen bei einem Terroranschlag getötet. Es<br />

folgen Colombo in Sri Lanka (108 Menschen kamen bei drei<br />

Anschlägen ums Leben) <strong>und</strong> Jerusalem (hier starben bei<br />

insgesamt neun Anschlägen 77 Menschen). Während der<br />

acht Jahre von 1993 bis 2002 waren über 250 Städte weltweit<br />

das Ziel von einem oder mehreren terroristischen Anschlägen.<br />

Dhaka, Jakarta, Lagos, Manila, Mexiko-Stadt, Neu-<br />

Delhi, Säo Paulo, Shanghai <strong>und</strong> Teheran. Sie alle haben<br />

jeweils mehr Einwohner als 100 der Mitgliedstaaten<br />

der Vereinten Nationen. Obwohl die meisten dieser<br />

Megastädte nicht als global eitles einzustufen sind,<br />

besitzen sie doch eine wichtige Mittlerrolle zwischen<br />

den höheren Ebenen des globalen Städtesystems <strong>und</strong><br />

den kleineren Städten <strong>und</strong> ländlichen Siedlungen ausgedehnter<br />

Regionen der Welt. Sie verknüpfen nicht<br />

nur lokale <strong>und</strong> regionale Ökonomien mit der Weltwirtschaft,<br />

sondern sind auch Kontaktstelle zwischen<br />

Tradition <strong>und</strong> Modernität sowie zwischen den formellen<br />

<strong>und</strong> informellen Sektoren der Wirtschaft.<br />

Der informelle Wirtschaftssektor umfasst eine große<br />

Vielfalt von wirtschaftlichen Aktivitäten, denen gemeinsam<br />

ist, dass sie weder offiziell registriert sind<br />

noch nach einem formalen System geregelt <strong>und</strong> entlohnt<br />

werden.<br />

Wachstumsprozesse<br />

von Städten<br />

Die Entwicklung eines weltumspannenden Wirtschaftssystems<br />

löste in den Kernländern einen - später<br />

durch die industrielle Revolution noch intensivierten<br />

- umfassenden Verstädterungsschub aus, der<br />

auf einem sich selbst verstärkenden Wachstumsprozess<br />

beruhte. Die Städte als solche waren die Motoren<br />

wirtschaftlicher Entwicklung, <strong>und</strong> dieses Wachstum<br />

zog wiederum Zuwanderer, Siedler <strong>und</strong> Einwanderer<br />

an, welche die Bevölkerungszahl rasch ansteigen ließen.<br />

Der Urbanisierungsprozess war eng gekoppelt an<br />

sich gegenseitig verstärkende Entwicklungen im städtischen<br />

<strong>und</strong> im ländlichen Raum (Abbildung 11.16).<br />

Die Ausweitung der Agrarflächen führte in Verbindung<br />

mit Mechanisierung <strong>und</strong> technologischen Innovationen,<br />

die durch die Verstädterung möglich wurden,<br />

zu einer Erhöhung der landwirtschaftlichen Pro-


Wachstumsprozesse von Städten 663<br />

Die Kehrseite der g lo b al eitles<br />

Global eitles sind nicht nur Steuerungszentralen der Weltwirtschaft,<br />

Zentren der Kommunikation <strong>und</strong> des technischen Fortschritts,<br />

sondern sie haben auch eine hässliche Kehrseite: Sie<br />

sind die Zentren einer zunehmenden Polarisierung <strong>und</strong> Segmentierung<br />

der Gesellschaft, einer zunehmenden Auseinanderentwicklung<br />

der in ihnen wohnenden Bevölkerungsgruppen.<br />

Keine ^/oöa/c/fy ist nur global city, kennzeichnend ist vielmehr<br />

die Heterogenität von städtischen - gesellschaftlichen<br />

wie baulichen - Raumstrukturen, die zur Entwicklung von geteilten<br />

Städten führen, zu einer „inneren Spaltung in eine national<br />

<strong>und</strong> international konkurrenzfähige Stadt der Integrierten<br />

<strong>und</strong> Wohlhabenden, <strong>und</strong> in eine Stadt der Marginalisierten<br />

<strong>und</strong> Armen“ (Häussermann & Siebei 1987). „World eitles sind<br />

luxuriöse, prächtige Städte, deren Pracht selbst die Armut verdeckt,<br />

auf der dieser Wohlstand basiert. Die Gegenüberstellung<br />

ist nicht nur räumlich, sie ist eine funktionale Beziehung:<br />

Reich <strong>und</strong> Arm definieren einander“ (Friedmann & Wolff 1982).<br />

Die Interessen der ^/oöa/p/ayer gehen oft an denen der Stadtbewohner<br />

<strong>und</strong> der städtischen Umwelt vorbei. Der wirtschaftliche<br />

Aufstieg globaler Städte nutzt nicht unbedingt dem Wohlstand<br />

ihrer Bewohner <strong>und</strong> erst recht nicht dem Wohlstand <strong>und</strong><br />

politischen Einfluss des jeweiligen Landes. Während reiche<br />

„Yuppies“ die Immobilienpreise in schwindelnde Höhen treiben,<br />

haust deren „Dienerschaft“, welche in den Restaurants,<br />

Hotels <strong>und</strong> teuren Boutiquen ihren Dienst tut, in Baracken<br />

oder fährt st<strong>und</strong>enlang aus ländlichen Gegenden in die City.<br />

Kennzeichnend für viele worid eitles ist damit eine geteilte,<br />

gleichwohl aber miteinander verflochtene Ökonomie. Neben<br />

dem formellen Wirtschaftssektor besteht ein riesiger informeller<br />

<strong>und</strong> teilweise krimineller Wirtschaftssektor (Drogenhandel<br />

<strong>und</strong> so weiter). Weltweit bildet inzwischen der informelle Sektor,<br />

die Schattenwirtschaft, die Lebenswelt des größten Teils<br />

der erwerbsfähigen Bevölkerung, nach Schätzung der Internationalen<br />

Arbeitsorganisation (ILO) 4 Milliarden Menschen<br />

(Lock 2004). Das globale „Bruttokriminalprodukt“, von dem<br />

knapp die Hälfte auf Drogengeschäfte entfällt, wird auf jährlich<br />

1 500 Milliarden US-Dollar geschätzt (ebd.).<br />

Diese unterschiedlichen Ökonomien werden im Zuge der<br />

Globalisierung zunehmend miteinander vernetzt <strong>und</strong> damit indirekt<br />

in die reguläre Ökonomie integriert. Schattenaktivitäten<br />

wie Geldwäsche, Drogenhandel <strong>und</strong> illegale Migration werden<br />

zu einer spezifischen Form der Teilhabe an Globalisierung.<br />

H. Gebhardt<br />

11.15 Megastädte der Welt 2015. Megastädte sind neue Phänomene der weltweiten Urbanisierung, in der sie aufgr<strong>und</strong><br />

wachsender Zahl <strong>und</strong> Größe eine herausragende Position einnehmen. Global eitles sind demgegenüber nicht einfach nur die größten<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlich bedeutsamsten Städte der Welt, sondern zugleich führende Zentren der Weltwirtschaft, in welchen Entscheidungen<br />

von erdumspannender Bedeutung getroffen werden <strong>und</strong> Interaktionen in globalen wirtschaftlichen, kulturellen <strong>und</strong> politischen<br />

Angelegenheiten stattfinden. Die Grafik zeigt die Megastädte der Welt, differenziert nach drei Größenklassen, je nach gewähltem<br />

unterem Schwellenwert gibt es weltweit gegenwärtig 16, 24 oder 39 Megastädte. Mehr als zwei Drittel von ihnen liegen in Entwicklungsländern;<br />

ihre Bevölkerungszahlen vervielfachten sich oft während der letzten Jahrzehnte.


664 11 Verstädterung<br />

Megastadtforschung als internationale Forschungsaufgabe<br />

Im Jahr 2007 wohnten erstmals die meisten Menschen dieser<br />

Erde in Städten. Gerade in Ländern des Südens konzentrieren<br />

sich zunehmend immer mehr Stadtbewohner in Megastädten<br />

mit zehn <strong>und</strong> mehr Einwohnern. Für das Jahr 2015 wird geschätzt,<br />

dass es dann weltweit 58 solcher Megastädte geben<br />

wird, von denen nur zehn noch in den Industrieländern beheimatet<br />

sein werden.<br />

Solche Megastädte werden zunehmend zu .global risk<br />

areas“, in denen nicht nur extrem hohe Konzentrationen von<br />

„verw<strong>und</strong>barer“, häufig marginalisierter Bevölkerung „regiert“<br />

werden müssen, sondern in denen auch Umweltschäden <strong>und</strong><br />

Umweltrisiken zunehmen. Insbesuriders die schlechte Wasser-<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge vor dem Hintergr<strong>und</strong> einer<br />

häufig „schwachen“ städtischen Verwaltung {weak urban go-<br />

vernance) wird eine Herausforderung sein. Nichtformelle bis<br />

hin zu kriminellen Akteuren werden zunehmend das Geschehen<br />

bestimmen.<br />

Megacities als wichtiges Phänomen des weltweiten Urbanisierungsprozesses<br />

werden damit derzeit auch zum Gegenstand<br />

internationaler <strong>und</strong> interdisziplinärer Forschungsinitiativen,<br />

innerhalb derer die Geographie mit ihrer vernetzten<br />

Sichtweise <strong>und</strong> ihren natur- <strong>und</strong> gesellschaftswissenschaftlichen<br />

Teildisziplinen eine wichtige Rolle zu spielen vermag<br />

(vgl. Kraas 2006). In Deutschland beispielsweise gibt es Projekte<br />

des B<strong>und</strong>esministeriums für Bildung <strong>und</strong> Forschung<br />

(BMBF), welche sich anhand von Fallbeispielen aus verschiedenen<br />

Kontinenten mit nachhaltiger Entwicklung der Megastädte<br />

von morgen befassen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

(DFG) hat ebenfalls ein Schwerpunktprogramm<br />

eingerichtet, das sich besonders der informellen Dynamik<br />

in Megastädten am Beispiel von Bangladesh <strong>und</strong> Südchina<br />

widmet. Ziel dieser Forschungen ist es, den an Bedeutung<br />

gewinnenden Zusammenhang zwischen hochkomplexen, informell<br />

ablaufenden megaurbanen Prozessen <strong>und</strong> den Formen<br />

<strong>und</strong> Auswirkungen globalen Wandels auf Entwicklung <strong>und</strong><br />

Reorganisation räumlicher, sozialer <strong>und</strong> institutioneller Beziehungen<br />

in den Megastädten zu untersuchen.<br />

H. Gebhardt<br />

I (<br />

duktivität. Dies löste wiederum eine Freisetzung landwirtschaftlicher<br />

Arbeitskräfte aus, die der expandierende<br />

Industriesektor in den Städten dringend benötigte.<br />

Zugleich wurden zusätzlich ausreichende Nahrungsmittelmengen<br />

produziert, um die wachsende<br />

städtische Bevölkerung zu versorgen. Verstärkt wurde<br />

der Prozess außerdem durch eine große Zahl städtischer<br />

Industriearbeiter, die landwirtschaftliche Geräte,<br />

Maschinen, Düngemittel <strong>und</strong> andere Produkte<br />

erzeugten, mit deren Hilfe die landwirtschaftliche<br />

Produktivität weiter gesteigert werden konnte.<br />

Verstädterung <strong>und</strong> wirtschaft-<br />

, liehe Entwicklung___________<br />

11.16 Der Verstädterungsprozess in den wirtschaftlichen<br />

Kernregionen der Erde. Die Verstädterung wurde durch<br />

die Modernisierung der Agrarwirtschaft <strong>und</strong> die Erhöhung der<br />

landwirtschaftlichen Produktivität in Gang gesetzt. Zum einen<br />

wurde dadurch die Versorgung einer größeren Zahl von<br />

Stadtbewohnern mit Nahrungsmitteln möglich. Zum anderen<br />

strömte eine große Zahl von Arbeitskräften, die in der Landwirtschaft<br />

nicht mehr benötigt wurden, in die Städte. Zwar<br />

wurden die Arbeitskräfte, die bisher Nahrungsmittel produziert<br />

hatten, nun zu NahrungsmiLlelverbrauchern. Dies wurde aber<br />

mehr als aufgewogen durch die Zunahme der landwirtschaftlichen<br />

Produktivität <strong>und</strong> der städtischen Arbeitnehmer, welche<br />

nunmehr landwirtschaftliche Geräte <strong>und</strong> Maschinen, Düngemittel<br />

<strong>und</strong> dergleichen produzieren konnten.<br />

Angesichts eines sich auf diese Weise selbst verstärkenden<br />

Verstädterungsprozesses hängt das Wachstum<br />

von Städten direkt vom Umfang ihrer jeweiligen<br />

Exportbasis ab. Die Exportbasis einer Stadt besteht<br />

aus den wirtschaftlichen Funktionen der Erzeugung,<br />

Verarbeitung oder Verteilung von Gütern beziehungsweise<br />

der Bereitstellung von Dienstleistungen<br />

für Märkte außerhalb der Stadt. Aktivitäten, die Gewinn<br />

bringende Exporte ermöglichen, werden als bnsics<br />

oder fernversorgende Wirtschaftszweige bezeichnet.<br />

Nonbasics beziehungsweise nahversorgende<br />

Wirtschaftszweige dienen der Bedarfsdeckung der<br />

Stadtbevölkerung selbst <strong>und</strong> bringen daher keine Pro-


Wachstumsprozesse von Städten 665<br />

fite durch K<strong>und</strong>en von außerhalb. Zu den nonbasics<br />

gehören etwa Lokalzeitungen, kleine Bäckereien <strong>und</strong><br />

Restaurants, Schulen <strong>und</strong> die Lokalverwaltung.<br />

Entscheidend bestimmt wird das Städtewachstum<br />

- gemessen an Bevölkerungszahl, Arbeitsplätzen <strong>und</strong><br />

Einkommenschancen - in den Kernländern durch<br />

den Anteil der basics an der Wirtschaft. Wohlstand,<br />

der durch sie geschaffen wird, führt zu einer Zunahme<br />

der Beschäftigung in den nonbasic-Aktivitäten,<br />

zur Deckung des Bedarfs in den Sektoren Wohnungswesen<br />

<strong>und</strong> Infrastruktur, Einzelhandel sowie Personal-<br />

<strong>und</strong> andere Dienstleistungen. Wachsende Einkünfte<br />

aus der Kombination von fern- <strong>und</strong> nahversorgenden<br />

wirtschaftlichen Aktivitäten bringen potenziell<br />

höhere Steuereinnahmen, die wiederum zur<br />

Verbesserung der Infrastruktur - Straßen, Schulen,<br />

Ges<strong>und</strong>heitsdienste, Freizeiteinrichtungen <strong>und</strong> so<br />

weiter - herangezogen werden können. Zwar sind<br />

all diese Aktivitäten den nonbasics zuzuordnen, dennoch<br />

erhöhen auch sie die Effizienz <strong>und</strong> Attraktivität<br />

der Städte, die ihrerseits neue Investitionen im basic-<br />

Sektor anziehen. Es handelt sich also um einen Selbstverstärkungsprozess<br />

(Kapitel 8), in dessen Verlauf bestimmte<br />

Orte infolge von Agglomerationseffekten<br />

<strong>und</strong> standortbedingten externen Ersparnissen einen<br />

Bedeutungsgewinn wie in einer aufsteigenden Spirale<br />

erfahren.<br />

Deindustrialisierung <strong>und</strong><br />

I Dezentralisierung______<br />

Wirtschaftliche Entwicklung läuft nicht immer mit<br />

Bevölkerungskonzentration <strong>und</strong> Stadtwachstum parallel.<br />

Prozesse der kumulativen Verursachung werden<br />

von Zeit zu Zeit neu orientiert, dann nämlich,<br />

wenn neue Technologien, Ressourcen <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Möglichkeiten ein bestehendes Gleichgewicht<br />

spezifischer Wettbewerbsvorteile an bestimmten<br />

Standorten in entvsdckelten oder auch unterentwickelten<br />

Ländern verändern. Neue Verstädterungsimpulse<br />

erfahren jene Regionen, die unter den geänderten<br />

Voraussetzungen die günstigsten Bedingungen<br />

bieten, während die am wenigsten begünstigten meist<br />

unter einer Abwärtsspirale von Deindustrialisierung<br />

<strong>und</strong> Stadtverfall zu leiden haben. Deindustrialisierung<br />

führt zu einem Verlust an Industriearbeitsplätzen<br />

in den Kernländern, da Betriebe ihre Aktivitäten<br />

aufgr<strong>und</strong> der hier geringeren Profite zurücknehmen<br />

(Kapitel 8). In eine solche Situation gerieten beispielsweise<br />

Pittsburgh <strong>und</strong> Cleveland (USA), Sheffield <strong>und</strong><br />

Liverpool (Großbritannien), Lille (Frankreich) <strong>und</strong><br />

Lüttich (Belgien) - allesamt Städte, in denen die<br />

Schwerindustrie eine wirtschaftliche Schlüsselrolle<br />

spielte. In den 1970er- <strong>und</strong> 80er-Jahren büßten diese<br />

Städte einen großen Teil der Arbeitsplätze ein.<br />

Gleichzeitig ermöglichten bessere <strong>und</strong> flexiblere<br />

Transport- <strong>und</strong> Kommunikationsnetzwerke vielen<br />

Industriesparten eine freiere Standortwahl. Daraus<br />

ergab sich in den städtischen Siedlungssystemen<br />

der Kernländer eine Dezentralisierung von Arbeitsplätzen<br />

<strong>und</strong> Wohnstandorten auf Kosten der großen<br />

Städte. In manchen Fällen wurden Routinetätigkeiten<br />

aufgr<strong>und</strong> geringerer Arbeitskosten <strong>und</strong> größerer Anreize<br />

für Industrieansiedlungen in Ideinere Städte<br />

oder auch in ländliche Regionen verlagert. In anderen<br />

Fällen verlegte man solche Aktivitäten im Zuge der<br />

neuen internationalen Arbeitsteilung (Kapitel 2)<br />

nach Übersee oder zog sich ganz aus ihnen zurück.<br />

Der Trend zu Deindustrialisierung <strong>und</strong> Dezentralisierung<br />

wurde durch die dämpfende Wirkung von<br />

Agglomerationsnachteilen (Kapitel 8) auf das weitere<br />

Wachstum von Großstädten verstärkt. Agglomerationsnachteile,<br />

die aus der Größe <strong>und</strong> Dichte einer<br />

Stadt resultieren, sind Lärm, Luftverschmutzung, höhere<br />

Kriminalität, Verkehrskosten, überhöhte<br />

Gr<strong>und</strong>stücks- <strong>und</strong> Wohnungspreise, Verkehrsstaus<br />

sowie überlastete Hafeneinrichtungen <strong>und</strong> Bahnstrecken.<br />

Außerdem werden höhere Steuern erhoben<br />

- zur Erneuerung veralteter Infrastruktur <strong>und</strong> zur Erhaltung<br />

von Dienstleistungen <strong>und</strong> Einrichtungen, die<br />

man vorher gar nicht benötigte, wie etwa Verkehrspolizei,<br />

Stadtplanung, Obdachlosenunterkünfte.<br />

Das führte im städtischen System der Industrieländer<br />

zu einer Dezentralisierung von Arbeitsplätzen<br />

<strong>und</strong> Bewohnern aus den Metropolregionen in die<br />

suburbanen Randgebiete. In einigen Fällen wurden<br />

bestimmte Produktionsabläufe in kleinere Metropolregionen<br />

oder in ländliche Räume verlagert, weil hier<br />

die Arbeitskosten niedriger sind <strong>und</strong> ein besseres<br />

Geschäftklima herrscht. Andere Firmen verlagerten<br />

ihre Produktion im Zuge der neuen internationalen<br />

Arbeitsteilung gleich nach Übersee (Kapitel 2) oder<br />

gliederten sie gänzlich aus.<br />

Counterurbanisierung <strong>und</strong><br />

I Reurbanisierung________<br />

Treffen Deindustrialisierung in Kerngebieten der<br />

Produktion <strong>und</strong> Agglomerationsnachteile in großen<br />

verstädterten Bereichen einerseits <strong>und</strong> eine verbesserte<br />

Zugänglichkeit kleinerer Städte <strong>und</strong> ländlicher<br />

Räume andererseits zusammen, kann das Phänomen<br />

der Counterurbanisierung, der Entstädterung, auftre-


666 11 Verstädterung<br />

ten. Von Counterurbanisierung spricht man, wenn<br />

Großstädte Einwohner an kleinere Städte <strong>und</strong> ländliche<br />

Gebiete verlieren, also eine Dekonzentration<br />

der Bevölkerung innerhalb eines Städtesystems einsetzt.<br />

In den 1970er- <strong>und</strong> frühen 80er-Jahren vollzog<br />

sich dieser Prozess in den Vereinigten Staaten, in<br />

Großbritannien, Japan <strong>und</strong> vielen anderen entwickelten<br />

Ländern, wenn auch nicht überall in gleicher Weise<br />

(Exkurs „Leitbilder städtischer Entwicklung in Europa“).<br />

Das Wachstum der Großstädte verlangsamte<br />

sich drastisch, während Klein- <strong>und</strong> Mittelstädte sowie<br />

bestimmte ländliche Gebiete rasch an Bevölkerung<br />

Zunahmen. In den Vereinigten Staaten führte diese<br />

Umverteilung in den 1970er-Jahren zu einem enormen<br />

Bevölkerungsanstieg in nicht verstädterten Gebieten<br />

des Südens, Südwestens <strong>und</strong> Westens: In<br />

Counties, deren Bevölkerungszahlen über Jahrzehnte<br />

nahezu unverändert geblieben waren, gab es Zuwächse<br />

um 15 oder sogar 20 Prozent. Unter den Regionen<br />

mit dem höchsten Zuwachs waren solche, die<br />

im Pendlereinzugsbereich von Großstädten lagen.<br />

Aber auch abgelegene Gebiete hatten beträchtliche<br />

Bevölkerungszunahmen zu verbuchen. Acht Millionenstädte<br />

der höchsten Hierarchieebene des Städtesystems<br />

der Vereinigten Staaten verloren an Einwohnern<br />

- alle liegen im Nordosten <strong>und</strong> im Mittelwesten:<br />

Buffalo, Cleveland, Detroit, Milwaukee, New York,<br />

Philadelphia, Pittsburgh <strong>und</strong> St. Louis. Ähnlich große<br />

Metropolitangebiete im Süden <strong>und</strong> Südwesten der<br />

USA erlitten zwar insgesamt keine Einbußen, doch<br />

ihre Wachstumsraten gingen deutlich zurück, <strong>und</strong><br />

in den Stadtkernen nahm die Bevölkerung in vielen<br />

Fällen ab. Im Gegensatz dazu wuchsen Klein- <strong>und</strong><br />

Mittelstädte im Süden <strong>und</strong> Westen mit ihrem verstädterten<br />

Umland erstaunlich schnell - schneller<br />

jedenfalls als die umgebenden nicht verstädterten<br />

Bereiche.<br />

Die Counterurbanisierung bedeutete zwar eine<br />

Umkehrung lang anhaltender Entwicklungen, dürfte<br />

insgesamt aber eher ein zeitgeb<strong>und</strong>enes Phänomen<br />

darstellen als einen langfristigen Entwicklungsprozess.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft <strong>und</strong> die Zunahme<br />

postindustrieller Aktivitäten in einem erneuerten<br />

<strong>und</strong> erweiterten großstädtischen Ambiente hat<br />

den Trend zu einer Bevölkerungskonzentration auch<br />

im städtischen Siedlungssystem der Vereinigten Staaten<br />

wieder aufleben lassen. Die meisten Städte, die in<br />

den 1970er- <strong>und</strong> 80er-Jahren starke Rückgänge zu<br />

verzeichnen hatten, holen jetzt wieder auf (New<br />

York, London) oder befinden sich am Wendepunkt<br />

(Paris, Chicago). Dagegen haben die meisten der vormals<br />

langsam wachsenden Städte (Tokio, Barcelona)<br />

an Tempo zugelegt.<br />

Dieser Trend wird als Reurbanisienmg bezeichnet<br />

<strong>und</strong> bedeutet, dass die Bevölkerung in den Kernräumen<br />

der Städte wieder zunimmt, nachdem sie<br />

vorher in absoluten <strong>und</strong> relativen Zahlen zurückgegangen<br />

war. In den USA gibt es dafür zwei Hauptursachen:<br />

einerseits die hohe Zahl von Einwanderern<br />

vor allem aus Lateinamerika <strong>und</strong> Asien, die in die<br />

zentralen Bereiche der wichtigsten Metropolregionen<br />

- insbesondere nach New York <strong>und</strong> Los Angeles <strong>und</strong><br />

einige kleinere Städte im Westen, Südwesten <strong>und</strong><br />

Süden - gezogen sind, <strong>und</strong> andererseits die sogenannten<br />

haby boomers (Kapitel 3), die vom Umland<br />

in die Städte ziehen um den urbanen Lebensstil zu<br />

genießen. Besonders stark war der Zuzug in jene<br />

Metropoloregionen mit einer expandierenden Hochtechnologiewirtschaft<br />

wie beispielsweise Boston <strong>und</strong><br />

Seattle. In deutschen Städten wird die Reurbanisierung<br />

seit den 1980er-Jahren vor allem durch Maßnahmen<br />

der Stadterneuerung im Kernstadtbereich<br />

(Verkehrsberuhigung, Verlagerung von Gewerbebetrieben,<br />

Schaffung von Grünflächen) <strong>und</strong> steuerliche<br />

Anreize begünstigt. Insbesondere im Prozess der sogenannten<br />

gentriftcation entdecken wohlhabende, oft<br />

kinderlose Bevölkerungsgruppen wieder den Reiz des<br />

Wohnens in stadtnahen renovierten Altbauwohnungen.<br />

Globalisierung <strong>und</strong><br />

, splin terin g urbanism<br />

Die Hauptstädte <strong>und</strong> Metropolregionen der Erde<br />

beeinflussen die Prozesse der wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

kulturellen Globalisierung ganz wesentlich. Als Folge<br />

dessen spiegeln sich diese Prozesse auch in ihren<br />

Wachstumsmustern <strong>und</strong> ihrem Wandel wider.<br />

Besonders wichtig für enge Verknüpfung von Verstädterung<br />

<strong>und</strong> Globalisierung sind vernetzte Transport-,<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationsinffastrukturen<br />

wie zum Beispiel Telefonsysteme, Satellitenfernsehen,<br />

Rechnernetzwerke, elektronischer<br />

Handel <strong>und</strong> businees-to-business-{BtoB-)lnterne{-<br />

dienste. Nach einem Bericht des Zentrums der<br />

Vereinten Nationen für menschliche Siedlungen<br />

(UNCHS) aus dem Jahr 2001 fördern Informations<strong>und</strong><br />

Kommunikationstechnologien die weltweite Urbanisierung<br />

in dreifacher Hinsicht: Erstens können<br />

spezialisierte urbane Zentren, mit hoch wertschöpfenden<br />

Dienstleistungen <strong>und</strong> Produktionsbetrieben<br />

ihren Einfluss <strong>und</strong> ihre Absatzmärkte auf immer entferntere<br />

regionale, nationale, internationale <strong>und</strong> glo-


Globalisierung <strong>und</strong> splintering urbanism 667<br />

Leitbilder städtischer Entwicklung in Europa<br />

Die europäische Stadtentwicklung ist im Vergleich zur nordamerikanischen<br />

bekanntlich durch eine besondere historische<br />

Prägung sowie eine daraus resultierende spezifische Stadtgestalt<br />

charakterisiert, die sich trotz anhaltender Sub- <strong>und</strong> Exurbanisierungsprozesse<br />

immer noch deutlich vom Typus der<br />

nordamerikanischen Stadt unterscheidet. Charakteristische<br />

Merkmale sind historisch gewachsene Altstädte, die funktionale<br />

Dominanz der Innenstädte <strong>und</strong> eine polyzentrische Siedlungsstruktur.<br />

Innenstädte beziehungsweise Altstädte bilden<br />

beim Leitbild der europäischen Stadt eine zentrale Komponente<br />

dieser Stadtkultur, anders als zum Beispiel in der US-amerikanischen<br />

Stadtlandschaft.<br />

Bei der Operationalisierung der Leitvorstellung europäische<br />

Stadt spielt das Leitbild der kompakten <strong>und</strong> durchmischten<br />

Stadt eine zentrale Rolle. Vier zentrale Zielelemente<br />

der kompakten <strong>und</strong> durchmischten Stadt lassen sich unterscheiden:<br />

• hohe Baudichte: Gemeint ist damit eine anzustrebende<br />

Trendumkehr von disperser Siedlungsentwicklung <strong>und</strong> ungesteuerter<br />

Suburbanisierung hin zur verdichteten Stadt.<br />

Der „Innenentwicklung“ <strong>und</strong> „Nachverdichtung“ soll ein<br />

Vorrang vor weiterer Siedlungsexpansion eingeräumt werden.<br />

Siedlungsverdichtung soll vor allem an den Haltepunkten<br />

des ÖPNV erfolgen, nicht in den Sektoren dazwischen.<br />

• Nutzungsmischung: Das bedeutet Abkehr von dem seit<br />

den 1930er-Jahren propagierten Leitbild der Funktionsgesellschaft<br />

mit ihren räumlich deutlich getrennten „Daseinsgr<strong>und</strong>funktionen“.<br />

Einst geschaffen, um die unges<strong>und</strong>e Mischung<br />

von Wohnen <strong>und</strong> Industrie zu entflechten, hat die<br />

Funktionstrennung in unseren Städten - Wohnen, Arbeit,<br />

Erholung <strong>und</strong> so weiter-zu einem erheblichen Flächenverbrauch<br />

<strong>und</strong> stetig zunehmenden Verkehrsströmen zwischen<br />

den Standorten dieser Funktionen geführt. Das Leitbild<br />

der kompakten <strong>und</strong> durchmischten Stadt fordert hier<br />

eine Trendumkehr weg von monofunktionalen Strukturen<br />

hin zu möglichst feinkörnig durchmischten Stadtteilen.<br />

• öffentliche Räume: Nicht nur US-amerikanische Städte,<br />

sondern auch die Großstädte in Südamerika oder Südostasien<br />

sind durch eine wachsende Tendenz zur Privatisierung<br />

früher öffentlicher Einrichtungen <strong>und</strong> Räume gekennzeichnet.<br />

Stadtentwicklung wird immer häufiger in Form<br />

von Public Private Partnership (PPP) teilweise in die Hände<br />

großer Immobilienentwickler <strong>und</strong> Konzerne gelegt, neue<br />

städtische Einrichtungen wie shopping maiis oder kommerzielle<br />

Erlebniszentren überdecken als privatisierter Raum<br />

immer größere Flächen auch in der Innenstadt, in denen<br />

dann black sheriffs oder andere private Ordnungskräfte<br />

die jeweilige Hausordnung durchsetzen <strong>und</strong> die eigentlich<br />

dafür zuständige Polizei ersetzen. All dies läuft dem alten<br />

Ideal des öffentlichen Stadtzentrums mit Markplatz, Rathaus<br />

<strong>und</strong> so weiter zuwider. Das Leitbild der kompakten<br />

<strong>und</strong> durchmischten Stadt fordert daher eine Stützung öffentlichen<br />

Lebens in der Stadt durch Belebung von Erdgeschosszonen,<br />

Straßenräumen <strong>und</strong> Plätzen.<br />

• ökologisch aufgewertete Räume: Die vielfachen Umweltbelastungen<br />

in Städten, in der Vergangenheit vor allem<br />

durch die Industrie, heute besonders durch den überbordenden<br />

Individualverkehr sollen durch eine nachhaltige,<br />

ökologisch orientierte Stadtplanung reduziert <strong>und</strong> dadurch<br />

die Aufenthaltsqualität in Quartieren verbessert werden,<br />

insbesondere auch durch nahe gelegene Freizeit- <strong>und</strong> Versorgungseinrichtungen.<br />

Erholung soll im Wohnumfeld<br />

möglich sein.<br />

Natürlich gibt es keine objektiven Bewertungsmaßstäbe bei<br />

solchen Leitbildern, sie sind nicht per se gut oder schlecht.<br />

Letztlich stellt es immer eine Wertentscheidung der jeweiligen<br />

Gesellschaft dar, welches Leitbild der zukünftigen Siedlungs<strong>und</strong><br />

Verkehrsentwicklung akzeptiert wird (Holzner 2000,<br />

Priebs 2000). Ohne Leitbilder wird es aber nicht gehen -<br />

das machte im Feld der Stadtentwicklung besonders die<br />

Urban 21, die Weltkonferenz zur Zukunft der Städte deutlich,<br />

die sich zum Ziel gesetzt hatte, nach Habitat II 1996 in Istanbul<br />

konkrete Lösungen <strong>und</strong> gleichzeitig die tragenden Visionen<br />

<strong>und</strong> handlungsleitenden Orientierungen für die weltweite<br />

Stadtentwicklung im 21. Jahrh<strong>und</strong>ert zu entwerfen (Urban<br />

21). Im Anschluss an die Tagung wurde als Ergebnis eine<br />

neue Charta zur Stadtentwicklung verabschiedet <strong>und</strong> neue,<br />

am Gr<strong>und</strong>gedanken der Nachhaltigkeit orientierte räumliche<br />

Leitbilder für eine den heutigen Bedingungen entsprechende<br />

städtebauliche Ordnung entwickelte. Als Felder wurden unter<br />

anderem ressoucensparende Mobilität, annehmbarer bezahlbarer<br />

Wohnraum für alle sowie sozialer Zusammenhalt <strong>und</strong><br />

Solidarität genannt.<br />

H. Gebhardt<br />

Urban<br />

^<br />

Nachhaltige Städtische Demokratie<br />

E m fx m m n m K ie r<br />

Nachhaltige Stadtökonom ie<br />

A itx / I a > d W o U s lê p a<br />

Nachhaltiges Städtisches Leben<br />

E in e iimaneeefta S u n a c h a tfen<br />

Nachhaltige Stadtgesellschaft<br />

S o z u È e t Zu s e /a m n a /t a n a s c a a ie SoManIät<br />

Nachhaltiger Zu ga ng zu r Stadt<br />

ffessowwntrewamendt MoKiläl<br />

Nachhaltiges O bdach in der Stadt<br />

A m e h m b a m b e z a t ä m rttyw aum ö r aas<br />

Nachhaltige Städtische Um w elt<br />

S ta b ile OosyslOTie<br />

21 - Weltkonferenz zur Zukunft der Städte


668 11 Verstädterung<br />

bale Einflussbereiche ausdehnen. Zweitens erfordert<br />

die zunehmende Geschwindigkeit, Komplexität <strong>und</strong><br />

Gefährlichkeit von Innovation in einer globalen Wirtschaft<br />

eine Konzentration technologischer Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> eine dazugehörige sachk<strong>und</strong>ige <strong>und</strong><br />

technologieorientierte Kultur, um die Wettbewerbsfähigkeit<br />

aufrechtzuerhalten. Drittens wird die Nachfrage<br />

nach Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien<br />

durch das Wachstum der metropolitanen<br />

Absatzmärkte in die Höhe getrieben. Insbesondere<br />

die Weltstädte stimulieren die Innovationen <strong>und</strong><br />

Investitionen in vernetzte Infrastrukturen der Informations-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationstechnologien. Dies<br />

beruht auf dem Modernisierungsstreben, der Kapitalkonzentration,<br />

der relativ hohen Einkommen <strong>und</strong><br />

der Konzentration von international agierenden<br />

Firmen <strong>und</strong> Institutionen in den Weltstädten.<br />

Im Gegensatz zu älteren Infrastrukturnetzwerken,<br />

welche die früheren Phasen der Verstädterung begleiteten,<br />

sind die neuen Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien<br />

nicht lokal verankert, sondern<br />

werden von transnationalen Unternehmen gesteuert,<br />

finanziert <strong>und</strong> an die Gegebenheiten des globalen<br />

Markts angepasst. Losgelöst von lokalen Prozessen<br />

der Stadtentwicklung haben diese vernetzten Infrastrukturen<br />

räumlich sehr unterschiedliche Folgen<br />

<strong>und</strong> bedienen nur bestimmte räumliche Milieus,<br />

Städte <strong>und</strong> Metropolregionen. Dieser wichtige neuer<br />

Trend wird von Geographen wie Stephen Grahan <strong>und</strong><br />

Simon Marvin als splintering urbanism bezeichnet.<br />

Splintering urbanism bedeutet, dass sich Städte<br />

oder einzelne Stadtteile in verschiedener Hinsicht<br />

geographisch stark spezialisieren <strong>und</strong> relativ schnell<br />

verändern. Es entstehen immer ausgedehntere <strong>und</strong><br />

zunehmend komplexere Wirtschaftskreisläufe <strong>und</strong><br />

Kreisläufe des technologischen Austauschs. Die unterschiedliche<br />

Entwicklung von Informations- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsnetzwerken führt zu neuen Innovations-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftslandschaften <strong>und</strong> Milieus des<br />

kulturellen Wandels. Gleichzeitig verstärkt sie soziale<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Ungleichheiten zwischen der vernetzten<br />

Welt <strong>und</strong> dem Rest. Der Bericht Cities in a<br />

Globalizing World, der vom Zentrum der Vereinten<br />

Nationen für menschliche Siedlungen veröffentlicht<br />

wurde, konstatiert, dass die traditionellen Muster<br />

der Urbanisierung weltweit relativ schnell in ein äußerst<br />

dynamisches Muster übergehen, das dominiert<br />

wird von „Enklaven der supervernetzten Menschen,<br />

Firmen <strong>und</strong> Institutionen, mit ihren zunehmenden<br />

Breitbandbeziehungen in die ganze Welt durch das<br />

Internet, Mobiltelefone <strong>und</strong> Satellitenfernseher <strong>und</strong><br />

ihren leichten Zugang zu Informationsdiensten, während<br />

es gleichzeitig eine sehr große Anzahl von Menschen<br />

gibt, die nur einen eingeschränkten Zugang zu<br />

modernen Kommunikationsmitteln <strong>und</strong> elektronischer<br />

Nachrichtenübertragung haben“.<br />

Der Hauptnutznießer des Splintering urbanism sind<br />

die Weltstädte <strong>und</strong> die wichtigsten Metropolregionen<br />

der Erde, insbesondere jene der Industrieländer, in<br />

denen das nötige Kapital in neue vernetzte Infrastrukturen<br />

investiert werden kann <strong>und</strong> diese Investitionen<br />

von nationalen Regierungen <strong>und</strong> Firmenniederlassungen<br />

bezuschusst <strong>und</strong> erleichtert werden. Es gibt<br />

mehrere verschiedene urbane Milieus, die meist direkt<br />

in den Splintering urbanism einbezogen sind:<br />

• Enklaven des Internets <strong>und</strong> der Entwicklung<br />

der digitalen Multimediatechnologie, die meist<br />

in den Kernländern der Erde liegen. Ein Beispiel<br />

ist die „Multimedia-Schlucht“ im SOMA (South of<br />

Marketj-Bezirk in der Innenstadt von San Francisco<br />

<strong>und</strong> New Yorks Silicon Alley (südlich der<br />

41. Straße in Manhattan).<br />

• Technologiezentren <strong>und</strong> Cluster der innovativen<br />

Hightech-Industrie. Sie befinden sich in den weiten<br />

suburbanen <strong>und</strong> außerstädtischen Räumen in<br />

der Nähe der wichtigsten Städte der Kernländer<br />

wie London, Paris <strong>und</strong> Berlin, in neuen <strong>und</strong> wiederbelebten<br />

Industrieregionen in den Kernländern<br />

wie in Südkalifornien, Baden-Württemberg <strong>und</strong><br />

Rhône-Alpes in Frankreich <strong>und</strong> an neuen Hightech-Produktionstandorten<br />

in Ländern, die noch<br />

nicht vollkommen industrialisiert sind, wie beispielsweise<br />

Bangalore in Indien <strong>und</strong> der Multimedia-Superkorridor<br />

südlich von Kuala Lumpur in<br />

Malaysia.<br />

• Orte, die eigens eingerichtet wurden, um ausländische<br />

Direktinvestitionen anzuziehen. Hier besteht<br />

eine k<strong>und</strong>enorientierte Infrastruktur, neue<br />

wirtschaftliche Entwicklungen werden unkompliziert<br />

<strong>und</strong> rasch genehmigt, es gibt Steuervergünstigungen<br />

<strong>und</strong> in einigen Fällen werden sogar<br />

Ausnahmeregelungen hinsichtlich Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> Umweltvorschriften erlassen. Diese<br />

Orte liegen meistens in oder in der Nähe von<br />

Hauptstädten in peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Ländern, wie zum Beispiel in den brasilianischen<br />

Städten Porto Alegre <strong>und</strong> Paraná, in denen sich<br />

ausländische Automobilwerke angesiedelt haben,<br />

oder in den Altindustrieregionen der Kernländer,<br />

wie beispielsweise in Nordengland <strong>und</strong> in Teilen<br />

des Manufacturing Belt in den USA.<br />

• Orte der internationalen Banken-, Finanz- <strong>und</strong><br />

Unternehmensdienstleistungen in Weltstädten<br />

<strong>und</strong> wichtigen regionalen Wirtschaftszentren.<br />

Beispiele sind die Geschäftbezirke in Manhattan,<br />

die Innenstadt von London (Abbildung 11.17),


Globalisierung <strong>und</strong> splintering urbanism 669<br />

11.17. Londons<br />

Finanzzentrum.<br />

Londons Status als eines<br />

der Finanzzentren dieser<br />

Erde resultiert im Wesentlichen<br />

aus Einrichtungen<br />

der City of London,<br />

die sich auf eine „Quadratmeile“<br />

konzentrieren;<br />

Banken - darunter viele<br />

Auslandsbanken<br />

international<br />

tätige Versicherungsgesellschaften<br />

<strong>und</strong><br />

vielfältige, hochrangigen<br />

Dienstleistungen.<br />

Frankfurt am Main, Hongkong <strong>und</strong> Kuala Lumpur.<br />

• Orte der Modernisierung in den Megastädten<br />

<strong>und</strong> den wichtigsten regionalen Wirtschaftszentren<br />

der peripheren Länder. An diesen Orten gibt<br />

es in der Regel ausgereifte Techniken <strong>und</strong> Netzwerke<br />

der Telekommunikation <strong>und</strong> Informationsübertragung<br />

per Satellit, Welthandelszentren, Einzelhandels-<br />

<strong>und</strong> Geschäftszentren sowie neu angelegte<br />

Universitätskomplexe. Beispiele sind die Pudong-Entwicklungszone<br />

in Shanghai sowie diverse<br />

„Wachstumskorridore“ <strong>und</strong> „neue Städte in der<br />

Stadt“ im thailändischen Bangkok.<br />

• Orte des backojfice, der Datenverarbeitung, des<br />

elektronischen Handels <strong>und</strong> der Callcenter. Sie<br />

entstanden in den älteren Industriestädten der<br />

Kernländer, zum Beispiel in Roanoke in den USA<br />

<strong>und</strong> in S<strong>und</strong>erland in Großbritannien, sowie in<br />

zahlreichen Städten der semiperipheren Länder. Besonders<br />

bemerkenswerte Entwicklungen gibt es hier<br />

in der Karibik, auf den Philippinen <strong>und</strong> in Indien.<br />

• Räume, die eigens als „Logistikzonen“ konzipiert<br />

smd. Dies sind zum Beispiel Flughäfen, Häfen <strong>und</strong><br />

Standorte der Exportindustrie. Sie befinden sich in<br />

vielen wichtigen Städten r<strong>und</strong> um die Welt. An ihnen<br />

wird der präzise <strong>und</strong> schnelle Transport von<br />

Waren, Frachtgütern <strong>und</strong> Menschen koordiniert.<br />

Diese urbancn Räume <strong>und</strong> Milieus sind untereinander<br />

durch komplexe <strong>und</strong> dynamische Ströme verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> spiegeln die räumliche Vernetzung der industrialisierten<br />

Welt wider. Sie sind eingebettet in Regionen<br />

<strong>und</strong> Metropolregionen, deren wirtschaftliche<br />

Gr<strong>und</strong>lagen aus früheren technologischen Systemen<br />

resultieren <strong>und</strong> deren soziale <strong>und</strong> kulturelle Gefüge<br />

sich aus traditionellen Gr<strong>und</strong>lagen ableiten. Das Ergebnis<br />

ist - wie in Kapitel 12 beschrieben - in vielen<br />

Teilen der Welt die Überformung traditioneller<br />

Muster der Landnutzung <strong>und</strong> räumlichen Organisation<br />

durch die lokalen Auswirkungen des splintering<br />

urbanism.<br />

Entwicklungs- <strong>und</strong> Schwellenländer:<br />

mega cities <strong>und</strong><br />

I Überlastungsprobleme______<br />

Städtische Wachstumsprozesse verliefen in der Peripherie<br />

ganz anders als in den Kernländern. Im Gegensatz<br />

zu dem durch positive Rückkopplungen gesteuerten<br />

Wachstum in den Staaten des Zentrums war die<br />

Verstädterung in den peripheren Regionen die Folge<br />

einer starken Bevölkerungszunahme, welche der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung vorauseilte. Obwohl der demographische<br />

Übergang hier ein relativ junges Phänomen<br />

ist (Kapitel 3), sorgte der Prozess schon vor<br />

einem merklichen Anstieg des Industrialisierungsniveaus<br />

für starkes Bevölkerungswachstum.<br />

Die Folge für die zum großen Teil ländliche Bevölkerung<br />

in den Ländern der Peripherie war eine eskalierende<br />

Verschlechterung ihrer ohnehin schon ungünstigen<br />

Lebensumstände. Durch die Probleme in<br />

der Landwirtschaft (Kapitel 9) gerieten große Teile<br />

der rasch wachsenden Landbevölkerung in eine fast<br />

hoffnungslose Situation. Auswanderung war ein


670 11 Verstädterung<br />

— — Exkurs 11.2<br />

Fenster zur Welt - Die erweiterte Metropolregion Peari River<br />

Deita in China<br />

Das Pearl River Delta (Abbildung 11.2.1) ist eine der am<br />

schnellsten wachsenden Stadtregionen der Erde mit fast 50<br />

Millionen Einwohnern. Die erweiterte Metropolregion ist wirtschaftlich<br />

vernetzt mit den wichtigsten Metropolregionen<br />

Guangzhou, Hongkong, Macao, Shenzhen <strong>und</strong> Zhuhai. Das<br />

Pearl River Delta ist neben Beijing-Tianjin <strong>und</strong> Shanghai<br />

eine jener erweiterten Metropolregionen, die durch die chinesische<br />

Regierung als marktwirtschaftliche Wachstumsstimulatoren<br />

gefördert wurden, indem hier Ende der 1970er-Jahre<br />

relativ liberale Wirtschaftsreformen durchgeführt wurden.<br />

Hongkong (Abbildung 11.2.2), das bis 1997 britische Kolonie<br />

war, ist heute eine Weltstadt mit 6,8 Millionen Einwohnern<br />

<strong>und</strong> einer florierenden Industrie <strong>und</strong> Wirtschaft. Die Regierung<br />

des Landes erkannte die Region offiziell als Wachstumsregion<br />

an <strong>und</strong> richtete hier einen eigenen Verwaltungsbezirk ein.<br />

Aus der Kolonialzeit wurden das Rechtssystem <strong>und</strong> die Garantie<br />

auf Gr<strong>und</strong>besitz <strong>und</strong> eine demokratische Gesellschaftsordnung<br />

übernommen. Hongkong ist der größte Containerhafen<br />

der Welt, das größte Zentrum für Devisenhandel, der<br />

siebtgrößte Aktienmarkt sowie die zehntgrößte Handelswirtschaft.<br />

Dieser Erfolgt spornte die Regierung dazu an, spezielle<br />

Wirtschaftszonen in der Nähe von Shenzhen <strong>und</strong> Zhubai<br />

auszuweisen. Diese beiden Sonderzonen wurden als Anreiz<br />

für ausländische Investoren eingerichtet, in der Hoffnung,<br />

dass sich Kapital, Technologien <strong>und</strong> Geschäftmethoden aus<br />

dem Ausland hier ansiedeln. In diesen speziellen Wirtschaftszonen<br />

können Exportgeschäfte relativ schnell abgewickelt<br />

werden <strong>und</strong> sie bieten billige Arbeitskräfte, günstige Bodenpreise<br />

<strong>und</strong> einige Steuervergünstigungen für transnationale<br />

Unternehmen. Besonders Investoren aus Hongkong <strong>und</strong><br />

Taiwan haben sich ohne langes Zögern hier angesiedelt. Bis<br />

1993 gründeten über 15 000 Hersteller aus Hongkong in<br />

der Guangdong-Region Unternehmensniederlassungen <strong>und</strong><br />

fast ebenso viele unterhalten Beziehungen zu örtlichen<br />

Subunternehmern <strong>und</strong> vergeben Aufträge für Fließbandproduktionen<br />

an chinesische Firmen, die im Pearl River Delta<br />

ansässig sind. Inzwischen ist die ganze Region als offene<br />

Wirtschaftsregion konzipiert, in der lokale Regierungen, einzelne<br />

Unternehmer, aber auch ganz normale Bauernfamilien<br />

relativ autonom wirtschaftliche Entscheidungen treffen können.<br />

u<br />

V ' — ,<br />

V*<br />

r.<br />

\ '/ ■ ' ' ' ^ '■ . f '<br />

. Wuzhgu I . • I / '! ‘


Globalisierung <strong>und</strong> splintering urbanism 671<br />

11.2.3 Guangzhou, China<br />

11.2.2 Hongkong Obwohl die meisten verarbeitenden Betriebe<br />

inzwischen in die benachbarte Provinz Guangdong<br />

verlagert wurden, da dort die Löhne weitaus niedriger sind,<br />

existieren in Hongkong Tausende von Dienstleistungsunternehmen,<br />

welche Handelsbeziehungen mit dem übrigen China<br />

unterhalten. Hongkong bleibt damit eine Weltstadt, ein<br />

wichtiger Finanzplatz, ein dynamisches Handelszentrum mit<br />

einer Bevölkerung von 6,1 Millionen Menschen.<br />

Die Lockerung der staatlichen Kontrolle über die regionale<br />

Wirtschaft führte dazu, dass viele Menschen aus dem dicht besiedelten<br />

ländlichen Raum in die Städte abwanderten, um dort<br />

Fließbandjobs anzunehmen. Viele Bauern bleiben aber auch im<br />

ländlichen Raum <strong>und</strong> stellten ihre landwirtschaftliche Produktion<br />

vom Rohrreisanbau auf profitablere Wirtschaftsformen<br />

wie Tierhaltung <strong>und</strong> Fischerei um. Durch die relative wirtschaftliche<br />

Freiheit wird auch die Industrialisierung des ländlichen<br />

Raums gefördert, denn bisher war hier die Produktion<br />

nur wenig technisiert, sehr arbeitsintensiv <strong>und</strong> weit über<br />

das Umland verstreut.<br />

Die Dreiecksregion zwischen Guangzhou, Hongkong <strong>und</strong><br />

Macao entwickelte sich schnell zu einer besonders bedeutenden<br />

Wirtschaftszone, da hier die Bodenpreise <strong>und</strong> die Lohnnebenkosten<br />

relativ niedrig sind <strong>und</strong> von Regierungsseite bedeutende<br />

Investitionen in die Transport- <strong>und</strong> Kommunikationsinfrastruktur<br />

getätigt wurden. So entstand eine ausgeprägte<br />

erweiterte Metropolregion mit unzähligen kleinen Städten,<br />

die im Verstädterungsprozess einen wichtige Rolle spielen,<br />

<strong>und</strong> mit einer charakteristischen Mischung von agrarischen<br />

<strong>und</strong> nichtagrarischen Aktivitäten sowie enger Verknüpfung<br />

von ländlichem <strong>und</strong> städtischem Raum.<br />

In den Metropolkernen der Region, die bestrebt sind, ihre<br />

Wettbewerbsfähigkeit <strong>und</strong> Rolle in der globalisierten Wirtschaft<br />

auszubauen, wurde mittlerweile die Infrastruktur sehr<br />

kostenaufwendig ausgebaut. Beispielsweise investierte die<br />

Stadtverwaltung von Guangzhou von 1998 bis 2002 über 7<br />

Milliarden US-Dollar in den Bau eines U-Bahn-Netzes, einer<br />

Hochbahnstrecke <strong>und</strong> in den Ausbau der Verkehrswege, die<br />

den neuen internationalen Stadtflughafen, die Bahnhöfe <strong>und</strong><br />

den Hafen miteinander vernetzen. Außerdem wurden gewaltige<br />

Summen in Vorzeigeprojekte investiert, deren Ziel es<br />

ist, die Region für einheimische <strong>und</strong> ausländische Investoren<br />

noch attraktiver zu gestalten. Im Zuge dessen wurden wichtige<br />

Flughäfen <strong>und</strong> Hochgeschwindigkeitsstraßen ausgebaut sowie<br />

Satellitenstationen, Hafenanlagen, U-Bahn- <strong>und</strong> Stadtbahnstrecken<br />

<strong>und</strong> neue Wasserwirtschaftsanlagen gebaut. Das<br />

wiederum hat im städtischen Umland die Ansiedlung <strong>und</strong><br />

Entstehung von Unternehmen, Technologieparks, Finanzzentren<br />

<strong>und</strong> Erholungskomplexen gefördert, die sich in loser<br />

Anreihung im Land verteilen.<br />

Heute ist die Pearl River Delta-Region eine florierende Exportplattregion,<br />

die in den letzten 20 Jahren jährliche eine<br />

zweistellige wirtschaftliche Wachstumsrate verzeichnet hat.<br />

Guangzhou ist eine mega city (Abbildung 11.2.3). Die Bevölkerung<br />

Shenzhens ist von 19 000 Menschen 1975 inzwischen<br />

auf 4,6 Millionen Menschen (2005) angewachsen. Hinzu kommen<br />

weitere 2 Millionen in den umliegenden Gemeinden. Während<br />

die Südgrenze der Shenzhen-Wirtschaftsregion an Hongkong<br />

grenzt, ist die Nordgrenze ein elektrischer Zaun, der die<br />

Region vom Rest des Landes abtrennt <strong>und</strong> Schmuggel verhindern<br />

sowie den Ansturm der illegalen Einwanderer nach<br />

Shenzhen <strong>und</strong> Hong Kong abfangen soll.


672 11 Verstädterung<br />

’Weg, einer Zukunft in Mühsal <strong>und</strong> Armut zu entkommen.<br />

Doch je mehr sich die globale Ökonomie<br />

ausweitete, desto höhere Barrieren errichteten die<br />

wohlhabenderen Kernländer gegen die Immigration.<br />

Die einzige Chance für die wachsende Zahl völlig verarmter<br />

Landbewohner war - <strong>und</strong> ist noch immer -<br />

die Abwanderung in größere Städte. Dort besteht zumindest<br />

die Hoffnung auf einen Arbeitsplatz <strong>und</strong> den<br />

Zugang zu Schulen, Ges<strong>und</strong>heitseinrichtungen, fließendem<br />

'Wasser <strong>und</strong> all den Einrichtungen <strong>und</strong><br />

Diensten, die in ländlichen Regionen oft fehlen. Städte<br />

locken auch durch Modernität mit einem Angebot<br />

an Konsumgütern. Dieses Bild wird heute über das<br />

Satellitenfernsehen direkt in den ländlichen Raum getragen.<br />

Insgesamt entfallen vier Fünftel der seit 1970<br />

neu hinzugekommenen 1,2 Milliarden Stadtbewohner<br />

auf die Metropolen der Peripherie.<br />

Wenn sich in den dicht besiedelten ländlichen Regionen<br />

der Schwellen- <strong>und</strong> Entwicklungsländer Naturkatastrophen<br />

<strong>und</strong> Bürgerkriege ereigneten oder<br />

die Umweltzerstörung ein bestimmtes Maß überschritten<br />

hatte, dann stieg die Wanderungsrate vom<br />

Land in die Stadt dramatisch an.<br />

So richten seit mehreren Jahren unerbittliche Dürren<br />

<strong>und</strong> Überflutungen Chaos <strong>und</strong> "Verwüstung in<br />

dem winzigen Land Malawi an, das im Herzen Südafrikas<br />

liegt. In den Jahren 2002 <strong>und</strong> 2003 haben<br />

sturzflutartige Regenfälle zu gewaltigen Schlammlawinen<br />

geführt, Brücken <strong>und</strong> Häuser wurden weggeschwemmt<br />

<strong>und</strong> die Maisernte, das Hauptnahrungsmittel,<br />

vernichtet. Es war unmöglich, in der verwüsteten<br />

Landschaft zu überleben, sodass die ländliche Bevölkerung<br />

scharenweise in die prosperierenden Städte<br />

des Landes gezogen ist. Malawi hat dadurch den zweifelhaften<br />

Ruf erlangt, das am meisten verstädterte<br />

Land der Welt zu sein.<br />

Eine Mischung aus Verzweiflung <strong>und</strong> Hoffnung<br />

trieb die Menschen aus den ländlichen Gebieten in<br />

die Großstädte - weder Arbeitsplätze noch das städtische<br />

Leben waren Ursache dafür. Da unter den<br />

Zuwanderern überproportional viele Jugendliche<br />

<strong>und</strong> junge Erwachsene waren, ergaben sich als eine<br />

zusätzliche Koiiipoiiente des Stadtwachstums außergewöhnlich<br />

hohe Raten der natürlichen Bevölkerungszunahme.<br />

Dieser Wert übersteigt in den meisten<br />

Peripherieländern den der Nettozuwanderung -<br />

im Durchschnitt sind 60 Prozent des Bevölkerungszuwachses<br />

in den Städten der Peripherie auf die<br />

natürliche Bevölkerungszunahme zurückzuftihren.<br />

Die Folgen der überproportionalen Zunahme der<br />

Stadtbevölkerung können auch als Überurbanisierung<br />

bezeichnet werden. Diese Erscheinung tritt<br />

auf, wenn Städte schneller wachsen, als Arbeitsplätze<br />

<strong>und</strong> Unterkünfte in ausreichender Zahl bereitgestellt<br />

werden können. Unter diesen Umständen produziert<br />

das Stadtwachstum Slums - Behelfsunterkünfte entlang<br />

unbefestigter Straßen, häufig mit offenen Abwassergräben<br />

<strong>und</strong> fehlender Basisinfrastruktur. Für den<br />

Bau der Hütten wird jegliches verfügbare Material<br />

verwendet, seien es Bretter, Karton, Teerpappe,<br />

m<br />

11.18 Slumsiedlungen in Städten des Südens Überall in den Städten des Südens sind aufgr<strong>und</strong> der Größe <strong>und</strong> Geschwindigkeit<br />

der Stadtentwicklung, verb<strong>und</strong>en mit den geringen Möglichkeiten einer formellen Beschäftigung, in großem Umfang Slumsiedlungen<br />

entstanden, viele von ihnen von illegalen Zuwanderern errichtet. Das Bild links zeigt eine entsprechende Siedlung in der laotischen<br />

Hauptstadt Vientiane, rechts eine „Wellblechsiedlung“ in Hongkong.


Globalisierung <strong>und</strong> splintering urbanism 673<br />

Stroh, Lehm oder Wellblech. Der Zuwanderungsdruck<br />

ist so hoch, dass viele dieser oft über Nacht entstehenden<br />

Slumbehausungen von verzweifelt Obdach<br />

suchenden Familien illegal aufgebaut werden. Solche<br />

als Squattersiedlungen bezeichnete Hüttenviertel<br />

entstehen auf Gr<strong>und</strong>stücken, die den Bewohnern<br />

nicht gehören <strong>und</strong> für die auch kein Pachtzins gezahlt<br />

wird, ln den meisten Fallen haben sie Slumcharakter,<br />

ln Chile nennt man die Armensiedlungen callampas,<br />

in der Türkei gecekondu, in Indien bastees, in Tunesien<br />

gourbevilles, in Brasilien favelas <strong>und</strong> in Argentinien<br />

sprechend villas miserias. Typischerweise beherbergen<br />

sie deutlich mehr als ein Drittel, mitunter<br />

auch bis zu drei Viertel der Gesamtbevölkerung größerer<br />

Städte (Abbildung 11.18).<br />

Ein Bericht der Habitat-Il-Konferenz der Vereinten<br />

Nationen des Jahres 1996 stellte fest, dass unge-<br />

fahr 600 Millionen Menschen weltweit in Städten unter<br />

Bedingungen leben, welche die Ges<strong>und</strong>heit gefährden<br />

oder sogar das Leben ihrer Bewohner bedrohen,<br />

<strong>und</strong> etwa 300 Millionen unter extremer Armut<br />

leiden. Im selben Bericht ist zu lesen, dass in einigen<br />

Ländern der Peripherie - zum Beispiel in Bangladesh,<br />

El Salvador, Gambia, Guatemala, Haiti <strong>und</strong> Honduras<br />

- mehr als die Hälfte der Stadtbevölkerung unter<br />

der Armutsgrenze lebt.<br />

Bleibt festzuhalten, dass die Slums <strong>und</strong> Squattersiedlungen<br />

die beispiellos hohen Zuwanderungsraten<br />

in den Megastädten der Peripherie aufzufangen haben.<br />

Wie das Kapitel 12 zeigt, führt dies oft zu gravierenden<br />

Problemen der sozialen Desorganisation<br />

<strong>und</strong> zu Umweltschädigungen. Dennoch gelingt es Bewohnern<br />

von Marginalsiedlungen mitunter, Selbsthilfenetzwerke<br />

<strong>und</strong> Organisationsformen aufzubauen,<br />

die inmitten hoffnungslos übervölkerter <strong>und</strong><br />

von Armut gezeichneter Städte versuchen, eine Basis<br />

für ein Gemeinschaftsleben zu schaffen.<br />

Das Vordringen der Verstädterung<br />

, in Grenzregionen der Besiedlung<br />

Städtewachstum in Ländern der Peripherie betrifft<br />

nicht nur Megastädte oder ältere städtische Zentren.<br />

In einigen Teilen der Welt resultiert Verstädterung<br />

11.19 Bangkok Die thailändische Hauptstadt, ist die mit<br />

Abstand größte Megastadt des Landes. Die Bevölkerungszahl<br />

beträgt etwa 6 Millionen <strong>und</strong> liegt damit 50-mal höher als die<br />

der nächstgrößten Stadt in Thailand, Chiang Mai. Ursache<br />

dieses rapiden Wachstums ist die Zuwanderung von ländlicher<br />

Bevölkerung, darunter auch von chinesischen <strong>und</strong> indischen<br />

Immigranten.<br />

11.20 Rio de Janeiro. Neben Säo Paulo ist Rio di Janeiro die<br />

wichtigste Metropole des Staates Brasilien. R<strong>und</strong> um den<br />

Zuckerhut haben sich Stadtviertel sehr unterschiedlicher sozialer<br />

Zusammensetzung entwickelt. Auf den ebenen, tiefer<br />

gelegenen Flächen leben die Wohlhabenden (asphaltas), an den<br />

erosionsgefährdeten Hängen die Slumbewohner (moros).<br />

Mit der formellen Ökonomie der Stadt verflochten ist der<br />

informelle <strong>und</strong> „kriminelle“ Sektor der Drogengeschäfte.


Globalisierung <strong>und</strong> splintering urbanism 675<br />

674 11 Verstädterung<br />

V<br />

i Mi<br />

M ' i'<br />

aus der wirtschafdichen Ausbeutung von Regionen,<br />

die erst ansatzweise Anschluss an das Weltsystem gef<strong>und</strong>en<br />

haben. Das beste Beispiel ist die Urbanisierung<br />

in den Regenwaldgebieten des Amazonas, in denen<br />

neue Städte entstanden, die der Gewinnung von<br />

Gold, Hartholz, Gummi <strong>und</strong> der Schaffung von Neuland<br />

dienten. Hier ein Auszug aus dem Forschungstagebuch<br />

des amerikanischen Wissenschaftlers John<br />

Browder, der eine solche Pionierstadt an einer Siedlungsgrenze<br />

anschaulich beschreibt (Browder, J.;<br />

Godfrey, B. J. Rainforest Cities. New York (Columbia<br />

University Press) 1995):<br />

„Keine meiner Karten zeigte eine Stadt namens<br />

Rohm de Moura im B<strong>und</strong>esstaat Rondonia, <strong>und</strong><br />

doch versicherten mir [...] mehrere bekannte Mahagoni-Exporteure<br />

in Curitiba, Säo Paulo <strong>und</strong> Rio de<br />

Janeiro, dass diese Stadt, wenn auch meia precdria<br />

(„recht primitiv“), durchaus existiere. [ ... Es waren]<br />

die letzten 65 Kilometer einer 3 000 Kilometer langen<br />

Reise von Belem, an der Mündung des Amazonas, zur<br />

Pionierstadt Rolim de Moura, Capital m<strong>und</strong>ial de<br />

mogno („Welthauptstadt des Mahagoni“).<br />

[...] Der Autobus fuhr in eine ausgedehnte Ansammlung<br />

eingeschossiger Geschäfte in Holzrahmenbauweise,<br />

brodelnd vor Betriebsamkeit <strong>und</strong> immerfort<br />

in Staubwirbel gehüllt. Jenseits des verwirrenden<br />

Durcheinanders des Stadtzentrums war zwischen<br />

großen Rauchsäulen <strong>und</strong> Staubwolken hindurch<br />

für Augenblicke die weitere Umgebung zu erkennen.<br />

Eine Landschaft mit eher zufällig eingestreuten<br />

Baracken <strong>und</strong> Resten des Dschungels. [...]<br />

Der Bürgermeister Adegildo Aristides Ferreira war<br />

gleich bereit, den ersten norteamericano, der je seinen<br />

Fuß in diese Stadt im brasilianischen Hinterland gesetzt<br />

hatte, zu empfangen. [... Er] zählte sofort eine<br />

lange Liste von Widrigkeiten auf, die seine Mitbürger,<br />

deren Zahl er auf 10 000 bis 20 000 schätzte, erdulden<br />

mussten. Es gab in Rolim de Moura weder fließendes<br />

Wasser oder irgendwelche Leitungen noch elektrischen<br />

Strom, die Stadtbewohner litten an Malaria<br />

<strong>und</strong> Durchfallerkrankungen epidemischen Ausmaßes,<br />

schrecklich schlechten Kommunikationseinrichtungen,<br />

täglichen Morden, Prostitution, galoppierender<br />

Inflation <strong>und</strong> erstickendem Staub.“<br />

Seit 1950 stieg die Bevölkerung Nordbrasiliens von<br />

weniger als 2 Millionen auf fast 10 Millionen an. Im<br />

gleichen Zeitraum erhöhte sich der Anteil der Stadtbewohner<br />

an der Gesamtbevölkerung von knapp<br />

über 30 Prozent auf fast 60 Prozent. Während es<br />

1960 in dieser Region erst 22 Städte mit 5 000 oder<br />

mehr Einwohnern gab - von denen nur zwei die<br />

Grenze von 100 000 überschritten -, waren es im Jahre<br />

1991 bereits 133 Städte mit mehr als 5 000 Einwohnern,<br />

darunter acht Städte mit mehr als 100000 <strong>und</strong><br />

zwei mit mehr als 1 Million Einwohnern (Abbildung<br />

11.21). Einige dieser Städte breiteten sich mit unglaublicher<br />

Geschwindigkeit aus. Porto Velho zum<br />

Beispiel, die Hauptstadt des von einer enormen Siedlungswelle<br />

erfassten B<strong>und</strong>esstaats Rondonia, wuchs<br />

von nur 48 839 Einwohnern im Jahre 1970 auf<br />

229 419 im Jahre 1991. Die jährliche Wachstumsrate<br />

betrug also mehr als 7,5 Prozent. Die Bevölkerung im<br />

entlegenen Boa Vista, der Hauptstadt des an Gold<br />

reichen Roraima, stieg in jedem Jahr sogar um fast<br />

10 Prozent.<br />

Die hauptsächliche Funktion dieser brasilianischen<br />

Region bestand seit jeher darin, Rohstoffe zu<br />

liefern <strong>und</strong> ein Ventil für die Binnenkolonisation darzustellen.<br />

Die brasilianische Regierung hat das Vordringen<br />

von Pioniersiedlungen durch die Verwirklichung<br />

größerer Infrastrukturprojekte, wie die Transamazonica-Straße,<br />

<strong>und</strong> die Schaffung von Freihandelszonen<br />

in den Städten an der Pionierffont, wie<br />

Manaus, gefördert. In jüngerer Zeit legten Staatsbetriebe<br />

im Zusammenhang mit ihren riesigen Rohstoffgewinnungsanlagen,<br />

für die das brasilianische<br />

Amazonasgebiet ja bekannt ist, sogenannte Company<br />

towns - große planmäßige Werkssiedlungen - an. Andere<br />

Städte sind spontan entstanden, als sich kleinere,<br />

in der Forstwirtschaft, der Verarbeitung landwirtschaftlicher<br />

Produkte, im regionalen Handel, in der<br />

Autoreparatur, im Bankwesen oder in anderen<br />

Dienstleistungen tätige Unternehmen irgendwo in<br />

dieser Grenzzone niederließen.<br />

Ebenso wie die planlos wuchernden Metropolen<br />

der Peripherie wachsen diese Städte hauptsächlich<br />

durch den Zustrom verarmter Migranten. Angezogen<br />

von den wirtschaftlichen Möglichkeiten in den Pionierstädten,<br />

ist ihre Zahl so groß geworden, dass<br />

ein Drittel oder sogar die Hälfte von ihnen letztlich<br />

nur durch Tätigkeiten im informellen Wirtschaftssektor<br />

überleben kann. Aus diesem Gr<strong>und</strong> sehen<br />

sich diese Städte mit den gleichen Problemen ausufernder<br />

illegaler Hüttensiedlungen konfrontiert<br />

wie die übrige Peripherie. So zeigen etwa offizielle<br />

Statistiken für Belem, dass im Jahre 1991 ungefähr<br />

15 Prozent der Wohnstätten Squattersiedlungen waren.<br />

Nach inoffiziellen Zahlen, die Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Journalisten ermittelt haben, sind r<strong>und</strong> 60 Prozent<br />

der Unterkünfte - in denen etwa 450 000 Menschen<br />

leben - spontan <strong>und</strong> ungeregelt in tief gelegenen,<br />

häufig überschwemmten Gebieten entstanden.<br />

Es überrascht daher nicht, dass die Verstädterung<br />

in diesen Grenzsäumen der Besiedlung oft mit plötzlich<br />

auftretenden, eine große Zahl von Menschen<br />

betreffenden Ges<strong>und</strong>heitsproblemen verb<strong>und</strong>en ist.<br />

Rolim de Moura<br />

B » Branco 0<br />

• /<br />

-------------- •Guajara-Ml<br />

600 Kilometer<br />

>a V i3 ta 0 .<br />

Bevölkerung 1960<br />

• 1 000001 <strong>und</strong> mehr<br />

B ra g a n c a<br />

• 100001 bis 1000000<br />

• 20001 bis 100000<br />

• 5 0 0 0 bis 2 0 000<br />

B ra g a n c a<br />

• Atefxiuef \<br />

Manaus • * ''<br />

• • • • • . A J t a m i r a X * , / "<br />

^ • i . , • _ Pnm PB^gominas nnm i<br />

.ti^^ltaituba<br />

A<br />

Maraba0 ^<br />

• ••<br />

c|[. •Xingpara<br />

/<br />

^onceigäo<br />

___ •/ do Araguaia<br />

Bevölkerung 1990<br />

• 1000001 <strong>und</strong> mehr<br />

• 100001 bis 1 0 00000<br />

• 20001 bis 100000<br />

• 5 0 0 0 bis 2 0000<br />

11.21 Das Vordringen der Verstädterung in Nordbrasilien Die schrittweise Öffnung der Region gegenüber der globalen<br />

Wirtschaft machte städtische Siedlungen für die Organisation der lokalen Gewinnung von Gold, Hartholz, Gummi <strong>und</strong> Plantagenprodukten<br />

notwendig. (Quelle: Browder, J.O.; Godfrey, B. G. Rainforest Cities. New York (Columbia University Press) 1997)<br />

I


676 11 Verstädterung<br />

Fazit<br />

Verstädterung ist eines der wichtigsten geographischen<br />

Phänomene. Städte können die Motoren wirtschaftlicher<br />

Entwicklung <strong>und</strong> kultureller Innovation<br />

sein. Städte oder Städtesysteme gliedern darüber hinaus<br />

den Raum, <strong>und</strong> zwar nicht nur ihr unmittelbares<br />

Umland, sondern in manchen Fällen auch ein Staatsgebiet<br />

oder eine nationale Grenzen überschreitende<br />

Region der Erde. Die Verstädterung hat allerdings<br />

in den verschiedenen Teilen der Welt höchst unterschiedliche<br />

Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen. So erfahren<br />

die peripheren Regionen der Welt das Phänomen<br />

Stadt f<strong>und</strong>amental anders als Länder der Kernregion.<br />

Dieser Unterschied ergibt sich aus einigen der<br />

demographischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

Faktoren, die in vorangegangenen Kapiteln diskutiert<br />

wurden.<br />

Ein großer Teil der entwickelten Länder ist fast<br />

vollständig verstädtert <strong>und</strong> durch ein in hohem<br />

Maße organisiertes Städtesystem gekennzeichnet.<br />

Alle Länder der Kernregion weisen einen hohen Verstädterungsgrad<br />

auf, während die aktuelle Verstädterungsrate<br />

relativ gering ist. An der Spitze der hierarchisch<br />

gestuften Städtesysteme stehen global eitles wie<br />

London, New York, Tokio, Paris <strong>und</strong> Zürich. Sie haben<br />

sich zu Kontrollzentren der Informationsströme,<br />

Kulturerzeugnisse <strong>und</strong> Investitionen entwickelt, die<br />

in ihrer Gesamtheit die wirtschaftliche <strong>und</strong> kulturelle<br />

Globalisierung der Welt steuern. Dadurch tragen sie<br />

zur Festigung der Hegemonie der Kernregionen bei.<br />

Demgegenüber sind nur wenige Metropolen der<br />

Peripherie world eitles, die in der Organisation der<br />

Weltwirtschaft <strong>und</strong> globalen Kultur Schlüsselrollen<br />

einnehmen. Sie erfüllen eher die Funktion eines Bindeglieds<br />

zwischen den kleineren städtischen <strong>und</strong><br />

ländlichen Siedlungen <strong>und</strong> der Weltwirtschaft <strong>und</strong><br />

besitzen vielfältige wirtschaftliche, soziale <strong>und</strong> kulturelle<br />

Verflechtungen einerseits mit ihren Provinzen,<br />

andererseits mit den bedeutenden Weltstädten.<br />

Gegenwärtig erleben fast alle Peripherieländer eine<br />

intensive Verstädterung, wobei für die Zukunft<br />

Wachstumsraten <strong>und</strong> damit absolute Zuwächse<br />

prognostiziert werden, die alles Bisherige übertreffen.<br />

In vielen peripheren <strong>und</strong> semiperipheren Ländern<br />

sind auf diese Weise spontan Metropolen entstanden.<br />

Es besteht daher die Befürchtung, dass die Verstädterung<br />

in zunehmendem Maße außer Kontrolle gerät<br />

<strong>und</strong> sich in den Städten Zonen ausdehnen, in denen<br />

unter Arbeit alles verstanden wird, was in irgendeiner<br />

Weise zum Überleben beiträgt. Wie die Ausführungen<br />

in Kapitel 12 zeigen werden, herrschen in diesen<br />

Städten ganz andere Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen<br />

als in den Städten der Kernländer.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Abrahamson, M. Global Cities. New York (Oxford University<br />

Press) 2004.<br />

Angotti, T. Metropolis 2000. New York (Routledge) 1993.<br />

Bähr, J.; Jürgens, U. Stadtgeographie 2. Regionale Stadtgeographie.<br />

Braunschweig (Das geographische Seminar) 2005.<br />

Bronger, D. Metropolen, Megastädte, Lobal Cities. Die Metropo-<br />

lisierung der Erde. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft)<br />

2004.<br />

Browder, J.; Godfrey, B.J. Rainforest Cities. New York (Columbia<br />

University Press) 1995.<br />

Brunn, S.; Williams, J. F. (Hrsg.) Cities o f the World. New York<br />

(Harper Collins) 2003.<br />

Chandler, T. Four Thousand Years o f Urban Growth: An Historical<br />

Census. Washington, DC (Worldwatch Institute) 1987.<br />

Fassmann, H. Stadtgeographie. 1. Allgemeine Stadtgeographie.<br />

Braunschweig (Das geographische Seminar) 2004.<br />

Gaebe, W. Verdichtungsräume. Stuttgart (Teubner Studienbücher<br />

Geographie) 1987.<br />

Geyer, H.S. (Hrsg.) International Handbook o f Urban Systems.<br />

Northamption, MA (Edward Eigar) 2002.<br />

Gugler, J. (Hrsg.) Cities in the Developing World. Issues, Theory,<br />

and Policy. Oxford (Oxford University Press) 1997.<br />

Hall, P. Cities o f Tomorrow. New York (Blackwell) 1988.<br />

Hall, P. Urban Geography. London (Routledge) 1998.<br />

Heineberg, H. Gr<strong>und</strong>riss allgemeine Geographie: Stadtgeographie.<br />

Paderborn, München, Wien, Zürich (UTB, Schöningh)<br />

2006.<br />

Heinritz, G. Zentralität <strong>und</strong> zentrale Orte. Stuttgart (Teubner Studienbücher<br />

der Geographie) 1979.<br />

Hofmeister, B. Stadtgeographie. Braunschweig (Das geographische<br />

Seminar) 1999.<br />

Hohenberg, P. M.; Less, L. H. The Making o f Urban Europe<br />

W O O -1994. Cambridge, MA (Havard University Press)<br />

1995.<br />

Isard, W. Methods o f Regional Analysis. An Introduction to Regional<br />

Science. New York (The MIT Press) 1960.<br />

King, A. D. Urbanism, Colonialism, and the World Economy. Cultural<br />

and Spatial Fo<strong>und</strong>ations o f the World Urban System. New<br />

York (Routledge) 1991.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; McCarthy, L. Urbanization: An Introduction to Urban<br />

Geography. Englewood Cliffs, NJ (Prentice Hall) 2005.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; Taylor, P.J. (Hrsg.) World Cities in a World-System.<br />

Cambridge (Cambridge University Press) 1995.<br />

Kotkin, J. The City: A Global History. New York (Random House)<br />

2006.<br />

Lichtenberger, E. Stadtgeographie, Bd. I. Begriffe, Konzepte.<br />

Modelle, Prozesse. Stuttgart (Teubner Studienbücher Geographie)<br />

1998.<br />

Lichtenberger, E. Die Stadt. Von der Polls zur Metropolis. Darmstadt<br />

(Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2002.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 677<br />

Marcus, P.; van Kämpen, R. (Hrsg.) Globalizing Cities. Oxford<br />

(Blackwell) 2000.<br />

Meyer, F.; Popp, H. (Hrsg.) Stadtgeographie für die Schule. Fachliche<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, Beispiele <strong>und</strong> Materialien für die Unterrichtsarbeit.<br />

Bayreuth (Bayreuther Kontaktstudium Geographie<br />

3) 2005.<br />

Olds, K. Globalization and Urban Change: Capital, Culture and<br />

Pacific Rim Mega-Projects. Oxford (Oxford University Press)<br />

2001.<br />

Pacione, M. Urban Geography: A Global Perspektive. New York<br />

(Routledge) 2001.<br />

Potter, R. B.; Lloyd-Evans, S. The City in the Developing World.<br />

Harlow, Essex (Addison Wesley Longman) 1998.<br />

Sassen, S. The Global City. New York, London, Tokyo, Princeton,<br />

New Jersey, Oxford (Princeton University Press) 1991.<br />

Sassen, S. Cities in a World Economy. Thousand Oaks, CA (Pine<br />

Forge Press) 1995.<br />

Sassen, S. Global Networks, Linked Cities. New York (Routledge)<br />

2002.<br />

Scott, A.J. (Hrsg.) Global City-Regions: Trends, Theory, Policy.<br />

Oxford (Oxford University Press) 2001.<br />

Short, J. R.; Kim, Y.-H. Globalization and the City. New York (Addison<br />

Wesley Longman) 1999.<br />

Simmonds, R.; Hack G. (Hrsg.) Global City Regions: Their Emerging<br />

Forms. New York (Spon Press) 2000.<br />

Taylor, P. World City Network: A Global Urban Analysis. New York<br />

(Routledge) 2004.<br />

United Nations Centre for Human Settlements (HABITAT) An Urbanizing<br />

World. Global Report on Human Setlements. Oxford<br />

(Oxford University Press) 1996.<br />

United Nations Centre for Human Settlements (HABITAT) Cities<br />

in a Globalizing World: Global Report on Human Setlements.<br />

London (Earthscan Publications) 2001.<br />

United Nations Centre for Human Settlements (HABITAT) The<br />

State o f the Worlds Cities 2004/2005. Sterling, VA (Earth-<br />

scan) 2005.<br />

United Nations International Children’s F<strong>und</strong> (UNICEF) The Progress<br />

o f Nations. New York (UNICEF House) 1995.<br />

United Nations World Urbanization Prospects. New York (U.N.<br />

Department of Economic and Social Affairs) 1998.<br />

Verhulst, A. The Rise o f Cities in North-West Europe. Cambridge<br />

(Cambridge University P/ess) 1999.<br />

World Resources Institute World Resources 1996-97. The Urban<br />

Environment. New York (Oxford University Press) 1996.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Bobek, H. Innsbruck: eine Gebirgsstadt, ihr Lebensraum <strong>und</strong> ihre<br />

Erscheinung. In: Forschungen zur deutschen Landes <strong>und</strong><br />

Volksk<strong>und</strong>e 25(3) Stuttgart (J. Engelhorns Nachf.) 1928, S.<br />

220-372.<br />

Brake, K. Neue Akzente der Suburbanisierung. Suburbaner Raum<br />

<strong>und</strong> Kernstadt: eigene Profile <strong>und</strong> neuer Verb<strong>und</strong>. In; Brake, K.<br />

et al. (Hrsg.) Suburbanisierung in Deutschland. Aktuelle Tendenzen.<br />

Opladen (Leske + Budrich) 2001.<br />

Christaller, W. Die zentralen Orte in Süddeutschland. Jena (Fischer)<br />

1933.<br />

Friedmann, J.; Wolff, G. World City Formation: An Agenda for<br />

Research and Action. In: International Journal for Urban and<br />

Regional Research (6) (1982), S. 309-344.<br />

Häussermann, H.; Siebei, W. Neue Urbanität. Frankfurt am Main<br />

(Suhrkamp) 1987.<br />

Heineberg, H. Gr<strong>und</strong>riss allgemeine Geographie: Stadtgeographie.<br />

Paderborn, München, Wien, Zürich (UTB, Schöningh)<br />

2000.<br />

Heineberg, H. Gr<strong>und</strong>riss allgemeine Geographie: Stadtgeographie.<br />

Paderborn (UTB, Schöningh) 2001.<br />

Hesse, M. Mitten am Rand. Vorstadt, Suburbia, Zwischenstadt.<br />

In: Kommune 5 (2004) S. 70-74.<br />

Holzner, L. Kommunitäre <strong>und</strong> „demokratisierte“ Kulturlandschaften:<br />

Zur Frage der sogenannten „Amerikanisierung“ in deutschen<br />

Städten. In: Erdk<strong>und</strong>e 54, H. 2 (2000) S. 121-134.<br />

Kraas, F. Megastädte. In; Gebhardt, H.; Glaser, R.; Radtke, U.,<br />

Reuber, P (Hrsg.) Geographie. Physische Geographie <strong>und</strong><br />

<strong>Humangeographie</strong>.<br />

Verlag) 2006, S. 876-880.<br />

Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Look, P. Gewalt als Regulation. Zur Logik der Schattenglobalisierung.<br />

In: Kurenbach, S.; Lock. P. (Hrsg.) Kriege als (Über)Le-<br />

benswelten. Texte der Stiftung Entwicklung <strong>und</strong> Erieden. Band<br />

16. (2004) S. 40-61.<br />

Passarge, S. (Hrsg.) Stadtlandschaften der Erde. Hamburg (Friederichsen,<br />

de Gruyter) 1930.<br />

Priebs, A. Raumplanung - Instrument der Obrigkeitsstaatlichkeit<br />

oder Instrument einer demokratischen Kulturlandschaftsgestaltung?<br />

Anerkennung zum Beitrag von Lutz Holzner. In: Erdk<strong>und</strong>e<br />

54, H. 2 (2000) S. 135-147.<br />

Sieverts, T. Zwischenstadt. Zwischen Ort <strong>und</strong> Welt, Raum <strong>und</strong><br />

Zeit, Stadt <strong>und</strong> Land. Braunschweig, Wiesbaden (Bauwelt-<br />

F<strong>und</strong>amente 118) 1997.


12 Raumsystem<br />

Stadt: Strukturen<br />

<strong>und</strong> Prozesse<br />

r<br />

/ i ' T;<br />

„Die Einkaufsstraße des Viertels verläuft am Ende des Blocks. Es ist eine<br />

schmale Gasse, gerade breit genug für ein Auto <strong>und</strong> von Ideinen Läden<br />

gesäumt, deren Fronten sich zur Straße hin weit öffnen [...] <strong>und</strong> die K<strong>und</strong>en<br />

zum Eintreten animieren. Es gibt immer mehr neue Boutiquen <strong>und</strong><br />

Läden, darunter einen stark frequentierten Supermarkt, aber da sind auch<br />

noch ein paar alteingesessene Händler <strong>und</strong> Geschäfte: Fischhändler, Reisverkäufer,<br />

Nudelmacher, eine Keksbäckerei, ein kleines Kabinett, in dem<br />

es nur Knöpfe zu kaufen gibt, eine Glaserei <strong>und</strong> unzählige Stände mit allen<br />

möglichen Waren des täglichen Bedarfs. Etwas zurückgesetzt <strong>und</strong> versteckt<br />

liegt der buddhistische Tempel des Viertels. Es ist ein neues, aber im<br />

traditionellen Stil errichtetes Gebäude, das im vorderen Teil über einen<br />

einladenden Raum für Versammlungen <strong>und</strong> verschiedenste andere Anlässe<br />

verfügt. An der Rückseite befindet sich ein w<strong>und</strong>erschöner japanischer<br />

Garten. Die Anlage ist ein solcher Kontrast zu den harten Konturen<br />

<strong>und</strong> der rastlosen Eile in den Straßen rings umher, dass es mir bisweilen<br />

scheint, als sei dies der abgelegenste <strong>und</strong> beschaulichste Ort der Welt.“<br />

(Cybriwsky, R. Tokyo. London (Belhaven Press) 1991)<br />

In dieser Beschreibung eines Viertels von Tokio erscheinen mehrere<br />

Elemente, die für die Zentren so gut wie aller Städte der Industriestaaten<br />

charakteristisch sind: eine Mischung aus alten Geschäften, neuen Boutiquen<br />

<strong>und</strong> lokalen Supermärkten zum Beispiel. Andererseits gibt es<br />

auch manche Besonderheiten: den Nudelmacher <strong>und</strong> den buddhistischen<br />

Tempel mit dem japanischen Garten. Das folgende Kapitel beschäftigt sich<br />

mit der inneren Dynamik von Städten, wobei zu fragen ist, wie sich die<br />

Strukturen <strong>und</strong> Prozesse je nach Stadttyp <strong>und</strong> Geschichte einer Stadt<br />

unterscheiden. In vielerlei Hinsicht bestehen die schärfsten Kontraste<br />

zwischen den Städten der Kernregion <strong>und</strong> denen der Peripherie. Die<br />

Entwicklung unkontrolliert wachsender Metropolen in den peripheren<br />

Ländern verlief vollkommen anders als die der Großstädte im Zentrum<br />

des Weltsystems. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Probleme,<br />

vor denen diese Städte heute stehen. Gleichwohl bringt der Prozess<br />

der Fragmentierung (splintering urbanism) in Verbindung mit der Globalisierung<br />

neue, einander ähnliche Strukturelemente in den großen Städten<br />

in allen Teilen der Weltregion hervor.


680 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

• i<br />

Schlüsselsätze<br />

Die innere Struktur von Städten ist vorwiegend<br />

durch den Wettbewerb um Flächen <strong>und</strong> Standorte<br />

geprägt. Im Allgemeinen konkurrieren alle Arten<br />

von Flächennutzungen - gewerbliche, industrielle<br />

<strong>und</strong> Wohnnutzungen - um die günstigsten <strong>und</strong><br />

am besten erreichbaren Standorte innerhalb der<br />

Stadt.<br />

Sozialräumliche Stadtstrukturen sind sehr stark<br />

von Territorialität geprägt. Territorialität ist ein<br />

Mittel, um Identität <strong>und</strong> ein Gefühl der Zusammengehörigkeit<br />

zu entwickeln <strong>und</strong> aufrechtzuerhalten.<br />

Die typische nordamerikanische Stadt ist gegliedert<br />

in einen zentralen Citybereich {central business<br />

district, CBD), eine Übergangszone, Vorortbezirke<br />

oder suburbs, kommerzielle Sek<strong>und</strong>ärkerne <strong>und</strong><br />

Geschäftsbänder oder strips sowie Industriegebiete.<br />

Hinzu kommen die auch als edge eitles bezeichneten<br />

Bürostädte an den Rändern der größeren<br />

Städte.<br />

Städte mit hohen Zuwanderungsraten sind häufig<br />

durch konzentrisch angeordnete Zonen gekennzeichnet,<br />

die sich infolge der Prozesse der Invasion<br />

(des Eindringens einer Bevölkerungsgruppe oder<br />

Nutzung in einen städtischen Teilraum) <strong>und</strong> der<br />

Sukzession (des Austauschs der Bevölkerung<br />

oder Nutzung durch eine andere) hinsichtlich<br />

demographischer Struktur, Ethnizität <strong>und</strong> Sozialstatus<br />

voneinander unterscheiden.<br />

Städtische Strukturen variieren in erheblichem<br />

Maß zwischen verschiedenen Kulturerdteilen.<br />

Gründe dafür sind unterschiedliche historische<br />

<strong>und</strong> kulturelle Einflüsse sowie unterschiedliche<br />

Funktionen von Städten innerhalb des Weltsystems.<br />

Die virulentesten Probleme postindustrieller Städte<br />

in den Ländern der Kernregion betreffen die innerstädtischen<br />

Zonen, in denen die Folgen des<br />

Wandels von der industriellen zur postindustriellen<br />

Gesellschaft am gravierendsten sind.<br />

Die Probleme der Städte in den peripheren Ländern<br />

sind eine Folge der Tatsache, dass die wirtschaftliche<br />

Entwicklung mit dem Bevölkerungswachstum<br />

nicht Schritt halten konnte.<br />

In vielen Teilen der Erde bewirken die Effekte<br />

lokaler Fraginenlierungsprozesse einen Wandel<br />

traditioneller Nutzungsmuster <strong>und</strong> Raumstrukturen.<br />

Flächennutzung <strong>und</strong> räum-<br />

, liehe Organisation der Stadt<br />

Die innere Organisation von Städten spiegelt die<br />

verschiedenen urbanen Eunktionen wider, die darin<br />

bestehen, Menschen <strong>und</strong> Aktivitäten sowohl zusammenzuführen<br />

als auch diese nach Vierteln <strong>und</strong><br />

funktionalen Untereinheiten zu ordnen. Zwar sind<br />

in Städten zahlreiche komplexe Prozesse wirksam,<br />

aber es gibt doch einige gr<strong>und</strong>legende Entwicklungslinien,<br />

welche die räumliche Organisation <strong>und</strong> die<br />

räumlichen Nutzungsmuster auf lange Sicht prägen.<br />

Zwei davon seien hier erwähnt: das Streben nach<br />

möglichst guter Erreichbarkeit <strong>und</strong> die subjektive<br />

Bedeutung von Territorialität (sense of teritoriality).<br />

Erreichbarkeit<br />

, <strong>und</strong> Flächennutzung<br />

Die meisten Flächennachfrager in städtischen Räumen<br />

sind bestrebt, die größtmöglichen Vorteile aus<br />

einem spezifischen Standort zu ziehen. Der Nutzen<br />

eines Standorts spiegelt sich in den unterschiedlichen<br />

Preisen, die bestimmte Personen oder Gruppen zu<br />

zahlen bereit sind (Bodenrente). Im Allgemeinen<br />

besteht der Wert eines Standorts in seiner Erreichbarkeit.<br />

Gewerbliche Nutzer suchen eine gute Erreichbarkeit<br />

untereinander, der Märkte <strong>und</strong> für<br />

ihre Arbeitskräfte. Private Wohnungsnehmer suchen<br />

die Nähe zu attraktiven Angeboten, zu ihrem Arbeitsplatz<br />

<strong>und</strong> zu Fre<strong>und</strong>en. Öffentliche Einrichtungen<br />

Nutzen<br />

absatzstarker<br />

^ Einzelhandel<br />

-Industriebetriebe<br />

^Warenlager<br />

'Wohnnutzung<br />

' Entfernung<br />

vom<br />

Stadtzentrum<br />

12.1 Erreichbarkeit, Bodenpreis <strong>und</strong> städtische Nutzungszonen<br />

Der Wettbewerb um freie Gr<strong>und</strong>stücke nahe der<br />

City ist eine wichtige Einflussgröße städtischer Flächennutzungsmuster.<br />

Unterschiedliche Flächennachfrager besitzen<br />

hinsichtlich der Bodenpreise an unterschiedlich weit vom<br />

Stadtzentrum entfernten Standorten unterschiedliche Angebotsbereitschaften.<br />

In den Rentenangeboten (bid-rents) spiegelt<br />

sich der Nutzen eines Standorts wider. Die jeweils höchsten<br />

Angebote (obere Geradenabschnitte) bestimmen dann die<br />

einzelnen Nutzungen, die sich nach diesem Modell ringzonal um<br />

das Stadtzentrum anordnen. (Quelle: <strong>Knox</strong>, P. Urbanization,<br />

Prentice Hall. 1994)


Flächennutzung <strong>und</strong> räumliche Organisation der Stadt 681<br />

möchten eine gute Erreichbarkeit für ihre K<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Besucher gewährleisten. In einer idealen, sich<br />

auf einer isotropen Fläche ausbreitenden Stadt ist<br />

der maximale Standortnutzen im Stadtkern gegeben.<br />

Unter einer isotropen Fläche versteht man eine<br />

h>T?othetische gleichförmige Ebene ohne jegliche<br />

Erhebungen, Einschnitte oder sonstige physische<br />

Differenzierungen. Unter derlei Bedingungen nimmt<br />

die Erreichbarkeit mit zunehmender Entfernung vom<br />

Stadtzentrum stetig ab. Ebenso verringert sich der<br />

Standortnutzen, wenn auch für unterschiedliche<br />

Flächennutzungen in unterschiedlichem Maße. Das<br />

Ergebnis ist die Herausbildung ringförmig um das<br />

Zentrum angeordneter Zonen mit spezifischen Mischungen<br />

unterschiedlicher Nutzungen (Abbildung<br />

12.1).<br />

Im Gegenzug könnte man aus dem Modell intuitiv<br />

schließen, dass die Wohngebiete der ärmsten Bevöl-<br />

Siedlungsstruktur<br />

Interaktionsmuster<br />

Urbanisierung (ca. 18bü-iybü)<br />

Suburbanisierung (ca. 1950-1980)<br />

O<br />

o<br />

o<br />

O<br />

o o<br />

Desurbanisierung (ca. 1980-2000)<br />

O O °<br />

o o --- - o<br />

° o C ) o o<br />

° O O O °<br />

^ o o<br />

Zukunft 1: Fortsetzung der Desurbanisierung (urban sprawl)<br />

O<br />

0 ^ 0 0 O O o<br />

O<br />

O o O -<br />

o<br />

O O<br />

o<br />

o o ,<br />

o<br />

^ o<br />

^ O O<br />

o<br />

q ' - q ' - q o<br />

Zukunft 2: Reurbanisierung (dezentrale Konzentration)<br />

o<br />

O ° o<br />

O o ^ w<br />

o<br />

o<br />

O .<br />

o<br />

O<br />

o<br />

o<br />

o O<br />

Zukunft 3: die nachhaltige Stadtlandschaft<br />

° ° o O O ° o ° o<br />

° o \ o ° "<br />

o 0 „<br />

9 o O O Q O<br />

O O O o O<br />

12.2 Szenarien zukünftiger Stadtstrukturen<br />

(verändert nach Hesse &<br />

Schmitz 1998)


682 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

kerungsteile an der äußersten Peripherie einer Stadt<br />

liegen müssten. Dies ist in einigen Teilen der Welt tatsächlich<br />

auch der Fall. Doch es ist auch bekannt, dass<br />

in den Ländern des Zentrums die wohlhabendsten<br />

Haushalte die am weitesten von der Kernstadt entfernten<br />

Vororte bevorzugen, während die ärmeren<br />

Schichten die besser erreichbaren Wohnstandorte<br />

in Zentrumsnähe einnehmen. Es gibt freilich Modifikationen<br />

dieser vereinfachten Modellvorstellung,<br />

die es im Einzelfall zu berücksichtigen gilt. Dennoch<br />

ist für diesen Fall zu folgern, dass Haushalte mit höherem<br />

Einkommen die Vorteile der besseren Erreichbarkeit<br />

gegen die Möglichkeit eintauschen, größere<br />

(<strong>und</strong> relativ günstige) Gr<strong>und</strong>stücke im suburbanen<br />

Raum zu erwerben. Ärmere Haushalte, welche die<br />

aus der größeren Distanz resultierenden Kosten nicht<br />

tragen können, müssen zugunsten der besseren Erreichbarkeit<br />

des Arbeitsplatzes Einschränkungen hinsichtlich<br />

der Wohnfläche in Kauf nehmen. Für sie<br />

bleiben somit nur die dicht bebauten Wohnviertel<br />

an teuren Standorten in der Nähe ihrer schlecht<br />

bezahlten Arbeit. Aufgr<strong>und</strong> der angenommenen Abwägungen<br />

zwischen Erreichbarkeit <strong>und</strong> Wohnungsgröße<br />

bezeichnet man dieses Landnutzungsmodell<br />

auch als trade-off-ModeW.<br />

Territorialität, Kongregation<br />

, <strong>und</strong> Segregation__________<br />

Wie auf anderen räumlichen Maßstabsebenen ist Territorialität<br />

auch in Städten ein Mittel, um Identität<br />

<strong>und</strong> ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu entwickeln<br />

<strong>und</strong> aufrechtzuerhalten. Der erste Schritt zur<br />

Erzeugung einer Gruppenidentität besteht darin,<br />

„die Anderen“ pauschal zu definieren <strong>und</strong> sich somit<br />

von ihnen abzugrenzen. Eine auf die territoriale <strong>und</strong><br />

auf Wohnstandorte bezogene Clusterbildung bestimmter<br />

Gruppen oder Teilgruppen trägt zur Festigung<br />

eines Gemeinschaftsgefühls gegenüber anderen,<br />

außerhalb dieser Gruppe befindlichen Menschen <strong>und</strong><br />

Orten bei. Im angloamerikanischen Schrifttum wird<br />

dieser Prozess als Kongregation bezeichnet. Er ist dort<br />

von ganz besonderer Bedeutung, wo zwei oder mehr<br />

Minderheitengruppen aufeinandertreffen. Minoritätengruppen<br />

sind Teilgruppen der Allgemeinbevölkerung<br />

oder gastgebenden Gesellschaft, die sich als von<br />

dieser verschieden betrachten - oder von anderen als<br />

verschieden gesehen werden. Minderheitengruppen<br />

können sich über gemeinsame Merkmale wie Rasse,<br />

Sprache, Religion, Nationalität, Kaste, sexuelle Orientierung<br />

oder Lebensstil definieren.<br />

Für Minoritätengruppen ergeben sich aus räumlich<br />

engem Zusammenwohnen eine Reihe von Vorteilen:<br />

• Religiöse <strong>und</strong> kulturelle Eigenheiten können erhalten,<br />

die Kultur gewahrt <strong>und</strong> Gruppenidentitäten<br />

durch gemeinsame Lebensweisen <strong>und</strong> die Pflege<br />

eines bestimmten Brauchtums gestärkt werden.<br />

In dieser Hinsicht besonders wichtig sind Eheschließungen<br />

<strong>und</strong> Verwandtschaftsbeziehungen<br />

innerhalb räumlich kongregierter Gruppen.<br />

• Konfliktpotenzial kann vermindert <strong>und</strong> Schutz vor<br />

„Außenstehenden“ gewährleistet werden.<br />

• Bewohner können sich gegenseitig unterstützen<br />

durch Einrichtungen für Minderheiten, Geschäftsbeziehungen,<br />

soziale Netzwerke <strong>und</strong> Wohltätigkeitsorganisationen.<br />

• Machtbasis für Minderheitengruppen innerhalb<br />

einer Gesellschaft wird geschaffen. Diese kann demokratisch<br />

legitimiert sein <strong>und</strong> sich auf Wahlen<br />

gründen, oder es kann zur Entstehung von räumlichen<br />

Clustern aufrührerischer Gruppen kommen.<br />

Räumliche Clusterung von Minderheiten ist selbstverständlich<br />

nicht notwendigerweise ein freiwilliger<br />

Vorgang. Die gastgebende Bevölkerung hat ebenfalls<br />

territoriale Bedürfnisse, <strong>und</strong> sie kann auf soziale <strong>und</strong><br />

kulturelle Spannungen mit der Diskriminierung von<br />

Minderheiten reagieren. Diskriminierung ist nicht<br />

selten territorialen Ursprungs <strong>und</strong> darauf gerichtet,<br />

das Territorium von Minderheitengruppen einzuschränken<br />

<strong>und</strong> deren Assimilation in die gastgebende<br />

Gesellschaft zu begrenzen. Dieser Widerstand kann<br />

verschiedene Formen annehmen. Soziale Feindseligkeit<br />

<strong>und</strong> Haltungen, die der betreffenden Gruppe<br />

signalisieren, dass ihre Anwesenheit unerwünscht<br />

ist, sind sicherlich die am weitesten verbreiteten,<br />

wobei die räumlichen Effekte anderer Formen der<br />

Diskriminierung oft deutlicher ausgeprägt sind: die<br />

auf Vorurteilen basierende Ausgrenzung von lokalen<br />

Arbeitsmärkten, Einflussnahmen im privaten Gr<strong>und</strong>stücks-<br />

<strong>und</strong> Wohnungssektor, der Abzug von Investitionen<br />

aus Minderheitengebieten <strong>und</strong> die Institutionalisierung<br />

der Diskriminierung durch behördliche<br />

Vorgehensweisen <strong>und</strong> Raumordnungspolitik.<br />

Treffen Kongregation <strong>und</strong> Diskriminierung aufeinander,<br />

kommt es zu Segregation, der räumlichen<br />

Abgrenzung bestimmter Teilgruppen innerhalb einer<br />

größeren Bevölkerung (Abbildung 12.3). Sozialräumliche<br />

Segregation kann sehr verschiedene Dimensionen<br />

<strong>und</strong> Ausprägungen annehmen, je nach Grad der<br />

Kongregation <strong>und</strong> dem Ausmaß der damit einhergehenden<br />

Diskriminierung. Geographen <strong>und</strong> Demographen<br />

haben Segregationsindizes entwickelt, mit-


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 683<br />

X<br />

t r u t h JUSTICE H E ^<br />

12.3 Räumliches Zusammenleben <strong>und</strong> Segregation Das Zusammenleben in Städten ist nicht immer konfliktfrei; in manchen<br />

Fällen kommt es zu einer regelrechten räumlichen Trennung bestimmter Bevölkerungsgruppen wie im nordirischen Derry (Londonderry).<br />

R<strong>und</strong> 28 Prozent Protestanten müssen sich mit 72 Prozent Katholiken arrangieren. Das linke Foto erinnert im größten<br />

katholischen Viertel Bogside an den „Blutsonntag“ (Bloody S<strong>und</strong>ay) am 30. Januar 1972, während in der protestantischen Exklave<br />

„Fountain Estate“ Farben <strong>und</strong> Parolen die enge Verb<strong>und</strong>enheit zu Großbritannien dokumentieren (rechts).<br />

hilfe derer sich die relative räumliche Konzentration<br />

bestimmter Teilgruppen einer Bevölkerung quantifizieren<br />

lassen. Vergleiche sind jedoch wegen des Einflusses<br />

der räumlichen Maßstabsebene auf die Berechnung<br />

<strong>und</strong> Zusammensetzung solcher Indizes<br />

problematisch. Hinsichtlich der Erscheinungsformen<br />

räumlicher Segregation unterscheiden Geographen<br />

drei Situationen:<br />

- Enklaven, in welchen Tendenzen zu Kongregation<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung seit langer Zeit bestehen, die<br />

aber durch inneren Zusammenhalt <strong>und</strong> gemeinsame<br />

Identität maßgeblich geprägt sind.<br />

- Ghettos, ebenfalls lange existierende Erscheinungen,<br />

die allerdings eher das Ergebnis von Diskriminierung<br />

als die Folge von Kongregation sind. Ein<br />

Beispiel hierfür ist die Segregation der African<br />

Americans <strong>und</strong> der Hispanics in nordamerikanischen<br />

Städten.<br />

- Kolonien, die aus Kongregation, Diskriminierung<br />

oder beidem gemeinsam resultieren können, dies<br />

jedoch in relativer schwacher Ausprägung <strong>und</strong><br />

nicht über längere Zeiträume hinweg. Die Dauer<br />

ihrer Existenz ist folglich abhängig von einem<br />

ständigen Zustrom neuer Mitglieder einer jeweiligen<br />

Minderheitengruppe. So gab es beispielsweise<br />

in den US-amerikanischen Städten im frühen<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert verschiedene Kolonien von Deutschen,<br />

Skandinaviern, Iren <strong>und</strong> Italienern, die aber<br />

L<br />

inzwischen so gut wie verschw<strong>und</strong>en sind. Dafür<br />

finden sich heute Kolonien von Griechen <strong>und</strong><br />

Jugoslawen in australischen Städten <strong>und</strong> koreanische<br />

Kolonien in japanischen Zentren.<br />

Stadtstrukturen im interkulturellen<br />

Vergleich<br />

Gr<strong>und</strong>legende Einflussfaktoren wie ökonomischer<br />

Wettbewerb um Raum <strong>und</strong> Erreichbarkeit, soziale<br />

<strong>und</strong> ethnische Diskriminierung <strong>und</strong> Kongregation,<br />

funktionale Agglomeration <strong>und</strong> das Entscheidungsverhalten<br />

von Wohnungssuchenden sind in vielen<br />

Städten der Welt wirksam, insbesondere in den reichen<br />

Industriestaaten, die zahlreiche ökonomische,<br />

soziale <strong>und</strong> kulturelle Gemeinsamkeiten aufweisen.<br />

Dennoch gibt es auch hier bemerkenswerte Unterschiede<br />

aufgr<strong>und</strong> der jeweiligen historischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Einflüsse <strong>und</strong> auch infolge der unterschiedlichen<br />

Rollen, die Städte innerhalb des Weltsystems<br />

gespielt haben. Die folgenden Abschnitte beschäftigen<br />

sich mit den charakteristischen Merkmalen von<br />

nordamerikanischen <strong>und</strong> europäischen Städten sowie<br />

mit der islamisch-orientalischen Stadt <strong>und</strong> ungeordnet<br />

wachsenden Städten der Peripherie.<br />

\<br />

1^


684 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Die nordamerikanische Stadt<br />

Das vereinfachte Schema der US-amerikanischen Stadt<br />

basiert auf verschiedenen Elementen der Flächennutzung.<br />

Üblicherweise konzentrieren sich im Kern der<br />

nordamerikanischen Stadt die Geschäfte <strong>und</strong> Büros sowie<br />

wichtige öffentliche Einrichtungen, darunter Bibliotheken,<br />

Museen <strong>und</strong> das Rathaus. Diese Cityzone,<br />

der Central Business District (CBD) (Abbildung<br />

12.4), ist das zentrale Geschäftsviertel einer Stadt. In<br />

ihm findet sich die höchste Dichte an Einzelhandelsgeschäften,<br />

Büros <strong>und</strong> Warenhäusern <strong>und</strong> die größte<br />

Ballung von Gebäuden ohne Wohnfunktion. Der<br />

CBD ist üblicherweise als zentraler Knotenpunkt verschiedener<br />

Transport- <strong>und</strong> Verkehrslinien ausgebildet,<br />

sodass hier unter anderem Bus-Terminals, Bahnhöfe<br />

<strong>und</strong> Hotels zu finden sind. An den CBD schließt<br />

sich nach außen in der Regel eine Zone gemischter<br />

Nutzung an; Warenlager, Gewerbebetriebe <strong>und</strong> kleinere<br />

Eabriken, Spezialgeschäfte, Apartmenthäuser <strong>und</strong><br />

ältere Wohnviertel. Diese Bereiche werden häufig als<br />

Übergangszone (zone in transition) zusammengefasst,<br />

da sich hier Wachstum, Wandel <strong>und</strong> Niedergang gegenseitig<br />

durchdringen.<br />

Jenseits dieser Zone folgen Wohngebiete, Vororte<br />

(suburbs) unterschiedlicher Entstehungszeit wie auch<br />

unterschiedlicher Sozialstruktur <strong>und</strong> ethnischer Zusammensetzung.<br />

Ebenso wie unterschiedliche Nutzungen<br />

räumliche Nähe suchen oder meiden, ziehen<br />

soziale <strong>und</strong> ethnische Gruppen einander an oder<br />

stoßen sich gegenseitig ab. In Nordamerika, wo das<br />

Wachstum der städtischen Bevölkerung durch den<br />

Zustrom von Migranten <strong>und</strong> Einwanderern unterschiedlichster<br />

Herkunft zusätzlich forciert wurde,<br />

haben Soziologen ein aus der Ökologie stammendes<br />

Modell verwendet, das von der Vorstellung ausgeht.<br />

dass die städtische Viertelsgliederung von der „Invasion“<br />

aufeinanderfolgender Wanderungs- <strong>und</strong> Immigrationswellen<br />

geprägt ist.<br />

Einwanderer, die auf der Suche nach Arbeit <strong>und</strong><br />

Unterkunft erstmals in eine Stadt kommen, haben<br />

meist keine andere Wahl, als die billigsten Wohnquartiere<br />

zu beziehen. Diese konzentrieren sich in<br />

US-amerikanischen Städten typischerweise in der<br />

Übergangszone an den Rändern des CBD. Ein charakteristisches<br />

Beispiel für eine solche Entwicklung<br />

ist das Chicago der 1920er- <strong>und</strong> 1930er-Jahre. Für<br />

die Immigranten aus Skandinavien, Deutschland,<br />

Italien, Irland, Polen, Böhmen , das heute zur Tschechischen<br />

Republik gehört, <strong>und</strong> Litauen gab es zu den<br />

billigen Wohnvierteln keine Alternative. Aus der<br />

Konzentration der Zuwanderer in diesen Stadtteilen<br />

ergaben sich für sie aber auch eine Reihe von Vorteilen:<br />

Sie konnten dadurch ein Gefühl der Sicherheit<br />

entwickeln, weiterhin ihre Muttersprache sprechen,<br />

die ihnen vertrauten Kirchen oder Synagogen besuchen,<br />

die gewohnten Restaurants, Bäckereien, Metzgereien<br />

<strong>und</strong> Tavernen aufsuchen, ihre eigenen Zeitungen<br />

lesen <strong>und</strong> in ihren eigenen Clubs verkehren.<br />

Diese Immigranten trafen in den Übergangszonen auf<br />

afroamerikanische Migranten aus dem Süden, die<br />

ebenfalls ihre eigenen Stadtviertel <strong>und</strong> Gemeinschaften<br />

prägten. Durch den Zustrom verschiedener ethnischer<br />

Gruppen entstand in jener Zeit in Chicago<br />

wie auch in vielen anderen nordamerikanischen Städten<br />

ein Mosaik unterschiedlicher Lebensgemeinschaften<br />

in der näheren Umgebung der CBDs.<br />

Die ethnischen Gemeinschaften bestanden aus<br />

Einwanderern erster, zweiter <strong>und</strong> dritter Generation.<br />

Viele der Jüngeren, die in der für ihre Eltern oder<br />

Großeltern einst fremden Stadt geboren wurden, teilten<br />

dann nicht mehr deren Bedürfnis nach Schutz in<br />

12.4. Stadtzentrum <strong>und</strong> angrenzende<br />

Viertel Diese Aufnahme von Boston lässt<br />

rechts im Bild eine Konzentration von Büro-<br />

Hochhäusern erkennen, welche typisch für<br />

den Central Business District (CBD) vieler<br />

US-amerikanischer Metropolregionen sind.<br />

Links anschließend sind gründerzeitliche<br />

Wohnhäuser, im Hintergr<strong>und</strong> jüngere Wohnbebauung<br />

zu erkennen.


Stadtstrukturen inn interkulturellen Vergleich 685<br />

Stadtgrenze<br />

0 ©li oT © i r 0 1® 11®<br />

■iiiiuii a ^ i_ ü L J w g i<br />

! 1Umland 1 Übergangs- 1 ! downtown !<br />

! ! 1 bereich !<br />

1I 1 1<br />

1t i 1<br />

' Central Business District'<br />

iThA \ f t t n n j<br />

! Übergangs- 1 Umland ! !<br />

1. (CBD) 1 ! 1 bereich 1 ! II<br />

1<br />

I 1 11<br />

(1) CBD (mit Expansion),<br />

Finanzsektor,<br />

Managementsektor<br />

i I<br />

Parkhäuser, Hotels, Wohnhochhäuser,<br />

z.J. gentrification, Ausbau von Freizeit<strong>und</strong><br />

Tagungskomplexen<br />

! I<br />

1 i<br />

Abrissflächen, meist als Parkplätze |<br />

genutzt 1<br />

(4) Slums, Ghettos, Minderheiten, Hypersegregation,<br />

z.T. Suburbanisierung<br />

der Schwarzen, Sozialer Wohnungsbau,<br />

stellenweise gentrifizierte Bereiche:<br />

Cityrandwohnungen von Weißen,<br />

gated communities<br />

1 !<br />

(§) Forschung <strong>und</strong> Entwicklung, Büro<strong>und</strong><br />

Industrieparks v.a. an wichtigen<br />

Verkehrsknotenpunkten -*edge cities;<br />

Entwicklung von Hightech-Korridoren<br />

Umlandwohnen: geplante Appartementkomplexe<br />

<strong>und</strong> Einzelhausbebauung<br />

Central Business District<br />

(CBD)<br />

downtown<br />

[~ I Übergangsbereich<br />

f ~| Umland<br />

O<br />

sanierte Bereiche<br />

Parkplätze<br />

Appartementkomplex<br />

Sozialer Wohnungsbau<br />

b n Industrie<br />

^ gated community<br />

A Büropark, Forschung<br />

<strong>und</strong> Entwicklung<br />

Expansion/Verlagerung<br />

O<br />

edge<br />

city<br />

Hightech-<br />

' Korridor<br />

CBD<br />

Außenstadtzentrum<br />

Industrie<br />

gemischte Wohn- <strong>und</strong> kommerzielle Viertel<br />

Ghetto der Schwarzen<br />

Autobahn<br />

Flughafen<br />

hohe Wohndichte<br />

mittlere Wohndichte<br />

lockere Wohndichte<br />

aufgelassen<br />

Park<br />

Einpendler (Vorort-Innenstadt)<br />

Auspendler (Innenstadt-Vorort)<br />

Wechselpendler (Vorort-Vorort)<br />

Einpendler (vom Land-Vorort)<br />

12.5 Das Modell der US-amerikanischen Stadt <strong>und</strong> das „Stadtland USA“ Der Wettbewerb um städtischen Wohnraum zwischen<br />

Angehörigen unterschiedlicher Ein- <strong>und</strong> Zuwanderergruppen führt häufig zur Herausbildung unterschiedlicher Viertel mit einer jeweils<br />

eigenen „Ökologie“. Dabei spielen sich durchaus dynamische Veränderungen ab, insbesondere Kern-Rand-Verlagerungen der<br />

Wohnbevölkerung, der Industrie, des Einzelhandels <strong>und</strong> der Dienstleistungen entlang der radial oder konzentrisch verlaufenden<br />

Hauptverkehrsstraßen. Dabei kam es zu einem enormen flächenhaften Ausufern der US-amerikanischen Stadt. Der früher dominante<br />

CBD (Central Business District) hat meist deutlich an Bedeutung verloren zugunsten von Außenzentren, welche stärker untereinander<br />

als mit der Kernstadt verflochten sind <strong>und</strong> funktional sämtliche Merkmale einer eigenständigen Stadt aufweisen. Sie werden als edge<br />

cities bezeichnet <strong>und</strong> sind, wie die Abbildung deutlich macht, praktisch ausschließlich autoorientiert konzipiert. Die Anlage großer<br />

Parkplätze bedingt eine enorme Weiträumigkeit der Außenstadtzentren, deren Flächen sehr oft diejenigen der traditionellen<br />

downtowns in den Kernstädten übertreffen.


686 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

: t<br />

iwpr<br />

der vertrauten Umgebung des ethnischen Viertels.<br />

Schrittweise gelangte eine wachsende Zahl jüngerer<br />

Leute in höher bezahlte Stellungen <strong>und</strong> zog in bessere<br />

Wohnungen außerhalb ihres angestammten Quartiers.<br />

Den frei werdenden Wohnraum in den Übergangszonen<br />

der Städte nahmen nun neue, nachrückende<br />

Einwanderer <strong>und</strong> Migranten ein. Auf diese<br />

Weise bildete sich in Chicago eine Reihe kreisförmig<br />

angeordneter Zonen mit Vierteln unterschiedlicher<br />

ethnischer <strong>und</strong> sozialer Struktur heraus (Abbildung<br />

12.5) . Im Verlauf des Prozesses der Invasion <strong>und</strong><br />

Sukzession neigen Personen dazu, mit ihresgleichen<br />

in enger Verbindung zu bleiben — teils aufgr<strong>und</strong><br />

der Vorteile, die sich aus dem gemeinschaftlichen<br />

Wohnumfeld ergeben, teils aufgr<strong>und</strong> der Diskriminierung,<br />

die sie außerhalb erfahren. Invasion <strong>und</strong><br />

Sukzession bezeichnen den Prozess, durch welchen<br />

in einem Stadtbezirk eine soziale oder ethnische<br />

Gruppe von einer anderen abgelöst wird. Die verdrängte<br />

Gruppe dringt ihrerseits wiederum in andere<br />

Stadtgebiete ein, sodass diesbezügliche Veränderungen<br />

im Lauf der Zeit in einem wellenförmigen Vorgang<br />

die gesamte Stadt erfassen, mit dem Ergebnis,<br />

dass sich in jeder der konzentrischen Zonen ein<br />

Flickenteppich verschiedenster Viertel herausbildet.<br />

Klassische Beispiele für eine solche sozialräumliche<br />

Differenzierung sind die Chinatowns, Little Italys,<br />

Koreatowns <strong>und</strong> die afroamerikanischen Ghettos<br />

der großen nordamerikanischen Städte (Abbildung<br />

12.6) . Solche Viertel lassen sich als eine Art ökologischer<br />

Nischen innerhalb der Metropolen auffassen<br />

- Umgebungen, in welchen eine besondere<br />

Mischung von Bewohnern in einem bestimmten Territorium<br />

mit einem spezifischen physischen Umfeld<br />

bestimmend geworden ist.<br />

Der Prozess der Invasion <strong>und</strong> Sukzession war über<br />

lahrzehnte eine vorwiegend nach außen gerichtete<br />

Verlagerung, aus der die typische ringförmige Struktur<br />

nordamerikanischer Städte hervorging. Als im<br />

letzten Viertel des 20. jahrh<strong>und</strong>erts der Zustrom<br />

von Migranten <strong>und</strong> Einwanderern deutlich zurückging,<br />

erfuhren bestimmte innenstadtnahe Wohnviertel<br />

vielerorts eine Aufwertung, die man als gentrification<br />

oder Gentrifizierung bezeichnet. Unter Gentrifizierung<br />

versteht man das Eindringen besser verdienender<br />

Haushalte in ältere, zentrumsnahe Arbeiterwohnviertel,<br />

die aufgr<strong>und</strong> ihrer zentralen Lage <strong>und</strong><br />

der niedrigeren Preise sowie ihres besonderen Flairs<br />

wegen neue Wertschätzung genießen. Das Ergebnis<br />

einer solchen Entwicklung ist eine bauliche Aufwertung<br />

<strong>und</strong> eine Verbesserung der Wohnverhältnisse<br />

(Abbildung 12.7), es kommt jedoch auch zur Verdrängung<br />

der eingesessenen Wohnbevölkerung.<br />

12.6 Chinatown In vielen größeren Städten existiert ein<br />

Muster unterschiedlicher Stadtviertel <strong>und</strong> Nachbarschaften,<br />

welche aufgr<strong>und</strong> von Zuwanderung <strong>und</strong> Segregation entstehen.<br />

Am auffallendsten sind Viertel ethnischer Minderheiten wie die<br />

Chinatowns, Little Italies <strong>und</strong> Little Koreas in vielen größeren<br />

amerikanischen Städten wie beispielsweise die Chinatown von<br />

San Francisco.<br />

I<br />

Probleme der nordamerikanischen Städte<br />

Trotz ihres relativen Wohlstands sehen sich die postindustriellen<br />

Städte in verschiedenen Kernregionen<br />

einer Reihe von Schwierigkeiten gegenüber. Die akutesten<br />

Probleme betreffen die zentralen Innenstädte,<br />

welche die Folgen des Umbaus von der industriellen<br />

zur postindustriellen Wirtschaft am deutlichsten zu<br />

spüren bekamen. Sie treffen mehrere, einander wechselseitig<br />

beeinflussende Belastungen, die aus fiskalischen<br />

<strong>und</strong> infrastrukturellen Problemen sowie aus<br />

dem fortschreitenden Verfall bestimmter Viertel<br />

<strong>und</strong> aus dem Kreislauf der Verarmung resultieren.<br />

Im Folgenden werden einige Probleme am Beispiel<br />

US-amerikanischer Städte diskutiert:


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 687<br />

12.7 Gentrifizierung Mit Gentrifizierung bezeichnet man die Aufwertung eines Stadtviertels, die auf der Verdrängung unterer<br />

Einkommensgruppen durch den Zuzug wohlhabenderer Schichten beruht <strong>und</strong> mit einer oft aufwendigen Gebäudesanierung einhergeht.<br />

In Großstädten läuft dieser Prozess häufig in zwei Stufen ab: Erst kommen „Pioniere", welche in degradierten Stadtteilen<br />

unkonventionelle, alternative Lebensformen erproben, dann folgen die „Gentrifier“, welche das nunmehr interessant gewordene<br />

Viertel beziehen. Die beiden Bilder aus Hamburg zeigen die unterschiedlichen Stadien dieses Prozesses (Schanzenviertel <strong>und</strong><br />

Speicherstadt).<br />

Fiskalische Probleme<br />

Der Begriff fiskalisch bezieht sich auf Steuern. Ökonomischer<br />

Wandel <strong>und</strong> metropolitane Dezentralisierung<br />

konfrontierten die Innenstädte seit Mitte der<br />

1970er-Jahre mit einem chronischen Problem, das<br />

man als fiscal squeeze oder „Steuerklemme“ beziehungsweise<br />

Steuerflucht bezeichnen kann. Der Ausdruck<br />

steht für die wachsende Schwierigkeit, ausreichende<br />

Steuereinnahmen für den Unterhalt der städtischen<br />

Infrastruktur <strong>und</strong> der öffentlichen Dienstleistungen<br />

zu erzielen. Die Situation resultiert aus zunehmenden<br />

Steuerausfällen bei gleichzeitig steigenden finanziellen<br />

Belastungen. Das Einnahmepotenzial der<br />

Innenstädte verringerte sich stetig mit der Dezentralisierung<br />

der Stadtregionen oder Metropolitangebiete,<br />

da die Zentren durch die Abwanderung von Bewohnern<br />

<strong>und</strong> Gewerbe Steuereinkünfte an die Randgemeinden<br />

verloren. Wachsende Industriezweige, Arbeitsplätze<br />

im Dienstleistungssektor, Einzelhandel<br />

<strong>und</strong> besser verdienende Haushalte verlagerten sich<br />

in die suburbanen <strong>und</strong> exurbanen Gemeinden -<br />

zum finanziellen Nachteil der Zentren.<br />

Gleichzeitig sanken die Einnahmen aus der Vermögenssteuer<br />

in dem Umfang, wie sich der Zuwachs<br />

an Vermögenswerten in den verfallenden Vierteln<br />

verlangsamte. Doch gerade in diesen Vierteln stiegen<br />

die Ausgaben der öffentlichen Hand, denn ältere Straßen,<br />

Wasserleitungen, Abwasserkanäle <strong>und</strong> Nahverkehrssysteme<br />

bedeuten höhere Kosten. Die Wohnbevölkerung,<br />

mit einem hohen Anteil älterer <strong>und</strong> bedürftiger<br />

Menschen, ist in wachsendem Umfang<br />

auf die Unterstützung der öffentlichen Sozialdienste<br />

angewiesen. Die große Zahl einkommensschwacher<br />

Ein- <strong>und</strong> Zuwanderer belastet die Sozialsysteme<br />

ebenfalls. Zu alledem müssen die Städte weiterhin<br />

die Kosten tragen, die ihnen aus der Bereitstellung öffentlicher<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> Dienste für die Bevölkerung<br />

des gesamten Verdichtungsraums entstehen.<br />

Dazu gehören unter anderem städtische Galerien<br />

<strong>und</strong> Museen, Sporteinrichtungen, Parks, Verkehrspolizei<br />

<strong>und</strong> öffentlicher Nahverkehr. Die Folge ist,<br />

dass die Verwaltungen der zentralen Innenstädte<br />

sich permanent in einer schwierigen finanziellen Situation<br />

befinden. Dies führt vor dem Hintergr<strong>und</strong><br />

des harten Wettbewerbs zwischen Städten dazu,<br />

dass diese ständig um Einnahmen generierende Projekte<br />

wie touristische Angebote, Museen, Sportveranstaltungen,<br />

Konferenzzentren <strong>und</strong> so weiter werben<br />

<strong>und</strong> diese finanzieren müssen.<br />

Infrastrukturprobleme<br />

Als sich das Stadtwachstum in den Kernstaaten verlangsamte,<br />

verringerten sich auch die Ausgaben für<br />

öffentliche Infrastruktur wie Straßen, Brücken, Parkraum,<br />

Nahverkehr, Kommunikationssysteme, Stromleitungen,<br />

Gas- <strong>und</strong> Wasserversorgung, Straßenbeleuchtung<br />

<strong>und</strong> Kanalisation. Mittlerweile ist in den<br />

USA ein Großteil dieser vor 75 oder 100 fahren in<br />

Betrieb genommenen Infrastruktur veraltet <strong>und</strong> in<br />

schlechtem oder gefährlichem Zustand, in manchen<br />

Fällen sogar kurz vor dem Kollaps.<br />

Infrastrukturelle Probleme sind gut überschaubar,<br />

denn sie bauen sich allmählich auf In die Schlagzeilen<br />

geraten sie erst, wenn eine Brücke einstürzt oder eine


688 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Business Improvement Districts<br />

ln den vergangenen Jahrzehnten hat sich, ausgehend von<br />

Nordamerika, das Modell der Business Improvement Districts<br />

(BID) als Instrument zur Revitalisierung <strong>und</strong> Stärkung innerstädtischer<br />

Geschäftsbereiche entwickelt (in Deutschland<br />

auch als „Immobilien- <strong>und</strong> Standortgemeinschaften“ bezeichnet).<br />

Das Modell geht auf eine Initiative von Gewerbetreibenden<br />

in der kanadischen Stadt Toronto im Jahr 1970 zurück.<br />

Dort wurde erstmals die für BID’s typische Mischung aus<br />

den Elementen Eigeninitiative, Selbstverpflichtung <strong>und</strong> Public-Private-Partnership<br />

(PPP) erprobt. In den 1980er-Jahren<br />

wurde das BID-Modelll in den USA weiterentwickelt <strong>und</strong> durch<br />

Gesetze rechtlich verankert. Heute gibt es in Nordamerika<br />

etwa 1 500 BID’s.<br />

BID’s sind klar umgrenzte innerstädtische Bereiche, deren<br />

Erneuerung nicht von der Stadtverwaltung initiiert wird, son-<br />

dern von privaten Akteuren, zum Beispiel Gr<strong>und</strong>eigentümer<br />

oder Einzelhändler. Gestalterische Maßnahmen werden<br />

selbstständig von den Gr<strong>und</strong>stückseigentümern bestimmt<br />

<strong>und</strong> mit den zuständigen Behörden abgestimmt. Finanziert<br />

werden sie durch eine feste, von den Gr<strong>und</strong>eigentümern zu<br />

erbringende Abgabe. Im Unterschied zu den traditionellen Instrumenten<br />

der Kommunen (Stadtteilentwicklung mit Mitteln<br />

der Städtebauförderung oder anderer öffentlicher Mittel) stehen<br />

bei BID’s Selbstorganisation <strong>und</strong> Selbstfinanzierung im<br />

Zentrum des Handelns. Nach anfänglicher Zurückhaltung<br />

gibt es inzwischen auch in Deutschland eine Reihe von Ansätzen<br />

zur Einführung von BID’s in den unterschiedlichsten Quartieren.<br />

H. Gebhardt<br />

u<br />

i I<br />

wichtige Wasserleitung platzt. Doch die Infrastruktur<br />

ist entscheidend nicht nur für die wirtschaftliche<br />

Effizienz einer Stadt, sondern auch für die öffentliche<br />

Ges<strong>und</strong>heit, Sicherheit <strong>und</strong> Lebensqualität. Eine Untersuchung<br />

der Infrastrukturprobleme in amerikanischen<br />

Städten ergab, dass zwischen der Hälfte <strong>und</strong><br />

zwei Dritteln aller Städte des Landes nicht in der<br />

Lage sind, zukunftsorientierte Investitionen zu tätigen,<br />

ehe sie nicht neue Mittel für die gr<strong>und</strong>legende<br />

Infrastruktur aufbringen können. Angesichts der<br />

chronischen Finanznot der öffentlichen Hand scheinen<br />

diese Investitionen indes unwahrscheinlich. In<br />

Boston stammen drei Viertel der Abwasserkanäle<br />

noch aus dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert. Sie sind mittlerweile<br />

in einem derart desolaten Zustand, dass 20 Prozent<br />

des Wassers durch Lecks versickern. In Cleveland,<br />

dem District of Columbia <strong>und</strong> in Philadelphia verschwinden<br />

25 Prozent in den brüchig gewordenen<br />

Systemen. In New York müssten H<strong>und</strong>erte Kilometer<br />

Hauptwasserleitungen dringend erneuert werden; im<br />

Jahr 2004 schätzte man die Kosten dafür auf über<br />

5 Milliarden Dollar. Mindestens die Hälfte aller Kläranlagen<br />

in den Vereinigten Staaten sind zu 80 Prozent<br />

<strong>und</strong> mehr ausgelastet. Ab diesem Punkt erlauben die<br />

behördlichen Vorschriften keine weiteren Anschlüsse<br />

von Industriebetrieben an das kommunale Abwassersystem.<br />

Die Trinkwasserversorgung ist ebenfalls gefährdet:<br />

Die überalterten Systeme sind den einsickernden Verschmutzungen<br />

in den Städten nicht mehr gewachsen.<br />

Verunreinigungen entstehen durch Chlorverbindungen,<br />

Öl, Phosphate, nicht abbaubare giftige Chemikalien<br />

aus Industrieabwässern, gelöste Salze <strong>und</strong> andere<br />

von den Straßen gespülte Stoffe, Nitrate <strong>und</strong> Ammo­<br />

niak aus Düngemitteln <strong>und</strong> Abwasser, Kolibakterien<br />

aus septischen Reservoirs <strong>und</strong> Abwässern. Viele Städte<br />

nutzen zur Wasseraufbereitung Technologien, die<br />

noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammen.<br />

R<strong>und</strong> ein Drittel aller US-amerikanischen Städte hat<br />

mit verunreinigtem Trinkwasser zu kämpfen, ungefähr<br />

8 Millionen Menschen sind dadurch potenziell<br />

gefährdet.<br />

Armut <strong>und</strong> Verfall von Stadtvierteln<br />

Innerstädtische Armut <strong>und</strong> der Verfall zentraler<br />

Stadtbezirke haben in den Vereinigten Staaten in<br />

den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen.<br />

Ursachen hierfür sind die Verlagerung von Industriebetrieben,<br />

Großhandels- <strong>und</strong> Lagerkomplexen sowie<br />

Arbeitsplätzen im Einzelhandel an Standorte im suburbanen<br />

Raum <strong>und</strong> in randstädtische Zentren sowie<br />

der Wegzug besser verdienender Haushalte, welche<br />

die Nähe zu diesen Arbeitsplätzen suchen. Die Spirale<br />

des Verfalls beginnt mit minderwertigen Wohnungen,<br />

die von Haushalten mit geringem Einkommen<br />

in Anspruch genommen werden. Für größere Wohnungen<br />

fehlt meist das Geld, sodass es zu Überbelegung<br />

kommt. Daraus ergeben sich nicht nur eine erhöhte<br />

Beanspruchung <strong>und</strong> ein verstärkter Verschleiß<br />

der Wohnsubstanz, sondern es wachsen auch die<br />

Belastungen der kommunalen Infrastruktur, der Straßen,<br />

Parkanlagen, Schulen <strong>und</strong> Spielplätze. Dies lässt<br />

den Aufwand für Erhalt <strong>und</strong> Instandsetzung rasch<br />

ansteigen; beides wird indes oft vernachlässigt. Die<br />

Einzelhaushalte können es sich nicht leisten, <strong>und</strong><br />

die Eigentümer haben keinen Anreiz zu investieren,<br />

da sie gewissermaßen das Monopol besitzen. Die<br />

öffentlichen Verwaltungen stehen vor leeren Kassen


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 689<br />

<strong>und</strong> verhalten sich mangels politischer Einflussmöglichkeiten<br />

oft indifferent gegenüber den Erfordernissen<br />

in solchen Vierteln.<br />

Einzelhandel <strong>und</strong> privat betriebene Dienstleistungen<br />

wie Restaurants oder Friseure leiden ebenfalls<br />

unter den Verfallssymptomen. Angesichts des einkommensschwachen<br />

K<strong>und</strong>enkreises müssen sie ihre<br />

Gewinnspannen niedrig halten <strong>und</strong> können so<br />

kaum Rücklagen für Reparaturen oder Verbesserungen<br />

bilden. Viele Kleinunternehmer müssen schließen<br />

oder ihr Gewerbe an günstigere Standorte verlagern,<br />

ohne dass sich für die dann leer stehenden<br />

Geschäftsräume rasch Nachfolger finden. Schlimmstenfalls<br />

können die Eigentümer überhaupt keine<br />

Käufer oder Mieter mehr finden. Auf dieselbe Weise<br />

kommt es zur endgültigen Aufgabe von Wohnungen<br />

<strong>und</strong> Wohnhäusern. Konfrontiert mit steigenden<br />

Erhaltungskosten <strong>und</strong> Steuern, verb<strong>und</strong>en mit Mietpreisbeschränkungen<br />

<strong>und</strong> einer desolaten innerstädtischen<br />

Wohnungsmarktsituation, schreibt mancher<br />

Eigentümer seinen Besitz endgültig ab <strong>und</strong> überlässt<br />

ihn sich selbst.<br />

Damit ist ein bedrückender Kreislauf zunehmender<br />

Verarmung im Gang, der mit einer Spirale des<br />

lokalen Verfalls Hand in Hand geht. Der Kreislauf<br />

der Armut beinhaltet die Übertragung von Armut<br />

<strong>und</strong> Mangel von einer Generation auf die nächste,<br />

verursacht durch die Kombination schwieriger persönlicher<br />

Verhältnisse <strong>und</strong> lokaler Bedingungen des<br />

Stadtviertels. Der Kreislauf beginnt mit dem lokalen<br />

Verlust an Beschäftigungsmöglichkeiten <strong>und</strong> setzt<br />

sich schrittweise über die räumliche Konzentration<br />

niedriger Einkommen, armseliger Wohnverhältnisse<br />

<strong>und</strong> Überbelegung fort. Solche Bedingungen beeinträchtigen<br />

die Ges<strong>und</strong>heit. Wo viele Menschen auf<br />

engem Raum zusammengedrängt leben müssen,<br />

wächst die Gefahr von Erkrankungen, oft mit verursacht<br />

von armutsbedingter Mangelernährung. Es<br />

kommt zu häufigerer Abwesenheit an der Arbeitsstelle<br />

<strong>und</strong> damit zu sinkenden Einkünften. In ähnlicher<br />

Weise fördern krankheitsbedingtes Fernbleiben von<br />

der Schule <strong>und</strong> daraus resultierende mangelnde schulische<br />

Leistungen den Kreislauf der Armut. Ohne<br />

Schulabschluss erhalten Jugendliche keine qualifizierte<br />

Berufsbildung <strong>und</strong> haben deshalb später meist<br />

niedrige Einkommen. Überfüllung führt darüber<br />

hinaus zu psychischen Belastungen, die sich in sozialem<br />

Fehlverhalten <strong>und</strong> unterschiedlichsten Verhaltensstörungen<br />

bis hin zu Vandalismus <strong>und</strong> Kriminalität<br />

niederschlagen. Solche Bedingungen wirken sich<br />

nicht nur auf Schulbildung <strong>und</strong> Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

aus, sondern können überdies zur Stigmatisierung<br />

führen. Dies bedeutet, dass sich die Berufschancen<br />

für die Bewohner eines bestimmten Bezirks<br />

allein aufgr<strong>und</strong> des negativen Images ihres Viertels<br />

verschlechtern.<br />

Eines der wesentlichen Elemente des Kreislaufs der<br />

Verarmung ist indes die mangelhafte Ausbildungssituation.<br />

Heruntergekommene <strong>und</strong> schlecht ausgestattete<br />

Schulen sind für Lehrer unattraktiv - teils<br />

wegen der physischen Umgebung als solcher, teils<br />

wegen der sozialen Verhältnisse <strong>und</strong> mangelnder Disziplin<br />

seitens der Schüler. Aufgr<strong>und</strong> leerer öffentlicher<br />

Kassen fehlt es den Einrichtungen oft an Ressourcen,<br />

an Personalkosten muss gespart werden,<br />

<strong>und</strong> es mangelt an Einrichtungsgegenständen <strong>und</strong><br />

Unterrichtsmaterialien. Auf lange Sicht sind eingeschränkte<br />

Ressourcen im Bildungswesen gleichbedeutend<br />

mit mangelhafter Bildung, unabhängig von<br />

den Begabungen der Kinder <strong>und</strong> ihrer Förderung<br />

durch die Eltern. Eine schlechte Schulbildung engt<br />

die Wahlmöglichkeiten im Beruf ein <strong>und</strong> führt zu<br />

niedrigen Einkommen. Schüler, die täglich mit den<br />

Folgen von Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> der Aussicht auf<br />

schlecht bezahlte Jobs konfrontiert sind, finden<br />

schwerlich eine positive Einstellung gegenüber der<br />

Schule. Am Ende werden die bedrückenden Aussichten<br />

oft bittere Realität, <strong>und</strong> die Bewohner von Stadtbezirken<br />

mit konzentrierter Armut sind wie in einer<br />

Falle gefangen (Abbildung 12.8).<br />

Viele Armutsviertel auf der Erde sind zugleich rassische<br />

Ghettos, wenngleich es sich nicht bei allen<br />

Ghettos um verarmte Bezirke handelt. Wie bereits<br />

aufgezeigt wurde, kann ethnische <strong>und</strong> rassische Segregation<br />

mitunter auch den Teufelskreis der Verarmung<br />

bremsen. Nichtsdestoweniger ist Diskriminierung<br />

die Hauptursache der Entstehung von Ghettos,<br />

ln den Vereinigten Staaten ist Diskriminierung bei<br />

der Wohnungsvergabe illegal, dennoch gibt es sie<br />

in verschiedenen Formen. Ein Beispiel von Diskriminierung<br />

im Wohnungssektor ist das von Banken <strong>und</strong><br />

anderen Kreditinstituten praktizierte redlining, die<br />

Einschätzung der Kreditwürdigkeit von Personen anhand<br />

von Stadtplänen, auf denen diesbezüglich als<br />

„riskant“ eingestufte Areale ausgewiesen werden.<br />

Diese Praxis führt zur Ungleichbehandlung von Minderheiten,<br />

Haushalten ohne männliche Mitglieder<br />

<strong>und</strong> anderen verletzbaren Gruppen, da diese in Vierteln<br />

mit niedrigem Einkommensniveau meist stärker<br />

vertreten sind. Das Verfahren des redlining schafft<br />

nicht selten erst die Verhältnisse, von denen es ausgeht.<br />

Der Mangel an Darichensmöglichkeiten bewirkt<br />

den fortschreitenden Niedergang eines Viertels, das<br />

auf diese Weise für Kreditgeber immer unattraktiver<br />

wird. Diskriminierung wirkt sich auf Bildung <strong>und</strong><br />

Berufschancen ebenso aus wie auf die Wohnungs-


690 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

12.8 Armutsgebietein<br />

Städten In US-amerikanischen<br />

Städten finden<br />

sich Armutsgebiete nicht<br />

nur in verfallenden innerstädtischen<br />

Gebieten,<br />

sondern auch im suburbanen<br />

Raum. Das Bild<br />

zeigt ein Viertel im Distrikt<br />

von Columbia, nicht weit<br />

vom Capitol.<br />

märkte. Im Fall verarmter Ghettos treffen alle drei<br />

Arten der Diskriminierung aufeinander. Dadurch<br />

beschleunigt sich der Kreislauf der Armut, <strong>und</strong> die<br />

ohnehin nachteilige Situation einer mittellosen Minderheitengruppe<br />

verschlechtert sich tveiter.<br />

Die Probleme solcher Stadtgebiete sind in vielen<br />

Fällen mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen<br />

verb<strong>und</strong>en. Gestiegene Ehescheidungsraten <strong>und</strong><br />

ein relativ hoher Anteil minderjähriger Mütter haben<br />

zu einer steigenden Zahl von Einelternhaushalten<br />

<strong>und</strong> der „Femininisierung“ von Armut geführt. Diese<br />

Familien können als Kern einer räumlich, sozial <strong>und</strong><br />

ökonomisch isolierten Unterschicht (<strong>und</strong>erclass) angesehen<br />

werden. Die Vorstellung einer städtischen<br />

Unterschicht bezieht sich auf eine Klasse von Individuen,<br />

die sich aufgr<strong>und</strong> ihres Abgeschnittenseins sowohl<br />

von den Werten der Durchschnittsgesellschaft<br />

wie auch vom regulären Arbeitsmarkt kaum aus<br />

den Fesseln der Armut befreien können. Materiell,<br />

ideell <strong>und</strong> hinsichtlich sozialer Verhaltensweisen gesellschaftlich<br />

isoliert, kommt es in wachsendem Maße<br />

zu sozialen Auflösungserscheinungen <strong>und</strong> abweichenden<br />

Verhaltensmustern. In US-amerikanischen<br />

Städten ist die in den Zentren angesiedelte Armut<br />

heute gekennzeichnet von sinnloser <strong>und</strong> spontaner<br />

Gewalt, vorsätzlicher <strong>und</strong> räuberischer Gewalt, häuslicher<br />

Gewalt, der organisierten Gewalt der Straßenbanden<br />

<strong>und</strong> von einer epidemischen Ausbreitung von<br />

HIV/AIDS sowie anderer übertragbarer Krankheiten<br />

—all dies verb<strong>und</strong>en mit Drogenkonsum <strong>und</strong> Drogenhandel.<br />

Eine Folge extremer Armut ist Obdachlosigkeit.<br />

Chronische, lang andauernde Obdachlosigkeit bedeutet,<br />

keinen geregelten Zugang zu einem festen, allgemeinen<br />

Standards entsprechenden Wohnsitz zu<br />

haben. Dazu zählen Menschen, die in Hütten, Notunterkünften<br />

<strong>und</strong> Missionsstationen schlafen müssen<br />

ebenso wie diejenigen, die in Hauseingängen, an Bushaltestellen,<br />

in Autos, Zelten, vorübergehend aufgestellten<br />

Baracken, Pappschachteln, auf Parkbänken<br />

<strong>und</strong> den Gittern von Heizungsschächten die Nacht<br />

verbringen.<br />

In den Städten der USA stieg die Zahl der Wohnsitzlosen<br />

Mitte der 1980er-Jahre sehr stark an. Die<br />

Hauptgründe waren wachsende Armut sowie ökonomische<br />

<strong>und</strong> soziale Entwurzelung, verursacht durch<br />

die wirtschaftliche Umstrukturierung <strong>und</strong> den Übergang<br />

zu einer globalisierten, postindustriellen Ökonomie.<br />

Die Finanznot der inneren Stadtbezirke <strong>und</strong><br />

die Kürzung staatlicher Wohlfahrtsprogramme verstärkte<br />

diese Entwicklung ebenso wie die US-amerikanische<br />

„Drehtüren-Politk“ der psychiatrischen<br />

Kliniken, die eine große Zahl ehemals stationär aufgenommener<br />

Patienten auf die Straße entließ. In den<br />

größeren Städten Nordamerikas sind die Wohnsitzlosen<br />

auf diese Weise verstärkt in der Öffentlichkeit<br />

präsent (Abbildung 12.9). Sie umlagern die Abluftschächte<br />

der Shopping Malis in den Städten Kanadas,<br />

man sieht sie aber auch in der unterirdischen Welt<br />

der New Yorker U-Bahn, unter den Brücken Miamis<br />

<strong>und</strong> in den Parks von Los Angeles, in Pappkartons vor<br />

den gläsernen Bürotürmen in der City von Chicago<br />

<strong>und</strong> in der Umgebung aufgelassener Fabriken in<br />

Boston <strong>und</strong> St. Louis.<br />

Die Schätzungen der Obdachlosenzahlen in USamerikanischen<br />

Städten klaffen weit auseinander.<br />

Die National Coalition for the Homeless spricht<br />

von 1,5 Millionen bis 3 Millionen. Das National


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 691<br />

12.9. Die neuen<br />

Obdachlosen. In den<br />

1980er-<strong>und</strong> 1990er-Jahren<br />

haben die veränderten<br />

politischen Rahmenbedingungen<br />

in den USA zu<br />

einem gewaltigen Anstieg<br />

der Obdachlosigkeit geführt.<br />

Die neuen Obdachlosen<br />

umfassen auch eine<br />

beträchtliche Anzahl an<br />

Frauen, Kindern <strong>und</strong> jungen<br />

Erwachsenen, also<br />

Gruppen, welche früher<br />

weniger von Obdachlosigkeit<br />

bedroht waren.<br />

■Ü<br />

IM<br />

iki<br />

iü<br />

Law Center on Homelessness and Poverty geht von<br />

mindestens 700 000 Obdachlosen <strong>und</strong> von ungefähr<br />

2 Millionen Wohnsitzlosen aus. Das Urban Institute<br />

schätzt die Zahl derer, die zeitweilig ohne festen<br />

Wohnsitz sind, auf etwa 3,5 Millionen, darunter<br />

1,35 Millionen Kinder. Die Zahl der Wohnsitzlosen<br />

in den Städten Kanadas wird auf über 250 000 geschätzt.<br />

Allein in Toronto lebten im Jahr 2000<br />

mehr als 30 000 Menschen oder 1,3 Prozent der Stadtbewohner<br />

in notdürftigen Behausungen, das sind 40<br />

Prozent mehr als noch 1988. Deutschland hält mit<br />

mehr als 1 Million Obdachlosen den europäischen<br />

Rekord, gefolgt von Großbritannien mit 700 000<br />

<strong>und</strong> Frankreich mit 600 000 Wohnsitzlosen. In der<br />

ehemaligen Sowjetunion brachte die „Schocktherapie“<br />

der freien Marktwirtschaft den Städten das in<br />

den Jahrzehnten zuvor unbekannte Problem der Obdachlosigkeit.<br />

Allein in Moskau verloren die meisten<br />

der 100 000 auf der Straße lebenden Menschen ihren<br />

festen Wohnsitz während der letzten Dekade des vergangenen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Nicht nur das Ausmaß, sondern auch die Natur<br />

der Obdachlosigkeit stellt ein drängendes Problem<br />

dar. Die neue Obdachlosigkeit erfasst nicht nur alle<br />

Rassen, sondern nun auch vermehrt Frauen, Kinder<br />

<strong>und</strong> ältere Menschen. In Kanada zum Beispiel sind<br />

ein Viertel der 250 000 Obdachlosen Kinder. Schätzungen<br />

zufolge sind in Europa bis zu 70 Prozent<br />

der Menschen ohne festen Wohnsitz unter 20 Jahre<br />

alt, <strong>und</strong> laut offizieller Statistik befinden sich unter<br />

denen, die aufgr<strong>und</strong> von Obdachlosigkeit Sozialleistungen<br />

empfangen, r<strong>und</strong> 40 Prozent Frauen. Obdachlosigkeit<br />

ist heute zu einem überall in den Städten<br />

sichtbaren Problem geworden.<br />

Die europäische Stadt<br />

Ebenso wie nordamerikanische Städte spiegeln auch<br />

europäische Städte das Wirken konkurrierender Nutzungen<br />

<strong>und</strong> der sozialen <strong>und</strong> ethnischen Clusterbildung<br />

wider, <strong>und</strong> sie haben mit ähnlichen Verwaltungs-,<br />

Infrastruktur- <strong>und</strong> Armutsproblemen zu<br />

kämpfen. Im Unterschied zu den nordamerikanischen<br />

Städten sind europäische Städte jedoch das Ergebnis<br />

einer jahrh<strong>und</strong>ertelangen Stadtentwicklung.<br />

Wie in Kapitel 2 ausgeführt wurde, waren zahlreiche<br />

der heute bedeutendsten Städte Europas wichtige römische<br />

Siedlungen, <strong>und</strong> nicht selten sind römische<br />

<strong>und</strong> mittelalterliche Strukturen noch in den heutigen<br />

Stadtgr<strong>und</strong>rissen erhalten. Viele Merkmale europäischer<br />

Städte hängen mit deren langer Geschichte<br />

zusammen (Abbildung 12.10). Dabei sind mehrere<br />

Elemente hervorzuheben:<br />

• Komplexe Straßenmuster: In den historischen<br />

Kernen einiger älterer Städte spiegelt die Anlage<br />

des Straßennetzes die alten Muster ländlicher Siedlungen<br />

<strong>und</strong> Flurgrenzen wider. Darüber hinaus<br />

sind enge, unregelmäßige Straßen <strong>und</strong> Gassen<br />

die Folge eines lang dauernden Siedlungswachstums<br />

früherer Jahrh<strong>und</strong>erte, in denen Handkarren<br />

<strong>und</strong> Pferdekutschen die einzigen Transport- <strong>und</strong><br />

Fortbewegungsmittel waren <strong>und</strong> die Stadtentwicklung<br />

sich in kleinen Schritten vollzog.<br />

• Plätze: Griechische, römische <strong>und</strong> mittelalterliche<br />

Städte besaßen allesamt zentrale Plätze beziehungsweise<br />

Markplätze. Sie bilden noch heute<br />

wichtige Knotenpunkte des städtischen Lebens.<br />

.m


692 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

a. Burgstadt<br />

b. Kloster<br />

c. Marktplätze<br />

1<br />

ÄS<br />

• i<br />

ù m M È 9 i<br />

12.10 Die europäische Stadt im Mittelalter Die mittelalterlichen Städte Europas waren für gewöhnlich klein <strong>und</strong> in ihrem Umriss<br />

von geschlossenen Befestigungsmauern deutlich begrenzt. Neben der Verteidigungsfunktion besaßen die Stadtmauern auch symbolische<br />

Bedeutung, sie signalisierten Stärke <strong>und</strong> Reichtum. An den Stadttoren wurden Zölle erhoben <strong>und</strong> eingehende Waren<br />

kontrolliert. Innerhalb der Mauern befand sich ein gesonderter Rechtsbezirk, dessen Bewohner eigene Rechtsfreiheiten besaßen.<br />

Die Städte gruppierten sich meist um eine Festung oder Burgstadt (eite), ihre Basis waren jedoch kirchliche Einrichtungen, Marktplätze<br />

<strong>und</strong> die Viertel der Händler, von denen auch die Wachstumsimpulse ausgingen. (Quelle: Hohlenberg, P. M.; Lees, L. H. The Making<br />

of Urban Europe 1000-1950. Cambridge, MA (Harvard University Press) 1985, S. 32.)<br />

I !<br />

I I<br />

I:<br />

! ‘ M<br />

Hohe Bebauungsdichte <strong>und</strong> kompakte Form: Ein<br />

hoher Verstädterungsgrad, die lange Geschichte<br />

der Stadtentwicklung in den Jahrh<strong>und</strong>erten vor<br />

der Motorisierung <strong>und</strong> die äußere Begrenzung<br />

durch Befestigungsmauern - all dies verteuerte<br />

städtischen Boden <strong>und</strong> förderte hoch verdichtetes<br />

Wohnen. In jüngerer Zeit gelang es mithilfe strenger<br />

stadtplanerischer Regelungen, unkontrolliertes<br />

Siedlungswachstum zu begrenzen.<br />

Niedere Bebauung. Wenngleich es in den größeren<br />

europäischen Städten eine ansehnliche Zahl<br />

vielstöckiger Apartmentkomplexe <strong>und</strong> vereinzelt<br />

hoch aufragende Bürotürme gibt, so überwiegen<br />

doch niedrige Stadtsilhouetten.. Dies hängt zum<br />

einen damit zusammen, dass ein Gutteil der Stadterweiterungsphasen<br />

bereits vor der Erfindung des<br />

elektrischen Fahrstuhls <strong>und</strong> der Entwicklung der<br />

stahlarmierten Betonbauweise erfolgte. Zum anderen<br />

begrenzten Gesamtpläne <strong>und</strong> Bauvorschriften,<br />

die teilweise bis in das 16. Jahrh<strong>und</strong>ert zurückgehen,<br />

die Gebäudehöhe, um die Dominanz monumentaler<br />

Bauwerke wie Paläste oder Kathedralen<br />

zu gewährleisten.<br />

Belebte Innenstädte: Da die Suburbanisierung im<br />

Gefolge der privaten Motorisierung relativ spät<br />

einsetzte <strong>und</strong> die Stadtplanung dem unkontrollierten<br />

Siedlungswachstum durch strenge Bestimmungen<br />

einen Riegel vorschob, konnten die City-Bereiche<br />

europäischer Städte ihre Bedeutung als Hauptgeschäftszentren<br />

des Einzelhandels <strong>und</strong> Knotenpunkte<br />

des gesellschaftlichen Lebens bewahren.<br />

Stabile Sozialstrukturen: Europäer wechseln ihren<br />

Wohnort durchschnittlich nur halb so oft<br />

wie Amerikaner. Darüber hinaus besitzen europäische<br />

Stadtviertel durch haltbarere Baumaterialien<br />

wie Backsteine <strong>und</strong> Naturstein eine längere physische<br />

Lebensdauer. Beides hat zur Folge, dass in<br />

europäischen Städten relativ stabile sozioökonomische<br />

Verhältnisse vorherrschen.<br />

Die W<strong>und</strong>en des Krieges: Europas Geschichte internationaler<br />

Konflikte ist den Städten in vielerlei<br />

Weise eingraviert. Burgen <strong>und</strong> Stadtmauern haben<br />

als Vermächtnis der Vergangenheit die moderne<br />

Stadtentwicklung beeinflusst, während die Bomben<br />

des Zweiten Weltkriegs in vielen Städten<br />

schwere Zerstörungen angerichtet haben.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 693<br />

12.11 Ulm Vom Ulmer Münster, mit<br />

161 Metern der höchste Kirchturm der Welt,<br />

eröffnet sich ein Blick aus der Vogelperspektive<br />

auf den zentralen Marktplatz der<br />

Stadt.<br />

Modell der Gliederung der deutschen Stadt<br />

A u to r: K. F rie d ric h<br />

Um land<br />

Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepubiric Deutschland<br />

a r O Institut für Länderk<strong>und</strong>e. Leipzig 2002<br />

' City oder Hauptgeschäfisbereich<br />

12.12 Modell der Gliederung der deutschen Stadt Seit der<br />

Gründerzeit haben sich deutsche Städte in ihrer Binnenstruktur<br />

zunehmend differenziert. An die idealtypisch ringförmige, früher<br />

von einer Stadtmauer umgebene Altstadt schließt sich ein<br />

gründerzeitlicher Wohn- <strong>und</strong> Gewerbering an, welcher häufig<br />

eine größere Fläche umfasst als die gesamte Altstadt. In der<br />

Zwischenkriegszeit entstanden weitere, häufig genossenschaftliche<br />

Wohngebiete, während im Umland im Zuge der<br />

Individualmotorisierung Ein- <strong>und</strong> Zweifamilienhausgebiete sowie<br />

junge Großwohngebiete entstanden. (Quelle: Friedrich, K.;<br />

Hahn, B.; Popp, H. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Daten <strong>und</strong> Städte. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag)<br />

2002, S. 17.)<br />

• Bauliche Symbole: Das Erbe einer langen <strong>und</strong><br />

wechselvollen Geschichte äußert sich in einer Fülle<br />

baulicher Symbole. Nicht nur eine große Zahl von<br />

Denkmälern <strong>und</strong> Standbildern erinnert an die<br />

Vergangenheit, sondern ebenso die Kathedralen,<br />

Kirchen <strong>und</strong> Klöster sowie die Häuser der Zünfte<br />

<strong>und</strong> Stadtmauern, herrschaftliche Residenzen <strong>und</strong><br />

Adelshäuser, aber auch Bibliotheken <strong>und</strong> Museen<br />

als Zeugnisse städtischen Bürgertums.<br />

• Soziale städtische Einrichtungen: Der Sozialstaat<br />

europäischer Prägung bietet ein breites Spektrum<br />

an Leistungen <strong>und</strong> Einrichtungen, vom Krankenhaus<br />

bis zum öffentlichen Personenverkehr. Der<br />

vielleicht wichtigste Aspekt hinsichtlich der Stadtstrukturen<br />

ist der soziale oder öffentliche Wohnungsbau,<br />

der in den meisten größeren Städten<br />

Englands, Frankreichs <strong>und</strong> Deutschlands zwischen<br />

20 <strong>und</strong> 40 Prozent des gesamten Wohnungswesens<br />

ausmacht. In jüngster Zeit hat sich im Zuge einer<br />

neoliberalen Politik das Angebot an sozialen Einrichtungen<br />

verringert, insbesondere in Frankreich<br />

<strong>und</strong> Großbritannien.<br />

Aufgr<strong>und</strong> der wechselvollen Geschichte <strong>und</strong> der Vielgestaltigkeit<br />

europäischer Landschaften gibt es regionale<br />

Variationen mit erhebliche Abweichungen von<br />

den oben aufgeführten Merkmalen: So sind die Industriestädte<br />

im Norden Englands <strong>und</strong> im Nordosten<br />

Frankreichs oder auch das Ruhrgebiet von ihrem<br />

Charakter her gänzlich verschieden von den Städten<br />

im mediterranen Süden Europas. Eine der interessantesten<br />

regionalen Variationen ist die ostmitteleuropäische<br />

Stadt, in der das Vermächtnis des 44 Jahre<br />

währenden Zwischenspiels der sozialistischen Ära<br />

(1945-1989) den vorher entstandenen Flächennutzungsmustern-<br />

<strong>und</strong> Sozialstrukturen übergestülpt


12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

12.13 Dubrovnik Oie<br />

Stadt Dubrovnik, an der<br />

Adriaküste in Kroatien<br />

gelegen, \wurde auf einem<br />

Gebirgssporn errichtet,<br />

welcher einen natürlichen<br />

Schutz bot. Zusätzlich<br />

wurden Mauern <strong>und</strong><br />

Befestigungsanlagen errichtet<br />

<strong>und</strong> während des<br />

gesamten Mittelalters<br />

verstärkt. Die heute noch<br />

bestehende Stadtmauer<br />

stammt aus dem 13.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

wurde. Als wichtige Beispiele seien Belgrad, Budapest,<br />

Katovice, Krakau, Leipzig, Prag <strong>und</strong> Warschau genannt.<br />

Wohnungswesen <strong>und</strong> Flächenplanung standen<br />

unter der Kontrolle des Staates, der ausgedehnte<br />

Plattenbausiedlungen <strong>und</strong> Industriekomplexe außerhalb<br />

der Städte aus dem Boden stampfen ließ (Abbildung<br />

12.16). Die alten Stadtkerne haben sich dagegen<br />

kaum verändert, abgesehen von sozialistischen Monumenten<br />

<strong>und</strong> geänderten Straßennamen.<br />

I<br />

Städtebau <strong>und</strong> Stadtplanung<br />

Stadtplanung <strong>und</strong> Stadtgestaltung haben eine lange<br />

Geschichte. Wie bereits aufgezeigt wurde, besaßen<br />

die meisten Städte des Römischen Reiches <strong>und</strong> des<br />

antiken Griechenlands regelmäßige Schachbrettstrukturen,<br />

innerhalb derer die Lage der wichtigen<br />

Gebäude <strong>und</strong> die Beziehungen der einzelnen Viertel<br />

zueinander sorgfältig bedacht waren.<br />

I , I<br />

12.14 Köln 1945 Köln war während des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts eine der größten Städte des späteren Deutschland <strong>und</strong> ein wichtiges<br />

Handelszentrum am Rhein. In mehreren schweren Bombenangriffen seit 1942 wurde die Stadt in ihrem Kernbereich zu 90 Prozent<br />

zerstört. Nur noch wenige Tausend Menschen hausten im Mai 1945 in den Ruinen. Eines der wenigen Gebäude, das den Bombenhagel<br />

überlebt hatte, war der im 13. Jahrh<strong>und</strong>ert begonnene <strong>und</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vollendete Dom.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 695<br />

Kulturgenetische Stadtforschung<br />

Die kulturgenetische Stadtforschung versucht, für verschiedene<br />

Kulturerdteile charakteristische Stadttypen herauszuarbeiten.<br />

Das Konzept der Kulturerdteile wurde vor allem von<br />

Albert Kolb in den 1960er-Jahren fortentwickelt. Kolb versteht<br />

unter einem Kulturerdteil einen „Raum subkontinentalen Ausmaßes,<br />

[...] dessen Einheit auf dem individuellen Ursprung der<br />

Kultur, auf der besonderen einmaligen Verbindung der landschaftsgestaltenden<br />

Natur- <strong>und</strong> Kulturerdteile, auf der eigenständigen,<br />

geistigen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Ordnung <strong>und</strong> dem<br />

Zusammenhang des historischen Ablaufs beruht“ (zitiert nach<br />

Ehlers 1996).<br />

Entsprechend wurden von Geographen kulturgenetische<br />

Stadttypen ausgewiesen, deren Zahl allerdings bei verschiedenen<br />

Autoren schwankt. Letztlich hängen Zahl wie Differenzierung<br />

auch von der jüngeren Forschungsgeschichte ab. So gibt<br />

es zu lateinamerikanischen oder nordamerikanischen Städten<br />

<strong>und</strong> auch zur islamisch-orientalischen Stadt ein recht umfangreiches<br />

neueres Schrifttum, während die Forschung zu japanischen<br />

oder australischen Städten in der deutschsprachigen<br />

Geographie erst später eingesetzt hat. Zur chinesischen Stadt<br />

gibt es fast kein neueres Schrifttum, <strong>und</strong> für den afrikanischen<br />

Kontinent südlich der Sahara lässt sich nur schwer ein einheitlicher<br />

Stadttyp ausmachen.<br />

H. Gebhardt<br />

Die kulturgenetischen Stadttypen <strong>und</strong> ihre Zuordnung zu den Kulturerdteilen nach Kolb<br />

nach Kolb 1962 nach Beaujeu-Garnier/Chabot 1963 nach Holzner 1967 nach Hofmeister 1980<br />

abendländischer Kulturerdteil<br />

Nordeuropa, Zentral- <strong>und</strong> Westeuropa,<br />

Mediterranes Europa Osteuropa<br />

Europa<br />

Europa<br />

russischer Kulturerdteil Traditionelles Russland Sowjetasien Sowjetunion Russland-Sowjetunion<br />

orientalischer Kulturerdteil Orient (Moyen Orient), Nordafrika Orient Israel Orient (einschl. Israel)<br />

indischer Kulturerdteil Süd- <strong>und</strong> Südostasien Südasien Indien<br />

sinischer Kulturerdteil Ferner Osten (Extrême Orient) Ostasien (ohne Japan)<br />

Japan<br />

China Japan<br />

indopazifischer Kulturerdteil Südostasien Südostasien<br />

austral-pazifischer<br />

Kulturerdteil<br />

Australien/Neuseeland Australien/Neuseeland Australien/Neuseeland<br />

negrider Kulturerdteil Afrika südlich der Sahara Zentral- <strong>und</strong> Südafrika Tropisch-Afrika Südafrika<br />

germanisch-amerikanischer<br />

Kulturerdteil<br />

ibero-amerikanischer<br />

Kulturerdteil<br />

Quelle: Hofmeister 1993<br />

Amerika nördlich des Rio Grande Angloamerika Angloamerika<br />

Amerika südlich des Rio Grande Lateinamerika Lateinamerika<br />

fl<br />

Die Ursprünge der modernen westlichen Stadtplanung<br />

<strong>und</strong> -gestaltung lassen sich bis in die Epochen<br />

der Renaissance <strong>und</strong> des Barock (zwischen dem 15,<br />

<strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>ert) in Europa zurückverfolgen,<br />

ln jener Zeit entwarfen Künstler <strong>und</strong> Intellektuelle<br />

Visionen der idealen Stadt, <strong>und</strong> mächtige <strong>und</strong> vermögende<br />

Herrscher bedienten sich der Stadtgestaltung,<br />

um extravagante Symbole ihres Reichtums, ihrer<br />

Stärke <strong>und</strong> ihres politischen Anspruchs zu schaffen.<br />

Von den klassischen Kunststilen der Antike inspiriert,<br />

war die Stadtplanung der Renaissance geprägt durch<br />

ein gezieltes zur Schau Stellen der Macht <strong>und</strong> des<br />

Glanzes von Staat <strong>und</strong> Kirche. Von seinem Ursprungsland<br />

Italien breitete sich der Renaissancestil<br />

nach <strong>und</strong> nach über ganz Europa aus <strong>und</strong> hatte bis<br />

zum Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts die meisten größeren<br />

Städte erreicht. Neue Errungenschaften im militärischen<br />

Bereich (Geschütze <strong>und</strong> Artillerie) lösten<br />

eine Welle planmäßiger Umgestaltungen aus, die in<br />

eindrucksvollen Befestigungsanlagen, geometrisch<br />

konstruierten Redouten oder Bollwerken, <strong>und</strong> in ausgedehnten<br />

militärischen g/aas, nach außen geneigten<br />

freien Schussfeldern, ihren Niederschlag fanden. Innerhalb<br />

der neuen Fortifikationen wurden die Städte


696 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

m<br />

'W| vrvr I<br />

«<br />

T<br />

■<br />

'4<br />

•>T<br />

12.15 Typische Merkmale europäischer Altstädte a) Trento: Blick auf das nächtliche Stadtzentrum, b) Der Marktplatz von Brügge<br />

mit seinen Kaufmannshäusern <strong>und</strong> dem bronzenen Denkmal zweier Helden aus dem flandrischen Befreiungskampf des 14. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

c) Siena in der Toskana als Beispiel für eine historisch gewachsene kompakte europäische Stadt, Blick auf den Altstadtkern<br />

mit gotischem Dom. d) Die slowenische Hauptstadt Ljubljana zeigt die typische bauliche Mischung der zentralen Bereiche europäischer<br />

Städte: im Vordergr<strong>und</strong> Kirchen <strong>und</strong> Verwaltungsgebäude aus der Zeit der Habsburger Monarchie, im Hintergr<strong>und</strong> jüngere<br />

Bauten aus der sozialistischen Zeit <strong>und</strong> teilweise nach 1990 errichtete Neubauten, e) Die Stadtmauer rings um die Altstadt der<br />

estnischen Hauptstadt Talinn wurde aufwendig restauriert, f) Paris. Sacre Coeur. Kirchen <strong>und</strong> Monumentalbauten sind ein wichtiger<br />

Bestandteil des symbolreichen Erscheinungsbildes europäischer Städte. Sacré Coeur wurde zwischen 1879 <strong>und</strong> 1919 erbaut, die<br />

Freitreppe vor der Kirche ist ein beliebtes Ziel vor allem für jugendliche Touristen.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 697


698 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

12.16 Sozialer Wohnungsbau Großwohngebiete<br />

<strong>und</strong> sozialer Wohnungsbau,<br />

häufig aus vorgefertigten Bauteilen, sind<br />

Kennzeichen der meisten ehemals sozialistischen<br />

Städte in Osteuropa aus der Zeit<br />

zwischen 1950 <strong>und</strong> 1990. Die Aufnahme<br />

oben zeigt Petrzalka (deutsch: Engerau), eine<br />

große Satellitenstadt der slowakischen<br />

Hauptstadt Bratislava. Auf einer Fläche von<br />

etwa 29 Quadratkilometern wohnen hier<br />

über 100 000 Einwohner. Petrzalka hat die<br />

höchste Einwohnerdichte in der Slowakei.<br />

Eine ähnliche Großwohnsiedlung befindet<br />

sich östlich der estnischen Hauptstadt<br />

Tallinn (unten). In den Stadtteilen Lasnamäe<br />

<strong>und</strong> Maardu leben überwiegend nach dem<br />

Zweiten Weltkrieg zugezogene Russen.<br />

Stadtentwicklungsphasen in Mitteleuropa<br />

1. Römische Städte (um Christi Geburt bis ungefähr<br />

Mitte des 5. Jahrh<strong>und</strong>erts)<br />

2. Mittelalterliche Stadttypen<br />

• frühmittelalterliche Keimzellen (ab dem 8. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

zum Beispiel aus Königshöfen <strong>und</strong> Pfalzen, aus Dom<strong>und</strong><br />

Klosterburgen oder frühen Kaufmannsiedlungen hervorgegangene<br />

städtische Siedlungen)<br />

• „Mutterstädte“ (bis 1150; Kaufmannssiedlungen, die neben<br />

geistlichen oder weltlichen Zentren entstanden sind;<br />

sie haben sich von Flandern aus bis an Elbe <strong>und</strong> Saale ausgebreitet)<br />

• ältere Gründungsstädte des Hochadels (etwa 1150- 1250;<br />

planmäßige Stadtgründungen als Instrumente kaiserlicher<br />

<strong>und</strong> fürstlicher Machtpolitik, zum Beispiel der Zähringer)<br />

• jüngere Gründungen des niederen Adels, Klein- <strong>und</strong> Zwergstädte<br />

(etwa 1200- 1400; hauptsächlich in territorial zersplitterten<br />

Gebieten)<br />

3. Frühneuzeitliche Stadttypen<br />

• Kolonisationsstädte (zum Beispiel Bergbaustädte des 15.<br />

<strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>erts, an Erzf<strong>und</strong>e geb<strong>und</strong>en)<br />

• Exulantenstädte von protestantischen Glaubensflüchtlingen<br />

im 16. bis 18. Jahrh<strong>und</strong>ert (vor allem in Hessen <strong>und</strong><br />

Preußen)<br />

• absolutistische Gründungsstädte (Residenz-, Festungs<strong>und</strong><br />

Garnisonsstädte der Renaissance <strong>und</strong> des Barock<br />

aus dem 16./17. Jahrh<strong>und</strong>ert sowie 17./18. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

4. Industriestädte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

• meist auf der Basis großer Industrieunternehmen, zum Beispiel<br />

Ludwigshafen oder Leverkusen<br />

H. Gebhardt (Quelle: Heineberg 2000)<br />

n<br />

nach einer neuen Ästhetik in großem Stil umgestaltet.<br />

Es entstanden ausgedehnte geometrische Gr<strong>und</strong>rissmuster,<br />

neue Straßenbilder <strong>und</strong> Parkanlagen, die auf<br />

die Erzeugung atemberaubender Perspektiven ausgerichtet<br />

waren. Diese Entwicklungen prägten mancherorts<br />

ganzen Städten des 18. <strong>und</strong> sogar 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ihren unverkennbaren Stempel auf, als Befestigungsanlagen<br />

Lind/oder Glacis den Platz räumen<br />

mussten für Ringstraßen, Gleiskörper <strong>und</strong> Parkanlagen.<br />

Je mehr die gesellschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen<br />

Verhältnisse mit dem Übergang zum industriellen<br />

Kapitalismus an Komplexität gewannen, desto stärker<br />

waren nationale <strong>und</strong> städtische Autoritäten bestrebt,<br />

mithilfe einer entsprechenden Stadtgestaltung sowohl<br />

Ordnung, Sicherheit <strong>und</strong> ein reibungslosen Funktionieren<br />

des urbanen Lebens zu gewährleisten, als auch<br />

den neuen Machtzentren Symbolkraft zu verleihen.<br />

Einen der wichtigsten Marksteine setzte Napoleon<br />

III., der in Paris ein umfangreiches Programm zur<br />

Stadtentwicklung <strong>und</strong> monumentalen Neugestaltung<br />

verfolgte. Verwirklicht wurden die Pläne von Baron<br />

Georges Haussmann in den Jahren von 1853 bis<br />

1870. Haussmann ließ große Teile des alten Paris niederreißen,<br />

um Raum zu gewinnen für breite, von<br />

Bäumen gesäumte Boulevards (Abbildung 12.17),


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 699<br />

12.17 Boulevard Montmartre,<br />

Paris. Die Pariser<br />

Innenstadt wird durch ihre<br />

„grands boulevards“ geprägt,<br />

welche auf die<br />

Stadterneuerung des<br />

Barons Georges-Eugène<br />

Hausmann zwischen 1853<br />

<strong>und</strong> 1870 zurückgehen.<br />

(Quelle: Camille Pisarro<br />

(1930-1903) Der Boulevard<br />

Montmartre in Paris.)<br />

zahlreiche öffentliche Plätze sowie Monumente. Dadurch<br />

wurde die Stadt nicht nur in vielerlei Hinsicht<br />

effizienter (die Verkehrsströme konnten durch die<br />

breiten Prachtstraßen besser fließen) <strong>und</strong> lebenswerter<br />

(Parks <strong>und</strong> Grünanlagen, von denen man sich<br />

auch „zivilisierende“ Wirkung versprach, brachten<br />

Luft <strong>und</strong> Licht in die dicht bevölkerte Stadt), sondern<br />

auch sicherer vor revolutionären Bestrebungen (Barrikaden<br />

waren auf den geräumigen Boulevards<br />

schwieriger zu errichten, Monumente <strong>und</strong> Standbilder<br />

stärkten den Bürgersinn <strong>und</strong> das Gefühl von<br />

Identität).<br />

Die bevorzugte Stilrichtung der neuen Gestaltungselemente<br />

war die des Beaux-Arts, die ihren<br />

Namen von der Pariser Ecole des Beaux-Arts erhielt.<br />

Die Schule lehrte zukünftige Architekten, Elemente<br />

der Klassik, des Barock <strong>und</strong> der Renaissance in die<br />

neue Formensprache des Industriezeitalters einfließen<br />

zu lassen. Dahinter stand das Bestreben, die<br />

neuen Bauwerke harmonisch in die Ensembles historischer<br />

Paläste, Kathedralen <strong>und</strong> öffentlicher Gebäude<br />

einzufügen, welche die europäischen Stadtzentren<br />

beherrschten. Haussmanns Ideen gewannen großen<br />

Einfluss <strong>und</strong> wurden vielerorts kopiert. Eines der berühmtesten<br />

Beispiele ist die Wiener Ringstraße.<br />

Im frühen 20. fahrh<strong>und</strong>ert rief der Druck der<br />

Industrialisierung <strong>und</strong> Verstädterung neue intellektuelle<br />

<strong>und</strong> künstlerische Reaktionen hervor, die<br />

sich in der Bewegung des Modernismus bündelten.<br />

Dieser war geprägt von der Vorstellung, dass Gebäude<br />

<strong>und</strong> Städte wie Maschinen gestaltet sein <strong>und</strong> funktionieren<br />

sollten. Ebenso ging es den Modernisten<br />

darum, mithilfe der Stadtgestaltung nicht die bestehenden<br />

soziokulturellen Werte zu reflektieren,<br />

sondern die Herausbildung einer neuen Moral <strong>und</strong><br />

einer neuen Gesellschaftsordnung voranzutreiben.<br />

12.18 Bauhaus Dessau In der Zeit nach<br />

dem Ersten Weltkrieg entstand eine städtebauliche<br />

Zäsur, der kulturell-geistige Aufbruch<br />

einer ganzen Generation von Gestaltern.<br />

Kulturoptimistisch befürworteten ihr<br />

Vertreter wie Mies van der Rohe oder Walter<br />

Gropius die Möglichkeiten der Technik. Die<br />

organisatorischen <strong>und</strong> technischen Mittel der<br />

Industrialisierung sollten eine neue Architektur,<br />

eine neue Stadtplanung, eine neue<br />

Gestaltung des gesamten Umweltdesigns<br />

möglich machen, welches nicht nur einer<br />

schmalen Oberschicht, sondern der breiten<br />

Masse des Volkes zugute kommen sollte.


700 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Der bekannteste Vertreter dieser Bewegung war Le<br />

Corbusier. Der gebürtige Schweizer schuf in Paris<br />

die Gr<strong>und</strong>lagen zu einer technokratischen Stadtgestaltung.<br />

Seine Gebäude zielten darauf ab, die Technik<br />

zu überhöhen, man bediente sich industrieller<br />

Produktionsverfahren, nutzte neue, moderne Materialien,<br />

lehnte Verzierungen ab <strong>und</strong> bevorzugte eine<br />

klare <strong>und</strong> funktionale Gestaltung (vgl. das Bauhaus<br />

in Deutschland, Abbildung 12.18).<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses gestalterische<br />

Konzept zum vorherrschenden Leitbild <strong>und</strong><br />

führte letztlich zu dem, was man den „internationalen<br />

Stil“ nennt: kastenförmige Beton- <strong>und</strong> Stahlskelettbauten<br />

mit verglasten Fronten. Der internationale<br />

Stil war zur jener Zeit Avantgarde <strong>und</strong> ermöglichte<br />

zudem ein vergleichsweise kostengünstiges Bauen.<br />

Eben jene Tradition der Stadtgestaltung war es, die<br />

mehr als alles andere zur Uniformität der Städte beitrug.<br />

Mit der Globalisierung breitete sich der internationale<br />

Stil auf die großen Städte in allen Teilen der<br />

Welt aus. Überdies war er oft die bevorzugte gestalterische<br />

Gr<strong>und</strong>lage für umfangreiche Stadterneuerungsprojekte<br />

überall auf der Welt. Eines der eindrucksvollsten<br />

Beispiele ist Brasilia, die Hauptstadt<br />

Brasiliens. Im Jahre 1956 gegründet, sollte die neue<br />

Stadt den politischen, ökonomischen <strong>und</strong> psychologischen<br />

Blick weg von der Vergangenheit <strong>und</strong> den<br />

früheren Kolonialstädten an der Küste hin auf die Zukunft<br />

des Landes <strong>und</strong> seine inneren Regionen lenken<br />

(Kapitel 7).<br />

Die moderne Stadtgestaltung erlebte zahlreiche<br />

Krisen, <strong>und</strong> zwar vorwiegend deshalb, weil sie die<br />

Städte ihrer gewachsenen Strukturen <strong>und</strong> ihrer Vitalität<br />

beraubte <strong>und</strong> die Vielfalt auf den Menschen zugeschnittener<br />

Umgebungen durch monotone <strong>und</strong><br />

nüchterne Räume ersetzte. Als Reaktion hierauf wurde<br />

die Bewahrung historischer Gebäude <strong>und</strong> Ensembles<br />

überall dort zu einem wichtigen Instrument<br />

der Stadtplanung, wo die nötigen Mittel zu Verfügung<br />

standen.<br />

Die islamisch-orientalische Stadt<br />

Islamische Städte sind ein anschauliches Beispiel dafür,<br />

wie sich soziale <strong>und</strong> kulturelle Prägungen <strong>und</strong> die<br />

Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt<br />

in der Stadtgestalt widerspiegeln können (Abbildung<br />

12.19). Tatsächlich sind es die Ähnlichkeiten<br />

der Stadtbilder, der Stadtanlage <strong>und</strong> der Gebäudeformen,<br />

die es Geographen ermöglichen, von der islamisch-orientalischen<br />

Stadt als einer eigenen Kategorie<br />

zu sprechen. Diese umfasst Tausende von Städten<br />

nicht nur auf der Arabischen Halbinsel <strong>und</strong> im Vor-<br />

12.19 Shibam Die Stadt Shibam im<br />

Wadi Hadramaut im Jemen liegt am alten<br />

Handelsweg der Weihrauchstraße. Aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer „Hochhausarchitektur“ aus luftgetrockneten<br />

Lehmziegeln bezeichnen sie<br />

Reiseführer auch gerne als Chicago in der<br />

Wüste. Abgesehen davon weist sie gleichwohl<br />

einige charakteristische Merkmale der<br />

traditionellen islamisch-orientalischen Stadt<br />

auf: dichte Bebauung, durchgängige Ummauerung,<br />

Privatheit der einzelnen „Wohntürme“.<br />

Die Stadt liegt leicht erhöht inmitten<br />

des Wadibetts, das hier in einer Breite von<br />

r<strong>und</strong> 6 Kilometern in das Schichttafelland<br />

eingetieft ist.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 701<br />

12.20 Moscheen in Sana Die Altstadt<br />

der jemenitischen Hauptstadt wird von den<br />

Minaretten von über 70 Moscheen überragt.<br />

Die Hauptmoschee der Stadt soll noch zu<br />

Lebzeiten Mohammeds errichtet worden<br />

sein.<br />

deren Orient, sondern ebenso in den Regionen, in die<br />

der Islam erst später gelangte: Nordafrika, die Küstengebiete<br />

Ostafrikas, Süd- <strong>und</strong> Zentralasien sowie Indonesien.<br />

Viele Elemente der typischen islamisch-orientalischen<br />

Stadt finden sich darüber hinaus in Südspanien<br />

(Sevilla, Granada, Córdoba), dem am weitesten<br />

westlich gelegenen Gebiet, das unter dem Einfluss des<br />

Islam stand, sowie in Nordnigeria (Kano) <strong>und</strong> Tansania<br />

(Daressalam), der südlichen Ausdehnungsgrenze,<br />

<strong>und</strong> auch auf den Philippinen (Davao), der östlichsten<br />

Verbreitungsgrenze des Islam.<br />

Das herausragende Merkmal der traditionellen islamisch-orientalischen<br />

Stadt ist die jami, die Hauptmoschee.<br />

Zentral gelegen, ist die Moschee nicht nur<br />

Gotteshaus, sondern auch Bildungsstätte <strong>und</strong> Mittelpunkt<br />

zahlreicher gemeinschaftlicher Aktivitäten. Mit<br />

dem Wachstum der Städte entstanden zu deren Rändern<br />

hin neue, kleinere Moscheen (Abbildung 12.20).<br />

Die islamisch-orientalische Stadt war zum Schutz vor<br />

Angreifern von einer mit Aussichtstürmen besetzten<br />

Stadtmauer umgeben, <strong>und</strong> sie besaß häufig eine Kasbah<br />

oder Zitadelle, mit Palastgebäuden, Bädern, Kasernen,<br />

eigenen Läden <strong>und</strong> einer eigenen Moschee.<br />

Üblicherweise regelten Tore den Einlass in die<br />

Stadt. An ihnen wurden fremde Besucher kontrolliert<br />

<strong>und</strong> Steuern von den Händlern genommen. Die<br />

Hauptstraßen führten von den Toren zu den überdeckten<br />

Basaren <strong>und</strong> den offenen Märkten (suqs)<br />

der Stadt (Abbildung 12.21). Die der Hauptmoschee<br />

am nächsten gelegenen suqs sind gewöhnlich auf die<br />

wertvollsten Waren wie Gold <strong>und</strong> Silber, Bücher, Parfüm,<br />

Gebetsteppiche spezialisiert. Die suqs in der<br />

Nähe der Stadttore bieten eher sperrige <strong>und</strong> weniger<br />

hochwertige Produkte an. Dort erhält man Gr<strong>und</strong>nahrungsm.ittel,<br />

Baumaterialien, Textilien, Lederwaren,<br />

Töpfe <strong>und</strong> Pfannen. Im Innern der suqs hatte<br />

jeder Beruf <strong>und</strong> jeder Geschäftszweig eine eigene<br />

Gasse, <strong>und</strong> auch die Wohnbezirke rings um die<br />

Märkte waren nach Berufsgruppen, bisweilen auch<br />

nach ethnischer beziehungsweise der Stammeszugehörigkeit,<br />

in verschiedene Viertel unterteilt.<br />

Abgeschlossenheit nach außen ist ein zentrales<br />

Element der islamisch-orientalischen Stadtarchitektur<br />

(Exkurs „Europäische <strong>und</strong> islamisch-orientalische<br />

Altstädte im Vergleich). Die Fensteröffnungen sind<br />

häufig klein <strong>und</strong> schmal <strong>und</strong> befinden sich über Augenhöhe<br />

(Abbildung 12.22). Die meisten Straßen <strong>und</strong><br />

Gassen enden blind, <strong>und</strong> verwinkelte Eingänge schützen<br />

vor neugierigen Blicken. Die größeren Wohnhäuser<br />

ordnen sich um einen Innenhof, der den<br />

nach außen abgeschlossenen Mittelpunkt des häuslichen<br />

Lebens bildet.<br />

12.21 Der orientalische suq Ein typisches Kennzeichen der<br />

islamisch-orientalischen Stadt ist der überdachte oder offene<br />

Markt. Er besteht aus zahllosen kleinen Läden <strong>und</strong> Durchgängen,<br />

wobei Betriebe einer Branche in der Regel benachbart<br />

liegen. Hochrangige Geschäfte liegen meist in unmittelbarer<br />

Nachbarschaft zur Hauptmoschee, während das lautere<br />

Handwerk in der Peripherie angesiedelt ist. Die Aufnahme zeigt<br />

eine suq-Gasse in Aleppo, Syrien.


702 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

12.22 Islamische Architektur In islamh<br />

sehen Gesellschaften spielt Privatheit des<br />

Wohnens eine große Rolle <strong>und</strong> es werden<br />

durch die Architektur <strong>und</strong> bauliche Maßnahmen<br />

Vorkehrungen getroffen, insbesondere<br />

die Frauen vor den Blicken Fremder zu<br />

schützen. So liegen die Fenster oft hoch über<br />

den Gassen <strong>und</strong> werden durch Läden abgeschirmt,<br />

wie dieses Beispiel aus Jeddah,<br />

Saudi-Arabien zeigt. Solche baulichen Maßnahmen<br />

dienen aber auch dem Schutz vor<br />

der Sonne.<br />

rl<br />

i<br />

12.23 Häuser im Ziz-Tal, Marokko Wie<br />

ein Blick aus der Vogelperspektive zeigt,<br />

besteht die islamisch-orientalische Altstadt<br />

aus dicht gedrängten Häusern mit Innenhöfen<br />

- eine zellenförmige Stadtstruktur, die<br />

den Bewohnern ein hohes Maß an Privatsphäre<br />

erlaubt.<br />

[ H )ettm ann 1989<br />

2J<br />

Hauptmsschae<br />

Bazar<br />

Wohnquartitre<br />

Zitadelle<br />

Muslim./Chrisil. Friedhof<br />

Subzentrum mH Moschee,<br />

lokalem Bazar, öffenii. Bad u. ä.<br />

landticha Märkte<br />

Stadtmauer<br />

Reparaturläden, Tankstellen. Garagen I<br />

Einkaufs- <strong>und</strong> GeschäftsstraBen<br />

mit westlichem Warenangebot<br />

I<br />

j<br />

12.24 Modell der islamisch-orientalischen Stadt Das Abbildungspaar zeigt Modellvorstellungen zur orientalisch-islamischen<br />

Stadt von Dettmann (1969) <strong>und</strong> Ehlers (1991). Beiden Abbildungen gemeinsam ist die innere Gliederung der Altstadt mit zentraler<br />

Moschee <strong>und</strong> den daran anschließenden sug-Bereichen (Bazarbereichen) sowie die ethnisch-religiöse Differenzierung der umgebenden<br />

Wohnviertel. Eine Ummauerung mit außerhalb gelegenen Friedhöfen schließt das Gefüge ab. In der Abbildung von Ehlers wird<br />

überdies auf jüngere Veränderungen der islamisch-orientalischen Altstädte wie Straßendurchbrüche <strong>und</strong> das Eindringen von Geschäftsbereichen<br />

mit westlichem Warenangebot sowie - andeutungsweise - auf regelmäßige, geplante Stadterweiterungen außerhalb<br />

verwiesen.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 703<br />

Europäische <strong>und</strong> islamisch-orientalische Altstädte im Vergleich<br />

Islamisch-orientalische Altstädte haben bis ins 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

hinein weniger Umformungen erfahren als unsere europäischen<br />

Städte. Sie sind somit in vielem Zeugnisse einer traditionellen,<br />

vorindustriellen Kultur, die noch weitgehend intakt<br />

in die Gegenwart hineinragen (Bianca 1988). Die sie bestimmenden<br />

Prägekräfte <strong>und</strong> Akteure waren <strong>und</strong> sind dabei andere<br />

als in unserer europäischen Stadtkultur. Bianca (1988)<br />

schreibt hierzu zusammenfassend:<br />

„Die europäische Stadt (...) entstand primär aus einem politischen<br />

Impuls, einer Bürgerbewegung, die sich gegen die Bevorm<strong>und</strong>ung<br />

durch Adel <strong>und</strong> Kirche erhob <strong>und</strong> zur Entstehung<br />

unabhängiger Stadtstaaten führte <strong>und</strong> schließlich in der Säkularisierung<br />

des Staates mündete. Ihre Dynamik war <strong>und</strong> blieb<br />

von sozialkämpferischen Aspekten geprägt, <strong>und</strong> sie war in<br />

sehr viel höherem Maße auf weltliche Institutionen, bürokratische<br />

Ordnungsmechanismen <strong>und</strong> so weiter angewiesen, die<br />

ihrerseits immer wieder Anlaß zu Legitimationsfragen <strong>und</strong> entsprechenden<br />

Machtkämpfen gaben, die die historische Entwicklung<br />

in der Neuzeit bestimmt haben.“<br />

Eugen Wirth (1991) sieht daher im Gegensatz zwischen<br />

Privatheit im islamischen Orient versus Öffentlichkeit im<br />

Okzident den zentralen Gegensatz <strong>und</strong> zugleich das Spezifikum<br />

der orientalischen Stadt. Er schreibt:<br />

„In der Stadt unseres europäischen Mittelalters <strong>und</strong> der<br />

Neuzeit sind gr<strong>und</strong>sätzlich alle Areale <strong>und</strong> Standorte öffentlich<br />

<strong>und</strong> damit allgemein zugänglich. Wer in der Stadt über Haus<strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>besitz verfügte, war Bürger <strong>und</strong> hatte überall Zutritt.<br />

Die städtische Bürgergemeinde ist eine gr<strong>und</strong>sätzlich öffentliche<br />

Einrichtung, <strong>und</strong> die Privatbereiche waren dementsprechend<br />

reduziert. (...) Die Kirchen (...) waren selbstverständlich<br />

allgemein zugänglich, <strong>und</strong> erst recht die Rathäuser, die Zunfthäuser<br />

<strong>und</strong> so weiter (...) Selbst Haus <strong>und</strong> Wohnung, ja die<br />

Stube als Aufenthaltsort der Eamilie standen Mitbürgern<br />

<strong>und</strong> auswärtigen Geschäftsfre<strong>und</strong>en offen. Beschränkend<br />

wirkte allenfalls, daß der Eremde vom gleichen Stand sein<br />

mußte.“<br />

Ganz anders sind Haus <strong>und</strong> Stadt im Orient. Nicht nur, dass<br />

die Häuser nicht nach außen repräsentieren, sondern ihrer<br />

meist äußerst schlichten Außenseite eine reiche Innenausstattung<br />

mit Innenhöfen <strong>und</strong> so weiter gegenübersteht, auch die<br />

funktionale Aufteilung der Wohnhäuser folgt einem ganz anderen<br />

Modell. Als schützendes Gehäuse für die Eamilie ist<br />

es von der Straße durch hohe <strong>und</strong> kahle Außenmauern abgeschirmt.<br />

Um indiskrete Blicke, das jähe Eindringen Unbefugter<br />

zu verhindern, sind die Vorräume <strong>und</strong> Korridore lang, dunkel<br />

<strong>und</strong> verwinkelt. Vor allem ist das Hausinnere immer zweigeteilt:<br />

in behütete, meist r<strong>und</strong> um einen Innenhof angeordnete<br />

Räume, in denen Frauen, Kinder <strong>und</strong> Dienstboten leben <strong>und</strong><br />

Besucher keinen Zutritt haben, zum anderen in den „Salon-<br />

Teil“, in dem der Hausherr (männliche) Gäste empfängt (Weiss<br />

1999).<br />

Wie das Haus, so setzt sich auch die Stadt aus zwei Bereichen<br />

zusammen - einem öffentlichen, bestehend aus<br />

Moscheen, Märkten <strong>und</strong> den Hauptverkehrswegen <strong>und</strong> einem<br />

privaten, der die Häuser, die Wohnquartiere <strong>und</strong>, als halbprivate<br />

Zwischenzonen, die Sackgassen einschließt.<br />

Die typischen Charakteristika orientalischer Städte -<br />

Sackgassengr<strong>und</strong>riss der Wohnviertel, sichtgeschütztes Innenhofhaus,<br />

Quartierstruktur-sind gleichsam Stein gewordener<br />

Ausdruck für den Rückzug aus der Öffentlichkeit. Wirth<br />

(1991) hat am Beispiel von Fez gezeigt, welchen Umfang<br />

aus der öffentlichen Nutzung herausgenommene Flächen in<br />

dieser Stadt ausmachen. Letztlich sind in dieser marokkanischen<br />

Stadt bis heute nur die größeren Durchgangsachsen<br />

<strong>und</strong> die von Passanten durchströmten Verbindungsgassen<br />

zwischen dem Stadtzentrum <strong>und</strong> den Toren sowie der zentrale<br />

Marktbezirk mit den angrenzenden Hauptgeschäftsstandorten<br />

ein öffentlicher Bereich ohne Jede Einschränkung. Bereits<br />

halb-privat sind Einrichtungen der Quartierbasare sowie hammams<br />

(Badehäuser), Brunnen, Mühlen, Bäckereien <strong>und</strong> Kaffeehäuser<br />

der Wohnviertel. Alles andere ist Privatsphäre, die entweder<br />

unzugänglich ist oder deren Zugang Beschränkungen<br />

unterliegt.<br />

Die Erklärung für diese unterschiedliche Handhabung von<br />

privatem <strong>und</strong> öffentlichem Raum ist in einer anderen politischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Organisationsform der orientalischen<br />

Stadt zu suchen. Orientalische Städte verfügten über wenig<br />

staatliche Institutionen, kannten keine eigene politische Hoheit<br />

<strong>und</strong> kamen mit einem Minimum an öffentlicher Verwaltung<br />

aus, die zum großen Teil auf informeller Basis geregelt<br />

wurde, durch Absprache <strong>und</strong> Konsens zwischen den geachtetsten<br />

Familienoberhäuptern <strong>und</strong> den Vertretern der koranischen<br />

Lehre.<br />

H. Gebhardt<br />

Da die meisten islamischen Städte in troclcenen<br />

<strong>und</strong> heißen Klimabereichen liegen, bildeten sich diese<br />

städtebaulichen Prinzipien in Verbindung mit praktischen<br />

Lösungen zum Schutz vor Sonneneinstrahlung<br />

<strong>und</strong> Hitze heraus. Gekrümmte, möglichst<br />

enge Straßen <strong>und</strong> Gassen gewähren ein Höchstmaß<br />

an Schatten, ebenso die mit Lattenwerk vergitterten<br />

Fenster <strong>und</strong> die wabenförmigen, von Innenhöfen<br />

durchsetzten Bauformen der Wohnviertel. In einigen<br />

Regionen beinhaltet der lokale Architekturstil Belüftungsschächte<br />

<strong>und</strong> Kamine mit verstellbaren Klappen,<br />

die dafür sorgen, dass kein Staub in das Haus<br />

gelangen kann.<br />

Alle diese Merkmale sind noch heute für islamisch-orientalische<br />

Städte charakteristisch, wenn<br />

sie auch in ihrer ursprünglichen Form fast nur<br />

noch in den alten Stadtkernen, den medinas, zu finden<br />

sind. Wie Städte überall auf der Welt sind auch<br />

die islamischen Städte deutlich von der Globalisierung<br />

gekennzeichnet. Die Auswirkungen zeigen<br />

sich in internationalen Hotelketten <strong>und</strong> Geschäften,<br />

Wolkenkratzern <strong>und</strong> Bürokomplexen, modernen Fa-


704 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

i<br />

- - . n - i<br />

« n * ▼ « t I I ,<br />

finiiUfli,.<br />

S-4* *5l a_J_<br />

12.25 Dubai (Vereinigte Arabische<br />

Emirate) <strong>und</strong> Beirut (Libanon) Wie an<br />

Orten überall auf der Welt zeigen sich auch in<br />

den Städten der islamisch-orientalischen<br />

Welt die Auswirkungen der Globalisierung.<br />

Die Globalisierung der Wirtschaft spiegelt<br />

sich in den Hotels internationaler Ketten wie<br />

dem Burj al Arab in Dubai (Foto oben) <strong>und</strong> in<br />

den Bürogebäuden transnationaler Unternehmen<br />

wider; die kulturelle Globalisierung<br />

findet ihren Ausdruck in den allgegenwärtigen<br />

westlichen Konsumgütern <strong>und</strong> Medienfirmen<br />

wie dem Virgin Megastore im Stadtzentrum<br />

von Beirut.<br />

briken, Schnellstraßen <strong>und</strong> Flughäfen (Abbildung<br />

12.25). Größere islamisch-orientalische Städte, unter<br />

ihnen Algier, Ankara, Kairo, Istanbul <strong>und</strong> Teheran,<br />

teilen heute mit anderen Städten der weltwirtschaftlichen<br />

Peripherie das Schicksal unkontrollierbaren<br />

Wachstums mit Hüttenvierteln oder Squattersiedlungen<br />

<strong>und</strong> der Ausbreitung von Großwohnsiedlungen<br />

für untere Einkommensklassen.<br />

Städte in Ländern der<br />

^ Peripherie<br />

Die Städte in der Peripherie des modernen kapitalistischen<br />

Weltsystems, die man oft auch als Drittweltstädte<br />

bezeichnet hat, sind zahlreich <strong>und</strong> überaus verschieden.<br />

Allen gemein ist jedoch ein beispielloses<br />

Wachstum infolge des Massenzustroms ländlicher<br />

Bevölkerung - angetrieben eher von den Push-Faktoren<br />

der Übervölkerung <strong>und</strong> mangelnden Einkommensquellen<br />

in den ländlichen Gebieten als von<br />

dem Pull-Faktor aussichtsreicher Beschäftigung in<br />

den Städten. Angesichts übervölkerter ländlicher Gebiete<br />

sehen viele den Umzug in die Stadt als eine Art<br />

Lotterie an; Man zieht ein Los (mit anderen Worten,<br />

man geht in die Stadt) in der Hoffnung, den Jackpot<br />

zu knacken (anders ausgedrückt, um eine gute Beschäftigung<br />

zu finden). Doch wie es bei Lotterien<br />

üblich ist, die meisten verlieren. Das größte Problem<br />

der Städte ist jedoch die Unterbeschäftigung. Von<br />

Unterbeschäftigung spricht man, wenn Menschen<br />

nicht die volle Zeit arbeiten, obwohl sie es gerne wollten.<br />

Unterbeschäftigung ist schwer zu messen, entsprechend<br />

stark variieren die Angaben. Schätzungen<br />

zufolge liegt ihr Anteil in den Städten der Peripherie<br />

bei 30 bis 50 Prozent der Beschäftigten.<br />

Wegen ihres schnellen Wachstums <strong>und</strong> weit verbreiteter<br />

Unterbeschäftigung finden sich unter den<br />

Metropolen Mexiko-Stadt (Mexiko), Säo Paulo (Bra-


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 705<br />

silien), Lagos (Nigeria), Mumbai (Indien, das frühere<br />

Bombay), Dhaka (Pakistan), Jakarta (Indonesien),<br />

Karatschi (Pakistan) <strong>und</strong> Manila (Philippinen) die<br />

Anwärter auf den Titel einer shock city des 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts - das heißt einer Stadt, welche die<br />

extremsten <strong>und</strong> bedenklichsten Veränderungen des<br />

wirtschaftlichen, sozialen <strong>und</strong> kulturellen Lebens<br />

verkörpert.<br />

Wie im Vorangegangenen deutlich wurde, spielen<br />

die typischen Metropolen der Peripherie eine Schlüsselrolle<br />

im internationalen Wirtschaftskreislauf, indem<br />

sie die ländlichen <strong>und</strong> von kleineren Städten<br />

geprägten Regionen mit der hierarchischen Ebene<br />

der Weltstädte verknüpfen <strong>und</strong> damit in die globale<br />

Ökonomie einbinden. Innerhalb der peripheren<br />

Metropolen kommt es so zu einem ausgeprägten<br />

Dualismus beziehungsweise einem räumlichen Nebeneinander<br />

des formellen <strong>und</strong> des informellen Wirtschaftssektors.<br />

Dieser Dualismus prägt in hohem<br />

Maß die gebaute Umgebung solcher Städte, in denen<br />

moderne Büro- <strong>und</strong> Wohntürme sowie luxuriöse<br />

Villen mit Slums <strong>und</strong> Hüttensiedlungen kontrastieren<br />

(Abbildung 12.26).<br />

Der informelle Wirtschaftssektor<br />

In vielen Städten peripherer Ländern ist mehr als ein<br />

Drittel der Bevölkerung auf Tätigkeiten im informellen<br />

Sektor angewiesen, in einigen —zum Beispiel<br />

Chennai (Indien), Colombo (Sri Lanka), Delhi (Indien),<br />

Guayaquil (Ecuador) <strong>und</strong> Lahore (Pakistan)<br />

- ist es sogar mehr als die Hälfte. Menschen, die keine<br />

regulär bezahlte Beschäftigung finden, nehmen Zu-<br />

12.26 Rio de Janeiro<br />

Das Bild zeigt den Blick<br />

auf den berühmten Strand<br />

von Ipanema der Stadt<br />

Rio di Janeiro. Man kann<br />

deutlich die Zweiteilung<br />

der Stadt erkennen, mit<br />

Favelas (Slums) im Vordergr<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> den Luxusapartments<br />

nahe dem<br />

Strand.


12 Raumsystem Stadt: Strukturen un^ ^ o z e s s e<br />

12.27 Informelles Wirtschaften In Städten, in denen Arbeit<br />

im formellen Wirtschaftssektor rar ist, suchen die Menschen<br />

Beschäftigung im informellen Sektor, der eine große Bandbreite<br />

an Tätigkeiten kennt, angefangen von verschiedensten Handwerkstätigkeiten<br />

<strong>und</strong> einfachen Dienstleistungen, aber auch<br />

Kinderarbeit <strong>und</strong> Prostitution.<br />

flucht zu verschiedenen Arten der notdürftigen Existenzsicherung.<br />

Manche Strategien sind überaus erfinderisch,<br />

andere hoffnungslos <strong>und</strong> wieder andere<br />

menschenunwürdig. Die Beispiele reichen vom Straßenverkauf<br />

<strong>und</strong> dem Schuheputzen über handwerkliche<br />

Arbeiten <strong>und</strong> kleine Reparaturen an der Straßenecke<br />

bis hin zum Sammeln von verwertbarem<br />

Abfall auf Müllkippen (Abbildung 12.28). Der informelle<br />

Sektor besteht aus einem breiten Spektrum von<br />

Tätigkeiten <strong>und</strong> trägt zur Milderung der Armut bei.<br />

Überleben bedeutet jedoch für zu viele, betteln, gegen<br />

Gesetze verstoßen oder sich prostituieren zu müssen.<br />

Beschäftigungen wie das Verkaufen von Reiseandenken,<br />

Personen mit der Rikscha zu befördern, das<br />

Brauen von Bier im eigenen Hinterhof, für andere<br />

Briefe zu schreiben oder Schneiderarbeiten zu erledigen,<br />

mögen aus Sicht der globalen Ökonomie höchst<br />

marginal erscheinen, doch weltweit muss mehr als<br />

1 Milliarde Menschen sich mithilfe solcher Tätigkeiten<br />

ernähren, kleiden <strong>und</strong> eine Bleibe verschaffen. In<br />

zahlreichen Städten der Peripherie bestreitet mehr als<br />

die Hälfte aller Bewohner auf diese Weise den Lebensunterhalt.<br />

Auf dem afrikanischen Kontinent wächst<br />

nach einer Schätzung des International Labor Office<br />

die Beschäftigung im informellen Sektor zehnmal<br />

schneller als der reguläre Arbeitsmarkt.<br />

In den meisten Entwicklungsländern schließt der<br />

informelle Sektor Kinderarbeit ein. In Verhältnissen<br />

extremer Armut muss jedes Mitglied der Familie zum<br />

Lebensunterhalt beitragen - auch Kinder sind hiervon<br />

nicht ausgenommen. Industriebetriebe profitieren<br />

häufig von diesem Umstand. Viele Firmen vergeben<br />

Produktionsaufträge an Subunternehmer, die<br />

nicht in Fabriken, sondern in der häuslichen Umgebung<br />

mithilfe von Kinderarbeit ausgeführt werden.<br />

Die Einhaltung von gesetzlichen Standards lässt<br />

sich dort so gut wie nicht überwachen. Auf den Philippinen<br />

schaffen Syndikate scharenweise Kinder aus<br />

den ländlichen Regionen in die Hinterhofbetriebe der<br />

Bekleidungsbranche in den Städten.<br />

Trotz dieser dunklen Seiten hat der informelle Sektor<br />

auch einige positive Aspekte. Beispielsweise stellen<br />

Rikschas ein erschwingliches, die Umwelt nicht belastendes<br />

Verkehrsmittel in den überfüllten Metropolen<br />

dar. Müllsammler, deren Tätigkeit in westlichen<br />

Augen schlimm <strong>und</strong> beschämend ist, liefern einen<br />

nicht unerheblichen Beitrag zur Wiederverwertung<br />

von Papier, Eisen, Glas <strong>und</strong> Kunststoffprodukten.<br />

12.28 Informelle Müllsammler<br />

Marisol <strong>und</strong> ihre Mutter Eloisa<br />

sammeln leere Büchsen auf der<br />

städtischen Müllkippe in Matamoros,<br />

Mexiko, wo Marisol einmal eine<br />

Frauenleiche fand. Das Ereignis<br />

veranlasste Eloisa, ihre Tochter<br />

endgültig von hier wegzubringen<br />

<strong>und</strong> auf die „andere Seite“, zu ihrem<br />

Mann Vinicio zu geben, der sich<br />

bereits legal in den Vereinigten<br />

Staaten aufhält <strong>und</strong> dort einer<br />

regulären Arbeit nachgeht.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 707<br />

Eine in Mexiko-Stadt durchgeführte Studie gelangt zu<br />

der Einschätzung, dass mehr als 25 Prozent des Mülls<br />

der r<strong>und</strong> 10 000 Menschen, die auf den offiziellen<br />

Müllplätzen der Stadt arbeiten, sortiert <strong>und</strong> wieder<br />

in den Wertstoffkreislauf zurückgeführt werden. Dieser<br />

positive wirtschaftliche Beitrag wiegt indes<br />

schwerlich die Armut <strong>und</strong> die Erniedrigung derer<br />

auf, die ihn tagtäglich erbringen.<br />

Stadtgeographen erkennen im informellen Sektor<br />

auch eine wichtige Ressource für den formellen Sektor<br />

peripherer Volkswirtschaften. Denn er liefert eine<br />

breite Palette billiger Güter <strong>und</strong> Dienste, welche die<br />

Lebenshaltungskosten der Angestellten im formellen<br />

Sektor verringern <strong>und</strong> es Arbeitgebern somit ermöglichen,<br />

die Löhne niedrig zu halten. Wenngleich dieses<br />

Netzwerk kein städtisches Wirtschaftswachstum<br />

erzeugt <strong>und</strong> auch die Armut nicht lindert, so erhält<br />

es indirekt die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen<br />

im Kontext des globalen Wirtschaftssystems.<br />

Insbesondere auf den Export ausgerichtete Firmen erhalten<br />

aus dem informellen Sektor eine beachtliche<br />

indirekte Unterstützung für ihre Produktion. Darüber<br />

hinaus gilt es zu berücksichtigen, dass von diesem<br />

Beitrag in vielen Fällen noch die Verbraucher in<br />

den Kernländern profitieren, <strong>und</strong> zwar in Form von<br />

niedrigeren Preisen für die in der Peripherie erzeugten<br />

Güter <strong>und</strong> Waren.<br />

Das Beispiel der Papierindustrie in Cali, Kolumbien,<br />

mag dies verdeutlichen. Dieser Industriezweig<br />

wird von einem einzigen Unternehmen, Cartón de<br />

Colombia, dominiert, das 1944 mit nordamerikanischem<br />

Kapital gegründet <strong>und</strong> später stückweise von<br />

der Mobil Oil Company aufgekauft wurde. Die<br />

größte Menge der Papiererzeugnisse niedriger Qualität<br />

wird aus recyceltem Altpapier hergestellt, das zu<br />

60 Prozent von lokalen Müllsammlern angeliefert<br />

wird. Zwischen 1 000 <strong>und</strong> 1 200 solcher Müllsammler<br />

gibt es in Cali. Manche von ihnen arbeiten auf den<br />

städtischen Müllkippen, andere durchkämmen Einkaufsstraßen<br />

<strong>und</strong> Industriegebiete, wieder andere<br />

klappern die Routen der städtischen Müllabfuhr ab<br />

<strong>und</strong> machen sich über die Müllbehälter her, bevor<br />

der Lkw kommt. Sie alle sind Teil des informellen<br />

Sektors von Cali, da sie weder bei Cartón de Columbia<br />

angestellt sind, noch irgendeine Art von<br />

Vertrag mit dem Unternehmen oder einem seiner<br />

Vertreter haben. Sie sehen einfach zu, dass sie das<br />

täglich gesammelte Papier verkaufen. Auf diese Weise<br />

umgeht die Firma die Zahlung von Löhnen <strong>und</strong><br />

Abgaben, während sie die Preise für abgeliefertes<br />

Altpapier unterschiedlicher Qualität diktiert. Das<br />

Unternehmen kann so wirtschaftlich arbeiten <strong>und</strong><br />

die Preise seiner Produkte niedrig halten - ein auf<br />

die Mikroebene verkleinertes Modell der Beziehungen<br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie.<br />

I<br />

Slums der Hoffnung, Slums der<br />

Verzweiflung_________________<br />

Zwischen dem informellen Arbeitsmarkt <strong>und</strong> shantytowns<br />

oder Squattersiedlungen besteht ein direkter<br />

Zusammenhang: Weil es viel zu wenige reguläre<br />

lobs mit fester Bezahlung gibt, können nur wenige<br />

Familien das Geld für angemessenen Wohnraum aufbringen.<br />

Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung <strong>und</strong><br />

Armut bringen räumliche Enge mit sich. In Situationen,<br />

in denen die Zuwanderung in die Städte den Bestand<br />

an erschwinglichem Wohnraum aufgezehrt hat<br />

<strong>und</strong> die Bauwirtschaft neue Wohnungen nicht im<br />

notwendigen Umfang schaffen kann, entstehen unweigerlich<br />

notdürftige Behausungen, im besten Fall<br />

Hütten. Solchen Unterkünften bleiben nur die billigsten<br />

<strong>und</strong> am wenigsten geschätzten Gr<strong>und</strong>stücke. Sie<br />

entstehen daher oft auf dem nackten Fels, hoch über<br />

Schluchten, auf verwahrlostem Gelände, in morastigen<br />

Arealen oder an steilen Hängen. Fast immer fehlt<br />

jegliche Infrastruktur, gibt es weder Straßen noch irgendwelche<br />

Versorgungseinrichtungen. In manchen<br />

Fällen bedeutet diese Art des behelfsmäßigen Wohnens<br />

eine Anpassung an die extremsten „ökologischen<br />

Nischen“. So leben etwa in Lima die Müllsammler<br />

bei den riesigen Abfallhalden, <strong>und</strong> in Kairo<br />

richten sich die Ärmsten der Armen seit Generationen<br />

so gut es eben geht in den Katakomben <strong>und</strong><br />

auf den Friedhöfen der Stadt ein. In vielen Städten<br />

sind mehr als die Hälfte aller Wohnungen unter<br />

dem Standard. Nach Schätzungen der Vereinten<br />

Nationen lebten im Jahr 2004 weltweit mehr als<br />

1,1 Milliarden Menschen in ungenügenden Unterkünften.<br />

Die Globalisierung <strong>und</strong> die aus ihr resultierende<br />

Tendenz zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik<br />

haben die Armut <strong>und</strong> das Problem der Ausbreitung<br />

von Slums in vielen Städten weiter verschlimmert. In<br />

einem Bericht des United Nations Settlement Program<br />

aus dem Jahr 2004 heißt es dazu: „Der Sparkurs<br />

der öffentlichen Hand zur Verringerung von Haushaltsdefiziten<br />

war teilweise mit einem Zurückfahren<br />

von öffentlichen Leistungen <strong>und</strong> einer Privatisierung<br />

staatlicher Unternehmen verb<strong>und</strong>en, wodurch die<br />

Beschäftigtenzahlen im öffentlichen Sektor in zahlreichen<br />

Ländern erheblich zurückgingen. Die Liberalisierung<br />

des Handels hat in vielen Fällen das Aus<br />

für Industriezweige bedeutet, die im Wettbewerb gegen<br />

Billigimporte nicht mithalten konnten. Dies


708 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Neue Formen von urban governance <strong>und</strong> die Befestigung<br />

der Stadt durch private Sicherungssysteme<br />

m<br />

I<br />

I !<br />

Viele Megastädte unserer Erde, insbesondere die ausufernden<br />

Metropolen der „Drittweltstaaten“ in Afrika, Asien <strong>und</strong> Lateinamerika,<br />

sind in Teilen ihres Stadtgebiets zu „Angsträumen“<br />

geworden. Die downtown von Chicago, die Favelas von Rio di<br />

Janeiro, aber auch das Stadtzentrum von Johannesburg sind<br />

gleichsam Synonyme dieser<br />

von Stadt. In den<br />

Slums oder Favelas solcher Großstädte haben sich in den letzten<br />

Jahrzehnten neue Formen von urban governance Jenseits<br />

der Verantwortung der Stadtverwaltung oder des Staates<br />

herausgebildet, welche vor allem von „Schatten-Aktivitäten“<br />

im weitesten Sinn bestimmt sind (Drogenkartelle, Prostitution,<br />

informelle Wirtschaft). Politologen bezeichnen entsprechende<br />

Stadträume als „gewaltoffene Räume“ (Risse 2005), welche<br />

spezielle Probleme aufweisen <strong>und</strong> durch charakteristische<br />

Akteurskonstellationen geprägt sind. Ähnlich wie formelle<br />

Institutionen haben auch diese alternativen Organisationsformen<br />

die Funktion, für die Slumbevölkerung Güter wie Arbeit,<br />

Ges<strong>und</strong>heitsversorgung, mitunter auch Bildung bereitzustellen.<br />

Daher beruhen auch solche informellen Prozesse<br />

neuer urban governance „auf einer minimalen Verlässlichkeit<br />

<strong>und</strong> Funktionstüchtigkeit sozialer Beziehungen, auf begründetem<br />

Vertrauen“ , weshalb soziales <strong>und</strong> auch politisches Kapital<br />

der Akteure im Sinne Bourdieus eine wesentliche Komponente<br />

solcher governance-formen darstellt.<br />

Allerdings entstehen dabei unabhängige Subsysteme, Parallelgesellschaften<br />

in den Städten, welche durch die öffentliche<br />

Hand <strong>und</strong> ihre Organe letztlich nicht mehr zu kontrollieren<br />

sind. Diese Formen von Fragmentierung beziehungsweise<br />

Auseinanderfallen des Stadtraums in ein Mosaik verschiedener,<br />

durch innere Homogenität gekennzeichnete Bereiche<br />

werden begleitet von der Ausweisung sicherer Areale, der<br />

„Einhegung“ von Einrichtungen für die formelle Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> die Mittelschichtbevölkerung, die sich vor allem in geschützten<br />

Einkaufsarealen, in geschützten Wohnarealen <strong>und</strong><br />

geschützten Ferienanlagen zeigt. In Nordamerika vollzieht<br />

sich dieser Prozess schon seit längerem. Private Sicherheitsunternehmen,<br />

Mauern, Elektrozäune <strong>und</strong> Tore sind Ausdruck<br />

einer wachsenden Angst der in den gated communitles lebenden<br />

Menschen vor Gewalt <strong>und</strong> Kriminalität - beziehungsweise<br />

vor dem Rest der Stadt.<br />

Ein charakteristisches Phänomen in diesem Kontext, das<br />

vor allem in Südostasien oder in den USA zu beobachten<br />

ist, sind sogenannte skywalks. Als skywalks, skybridges<br />

oder auch pedways werden meist überdachte Gänge bezeichnet,<br />

die auf Höhe des ersten oder zweiten Stocks zwei oder<br />

mehr Gebäude über die Straße miteinander verbinden. Ähnlich<br />

wie Passagen, welche die Möglichkeiten bieten, wetterunabhängig<br />

einzukaufen, bieten skywalks einen warmen - beziehungsweise<br />

in den Tropen einen kalten - <strong>und</strong> trockenen Übergang<br />

vom Parkhaus oder der U-Bahn-Station ins Geschäfts<strong>und</strong><br />

Einkaufszentrum. Dabei bildet sich eine regelrechte<br />

dual-level downtown soclety heraus. Auf Höhe der abgasgeschwängerten<br />

<strong>und</strong> schwülheißen Straßen machen sich die ambulanten<br />

Händler, die Straßenverkäufer, die billigen Reparaturwerkstätten,<br />

Gemüsehändler, Schuhputzer <strong>und</strong> der viertelsbezogene<br />

Handel für die einfachen Leute breit, auf der zweiten<br />

Ebene der Schnellbahn <strong>und</strong> der skywalks herrschen die Luxusläden<br />

für Bekleidung <strong>und</strong> Schmuck, für Lifestyle-Produkte <strong>und</strong><br />

die verschiedensten Dienstleistungen vor. Sicherheitsdienste<br />

<strong>und</strong> Videoüberwachunng, aber auch der Eindruck von Privatheit<br />

<strong>und</strong> die teuren Geschäfte, luxuriösen Hotels <strong>und</strong> so weiter<br />

halten ärmere Menschen automatisch davon ab, das geschlossene<br />

Gänge-Geschäfte-System zu betreten. „In reactlon to the<br />

worsening social cllmate, the skywalk System became [...] a<br />

fortress, al fHter, a refuge“. Geschlossene skywalk-Systeme<br />

werden zu Zufluchtsstätten vor sichtbarer Armut, physischem<br />

Verfall der öffentlichen Innenstädte <strong>und</strong> vor Kriminalität <strong>und</strong><br />

bieten damit ganz neue Möglichkeiten einer virtual spatial<br />

apartheid, die durch ein reales Oben (skywalks) <strong>und</strong> Unten<br />

(öffentliche Straße) in der Stadt entsteht.<br />

H. Gebhardt<br />

führte zu massiven Einbrüchen bei der Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> zu erhöhter Arbeitslosigkeit. Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> wachsende Armut in Städten zwangen große Teile<br />

der Bevölkerung in den informellen Sektor. Auch<br />

schlecht bezahlte, in regulären oder formellen Arbeitsverhältnissen<br />

stehende Beschäftigte mussten<br />

sich im informellen Sektor betätigen, um überleben<br />

zu können. Die Folgen waren ein Einbrechen der<br />

Steuereinnahmen <strong>und</strong> eine abnehmende Fähigkeit<br />

nationaler <strong>und</strong> lokaler Regierungen, die ärmere Bevölkerung<br />

mit gr<strong>und</strong>legenden sozialen <strong>und</strong> anderen<br />

Leistungen zu unterstützen. Der Wegfall von Preisbindungen<br />

bei Gr<strong>und</strong>bedarfsgütern sowie erhöhte<br />

Versorgungskosten infolge von Privatisierung [...]<br />

führten zu einer Zunahme von Ungleichheit <strong>und</strong><br />

Armut [...] Die Folge war, dass in Städten die primären<br />

Ressourcen sich überwiegend in den Händen<br />

der Reichen befanden.“<br />

Angesichts wachsender Slumviertel wussten sich<br />

die Städte erst oft nicht anders zu helfen, als die Siedlungen<br />

schlichtweg abzureißen. Ermuntert durch<br />

westliche Entwicklungsökonomen <strong>und</strong> Wohnungsbauexperten,<br />

versuchte man sich des Problems illegaler<br />

Ansiedlungen durch umfangreiche Vertreibungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> Räumaktionen zu entledigen. In<br />

Caracas (Venezuela), Lagos (Nigeria), Bangkok<br />

(Thailand), Kolkata (Indien, ehemals Kalkutta),<br />

Manila (Philippinen) <strong>und</strong> zahllosen anderen Städten<br />

der Peripherie wurden H<strong>und</strong>erttausende Bewohner<br />

armseliger Hütten kurzfristig aufgefordert, diese zu


Stadtstrukturen im interkultureilen Vergleich 709<br />

verlassen, bevor die Bulldozer Platz schufen für<br />

öffentliche Bauten, Bodenspekulation, Luxusapartments<br />

<strong>und</strong> Stadterneuerungsmaßnahmen.Gelegentlich<br />

wollte man auch nur das Erscheinungsbild<br />

anlässlich eines wichtigen Besuchs verbessern. Die<br />

Vertreibung unliebsamer Bewohner wurde im südkoreanischen<br />

Seoul in einem Umfang praktiziert,<br />

der seinesgleichen sucht. Seit 1966 mussten im<br />

Zuge staatlicher Säuberungskampagnen Millionen<br />

von Menschen Unterkünfte verlassen, die ihnen gehörten<br />

oder für die sie Miete bezahlten. Zwischen<br />

1983 <strong>und</strong> 1988, in Vorbereitung auf die Olympischen<br />

Spiele 1988, verloren annähernd 750 000 Menschen<br />

infolge von Verschönerungsprogrammen ihr Zuhause.<br />

Doch im Unterschied zu vielen anderen Städten<br />

besaß Seoul die Mittel, anstelle der abgeräumten Siedlungen<br />

neue Wohnungen für die einkommensschwache<br />

Bevölkerung zu schaffen. Die Mehrzahl der peripheren<br />

Städte ist dazu nicht in der Lage. Den vertriebenen<br />

Slumbewohnern bleibt somit nichts anderes<br />

übrig, als neue Hütten <strong>und</strong> Baracken in einem anderen<br />

Teil der Stadt zu bauen. Durch die massive Zuwanderung<br />

wachsen diese Siedlungen häufig schneller<br />

aus dem Boden, als sie die Stadtverwaltungen beseitigen<br />

können. Angesichts der Vergeblichkeit dieser<br />

Maßnahmen hat man die Frage, ob eine solche Politik<br />

tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist, neu aufgeworfen.<br />

Heute hat sich das Denken dahingehend geändert,<br />

dass informelle Hüttensiedlungen als rationale<br />

Antwort auf Armut gesehen werden müssen. Solche<br />

Siedlungen bieten ihren Bewohnern nicht nur ein<br />

Dach über dem Kopf Sie sind zugleich Auffangstationen<br />

für Zuwanderer in die Städte, in denen informelle<br />

Beschäftigungsmöglichkeiten den Neuankömmlingen<br />

helfen, sich in das Stadtleben einzugliedern.<br />

Mit anderen Worten: Diese Viertel können „Slums<br />

der Hoffnung“ sein. Die zuständigen Stellen haben<br />

die positive Funktion des informellen Wohnungssektors<br />

<strong>und</strong> der Sclbsthilfemaßnahmen zur Verbesserung<br />

der Verhältnisse erkannt <strong>und</strong> als Alternative<br />

zu polizeilicher Vertreibung <strong>und</strong> Abriss mehr Toleranz<br />

<strong>und</strong> teils auch Bereitschaft zur Unterstützung gegenüber<br />

den Bewohnen solcher Ansiedlungen entwickelt.<br />

Tatsächlich sind viele informelle Siedlungen das<br />

Ergebnis sorgfältiger Planung. In Teilen Lateinamerikas<br />

beispielsweise ist es üblich, dass Aktivisten (community<br />

activists) Pläne für die Besetzung ungenutzter<br />

Flächen anfertigen, nach denen anschließend Hütten<br />

errichtet werden, bevor die Gr<strong>und</strong>stücksinhaber<br />

überhaupt reagieren können. Zur Strategie gehört<br />

es gewöhnlich auch, eine so große Zahl von Personen<br />

zu organisieren, dass die notwendige kritische Masse<br />

12.29 Selbsthilfe löst Wohnungsprobleme Wo sehr geringes <strong>und</strong> zudem äußerst unregelmäßiges Einkommen nicht für den<br />

Bau eines noch so einfachen Hauses oder einer kleinen Wohnung ausreicht <strong>und</strong> die Städte <strong>und</strong> Gemeinden Sozialwohnungen nicht<br />

in ausreichender Zahl zur Verfügung stellen können, ist Selbsthilfe oft der einzige Weg zu angemessenem Wohnraum. Eine der<br />

erfolgreichsten Maßnahmen, durch die lokale Behörden zum eigenen Bauen ermuntern können, besteht darin, die entsprechenden<br />

Voraussetzungen zu schaffen. Dazu gehören die Bereitstellung von Freiflächen mit vorbereiteten F<strong>und</strong>amenten für kleine Wohnungen<br />

sowie die Installation einfacher Einrichtungen der Wasserversorgung <strong>und</strong> der Abwasserentsorgung. Dieser sites-and-services-Ansatz<br />

ist zu einer Hauptstütze der städtischen Wohnungsbaupolitik in vielen Ländern der Peripherie geworden. Das Foto zeigt ein<br />

solches Projekt in Ndola, Sambia.


710 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

I I<br />

i I<br />

' I<br />

I I<br />

erreicht wird, um in Verhandlungen mit den Behörden<br />

eine Vertreibung verhindern zu können. Meist<br />

erfolgen solche blitzartigen Landbesetzungen bewusst<br />

in der Ferienzeit, um die Gefahr, schnell entdeckt zu<br />

werden, möglichst gering zu halten. Je mehr sich das<br />

Risiko einer Vertreibung im Laufe der Zeit verringert,<br />

desto mehr Bewohner informeller Siedlungen kommen<br />

in die Lage, ihre Behausungen in Eigenarbeit<br />

schrittweise verbessern zu können (Abbildung 12.29).<br />

Es gibt aber auch viele Squattersiedlungen, in denen<br />

sich Selbsthilfe <strong>und</strong> gemeinschaftliche Organisation<br />

nicht entwickeln. Stattdessen gewinnen grausame<br />

<strong>und</strong> erbarmungswürdige Verhältnisse die Oberhand.<br />

In den „Slums der Verzweiflung“ drängen<br />

sich die Menschen dicht an dicht, es mangelt an sanitären<br />

Einrichtungen <strong>und</strong> jeglicher Versorgung. Die<br />

Folgen sind ein schockierend hoher Anteil kranker<br />

Menschen sowie hohe Kindersterblichkeit, <strong>und</strong> die<br />

sozialen Verhältnisse könnten schlimmer nicht<br />

sein. Diese Merkmale treffen zum Beispiel auf die<br />

Hüttensiedlung von Chheetpur bei Allahabad (Indien)<br />

zu. Sie erstreckt sich auf einem Gelände, das<br />

während der Regenzeit überflutet wird. Da es keine<br />

Drainage gibt, steht das Wasser fast das ganze Jahr<br />

über in großen Lachen. Zwei Standrohre, unter<br />

freiem Himmel installierte Entnahmestellen, versorgen<br />

500 Menschen mit Trinkwasser, es gibt weder sanitäre<br />

Einrichtungen noch eine Müllabfuhr. Die<br />

meisten Bewohner nehmen weniger als das notwendige<br />

Minimum von 1 500 Kalorien täglich zu sich,<br />

90 Prozent aller Säuglinge <strong>und</strong> Kinder unter 4 Jahren<br />

sind unterernährt. Mehr als die Hälfte der Kinder <strong>und</strong><br />

der größte Teil der Erwachsenen leiden unter Darminfektionen<br />

durch Wurmbefall. Die Kindersterblichkeit<br />

ist hoch - wie hoch, weiß niemand genau zu<br />

sagen. Malaria, Tetanus, Diarrhöe, Ruhr <strong>und</strong> Cholera<br />

sind bei Kindern bis zu einem Alter von 5 Jahren die<br />

häufigsten Todesursachen.<br />

I Verkehrs- <strong>und</strong> Infrastrukturprobleme<br />

Der informelle Sektor findet seinen Niederschlag unter<br />

anderem in einer unzureichenden Infrastruktur.<br />

Da der informelle Sektor keine Steuereinnahmen generiert,<br />

fehlt den Städten <strong>und</strong> Gemeinden das Geld<br />

für den Bau von Straßen, Schulen <strong>und</strong> Versorgungseinrichtungen<br />

ebenso wie für die Bereitstellung <strong>und</strong><br />

den Betrieb von Verkehrsmitteln sowie einer funktionierenden<br />

Ambulanz. Zudem sind keine ausreichenden<br />

Mittel vorhanden, um für eine sichere <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e<br />

Umwelt zu sorgen. Obwohl die meisten Städte der<br />

Peripherie im Wettlauf gegen das Bevölkerungswachstum<br />

einen Großteil ihres Etats für Verkehrs<strong>und</strong><br />

andere Infrastruktureinrichtungen aufwenden,<br />

sind die Verhältnisse überwiegend schlecht; <strong>und</strong> sie<br />

verschlechtern sich immer schneller. Periphere Städte<br />

waren immer überfüllt <strong>und</strong> verstopft, doch in den<br />

letzten Jahren haben Modernisierungen im formellen<br />

Wirtschaftssektor zu einem nahezu völligen Infarkt<br />

geführt. In vielen Metropolen der peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Länder hat der motorisierte Individualverkehr<br />

enorm zugenommen. Eines der extremsten<br />

Beispiele ist Taipeh, Taiwan, wo sich die Zahl der<br />

Kraftfahrzeuge von ungefähr 11000 im Jahr 1960<br />

auf mehr als 1,35 Millionen im Jahr 2000 erhöht<br />

hat. Nicht nur, dass es mehr Menschen <strong>und</strong> damit<br />

mehr Verkehr gibt, auch die veränderte räumliche<br />

Organisation der Städte hat den Bedarf an Transport<br />

<strong>und</strong> Verkehr wachsen lassen. Traditionelle Landnutzungsmuster<br />

werden abgelöst von Agglomerationsprozessen,<br />

wie sie die moderne Industrie hervorbringt,<br />

<strong>und</strong> von Segregationsprozessen, wie sie charakteristisch<br />

für eine moderne Gesellschaft sind.<br />

Die einschneidendste Veränderung war die räumliche<br />

Aufspaltung von Wohn- <strong>und</strong> Arbeitsort, die zu einer<br />

starken Zunahme des Pendelverkehrs führte.<br />

Trotz etlicher Innovationen im Transportwesen<br />

steht in vielen Städten der Verkehr vor dem Kollaps.<br />

Die Straßen sind in einem desolaten Zustand <strong>und</strong><br />

meist verstopft, Kreuzungen hoffnungslos überlastet,<br />

<strong>und</strong> die Unfälle häufen sich. Viele Städte haben große<br />

Summen in neue Schnellstraßen investiert <strong>und</strong> Trassen<br />

verbreitert, überwiegend jedoch in den Zentren<br />

(in denen sich immer noch die Mehrzahl an Arbeitsplätzen,<br />

Dienstleistungen <strong>und</strong> sonstigen städtischen<br />

Funktionen konzentriert). Dadurch strömt noch<br />

mehr Verkehr in die überfüllten Innenstädte, die<br />

nun endgültig in einem Chaos aus Kraftfahrzeugen,<br />

Fahrrädern sowie von Tieren <strong>und</strong> Menschen gezogenen<br />

Karren versinken. Mit die schlimmsten Meldungen<br />

kommen aus Mexiko-Stadt, wo sich der Verkehr<br />

jeden Tag auf durchschnittlich 90 Kilometern staut,<br />

<strong>und</strong> aus Bangkok, wo die Fahrt vom Flughafen in<br />

die 15 Meilen entfernte Innenstadt bis zu 3 St<strong>und</strong>en<br />

dauern kann. In Säo Paulo bilden sich Autoschlangen<br />

von insgesamt bis zu 160 Kilometern Länge, in den<br />

Zeiten des Berufsverkehrs sind es durchschnittlich<br />

85 Kilometer, <strong>und</strong> 15 St<strong>und</strong>en dauernde Staus sind<br />

keine Seltenheit. Die Kosten, die durch verkehrsbedingte<br />

Verzögerungen entstehen, sind enorm. Nach<br />

Schätzungen belaufen sie sich in Singapur auf<br />

305 Millionen US-Dollar jährlich, in Bangkok erreichen<br />

sie eine Höhe von 272 Millionen Dollar - das<br />

entspricht r<strong>und</strong> 1 Prozent des thailändischen Bruttosozialprodukts.


Stadtstrukturen im interkulturellen Vergleich 711<br />

Wasserversorgung <strong>und</strong> Abwasserentsorgung stellen<br />

in vielen Städten ebenfalls ein akutes Problem<br />

dar (Abbildung 12.30). Die Definitionen, welche<br />

Menge sauberen Trinkwassers <strong>und</strong> welche sanitären<br />

Einrichtungen als erwünschter Standard anzusehen<br />

sind, variieren von Land zu Land. Wenngleich vielerorts<br />

eine Entfernung von 100 Metern zum nächsten<br />

Wasseranschluss als angemessen eingestuft wird, ist<br />

damit nicht gewährleistet, dass jeder Haushalt über<br />

ausreichend Wasser zum Erhalt der Ges<strong>und</strong>heit verfügt.<br />

Die öffentlichen Entnahmestellen sind häufig<br />

nur wenige St<strong>und</strong>en am Tag in Betrieb, sodass die Bewohner<br />

in langen Schlangen um einen einzigen Eimer<br />

Trinkwasser anstehen müssen. Im indischen Rajkot,<br />

einer Stadt mit 600 000 Einwohnern, gibt es nur an 20<br />

Minuten des Tages fließendes Wasser.<br />

Wie die Weltbank schätzt, haben nur etwa 65 Prozent<br />

der Stadtbewohner in geringer entwickelten<br />

Ländern Zugang zu ausreichend <strong>und</strong> sauberem<br />

Wasser, <strong>und</strong> nur r<strong>und</strong> 40 Prozent der Haushalte<br />

sind an die Kanalisation angeschlossen, deren Abwässer<br />

zu 90 Prozent ungeklärt in Seen, Flüsse<br />

oder das Meer gelangen. H<strong>und</strong>erte Millionen Stadtbewohner<br />

müssen mit verschmutztem Wasser oder<br />

12.30 Infrastrukturprobleme Geringe Einkommen haben<br />

ein geringes lokales Steuereinkommen zur Folge, was dazu<br />

führt, dass der Ausbau der Infrastruktur unterbleibt. Ein bestehendes<br />

Wohngebiet an Wasser- <strong>und</strong> Abwasserleitungen<br />

anzuschließen, ist mühsam <strong>und</strong> teuer. Ohne diese gr<strong>und</strong>legende<br />

Versorgung ist die allgemeine Ges<strong>und</strong>heit jedoch ernsthaft<br />

gefährdet. Das Bild zeigt den Bau von Wasserleitungen in einem<br />

solchen Gebiet in Cartagena, Kolumbien.<br />

mit Wasser ungewisser Qualität vorliebnehmen.<br />

Eine kleine Minderheit, gewöhnlich die Bewohner<br />

der wohlhabendsten Viertel, besitzt fließendes Wasser<br />

im Haus, während die große Mehrheit außerhalb<br />

Wasser holen <strong>und</strong> Zuhause Vorräte anlegen muss.<br />

Letztere sind oft gezwungen, kleine Mengen Wasser<br />

über große Entfernungen zu tragen oder ihren<br />

Bedarf aus Flüssen oder anderen Oberfiächenreservoiren<br />

zu decken (Abbildung 12.31). In Colombo,<br />

Sri Lanka, verfügt nur r<strong>und</strong> ein Drittel aller Häuser<br />

über einen Wasseranschluss, für ein weiteres Viertel<br />

steht fließendes Wasser außerhalb zur Verfügung. In<br />

Daressalam (Tansania), Kinshasa (Zaire) <strong>und</strong> vielen<br />

anderen Städten der Peripherie hat mehr als die<br />

Hälfte der Bevölkerung keinen Zugang zu fließendem<br />

Wasser, weder im Haus noch außerhalb des<br />

Hauses.<br />

In vielen Städten, unter anderem in Bangkok,<br />

Bogotá, Daressalam, Jakarta, Karatschi <strong>und</strong> Säo Paulo,<br />

wird nur ein Drittel oder ein Viertel des Abfalls<br />

gesammelt <strong>und</strong> abgeführt, der Rest wird anderweitig<br />

wiederverwertet, in Gullys, Kanäle oder Flüsse gekippt,<br />

oder aber man lässt ihn einfach verrotten.<br />

Nicht besser ist die Situation beim Abwasser. In<br />

Lateinamerika werden zum Beispiel nur etwa 2 Prozent<br />

des über die Kanalisation abgeführten Abwassers<br />

in irgendeiner Form behandelt. In Mexiko sind<br />

90 Prozent der Kläranlagen nicht betriebsbereit, <strong>und</strong><br />

in Städten wie Bogotá, Buenos Aires, Mexiko-Stadt<br />

<strong>und</strong> Santiago der Chile gelangen täglich 50 Millionen<br />

bis 60 Millionen Kubikmeter überwiegend ungeklärter<br />

Abwässer in nahe gelegene Gewässer. Säo Paulo<br />

besitzt mehr als 1 600 Kilometer offener Abwasserkanäle,<br />

<strong>und</strong> die Abwässer aus den Slumgebieten<br />

der Stadt gelangen ohne jegliche Aufbereitung in<br />

das Billing-Reservoir, einen der Hauptvorratsbehälter<br />

der städtischen Trinkwasserversorgung. In Bangkok<br />

nimmt die Kanalisation die Abwässer von weniger<br />

als 5 Prozent der Bevölkerung auf. Menschliche<br />

Fäkalien werden für gewöhnlich in Tanks <strong>und</strong> Sickergruben<br />

mit all ihren Ausflüssen entsorgt, ebenso<br />

wie die Abwässer von Wäschereien, Bädern <strong>und</strong><br />

Küchen in offenen Abflusskanälen enden. In Jakarta<br />

fehlt ein Abwassersystem gänzlich. Tanks stehen für<br />

etwa ein Viertel der Einwohner zur Verfügung, der<br />

Rest behilft sich mit Schächten, Gruben oder Straßengräben.<br />

Wie eine Befragung in mehr als 3 000 indischen<br />

Städten ergab, verfügen unter ihnen nur drei<br />

über ausreichende Kläranlagen, <strong>und</strong> in 209 Städten<br />

wird nur ein Teil der Abwässer aufbereitet. Entlang<br />

des Ganges liegen 114 Städte, die Tag für Tag ihre<br />

ungeklärten Abwässer in den Fluss leiten, vermengt<br />

mit den Abfallstoffen von DDT-Fabriken, Gerbe-


712 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

reien, Zellstoff- <strong>und</strong> Papierwerken, petrochemischen<br />

<strong>und</strong> Düngemittelbetrieben sowie anderen industriellen<br />

Verschmutzern. Der Yamuna-Fluss nimmt<br />

beim Durchfließen der Stadt Delhi jeden Tag 200 Millionen<br />

Liter unbehandelte Abwässer <strong>und</strong> 20 Millionen<br />

Liter industrielle Einleitungen auf. In China führten<br />

mangelhafte Abwassersysteme <strong>und</strong> die lediglich<br />

4,5 Prozent der Siedlungsabwässer aufnehmenden<br />

Kläranlagen in großen Teilen des Landes zu einer<br />

Verschlechterung der Wasserqualität. Weil die Wasserqualität<br />

in den Flüssen der Umgebung von<br />

Schanghai bedenklich zurückging, musste die Entnahmestelle<br />

der städtischen Wasserversorgung für<br />

umgerechnet 300 Millionen US-Dollar um 40 Kilometer<br />

flussaufwärts verlegt werden.<br />

Aber sogar aus diesen Problemen ergeben sich<br />

Möglichkeiten für den informellen Sektor. Straßenhändler<br />

verkaufen kleine Mengen Trinkwasser, das<br />

sie beispielsweise von privaten Brunnenbetreibern<br />

beziehen. Sie nehmen üblicherweise das Fünf- bis<br />

Zehnfache, in manchen Städten sogar das Sechzigoder<br />

H<strong>und</strong>ertfache dessen, was die öffentlichen Versorgungsunternehmen<br />

verlangen. Ähnliche informelle<br />

Mechanismen haben sich in einigen Städten<br />

hinsichtlich der Abwasserentsorgung herausgebildet.<br />

So beseitigen in etlichen asiatischen Städten Kleinunternehmer<br />

menschliche Abfälle über Nacht mit<br />

Handkarren. Bedauerlicherweise landet der Inhalt allzu<br />

häufig ebenfalls in Seen oder Flüssen, aus denen<br />

die ärmsten Bevölkerungsschichten wieder ihr Trinkwasser<br />

entnehmen.<br />

Umweltdegradation<br />

12.31 Probleme mit der Wasserversorgung Viele Städte<br />

der Peripherie sind so schnell <strong>und</strong> unter so ungünstigen Bedingungen<br />

gewachsen, dass ein großer Teil ihrer Bewohner<br />

keinen Zugang zu sauberem Wasser hat. Wo eine öffentliche<br />

Versorgung existiert, sei es durch Brunnen oder Steigrohre, ist<br />

der Wasserverbrauch durch den Aufwand an Zeit <strong>und</strong> Energie<br />

limitiert, den das Schöpfen oder Sammeln des Wassers <strong>und</strong> sein<br />

Transport nach Hause erfordert. Nicht selten teilen sich 500<br />

oder mehr Personen eine einzige Pumpe. Da Menschen mit<br />

geringem Einkommen meist sehr viele St<strong>und</strong>en am Tag arbeiten<br />

müssen, verlieren sie durch das Anstehen um Wasser <strong>und</strong> das<br />

Tragen der Eimer in die Wohnung Zeit, die sie sonst nutzen<br />

könnten, um Einkommen zu erzielen. Ist die pro Kopf verfügbare<br />

Wassermenge begrenzt, leidet darunter die persönliche Hygiene,<br />

weder Lebensmittel <strong>und</strong> Kleidung können ausreichend<br />

gewaschen noch Kochutensilien sauber gehalten werden. Wo es<br />

- wie in den meisten Armutssiedlungen - keinerlei öffentliche<br />

Wasserversorgung gibt, sind die Menschen auf private Wasserverkäufer<br />

angewiesen; sie verlangen oft das Zwanzig- bis<br />

Dreißigfache des Preises, den Haushalte mit Wasseranschluss<br />

zahlen. Private Verkäufer versorgen schätzungsweise mehr als<br />

ein Viertel der Bevölkerung in den Metropolen der Peripherie mit<br />

Wasser.<br />

Angesichts der drängenden Probleme der Armut, der<br />

Slumbildung <strong>und</strong> mangelnder Infrastruktur überrascht<br />

es nicht, dass die peripheren Städte zur Vermeidung<br />

oder Beseitigung von Umweltproblemen<br />

nur wenige Ressourcen einzusetzen imstande sind.<br />

Aufgr<strong>und</strong> des starken Bevölkerungswachstums eskalieren<br />

diese Probleme sehr schnell. Industrie- <strong>und</strong><br />

Haushaltsabwässer sammeln sich in Seen <strong>und</strong> Lagunen<br />

<strong>und</strong> verschmutzen lange Laufstrecken von Flüssen<br />

sowie Flussmündungen <strong>und</strong> Küstenstreifen. Aus<br />

wilden Müllkippen sickern Chemikalien in das<br />

Gr<strong>und</strong>wasser, <strong>und</strong> die Wälder in der Umgebung<br />

vieler Städte fallen dem Bedarf der Bevölkerung an<br />

Bau- <strong>und</strong> Brennholz zum Opfer. All dies beeinträchtigt<br />

unmittelbar die menschliche Ges<strong>und</strong>heit, ln<br />

solchen Umgebungen kommt es vermehrt zu Atemwegserkrankungen,<br />

Tuberkulose <strong>und</strong> Durchfall, die<br />

Lebenserwartung sinkt gegenüber der Bevölkerung<br />

in den umliegenden ländlichen Gemeinden. Für Kinder<br />

in Hüttensiedlungen ist die Wahrscheinlichkeit,<br />

das sechste Lebensjahr nicht zu erreichen, fünfzig<br />

Mal höher als bei Kindern, die in den reichen Industrieländern<br />

geboren werden.


Neue städtische Raumstrukuren: Polyzentrische Metropolregionen 713<br />

Zusätzlich hat die Luftverschmutzung in zahlreichen<br />

Städten ein ges<strong>und</strong>heitsschädliches Ausmaß erreicht.<br />

Mit der Entwicklung eines modernen Industriesektors<br />

<strong>und</strong> der steigenden Zahl an Kraftfahrzeugen,<br />

ohne wirksame Regelungen hinsichtlich Verschmutzungen<br />

<strong>und</strong> Emissionen, werden in den großen<br />

Städten täglich tonnenweise Blei, Schwefeloxide,<br />

Fluoride, Kohlenmonoxid, Stickoxide, petrochemische<br />

Oxidationsmittel <strong>und</strong> andere toxische Chemikalien<br />

in die Atmosphäre geblasen. Das Verbrennen von<br />

Holzkohle, Holz <strong>und</strong> Kerosin als Treibstoff sowie<br />

zum Heizen <strong>und</strong> Kochen in den ärmeren Vierteln<br />

trägt ebenfalls zur Luftverschmutzung bei. In Städten<br />

mit unzureichender Kanalisation gelangen zusätzlich<br />

Partikel getrockneter Fäkalien in die Luft. Weltweit<br />

leben nach Angaben der Vereinten Nationen mehr<br />

als 1,1 Milliarden Menschen in verstädterten Regionen,<br />

in welchen die Luftbelastungen die Grenzen des<br />

ges<strong>und</strong>heitlich Unbedenklichen überschreiten.<br />

Eine in 20 Megastädten durchgeführte Untersuchung<br />

der Vereinten Nationen kam zu dem Ergebnis,<br />

dass in jeder dieser Metropolen mindestens ein<br />

Hauptschadstoff über den Grenzwerten lag, welche<br />

die Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (World Health<br />

Organization, WHO) in ihren Richtlinien ausweist,<br />

ln 14 der 20 Städte überschritten zwei, in sieben<br />

Städten drei Hauptschadstoffe die von der WHO<br />

festgelegten Grenzen. Solche Luftbelastungen sind<br />

nicht nur unangenehm, sondern auch gefährlich,<br />

ln Manila auf den Philippinen haben im Auftrag<br />

der Asian Development Bank durchgeführte Messungen<br />

der Feinstaubkonzentrationen in der Luft Belastungen<br />

ergeben, die um 200 bis 400 Prozent über<br />

den Grenzwerten liegen. In Mexiko-Stadt, wo die<br />

Schwefeldioxid- <strong>und</strong> Bleikonzentrationen das Zweibis<br />

Vierfache der WHO-Grenzwerte betragen <strong>und</strong><br />

die landesweiten Ozonwerte an mehr als der Hälfte<br />

aller Tage eines Jahres stark erhöht sind, werden<br />

bei sieben von zehn Neugeborenen gefährlich hohe<br />

Bleigehalte im Blut nachgewiesen. Untersuchungen<br />

der WHO zeigen, dass das Einatmen von Luft mit<br />

einer Ozonkonzentration von mehr als 100 bis 120<br />

ppb (parts per billion) über den Zeitraum eines Tages<br />

innerhalb eines Jahres die Ges<strong>und</strong>heit schädigt. In<br />

Mexiko-Stadt werden die Grenzwerte indes an über<br />

300 Tagen des Jahres erreicht oder überschritten.<br />

In Bangkok, wo die Luftverschmutzung mindestens<br />

so stark ist wie in Mexiko-Stadt, haben Untersuchungen<br />

gezeigt, dass bleihaltige Luftverunreinigungen<br />

den Intelligenzquotienten von Kindern bis zur Vollendung<br />

des 6. Lebensjahres im Durchschnitt um jährlich<br />

3,5 Punkte herabsetzen. Wie außerdem geschätzt<br />

wurde, verursacht die Smoghülle von Bangkok jedes<br />

Jahr 1 400 Todesfälle <strong>und</strong> materielle Verluste in Höhe<br />

von 3,1 Milliarden US-Dollar durch krankheits- <strong>und</strong><br />

verkehrsbedingte Produktionseinbußen.<br />

Die Nähe zu den Industrieanlagen, die viele der<br />

Ärmeren aufgr<strong>und</strong> des kurzen Weges zum Arbeitsplatz<br />

suchen oder suchen müssen, birgt eine Reihe<br />

weiterer Risiken in sich. 1984 forderte ein katastrophaler<br />

Unfall in der Fabrik der Union Carbide im<br />

indischen Bhopal 2 988 Todesopfer <strong>und</strong> mehr als<br />

100 000 Verletzte - die Mehrzahl von ihnen waren<br />

Bewohner der Hüttensiedlungen unweit der Chemiefabrik.<br />

Neue städtische Raumstrukuren:<br />

Polyzentrische<br />

Metropolregionen<br />

L<br />

Lokale Auswirkungen der Fragmentierung städtischer<br />

Siedlungsstrukturen führen in allen Teilen der Welt<br />

zu Veränderungen der traditionellen Raum- <strong>und</strong><br />

Nutzungsstrukturen. Die Globalisierung von Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Kultur sowie die räumlich ungleich verteilte<br />

Entwicklung moderner Informations- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsnetzwerke bringt neue „Landschaften“<br />

der Innovation, wirtschaftlicher Entwicklung<br />

<strong>und</strong> kultureller Transformation hervor. Gleichzeitig<br />

verstärkten sich die sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Disparitäten<br />

zwischen „beschleunigter“ <strong>und</strong> „langsamer“<br />

Welt. Wie in Kapitel 10 dargestellt wurde, entfalten<br />

diese Entwicklungen ihre größte Dynamik in den<br />

World eitles sowie in größeren regionalen Metropolen,<br />

insbesondere in den Ländern der Kernregion. Einzelne<br />

Elemente dieser Fragmentierung finden sich jedoch<br />

zunehmend auch in allen übrigen Teilen der<br />

Welt, verursacht durch neue Technologien, neue<br />

Organisationsformen der Wirtschaft <strong>und</strong> neue soziokulturelle<br />

Normen.<br />

Ein Wandel der traditionellen Nutzungsstrukturen<br />

hat sich zuerst in den Vereinigten Staaten vollzogen.<br />

Der Geograph Pierce Lewis hat den Begriff der galactic<br />

metropolis geprägt, um die unzusammenhängenden<br />

<strong>und</strong> dezentralisierten US-amerikanischen Stadtlandschaften<br />

des späten 20. Jahrh<strong>und</strong>erts zu charakterisieren.<br />

Solche vielkernigen Metropolregionen sind aus<br />

der traditionellen Struktur ringförmig angeordneter<br />

Zonen hervorgegangen, indem in den randstädtschen<br />

Zonen der suburbs sek<strong>und</strong>äre Geschäftsviertel <strong>und</strong><br />

Gewerbeachsen zur Deckung des Bedarfs der Wohnbevölkerung<br />

mit Waren <strong>und</strong> Dienstleistungen sowie


714 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

I<br />

I<br />

dezentralisierte Industriebezirke in der Nähe von<br />

Flughäfen <strong>und</strong> großen Autobahnkreuzen entstanden.<br />

Solche edge cities entwickelten sich nach <strong>und</strong> nach zu<br />

neuen suburbanen Zentren mit Geschäften <strong>und</strong> Büros,<br />

welche die älteren innerstädtischen CBDs (Central<br />

Business Districts) oft in den Schatten stellen. Als<br />

edge cities werden Konzentrationen von Bürokomplexen<br />

<strong>und</strong> Einzelhandelsgeschäften bezeichnet, die<br />

an den äußeren Rändern der metropolitanen Verdichtungsräume<br />

in den Vereinigten Staaten, <strong>und</strong><br />

zwar typischerweise in der Nähe wichtiger Autobahnknoten<br />

liegen.<br />

Variationen polyzcntrischcr Mctropolregionen<br />

finden sich heute in allen Teilen der Welt. Der Geograph<br />

Peter Hall hat sechs allgemeine Typen von<br />

Zentren oder Kernen innerhalb polyzentrischer Metropolregionen<br />

unterschieden:<br />

• traditionelles Innenstadtzentrum (traditional<br />

downtown center) mit fußläufigen Distanzen, das<br />

über radiale Verkehrsachsen erschlossen ist <strong>und</strong><br />

versorgt wird; Es bildet den Kernbereich der traditionellen<br />

Metropole, in dem sich Dienstleistungen<br />

wie Banken, Versicherungen sowie Regierungsgebäude<br />

<strong>und</strong> -funktionen konzentrieren. Beispiele<br />

sind die Londoner Innenstadt, Chätelet-Les Halles<br />

(Paris), Lower Manhattan (New York) oder Maronouchi/Otemachi<br />

(Tokio).<br />

• neuere Geschäftsviertel (newer business centers), oft<br />

in älteren, besser situierten Vierteln gelegen: In<br />

ihnen finden sich Hauptsitze von Unternehmen,<br />

Medien, Werbe- <strong>und</strong> Public Relations-Agenturen<br />

sowie Planungsbüros. Beispiele sind Londons West<br />

End, das 16. Arrondissment in Paris, Midtown<br />

Manhattan <strong>und</strong> Akasaki/Roppongi (Tokio).<br />

• -innere edge cities (internal edge cities), entstanden<br />

durch hohen Nutzungsdruck in den traditionellen<br />

Zentren <strong>und</strong> auf Gr<strong>und</strong>stücksspekulationen basierende<br />

Erschließungsmaßnahmen im Umfeld aufgelassener<br />

Industrie- oder Verkehrsflächen beziehungsweise<br />

Umschlagstandorte: Beispiele sind die<br />

Londoner Docklands, La Défense (Paris, Abbildung<br />

12.32) <strong>und</strong> Shinjuku (Tokio).<br />

• -äußere edge cities (external edge cities), oft an Verkehrsachsen<br />

in der Nähe von Flughäfen <strong>und</strong> teilweise<br />

an Stadtautobahnen oder Haltepunkten von<br />

Schnellzügen gelegen, aber immer mit Anbindung<br />

an innerstädtische Schnellstraßennetze: Beispiele<br />

sind der Dulles-Korridor in Washington, Heathrow<br />

in London, das OHara-Gebiet in Chicago,<br />

Schipol (Amsterdam) <strong>und</strong> Arlanda (Stockholm).<br />

• randliche edge-city-Komplexe (outermost edge-city<br />

complexes) als Standorte von back offices <strong>und</strong> Forschungs-<br />

<strong>und</strong> Entwicklungseinrichtungen oder<br />

-abteilungen, 30 bis 50 Kilometer von der Kernstadt<br />

<strong>und</strong> typischerweise in der Nähe von Bahnhöfen<br />

gelegen: Beispiele sind Reading (bei London),<br />

St. Quentin-en-Yvelines (Paris), Greenwich,<br />

Conneticut (bei New York) <strong>und</strong> Shin-Yokohama<br />

(Tokio).<br />

• spezialisierte Subzentren (specialized subcenters),<br />

gewöhnlich Standorte von Bildungseinrichtungen,<br />

Unterhaltungsangeboten, Ausstellungs- <strong>und</strong> Kongresszentren<br />

von insgesamt sehr unterschiedlicher<br />

Struktur <strong>und</strong> Lage: Manche der Subzentren befinden<br />

sich auf vormals aufgelassenen oder wieder in<br />

Wert gesetzten Flächen; es kann sich um ältere,<br />

früher räumlich <strong>und</strong> funktional eigenständige<br />

Zentren handeln, die zunehmend in die Metropolregion<br />

integriert wurden.<br />

Die weltweit größten polyzentrischen Metropolregionen<br />

sind heute zu „100-Meilen-Städten“ heran-<br />

12.32 La Défense, Paris Im Westen von<br />

Paris, in der Verlängerung der Achse<br />

Champs-Elysées, Arc de Triomphe liegt das<br />

seit Mitte der 1960er-Jahre entstandene<br />

Hochhausviertel La Défense. In seinen<br />

Bürohochhäusern haben sich große französische<br />

<strong>und</strong> internationale Dienstleister<br />

etabliert, die über 100000 Menschen beschäftigen.<br />

Das Viertel bietet aber auch<br />

Wohnraum für über 20 000 Menschen so\«ie<br />

Einkaufs- <strong>und</strong> Vernügungsmöglichkeiten.


Neue städtische Raumstrukuren: Polyzentrische Metropolregionen 715<br />

gewachsen, die tatsächlich Durchmesser bis zu 100<br />

Meilen haben können <strong>und</strong> aus einem lockeren Verb<strong>und</strong><br />

von städtischen Bereichen (urban realms) oder<br />

wirtschaftlichen Subregionen bestehen, die über<br />

Stadtautobahnen miteinander verb<strong>und</strong>en sind. In<br />

einigen Regionen haben sich Cluster von miteinander<br />

vernetzten, vielkernigen Metropolregionen zu zusammenhängenden<br />

Megalopolis-Gebieten entwickelt<br />

(Exkurs 12.1 „Fenster zur Welt - Megalopolis-Regionen“).<br />

Ausuferndes Städtewachstum<br />

I in den Vereinigten Staaten<br />

Starke Suburbanisierungsprozesse sind ein Charakteristikum<br />

aller Metropolregionen <strong>und</strong> der meisten<br />

städtischen Siedlungen. Das Paradebeispiel sind die<br />

Vereinigten Staaten. In den lahren von 1985 bis<br />

2000 wurden bei einer Zunahme der städtischen<br />

Bevölkerung um 17 Prozent r<strong>und</strong> 100 000 Quadratkilometer<br />

(25 Millionen acres; 1 Quadratkilometer<br />

= 247,1 acres) landwirtschaftliche Fläche <strong>und</strong> unbebautes<br />

Land (das entspricht ungefähr der Fläche<br />

von Indiana) im Umfeld von Metropolregionen erschlossen<br />

<strong>und</strong> umgewandelt. Das entspricht einer<br />

Ausweitung der Siedlungsfläche um 47 Prozent.<br />

Seit 1985 sind die 100 größten Ballungsräume um zusätzliche<br />

38 670 Quadratkilometer in ihr Umland gewachsen.<br />

In den polyzentrischen Metropolregionen<br />

sind suburbane Siedlungen längst nicht mehr nur<br />

Schlafstädte von Pendlern, die tagsüber zu Arbeit<br />

in die traditionellen Innenstadtzentren fahren. Vielmehr<br />

konzentrieren sich heute in vielen suburbanen<br />

Räumen eine große Zahl von Arbeitsplätzen sowie<br />

regionale wirtschaftliche Funktionen. Mit dem Entstehen<br />

polyzentrischer Metropolregionen diversifizierten<br />

sich die suburbanen Bereiche ökonomisch<br />

<strong>und</strong> auch physiognomisch.<br />

Am einen Ende des Kontinuums befinden sich<br />

Vorstädte, die Anfang oder Mitte des 20. fahrh<strong>und</strong>erts<br />

entstanden sind <strong>und</strong> die mit vergleichbaren<br />

Herausforderungen wie die Innenstadtzentren konfrontiert<br />

sind - mit überalterten Infrastruktureinrichtungen,<br />

verwahrlosenden Schulen <strong>und</strong> Gewerbekorridoren<br />

sowie unzureichender Wohnqualität. Am anderen<br />

Ende befinden sich die „boomurbs“ im Westen<br />

der Vereinigten Staaten: neue Gebiete an den äußeren<br />

Rändern von Metropolregionen <strong>und</strong> mit raschem<br />

SiedlungsWachstum, mit lockerer Bebauung <strong>und</strong><br />

sich mit enormem Tempo ausbreitenden suburbs,<br />

deren Bewohner vollständig auf den privaten Pkw<br />

angewiesen sind.<br />

In vielen Metropolregionen sind angesichts der<br />

jüngeren Entwicklungen im suburbanen Raum heftige<br />

Debatten über die Qualität, das Tempo <strong>und</strong> die Art<br />

<strong>und</strong> Weise des Wachstums aufgekommen. Ein zentraler<br />

Punkt ist das Konzept des sogenannten smart<br />

growth. Darunter wird im angloamerikanischen<br />

Sprachraum ein Bündel von Prinzipien <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

der Flächennutzungsplanung verstanden, die das<br />

Siedlungswachstum limitieren sollen. Die Befürworter<br />

solcher Planungskonzepte führen an, dass damit<br />

die Lebensqualität verbessert, die Effizienz städtischer<br />

Infrastruktur erhöht <strong>und</strong> der Schutz der Umwelt verbessert<br />

werden könnten. Das Konzept des smart<br />

growth oder „intelligenten“ Wachstums umfasst unter<br />

anderem die folgenden zentralen Leitlinien:<br />

• große Flächen von Bebauung freizuhalten <strong>und</strong> die<br />

Umweltqualität durch Erschließungsverbote in<br />

ausgedehnten Randzonen zu verbessern;<br />

• die zentralen Bereiche der suburbs wieder zu beleben<br />

sowie durch neue <strong>und</strong> instandgesetzte städtebauliche<br />

Elemente die Attraktivität für Haushalte<br />

mit mittleren <strong>und</strong> höheren Einkommen zu erhöhen;<br />

• durch bauliche Verdichtung, Cluster hoch verdichteter<br />

Nutzung in der Umgebung der Haltepunkte<br />

von Verkehrslinien, höhere Benzinpreise<br />

<strong>und</strong> verstärkte öffentliche Investitionen in Verkehrssysteme<br />

wie Stadtbahnen die Abhängigkeit<br />

der Bewohner vom privaten - oft nur von einer<br />

Person genutzten - Pkw zu verringern;<br />

• innovative Stadtplanung <strong>und</strong> Maßnahmen zur<br />

Verkehrsberuhigung mit dem Ziel, fußgängerfre<strong>und</strong>liche<br />

Zonen gemischter Flächennutzung<br />

<strong>und</strong> Geschäftszentren im Umfeld von Haltestellen<br />

zu fördern;<br />

• den Gemeinsinn an bestimmten Orten gezielt zu<br />

stärken <strong>und</strong> regionale Eigenständigkeit <strong>und</strong> Solidarität<br />

stärker zu berücksichtigen.<br />

Zu den Verfechtern eines smart growth zählen Organisationen,<br />

die sich für ein langsames oder Nullwachstum<br />

von Siedlungsflächen einsetzen, sowie Entscheidungsträger<br />

<strong>und</strong> Gruppen, welche die Interessen<br />

der Innenstädte <strong>und</strong> innenstadtnaher Vororte vertreten,<br />

beispielsweise Vereinigungen von Geschäftsleuten<br />

<strong>und</strong> Bürgerinitiativen. Gegner der smart-gowth-<br />

Prinzipien sind vor allem Planer, Bauherren, Eigentümer<br />

größerer Gr<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> Handelskammern.<br />

Ihre Einwände beziehen sich hauptsächlich auf die<br />

damit verb<strong>und</strong>enen höheren Kosten, sind aber teilweise<br />

auch ideologischer Natur, indem sie Profite


716 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Exkurs 12.1<br />

Fenster zur Welt - Megalopolis-Regionen<br />

Die Kombination aus schnellem Wachstums einerseits <strong>und</strong><br />

starker Dezentralisierung andererseits hat einst voneinander<br />

getrennte Städte in zusammenhängende Städtekorridore<br />

oder „Stadtgalaxien“ verwandelt. Verstädterung <strong>und</strong> wirtschaftliche<br />

Integration haben ein solches Ausmaß erreicht,<br />

dass manche Regionen aus Netzwerken polyzentrischer Meli<br />

opolregionen bestehen. Verknüpft durch Warenströme, Geschäftsbeziehungen,<br />

kulturelle Verbindungen, Pendlerverflechtungen<br />

<strong>und</strong> das physische Umfeld handelt es sich um<br />

die weltweit bedeutendsten funktionalen Regionen, die<br />

höchstrangigen Raumeinheiten der globalisierten Weltwirtschaft.<br />

Abbildung 12.1.1 zeigt die von Wissenschaftlern des Metropolitan<br />

Institute ausgewiesenen zehn Megalopolis-Regionen<br />

innerhalb der Vereinigten Staaten. Auf weniger als einem<br />

Fünftel der Fläche des Landes, die diese Regionen einnehmen,<br />

konzentrieren sich fast 70 Prozent der US-Bevölkerung. Vergleichbare<br />

Stadtlandschaften sind in Japan die Megalopolis-<br />

Region Tokaido (Abbildung 12.1.2) oder in Südchina die Guandong-Region.<br />

Megalopolis-Regionen besitzen unterschiedliche Formen<br />

räumlicher Ausdehnung. Manche, wie die Tokaido-Region<br />

<strong>und</strong> die Northeast-Region bilden deutliche bandförmige oder<br />

lineare Strukturen. Andere Megalopolis-Regionen wie die<br />

Nordosten<br />

Valley of the Sun<br />

1-35 Corridor ^<br />

Florida Halbinsel<br />

12.1.1 Die Megalopolis Regionen der Vereinigten Staaten<br />

aus Immobiliengeschäften durch planerische Einschränkungen<br />

gefährdet sehen.<br />

Widerstände gegen smart growth <strong>und</strong> Debatten<br />

über die Effizienz des Konzepts haben letztlich<br />

dazu geführt, dass die Geschwindigkeit der Zersiedelung<br />

<strong>und</strong> des Verbrauchs von Ackerland im suburbanen<br />

Raum weiter zugenommen hat. Die Erschließung<br />

neuer Flächen vollzieht sich mittlerweile in großen<br />

Schritten, oft vergehen nur wenige Monate, bis zwischen<br />

Suburbanen Siedlungen verbliebene landwirtschafliche<br />

Flächen mit Wohnkomplexen, Erschließungsstraßen,<br />

Einkaufszentren, Parkplätzen <strong>und</strong> Gewerbeparks<br />

aufgefüllt sind. Aus architektonischer<br />

<strong>und</strong> stadtplanerischer Sicht überwiegt das Mittelmaß,


Neue städtische Raumstrukuren: Polyzentrische Metropolregionen 717<br />

_______ _________________ L I ________ L.<br />

Megapolis-Region Tokaido<br />

über 5 Mio.<br />

o<br />

1-5 Mio.<br />

• weniger als 1 Mio.<br />

Hauptstädte sind unterstrichen<br />

Sendai<br />

Südkorea<br />

Japanisches<br />

Meer<br />

^Hitachi<br />

Kanto-<br />

■'<br />

Ebene<br />

Toyama _^Chiba<br />

Honshu ^ •'Vtokt)hamaQ,<<br />

Hirqshioia<br />

C'' ;<br />

KRakyushLü^<br />

Fukuoka/^<br />

Kyushu<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

140'o 12.1.2 Die Megalopolis Tokaido Sie umfasst mehr<br />

als 50 Millionen Einwohner <strong>und</strong> erwirtschaftet mehr<br />

als 80 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts<br />

von Japan.<br />

Piemont-Lombardei-Region im nördlichen Italien, der Mittelwesten<br />

der USA oder die Piedmont-Region im Südosten der Vereinigten<br />

Staaten breiten sich in Form riesiger „Galaxien“ aus,<br />

wobei die größten Metropolregionen durch Schnellstraßen<br />

verb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> durch ein Netz kleinerer Städte, mikropolitaner<br />

Regionen <strong>und</strong> urbanisierter Räume funktional miteinander<br />

verknüpft sind.<br />

In Europa wurden im Kontext der Europäischen Union vergleichbare<br />

Entwicklungsbänder städtischer Agglomerationen<br />

ausgewiesen. Das bekannteste Modell ist die „Blaue Banane“,<br />

ein breites Entwicklungsband von London über die Randstad in<br />

Holland, Brüssel, das Ruhrgebiet <strong>und</strong> die Rheinschiene über die<br />

Schweiz bis Mailand, das die zukünftige „Megalopolis“ Europas<br />

bilden soll (Abbildung 13.5). Meist wird dieses gekrümmte<br />

Band ergänzt durch einen aus der amerikanischen Geographie<br />

übernommenen Sunbelt entlang der Mittelmeerküste von Barcelona<br />

über Marseille <strong>und</strong> Nizza bis Rom. In der „Banane“ <strong>und</strong><br />

im Sunbelt, so die Erwartung der europäischen Strukturpolitiker,<br />

wird sich das zukünftige wirtschaftliche Wachstum des<br />

europäischen Binnenmarktes konzentrieren, während die übrigen<br />

europäischen Regionen von der Marktöffnung geringer<br />

profitieren oder sogar negativ betroffen sein könnten.<br />

was den Architekten Rem Koolhaas zu der Bezeichnung<br />

„Generica“ veranlasst hat. Gemeint sind damit<br />

„nachempf<strong>und</strong>ene Siedlungen“ oder „Retortensiedlungen“<br />

im Unterschied zu gewachsenen Siedlungskomplexen.<br />

Der Logik des raschen Rückflusses von<br />

Investitionen <strong>und</strong> vielseitiger Verwendbarkeit folgend,<br />

handelt es sich bei den meisten gewerblichen<br />

Bauten um einfache „Boxen“. Und während Größenvorteile<br />

gleichförmige Einheitslösungen diktieren,<br />

sind in gehobene Wohnsiedlungen „Monster-Eigenheime“,<br />

„Neureichen-Schlösser“ <strong>und</strong> gesichtslose, im<br />

angloamerikanischen Sprachgebrauch als „McMansions“<br />

bezeichnete Villen fast die Norm.


718 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

, Packaged landscapes<br />

Die „generischen“ Stadtlandschaften polyzentrischer<br />

Metropolregionen in den Vereinigten Staaten sind<br />

zunehmend auf ganz bestimmte Zielgruppen zugeschnitten<br />

(packaged landscapes). Wie in Kapitel 10<br />

dargestellt wurde, hat der Globalisierungsprozess<br />

fragmentierte Städte hervorgebracht, welche die Entwicklung<br />

unterschiedlicher Typen funktionaler Enklaven<br />

notwendig machen, die in Metropolregionen<br />

als aktive Knotenpunkte innerhalb des globalen Städtesystems<br />

fungieren. Die Globalisierung hat außerdem<br />

das Entstehen einer globalen Kultur gefördert,<br />

in welcher der Symbolwert von Orten <strong>und</strong> materiellen<br />

Gütern eine ungeahnte Bedeutungszunahme erlebt<br />

<strong>und</strong> Orte zu wichtigen „Konsumobjekten“ werden<br />

(Kapitel 7).<br />

In diesem neuen wirtschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Kontext sind „Pauschalangebote“ (packaging) zu<br />

einer wichtigen Vermarktungsstrategie geworden.<br />

So koppeln beispielsweise Planer von Business-Parks<br />

Bürogebäude mit Kindertagesstätten, Fitness-Centern<br />

<strong>und</strong> integrierten Einkaufs- <strong>und</strong> Unterhaltungseinrichtungen,<br />

das alles eingebettet in eine üppige<br />

Landschaftsarchitektur, bisweilen mit 9-Loch-Golfplatz.<br />

Shopping Mails sind mit Kinos, Ausstellungsräumen<br />

<strong>und</strong> Restaurants ausgestattet; Wohnkomplexe<br />

bieten Breitband-Internetzugänge, telefonisch<br />

abrufbare Dienstleistungen, Filme auf Bestellung,<br />

Party-Center, Schwimmbäder <strong>und</strong> Fitness-Einrichtungen.<br />

Private, am Reißbrett entworfene Wohnsiedlungen<br />

werben mit Sicherheitssystemen, Hausmeisterdiensten,<br />

Fahrradwegen, „Stadt“-Zentren<br />

<strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>schulen. Zunehmend werden mit speziell<br />

zugeschnittenen Ausstattungspaketen unterschiedliche<br />

Marktsegmente beziehungsweise Gruppen angesprochen,<br />

die einen bestimmten Lebensstil bevorzugen.<br />

Manche dieser Siedlungen zielen auf junge<br />

12.33 Postmoderne Stadtgestaltung<br />

Postmoderne Architektur <strong>und</strong> Stadtgestaltung<br />

sind teilweise eine Reaktion auf die<br />

zweckgeb<strong>und</strong>ene Einheitlichkeit der<br />

Moderne. Mehr noch als in der Ausrichtung<br />

auf das Schaffen utopischer Entwürfe findet<br />

moderne Stadtarchitektur ihren Ausdruck in<br />

raffinierten Detaillösungen, welche in zahlreichen<br />

verschiedenen Formen in Erscheinung<br />

treten, von direkten Nachbildungen<br />

traditioneller Stadtformen über eklektische<br />

Kombinationen verschiedener Designstile<br />

bis hin zu neuen experimentellen Formen.<br />

Ein Beispiel hierfür ist das Sony Center am<br />

Potsdamer Platz in Berlin.


Neue städtische Raumstrukuren; Polyzentrische Metropolregionen 719<br />

Familien. Ein Beispiel dafür ist Anthem in North<br />

Phoenix (Arizona), das mehr einem luxuriösen Urlaubsressort<br />

als einer Stadt ähnelt. Es verfügt über<br />

einen Wasserpark mit Rutschbahnen, eine Eisenbahn<br />

für Kinder, Spazierwege, Tennisanlagen, eine Kletterwand,<br />

zwei Golfplätze, mehrere gepflegte Parks, ein<br />

Einkaufszentrum, zwei Kirchen, eine Schule <strong>und</strong><br />

einen Country-Club. Andere Plansiedlungen haben<br />

wohlhabende Rentner im Visier: Die Marketingexperten<br />

der „Del Webb development Corporation“<br />

haben Erührentner der Baby-Boomer-Generation -<br />

sogenannte zoomers - als Zielgruppe für ihre unlängst<br />

fertiggestellte Siedlung Sun City ausgemacht, die<br />

Starbuck-Cafés, Internetzugang <strong>und</strong> Fitnesseinrichtungen<br />

ebenso umfasst wie Tennisanlagen,<br />

Schwimmbäder <strong>und</strong> Golfplätze. Wieder andere Retortenstädte<br />

sind als „grüne“ oder smart-growth-<br />

Wohnsiedlungen konzipiert. Manche haben einen<br />

engeren Fokus, zum Beispiel das im Bau befindliche<br />

Front Sight (Nevada), das unter dem Thema gunsand-ammo<br />

(Gewehre <strong>und</strong> Munition) steht. Dort<br />

finden sich Straßennamen wie „Second Amendment<br />

Drive“ <strong>und</strong> „Sense of Duty Way“, Schießplätze,<br />

Waffengeschäfte, Kampfsporteinrichtungen, ein defensive<br />

driving track, eine Art Gesamtschule vom<br />

Kindergarten bis zur zwölften Klasse, wo es Lehrern<br />

gestattet ist, versteckt Schusswaffen zu tragen, <strong>und</strong><br />

wo unter anderem für Maschinengewehre <strong>und</strong> Computerspiele<br />

wie „Großwildjagd in Afrika“ geworben<br />

wird.<br />

Solche auf spezifische Zielgruppen ausgerichtete<br />

Wohnsiedlungen sind nicht nur in den Vereinigten<br />

Staaten sehr erfolgreich, sondern in Metropolregionen<br />

weltweit. In Istanbul (Türkei) sind die randstädtischen<br />

Siedlungen Esenkent <strong>und</strong> Bogazköy nach USamerikanischen<br />

Vorbildern entstanden. In Manila<br />

(Philippinen) gibt es am Reißbrett entworfene Siedlungen<br />

mit einer privatisierten Infrastruktur - Straßen,<br />

Wasserver- <strong>und</strong> Abwasserentsorgung, Energie<br />

<strong>und</strong> Telekommunikation -, die als Fragmente europäischer<br />

Städte gestaltet <strong>und</strong> vermarktet werden <strong>und</strong><br />

Namen wie „Brittany“ oder „Klein-Italien“ tragen. In<br />

den Vereinigten Staaten leben r<strong>und</strong> 47 Millionen<br />

Menschen - ein Sechstel der Gesamtbevölkerung -<br />

in 230 000 privat geplanten Wohnsiedlungen, <strong>und</strong><br />

die Hälfte der Hauskäufe in großen Städten entfällt<br />

auf diese Siedlungen.<br />

Das Ergebnis ist ein Mosaik von Retortensiedlungen<br />

<strong>und</strong> Großprojekten: instandgesetzte historische<br />

<strong>und</strong> kulturelle Ensembles, Uferbebauungen, Campusuniversitäten<br />

<strong>und</strong> Hightech-Industrieansiedlungen,<br />

Flughäfen, Business-Center, Wohnkomplexe,<br />

Plansiedlungen <strong>und</strong> Einkaufszentren. Die Architektur<br />

der meisten dieser neu gruppierten städtischen Aktivitäten<br />

orientiert sich an postmodernen Stilelementen.<br />

Die postmoderne Stadtgestaltung ersetzt das<br />

funktionale Design des Modernismus durch bewusst<br />

verspielte <strong>und</strong> die Aufmerksamkeit auf sich lenkende<br />

Architekturstile. Die postmoderne Stadtgestaltung<br />

ist gekennzeichnet durch die Vielfalt <strong>und</strong> die Kombination<br />

verschiedenster Architekturstile <strong>und</strong> -elemente,<br />

oftmals bei ein <strong>und</strong> demselben Gebäude oder<br />

Objekt (Abbildung 12.34). Sie bedient sich verschiedenster<br />

Symbole, Farben <strong>und</strong> Schmuckformen. Nicht<br />

von ungefähr fällt die Blütezeit des postmodernen<br />

Designs mit der jüngsten Phase der Globalisierung<br />

zusammen. Entstanden als dezidierte Antwort auf<br />

die Kargheit der modernen Gestaltung, eignete sich<br />

die Hervorhebung des Dekorativen <strong>und</strong> das betont<br />

Elegante vorzüglich als Verpackung für die neue<br />

globale Konsumkultur. Das postmoderne Design ist<br />

verzahnt mit einem kosmopolitischen Markt, <strong>und</strong><br />

12.34 Celebration, Florida In Orlando ist<br />

unter Regie des Walt-Disney-Konzerns eine<br />

Siedlung des sogenannten New Urbanism<br />

entstanden. Dabei handelt es sich um eine<br />

einheitlich geplante Wohnsiedlung, in der die<br />

Bewohner unter einer Reihe traditioneller<br />

Wohnstile (zum Beispiel venezianischer Stil,<br />

Farmhausstil oder Küstenstadtstil) wählen<br />

können, sich dann aber, was bauliche Gestaltung<br />

<strong>und</strong> Gestaltung der Gärten anbelangt,<br />

streng an die vorgegebenen Auflagen<br />

halten müssen.<br />

’I ' ' - - - i ::


720 12 Raumsystem Stadt: Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

Exkurs 12.2<br />

■ t - :<br />

Fenster zur Welt - Die Globalisierung von Suburbia<br />

Fährt man aus dem Stadtzentrum hinaus, trifft man nach 30<br />

Kilometern auf Wohngebiete mit mehr oder weniger einfallslosen<br />

Häusern. Manche sind in Pastelltönen gestrichen <strong>und</strong> im<br />

italienischen oder spanischen Stil gehalten, andere erinnern an<br />

britische Vorbilder. Säuberlich gepflegte Rasenflächen <strong>und</strong><br />

Klubhäuser liegen verstreut in der Umgebung, da <strong>und</strong> dort<br />

eine Golfanlage. Die Wohngebiete sind nach außen abgeschlossen<br />

<strong>und</strong> bewacht, sie heißen Le Leman Lake, Capital<br />

Paradise, Yosemite <strong>und</strong> River Garden. In den letzten Jahren<br />

sind im Umland der beiden größten Städte Chinas, Peking<br />

<strong>und</strong> Schanghai, zahlreiche so\chergated communities entstanden,<br />

<strong>und</strong> dieser Trend breitet sich gegenwärtig auch auf andere<br />

Städte wie Tianjin <strong>und</strong> Shenzen aus.<br />

Besonders bemerkenswert ist, dass die meisten dieser<br />

Wohngebiete den Eindruck vermitteln, als befände man sich<br />

in San Jose oder Orange County in den Vereinigten Staaten.<br />

Sie sind den Vorortsiedlungen nachempf<strong>und</strong>en, wie sie in<br />

den vergangenen 30 Jahren im Zuge der Suburbanisierung<br />

in den Vereinigten Staaten entstanden sind. In den meisten<br />

dieser Siedlungen finden sich nur wenige oder gar keine asiatische<br />

Einflüsse in Anlage <strong>und</strong> Gestaltung. Die ersten derartigen<br />

Wohngebiete wurden überwiegend für ausländische<br />

Diplomaten oder Führungskräfte multinationaler Konzerne<br />

mit Niederlassungen in China erbaut. „Um ein (passendes)<br />

Wohnumfeld für in China lebende Ausländer zu schaffen, ahmen<br />

sie westlichen Stil <strong>und</strong> westliche Standards nach“, sagt<br />

Billie Chau, Leiter der Pekinger Niederlassung von FPD Savills,<br />

einem britischen Unternehmen, das einige dieser Siedlungen<br />

verwaltet.<br />

Heute sind es zahlungskräftige, nach Alternativen zu den<br />

überfüllten <strong>und</strong> schmutzigen Städten suchende Chinesen,<br />

für die solche Wohngebiete in der Mehrzahl errichtet wurden<br />

<strong>und</strong> weiter geplant werden. Hinter vielen Hauskäufen steht als<br />

Motiv die Geldanlage. „Im Zuge des anhaltend steilen Aufstiegs<br />

Chinas, seiner schnell wachsenden Wirtschaft <strong>und</strong> starker<br />

Suburbanisierung in den größeren Städten wie Peking <strong>und</strong><br />

Schanghai erwerben immer mehr wohlhabende Bewohner<br />

<strong>und</strong> höhere Angestellte dieser aufstrebenden Zentren Villen<br />

oder Häuser an den Peripherien eben jener Großstädte“,<br />

sagt Andrew Ness, Asien-Chef der Research-Abteilung bei<br />

CB Richard Ellis. Für das global operierende Immobilienunternehmen<br />

sind Verkäufe <strong>und</strong> Vermietungen solcher Objekte ein<br />

wichtiges Geschäftsfeld.<br />

Auch in China scheint der Prozess der Suburbanisierung in<br />

vollem Gang zu sein. Bemerkenswert daran ist nicht, dass<br />

diese Entwicklungen stattfinden, sondern welche Erscheinungsformen<br />

der Suburbanisierungsprozesses hervorbringt.<br />

Vancouver Forest beispielsweise ist die Nachbildung einer<br />

typischen Wohnsiedlung in British Columbia, erbaut von kanadischen<br />

Architekten unter Verwendung kanadischer Materialien<br />

mit dem Ziel, ein „Miniatur-Kanada“ zu schaffen.<br />

Bewohner Pekings können eine Haus in Sydney Coast erwerben,<br />

einem Wohngebiet, das „Australisches Villen-Ambiente<br />

pur“ verspricht. „Geplant von australischen Fachleuten,<br />

bietet das Projekt einfachen <strong>und</strong> erfrischenden Lebensstil“, ist<br />

in einem Prospekt zu lesen, der für das Neubaugebiet wirbt.<br />

„Schlendern Sie durch die Straßen von Sydney Coast, <strong>und</strong><br />

Sie werden sich fühlen wie in Australien“. Realisiert wurde<br />

es greift ganz bewusst auf Elemente verschiedener<br />

Orte <strong>und</strong> Epochen zurück. In vielerlei Hinsicht ist<br />

die postmoderne Gestaltung zu einer international<br />

verbreiteten Stilrichtung insbesondere wohlhabender<br />

Siedlungen in den großen Städten der Welt geworden.<br />

Globalisierung <strong>und</strong> die Fragmen-<br />

, tierung städtischer Räume_____<br />

Die Zunahme sozialer Polarisierungsprozesse ist ein<br />

typisches Kennzeichen der gegenwärtigen Urbanisierung,<br />

die mit der Globalisierung, verb<strong>und</strong>en ist. Die<br />

hohe Mobilität von Kapital, verb<strong>und</strong>en mit einer<br />

durch moderne Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien<br />

ermöglichte stärkere Kontrolle haben<br />

zu einer Konzentration von Wohlstand <strong>und</strong> einer<br />

wachsenden Kluft zwischen „beschleunigter“ <strong>und</strong><br />

„langsamer“ Welt geführt (Kapitel 2). In den meisten<br />

Metropolregionen der Erde ist sowohl der relative<br />

Anteil von Reichen wie der von Armen gestiegen,<br />

<strong>und</strong> auch der finanzielle Abstand zwischen beiden<br />

ist größer geworden. Außerdem haben sich die Unterschiede<br />

innerhalb der zwischen arm <strong>und</strong> reich angesiedelten<br />

Gruppen verstärkt, sodass eine Aufspaltung<br />

in vier oder fünf sozioökonomische Gruppen<br />

oder Gesellschaftsschichten häufiger zu beobachten<br />

ist als eine einfache Zweiteilung. Das United Nations<br />

Center for Human Settlements (UNCHS) hat diese<br />

soziale Polarisierung als eine indirekte, aber entscheidende<br />

Einflussgröße gegenwärtiger Segregationsstrukturen<br />

sowohl der Bevölkerung als auch der Flächennutzung<br />

weltweit identifiziert. Nach dem Global<br />

Report on Human Settlements 2001 des UNCHS hat


Neue städtische Raumstrukuren: Polyzentrische Metropolregionen 721<br />

12.2.1 Auch in Thailand kann man sich inzwischen wie in Europa fühlen. Die „holländische“ Windmühle auf dem linken Bild<br />

steht in Rajjah-City, einer Wohnsiedlung am Stadtrand der nordostthailändischen Stadt Khon Kaen. Laguna City (rechts) bildet eine<br />

gated communiy für die Wohlhabenden am südlichen Stadtrand.<br />

Sydney Coast von Beijing Capital, einem Unternehmen, an<br />

dem die Stadt Peking beteiligt ist. Ein weiteres Projekt von<br />

Beijing Capital ist Upper East Side, eine ausgedehnter Apartmentkomplex<br />

im Nordosten Pekings.<br />

Wer in China von einem Leben in Kalifornien träumt, kann<br />

sich in der Wohnsiedlung Yosemite niederlassen. Bald besteht<br />

eine weitere Möglichkeit, sich diesen Wunsch zu erfüllen: Derzeit<br />

entsteht r<strong>und</strong> dreißig Kilometer außerhalb Pekings mit<br />

Napa Valley ein neues Wohnviertel im kalifornischen Stil.<br />

„Die reichliche Verwendung von Naturstein, farbigem Stuck<br />

<strong>und</strong> Schmiedeeisen schafft eine intime, dörfliche Atmosphäre“.<br />

so die Architekten <strong>und</strong> Planer von Napa Valley, die ihre<br />

Büros in Palm Springs <strong>und</strong> Newport Beach (Orange County)<br />

haben.<br />

Und wer sich ins Frankreich des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts zurückversetzen<br />

möchte, der ist in Chateau Regalia am nördlichen<br />

Stadtrand von Peking richtig. Hier können Kaufinteressenten<br />

zwischen verschiedenen Hausmodellen wählen: Herzog I, Herzog<br />

II, Marquis, Prinz oder Viscount. In Form <strong>und</strong> Dekor sind die<br />

Häuser in Chateau Regalia eine exzentrische Mischung aus<br />

französischem Barock <strong>und</strong> neoklassischer Architektur. Diese<br />

Mode hat sich auch in Schanghai durchgesetzt, wo eine<br />

noch größere Zahl von Wohngebieten in ausländischen Stilen<br />

entstanden ist. Lokale Behörden haben erst unlängst angekündigt,<br />

außerhalb Schanghais ein ganzes Cluster von Satellitenstädten<br />

in unterschiedlichen Nationalstilen zu bauen. Es wird<br />

eine französische Stadt, eine italienische Stadt, eine englische<br />

Stadt <strong>und</strong> so weiter geben, jede mit einem eigenen Geschäftszentrum.<br />

die Globalisierung insgesamt zu einer Fragmentierung<br />

von Städten in räumlich separierte <strong>und</strong> kompartimentierte<br />

Wohnenklaven geführt.<br />

Wenngleich die räumliche Fragmentierung aufgr<strong>und</strong><br />

unterschiedlicher nationaler Politiken <strong>und</strong><br />

Wirtschaftsstrukturen, unterschiedlicher historischer<br />

Entwicklungen <strong>und</strong> Bevölkerungszusammensetzung<br />

sowie wegen der unterschiedlichen Bedeutung von<br />

Städten für die internationale Ökonomie von Stadt<br />

zu Stadt variiert, so gibt es doch einige gr<strong>und</strong>legende<br />

Gemeinsamkeiten. Der Geograph Ronald van Kämpen<br />

<strong>und</strong> der Planer Peter Marcuse beschreiben sechs<br />

sogenannte sozialräumliche Formationen - Strukturen<br />

von Wohnvierteln, die, so ihre Annahme, eine<br />

neue räumliche Ordnung ergeben, die charakteristisch<br />

für „globalisierende“ Städte ist:<br />

• geschützte Enklaven der Reichen - „Festungen“<br />

oder nach außen abgeschottete Enklaven, die gewöhnlich<br />

aus teuren Apartmenthäusern in bevorzugten<br />

Wohnlagen bestehen (Exkurs 12.2 „Fenster<br />

zur Welt - Die Globalisierung von Suburbia“)<br />

gentrifizierte Bereiche, die von jungen Gutverdienern<br />

sowie Managern bewohnt werden <strong>und</strong><br />

typischerweise in den Zentren von Innenstädten<br />

liegen<br />

suburbane Siedlungen der Mittelschicht sowie<br />

mehr- <strong>und</strong> vielgeschossige Apartment- <strong>und</strong><br />

Wohnkomplexe<br />

Arbeiterwohnviertel, oft aus Mietshäusern bestehend,<br />

die sich entsprechend dem Einkommen<br />

<strong>und</strong> der Herkunft ihrer Bewohner unterscheiden<br />

<strong>und</strong> teilweise durch persistente „Grenzen“ voneinander<br />

getrennt sind<br />

ethnische Enklaven - eine spezielle Art von Siedlungen<br />

aus Mietshäusern, wo ethnische Segregation<br />

besonders stark ausgeprägt ist


722 12 Raumsystem Stadt; Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

• abgeschriebene Ghettos - von Armen, aus der Gesellschaft<br />

Ausgeschlossenen, dauerhaft Beschäftigungslosen<br />

<strong>und</strong> Wohnsitzlosen bewohnte Viertel<br />

Diese sozialräumlichen Erscheinungsformen bilden<br />

einen weiteren Aspekt der fragmentierten Stadt.<br />

Die hochwertigen Quartiere innerhalb der fragmentierten<br />

Stadt sind in die modernen Kommunikations<strong>und</strong><br />

Informationsnetzwerke integriert, welche die<br />

„beschleunigte“ Welt ausmachen. Sie sind separiert<br />

von der „langsamen“ Welt <strong>und</strong> ihren von Gefahren,<br />

Gegensätzen <strong>und</strong> Armut als Folge von Segregation<br />

<strong>und</strong> räumlicher Clusterung geprägten Räumen. Anteil<br />

daran hat nicht zuletzt die Praxis von Planern<br />

<strong>und</strong> Stadtentwicklern, Sicherheit als zentrales Element<br />

der gebauten Umgebung einzusetzen <strong>und</strong> zu<br />

vermarkten.<br />

Stadtentwickler ihrerseits verstehen sich mittlerweile<br />

sehr gut darauf, kontrollierte Zugänge <strong>und</strong><br />

Überwachungseinrichtungen in die auf spezielle Bedürfnisse<br />

zugeschnittene bebaute Umgebung zu integrieren.<br />

Gated communities sind das beste Beispiel<br />

für die Art <strong>und</strong> Weise, wie städtischer Raum in streng<br />

bewachte Zonen fragmentiert wird. In den Vereinigten<br />

Staaten sind viele der neu gebauten Siedlungen<br />

gated communities, etwa 8 Millionen US-Amerikaner<br />

leben in solchen bewachten, nach außen abgeschotteten<br />

Wohnquartieren. Gated communities sind<br />

aber keineswegs auf nordamerikanische Städte beschränkt,<br />

sondern geradezu symptomatisch geworden<br />

für die soziale Polarisierung in den von Globalisierungsprozessen<br />

geprägten Städten in allen Teilen<br />

der Welt.<br />

L Fazit<br />

Flächennutzung <strong>und</strong> die funktionale Organisation<br />

von Städten sind einerseits das Ergebnis ökonomischer,<br />

politischer <strong>und</strong> technologischer Bedingungen<br />

zum Zeitpunkt des Stadtwachstums <strong>und</strong> andererseits<br />

das Produkt regionaler Kultur sowie außerdem teilweise<br />

das Resultat von Globalisierungsprozessen.<br />

Um die räumlichen Muster von Städten zu untersuchen,<br />

beziehen sich Geographen auf zwei besonders<br />

geeignete Ansätze: eine ökonomische Perspektive,<br />

die den Wettbewerb um Raum betont, <strong>und</strong> ein soziokulturelles<br />

Konzept, das die ethnische Kongregation<br />

<strong>und</strong> Segregation in den Mittelpunkt stellt. Darüber<br />

hinaus variiert die Struktur von Städten als Folge<br />

historischer <strong>und</strong> kultureller Entwicklungen sowie in<br />

Abhängigkeit von der Bedeutung, die Städte innerhalb<br />

des Weltsystems hatten. In vielerlei Hinsicht<br />

bestehen zwischen den Städten der Kernregion <strong>und</strong><br />

denen der Peripherie die schärfsten strukturellen Gegensätze.<br />

Die Entwicklung der unkontrolliert wachsenden<br />

Metropolen der Peripherie verlief völlig anders<br />

als die der Städte in den Kernregionen des Weltsystems.<br />

Dementsprechend verschieden sind auch die<br />

gegenwärtigen Probleme dieser Städte. In den Industrieländern<br />

ist der Wandel der Städte eine Folge der<br />

ökonomischen Transformation hin zu einer postindustriellen<br />

Wirtschaft. Traditionelle Industrien <strong>und</strong><br />

Gewerbe <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen Aktivitäten haben<br />

sich aus den Innenstädten nach außen verlagert.<br />

Es blieben nicht selten von Verfall gekennzeichnete<br />

Stadtviertel <strong>und</strong> eine Wohnbevölkerung zurück, die<br />

größtenteils aus älteren Menschen <strong>und</strong> marginalisierten<br />

Gruppen besteht. Die neuen, postindustriellen<br />

Aktivitäten haben begonnen, Cluster in den wieder<br />

aufgewerteten CBDs <strong>und</strong> in randstädtischen Zentren,<br />

sogenannten edge cities, zu bilden. In einigen Fällen<br />

führte das extreme <strong>und</strong> komplexe Wachstum mancher<br />

Metropolen dazu, dass sich „100-Meilen-Städte“<br />

herauszubilden begannen, in welchen ein halbes<br />

Dutzend oder mehr gewerbliche <strong>und</strong> industrielle<br />

Zentren den Kern einer ganzen Anzahl funktional<br />

miteinander verknüpfter städtischer Verdichtungsräume<br />

bilden.<br />

In anderen Teilen der Welt sind die städtischen<br />

Landnutzungsmuster <strong>und</strong> die funktionale Organisation<br />

der Verdichtungsräume gänzlich verschieden<br />

ausgeprägt, <strong>und</strong> zwar infolge unterschiedlicher historischer<br />

Vorbedingungen <strong>und</strong> abweichender Umwelt-<br />

<strong>und</strong> Kultureinflüsse. Die Städte der Peripherie<br />

sind ganz wesentlich von außerordentlich starkem<br />

natürlichem Bevölkerungswachstum <strong>und</strong> hohen Zuwanderungsraten<br />

geprägt, welche zu einer „Überverstädterung“<br />

(overurbanization) führen. Ein stetig<br />

wachsender informeller Wirtschaftssektor, in dem<br />

Menschen um ihr wirtschaftliches Überleben kämpfen,<br />

spiegelt sich in ausgedehnten Elendsvierteln wider.<br />

Hohe Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung <strong>und</strong><br />

Armut führen zu akuten sozialen Problemen, denen<br />

die personell <strong>und</strong> finanziell unzureichend ausgestatteten<br />

Stadtverwaltungen oft hilflos gegenüberstehen.<br />

Falls sich die derzeitigen Trends fortsetzen, wird eine<br />

wachsende Zahl der größten Städte der Welt mit<br />

dieser Problematik zu kämpfen haben. Unterdessen<br />

vollzieht sich unter dem Einfluss der Gobalisierung<br />

eine Umformung städtischer Strukturen, <strong>und</strong> die sozialen<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Unterschiede zwischen<br />

„beschleunigter“ <strong>und</strong> „langsamer“ Welt nehmen<br />

weiter zu.


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 723<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Angotti, T. Metropolis 2000. New York (Routledge) 1993.<br />

Biswas, R. K. (Hrsg.): Metropolis Now! Urban Cultures in Global<br />

Cities Wien (Springer) 2000.<br />

Brunn, S.; Williams, J. F. (Hrsg.) Cities of the World. New York<br />

(Harper Collins) 2003.<br />

Cybriwsky, R. Tokyo. London (Belhaven Press) 1991.<br />

Friedrich, K.; Hahn, B.; Popp, H. Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Heidelberg (Spektrum Akademischer Verlag)<br />

2002.<br />

Goodman, D.; Chant, C. (Hrsg.) European Cities and Technology:<br />

Industrial to Post-Industrial City. London (Routledge) 1999.<br />

Graham, S.; Chant, C. (Hrsg.): Splintering Urbanism. New York<br />

(Routledge) 2001.<br />

Gugler, J. (Hrsg.) Cities in the Developing World. Issues, Theory,<br />

and Policy. Oxford (Oxford University Press) 1997.<br />

Hall, P. Cities in Civilization. New York (Pantheon) 1998.<br />

Hall, P. Cities of Tomorrow. New York (Blackwell) 1988.<br />

Kazepov, Y. (Hrsg.): Cities of Europe: Changing Contexts, Local<br />

Arrangements, and the Challenge to Urban Cohesion. Malden,<br />

MA (Blackwell) 2005.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; McCarthy, L. Urbanization: An Introduction to Urban<br />

Geography. Englewood Cliffs, NJ (Prentice Hall) 2005.<br />

<strong>Knox</strong>, P. L.; Pinch, S. Urban Social Geography. London (Longman<br />

Scientific) 2000.<br />

Marcuse, P.; van Kämpen, R. (Hrsg.): Globalizing Cities. Oxford<br />

(Blackwell) 2000.<br />

Morris, A. E. J. History of Urban Form Before the Industrial Revolutions.<br />

London (Longman) 1994.<br />

Mustered, S.; Ostendorf, W.; Breebaart, M. Multi-Ethnic Metropolis:<br />

Patterns and Policies. Boston (Kluwer Academic) 1998.<br />

Pacione, M. Urban Geography: A Global Perspektive. New York<br />

(Routledge) 2001.<br />

Potter, R. B.; Lloyd-Evans, S. The City in the Developing World.<br />

Harlow, Essex (Addison Wesley Longman) 1998.<br />

Robbins, E.; El-Khoury, R. (Hrsg.) Shaping the City: Studies in<br />

History, Theory and Urban Design. New York (Spon Press)<br />

2003.<br />

Scott, A.J. (Hrsg.) Global City-Regions: Trends, Theory, Policy.<br />

Oxford (Oxford University Press) 2001.<br />

Simmonds, R.; Hack, G. (Hrsg.) Global City Regions. Their Emerging<br />

Forms. New York (Spon Press) 2000.<br />

Smith, D.A. Third World Cities in Global Perspective. Boulder, CO<br />

(Westview Press) 1996.<br />

United Nations Human Settlement Programme: The State of the<br />

Worlds Cities 2004/2005: Globalization and Urban Culture.<br />

Sterling, VA (Earthscan) 2004.<br />

U.S. Congress, Office of Technology Assessment The Technological<br />

Reshaping of Metropolitan America. Washington, DC<br />

(U.S. Government Printing Office) 1995.<br />

U.S. Department of Housing and Urban Development The State<br />

of the Cities 1999. Washington, D C (U.S. Department of<br />

Housing and Urban Development) 1999.<br />

Vance, J. E. Jr. The Continuing City: Urban Morphology in Western<br />

Civilisation. Baltimore (Johns Hopkins University Press) 1990.<br />

Wallach, B. Understanding the Cultural Landscape. New York<br />

(Guildford) 2005.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Bianca, S. Altstadt-Neustadt-Konflikte in arabischen Ländern. In:<br />

DISP 95 (1988) S. 7 -1 4 .<br />

Ehlers, E. Kulturkreise - Kulturerdteile - Clash of Civilizations.<br />

Plädoyer für eine gegenwartsbezogene Kulturgeographie.<br />

ln: Geographische R<strong>und</strong>schau 48(6) (1996) S. 338-344.<br />

Heineberg, H. Gr<strong>und</strong>riss allgemeine Geographie: Stadtgeographie.<br />

Paderborn (UTB, Schöningh) 2000.<br />

Hofmeister, B. Stadtgeographie. Braunschweig (Das Geographische<br />

Seminar) 1993.<br />

Risse, T. Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit In:<br />

Internationale Politik, Vol. 60, Nr. 9, (2005) S. 6 -1 2 .<br />

Soja, E.W. Postmoderne Urbanisierung. In: Fuchs, G.; Moltmann,<br />

B.; Prigge, W. (Hrsg.) Mythos Metropole. Frankfurt a.M.<br />

(Suhrkamp) 1995.<br />

Weiss, W. M. Islam. Köln (DuMont) 1999.<br />

Wirth, E. Zur Konzeption der Islamischen Stadt. Privatheit im<br />

islamischen Orient versus Öffentlichkeit in Antike <strong>und</strong> Okzident.<br />

Sonderdruck 1991.


13 Geographien der<br />

Zukunft<br />

Wird das Internet die Beziehungen zwischen Menschen verändern? Werden<br />

wir die in vielen Teilen der Welt durch zunehmende Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> eine rasch wachsende Bevölkerung verursachten Umweltkrisen bewältigen<br />

können? Werden die Vereinigten Staaten auch zukünftig ihre Rolle<br />

als mächtigste <strong>und</strong> einflussreichste Nation spielen können? Wie entwickelt<br />

sich zukünftig die Europäische Union? Werden mehr Länder aus den<br />

Peripherien in die Semiperipherien <strong>und</strong> Zentren des neuen Weltsystems<br />

aufrücken? Welche Probleme ergeben sich daraus für die lokale, regionale<br />

<strong>und</strong> internationale Entwicklung? Welche neuen Technologien werden die<br />

humangeographischen Gegebenheiten wohl am stärksten beeinflussen <strong>und</strong><br />

verändern? Wird die Globalisierung regionale Kulturen untergraben?<br />

Werden wir durch Technologien <strong>und</strong> Entwicklungen in der Lage sein,<br />

mit Umweltbelastungen umzugehen, zu denen die Globalisierung <strong>und</strong><br />

das rasche Anwachsen der Weltbevölkerung unweigerlich führen? Werden<br />

neue Regionen entstehen, deren Basis der Handel, das Internet oder politische<br />

Bewegungen wie der Widerstand gegen die Globalisierung oder die<br />

Menschenrechtsbewegung sind? Dies sind nur einige von vielen Fragen, die<br />

sich aus den in den Kapiteln 5 bis 12 beschriebenen Schlüsselthemen der<br />

<strong>Humangeographie</strong> ergeben. Auf der Basis der gr<strong>und</strong>legenden Prinzipien<br />

<strong>und</strong> Konzepte aus den Kapiteln 1 bis 4 sollen hier nun einige Szenarien<br />

zukünftiger Geographien beleuchtet werden.<br />

Schlüsselsätze<br />

mm<br />

In gewisser Weise ist in den globalen institutionellen Strukturen <strong>und</strong><br />

in der derzeitigen Bevölkerungsdynamik bereits ein Stück Zukunft enthalten.<br />

Großen Einfluss auf die humangeographischen Gegebenheiten werden<br />

die neuen Entwicklungen in den Bereichen Transport, Biotechnologie,<br />

Werkstoffe <strong>und</strong> Informationstechnologie haben.<br />

Die Zukunft wird unabdingbar auch zu Konflikten <strong>und</strong> Bedrohungen<br />

auf geographisch unterschiedlichen Ebenen führen. Die Konturen politischer<br />

Grenzen <strong>und</strong> Territorien werden verschwimmen, kulturelle<br />

Kontroversen werden zutage treten <strong>und</strong> die Nachhaltigkeit der Entwicklung<br />

wird beeinträchtigt. : 1


726 13 Geographien der Zukunft<br />

Blick in die Zukunft<br />

Die beste Art <strong>und</strong> Weise sich den in der Einleitung<br />

genannten Fragen zu nähern, ist ein Gespür dafür<br />

zu entwickeln, wie verschiedene Aspekte der Globalisierung<br />

die Welt bis heute verändert haben <strong>und</strong> dies<br />

auch weiterhin tun werden. Wie bereits in Kapitel 2<br />

besprochen, ist seit 500 Jahren die Globalisierung des<br />

kapitalistischen Weltsystems im Gange. Aber seit dem<br />

Ende des Zweiten Weltkriegs haben sich die weltweite<br />

Integration <strong>und</strong> der Wandel der bestehenden Ordnung<br />

außergewöhnlich beschleunigt. Zu den treibenden<br />

Kräften von Integration <strong>und</strong> Wandel gehören das<br />

Entstehen regionaler Allianzen wie zum Beispiel die<br />

Europäische Union oder die Organisation Erdöl<br />

exportierender Länder (OPEC), die zunehmende<br />

Vernetzung selbst abgelegenster Regionen dank Telekommunikation<br />

<strong>und</strong> Verkehrsanbindung, das Aufkommen<br />

der new economy in den Kernländern<br />

sowie die Schaffung globaler Institutionen wie der<br />

Welthandelsorganisation (WTO). Wie wird die Zunahme<br />

globaler Verflechtungen - <strong>und</strong> die entsprechenden<br />

Reaktionen der Öffentlichkeit darauf - das<br />

Schicksal <strong>und</strong> die Entwicklungschancen der verschiedenen<br />

Erdregionen verändern, deren aktueller Aufbau<br />

eher aus dem Kolonialismus des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

herrührt als von den Integrations- <strong>und</strong><br />

Ausschlussprozessen des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts? Um diese<br />

<strong>und</strong> andere wichtige Fragen beantworten zu können,<br />

müssen wir uns mit den Expertenaussagen über die<br />

treibenden Kräfte der Globalisierung <strong>und</strong> deren künftiges<br />

Potenzial auseinandersetzen. Doch zunächst<br />

müssen wir uns mit der schwierigen Aufgabe befassen,<br />

die Zukunft vorherzusagen. Wir müssen fragen,<br />

wie Vorhersagen gemacht werden <strong>und</strong> wie nützlich<br />

solche Prognosen sein können.<br />

Es mangelt auch in der heutigen Zeit nicht an Zukunftsvisionen<br />

(Exkurs 13.1 „Geographie in Beispielen<br />

- Gehen wir dunklen Zeiten entgegen?“). Die Optimisten<br />

heben das Potenzial neuer Technologien für<br />

die Erschließung <strong>und</strong> Nutzung neuer Ressourcen hervor.<br />

Sie sollen eine höhere Geschwindigkeit <strong>und</strong> Effektivität<br />

von Transport <strong>und</strong> Kommunikation gewährleisten<br />

<strong>und</strong> neue Lebensweisen ermöglichen.<br />

Solche Perspektiven mit ihren Kilometer hohen Wolkenkratzern<br />

<strong>und</strong> raumschiffähnlichen Wohnwaben<br />

entstammen den Vorstellungen aus Science-Fiction-Romanen.<br />

Geht es nach ihnen, lebt der Mensch<br />

der Zukunft gleichwohl in Harmonie mit seiner Umwelt,<br />

während die Informationswege im Cyberspace<br />

beispiellose soziale <strong>und</strong> kulturelle Entwicklungen<br />

vorantreiben. Supranationale Parlamente, vielleicht<br />

sogar eine Weltregierung, werden die politischen, sozialen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Verhältnisse stabilisieren<br />

<strong>und</strong> homogenisieren. Welche Art von Geographie<br />

solche Szenarien unterfüttern könnte, bleibt gleichwohl<br />

im Dunkeln. Meistens, so wird versichert, werden<br />

die Gesetze des Raumes als solchem wie die des<br />

individuellen geographischen Ortes mithilfe neuer<br />

Technologien überw<strong>und</strong>en.<br />

Die Pessimisten unter den Futurologen halten<br />

derlei Szenarien indes für eine „globale Träumerei“.<br />

Sie weisen auf die Endlichkeit irdischer Ressourcen<br />

hin, auf die empfindliche Umwelt <strong>und</strong> die globale Bevölkerungsentwicklung,<br />

welche die peripheren Regionen<br />

vor unlösbare Probleme stellt. Am Ende irreversibler<br />

Umweltzerstörungen, ansteigender sozialer<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlicher Polarisierungen <strong>und</strong> des Zerfalls<br />

von Recht <strong>und</strong> Ordnung fürchten sie den Tag des<br />

Jüngsten Gerichts. Die mit diesen Szenarien einhergehenden<br />

Geographien bleiben ebenfalls ungewiss,<br />

allerdings gehen sie von einer Verschärfung der Gegensätze<br />

zwischen Reich <strong>und</strong> Arm auf allen räumlichen<br />

Maßstabsebenen aus.<br />

Glücklicherweise müssen wir uns nicht zwischen<br />

diesen beiden extremen Szenarien von Optimismus<br />

<strong>und</strong> Pessimismus entscheiden. Auf der Basis der<br />

bis hierher erläuterten Prinzipien der <strong>Humangeographie</strong><br />

können wir die zukünftige Entwicklung viel besser<br />

einschätzen. Dazu ist zunächst ein Blick in die<br />

Vergangenheit notwendig. Anschließend werden<br />

die derzeitigen Entwicklungen betrachtet, um dann,<br />

aufbauend auf unseren Kenntnissen über den geographischen<br />

Wandel <strong>und</strong> die Prinzipien räumlicher Organisation,<br />

ein denkbares Bild zukünftiger Geographien<br />

zu entwerfen.<br />

Überblickt man die historisch-geographischen<br />

Veränderungen des Weltsystems, so ergibt sich für<br />

die Zeit zwischen dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs<br />

(1914) <strong>und</strong> dem Zerfall der Sowjetunion<br />

(1989) eine ziemlich einheitliche Periode wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> geopolitischer Entwicklung. Einige Historiker<br />

bezeichnen diese Periode auch als das „kurze 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert“. Es war eine Zeit, in der sich innerhalb<br />

des modernen Weltsystems die USA, Westeuropa<br />

<strong>und</strong> Japan als Zentren der Triade herausbildeten,<br />

Geopolitik auf dem Ost-West-Gegensatz basierte<br />

<strong>und</strong> die Weltökonomie vom Nord-Süd-Gefälle bestimmt<br />

war. Innerhalb dieser Rahmenbedingungen<br />

waren die geographischen Verhältnisse einzelner Regionen<br />

<strong>und</strong> Standorte geprägt durch die Erfordernisse<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten technologischer Systeme (Verbrennungsmotor,<br />

Mineralöle <strong>und</strong> Kunststoffe, Luftfahrt,<br />

elektrische <strong>und</strong> elektronische Systeme). Jenes<br />

kurze Jahrh<strong>und</strong>ert gab der modernen Welt ihr heu-


Blick in die Zukunft 727<br />

Exkurs 13.1<br />

Geographie in Beispielen -<br />

Gehen wir dunklen Zeiten entgegen?<br />

Jane Jacobs, eine der einflussreichsten Intellektuellen der<br />

letzten 75 Jahren in Nordamerika, verkündete 2004 in der<br />

Zeitschrift Business Week, dass die Vereinigten Staaten am<br />

Beginn eines neuen „Dunklen Zeitalters“ stehen. Die<br />

Ursachen dafür liegen in einem Verfall der fünf Säulen der<br />

modernen Gesellschaft: Gemeinschaft <strong>und</strong> Familie, akademische<br />

Bildung, Nutzung von Wissen <strong>und</strong> Technologie, berufliche<br />

Integrität sowie die Rolle der Regierung im Hinblick auf<br />

die Bedürfnisse <strong>und</strong> Potenziale der Gesellschaft.<br />

Jacobs war lange Zeit eine leidenschaftliche Befürworterin<br />

städtischer Räume <strong>und</strong> städtischen Lebens gewesen <strong>und</strong> ihre<br />

Sicht hatte in der Öffentlichkeit große Aufmerksamheit gef<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> wurde sehr kontrovers diskutiert. Jedoch geht<br />

die von Jacobs formulierte Angst vor einem dunklen Zeitalter<br />

weit über ihre früheren Argumente über die Entwicklung städtischer<br />

Räume hinaus. Im Zentrum ihrer Kritik stehen vor<br />

allem die akademische Bildung, die Nutzung <strong>und</strong> Anwendung<br />

von wissenschaftlichen Erkenntnissen, die Bedeutung der<br />

Berufsstände sowie die Rolle der Regierung.<br />

„Eine Kultur ist nicht rettenswert“, so schreibt Jacobs'<br />

„wenn ihre stabilisierenden Kräfte sich selbst zerstören“.<br />

Jacobs gründet ihre Befürchtungen auf folgende Entwicklungen:<br />

• Der internationale Markt ist zunehmend von gemeinsam<br />

getragenen unmoralischen Zuständen gekennzeichnet,<br />

die an die Stelle der Verpflichtungen zur sozialen Gerechtigkeit<br />

getreten sind.<br />

• Die Universitäten forschen <strong>und</strong> arbeiten vor allem für<br />

Firmen <strong>und</strong> verstehen sich nur noch als Qualifikationsfabriken,<br />

in denen Musik, Kunst, ethnische Gr<strong>und</strong>sätze,<br />

Idealismus <strong>und</strong> die Idee des Allgemeinwohls zunehmend<br />

aus der Wissensvermittlung ausgeklammert werden.<br />

• Wissenschaftliche Forschung wird zunehmend unmoralisch,<br />

indem sie im Auftrag von Unternehmen durchgeführt<br />

wird <strong>und</strong> von diesen oder der Regierung beschnitten<br />

<strong>und</strong> die Forschungsergebnisse ignoriert werden.<br />

• Nach Auffassung neoliberaler politischer Ökonomen<br />

können Stadt- <strong>und</strong> Regionalentwicklung abgeschafft<br />

werden.<br />

Jacobs übt sich nicht gerade in verbaler Zurückhaltung: Über<br />

die Universitäten sagt sie, dass diese langsam zu Qualifizierungsakademien<br />

mutiert sind, die Kunst, Dichtung, Moral,<br />

Idealismus <strong>und</strong> der Idee des sozialen Gemeinwohls den<br />

Rücken gekehrt haben. Die Bildungseinrichtungen sind mitschuldig<br />

daran, dass Unternehmen, Firmen <strong>und</strong> Regierungen<br />

die wissenschaftliche Forschung kontrollieren <strong>und</strong> lenken -<br />

<strong>und</strong> manchmal auch unterdrücken. Universitäten gehören<br />

nicht mehr zu den kulturellen Säulen der Gesellschaft, sondern<br />

sie bedienen inzwischen die Bedürfnisse von Firmen <strong>und</strong><br />

Arbeitgebern. Jacobs spricht in diesem Zusammenhang von<br />

„Akademien als ökonomische Vorposten“, die ihren Absolventen<br />

ein „Waffenarsenal“, also einen Universitätsabschluss,<br />

mitgeben, der sie deutlich von Arbeitnehmern<br />

ohne marktfähige Qualifizierung abgrenzt.<br />

Ebenso direkt äußert sich Jacobs über die Berufsstände:<br />

Sie nimmt vor allem Buchhalter, Bankiers, Rechtsanwälte <strong>und</strong><br />

weitere Finanzberufe aufs Korn, deren moralische Auffassungen<br />

<strong>und</strong> Geschäftspraktiken durch die ständigen Firmenskandale<br />

der letzten 20 Jahre mehr als fraglich geworden sind.<br />

Aber auch die in der öffentlichen Planung Tätigen sind in<br />

ihre Kritik der städtischen Entwicklung einbezogen. Städte<br />

sind nach Jacobs unverzichtbare wirtschaftliche Motoren<br />

<strong>und</strong> Zentren des kulturellen Wandels <strong>und</strong> der Innovation,<br />

aber sie hungern förmlich nach Geld, das sie sich von den<br />

Nationalstaaten <strong>und</strong> örtlichen Regierungen verschaffen.<br />

Der Abbau des öffentlichen Personennahverkehrs, die gekürzten<br />

Finanzen im Bildungssektor, zunehmende Umweltverschmutzung,<br />

wachsende soziale Polarisation, Verfall der<br />

Gemeinschaft <strong>und</strong> eine zunehmende Verdrossenheit unter<br />

den Staatsbürgern - all das gehe auf das Konto einer neoliberalen<br />

Politik. Die Familie wird in der gesellschaftlichen<br />

Qrdnung zunehmend vernachlässigt. Beide Elternteile sind<br />

gezwungen, für den Lebensunterhalt der Familie zu arbeiten.<br />

Auch der Stellenwert der Gemeinschaft ist auf dem absteigenden<br />

Ast, denn die heutige Gesellschaft fördert Ausuferung,<br />

Heimatlosigkeit <strong>und</strong> das Leben in auf den motorisierten<br />

Individualverkehr ausgerichteten Vorstädten. Diese<br />

Aussagen entsprechen im Wesentlichen der Kritik, die Jacobs<br />

bereits in The death and life of great American cities geäußert<br />

hatte.<br />

In diesem ausführlichen Beitrag bekennt Jacobs: „Ich habe<br />

dieses warnende Buch in der Hoffnung geschrieben, dass Zeit<br />

für korrigierende Eingriffe bleibt“. Für diese korrigierenden<br />

Einflüsse ist eine Basis von geographischem Wissen wesentlich,<br />

die dazu beiträgt eine genaue Analyse vorzunehmen <strong>und</strong><br />

aktiv zu einem Kräfteausgleich beizutragen.<br />

Jacobs, J. Dark Age Ahead: Caution. New York, Random House, 2004


728 13 Geographien der Zukunft<br />

tiges Antlitz mit den uns bekannten Landschaften<br />

<strong>und</strong> Raummustern: von den industriell geprägten<br />

Zentren bis hin zu den unkontrolliert wachsenden<br />

Metropolen der Peripherie, von dem Länderblock<br />

des kapitalistischen Westens mit ähnlichen politischen<br />

Interessen einerseits, bis zu den gerade erst unabhängig<br />

gewordenen Nationalstaaten des Südens andererseits.<br />

Heute scheint diese vertraute Geographie der modernen<br />

Welt infolge zahlreicher unerwarteter Ereignisse<br />

zu verschwinden. Wir sind in eine Übergangsphase<br />

eingetreten, ausgelöst durch das Ende des Kalten<br />

Kriegs 1989, <strong>und</strong> die Situation ist komplexer geworden<br />

aufgr<strong>und</strong> des geopolitischen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Nachhalls des terroristischen Anschlags vom 11. September<br />

2001. Das Resultat ist eine Reihe unerwarteter<br />

Entwicklungen. Die Vereinigten Staaten beispielsweise<br />

haben Russland Entwicklungshilfe geleistet, wäh­<br />

rend osteuropäische Länder Mitglied der NATO<br />

oder der EU wurden. In Deutschland kam es zur Wiedervereinigung,<br />

während die Tschechoslowakei <strong>und</strong><br />

Jugoslawien zerfielen. Unterdessen führte eine unerwartet<br />

friedliche Revolution in Südafrika zur Regierungsübernahme<br />

durch die schwarze Mehrheit. Zur<br />

gleichen Zeit verübten muslimische Fanatiker Terroranschläge<br />

gegen Touristen, Regierungsgebäude <strong>und</strong><br />

den Luftverkehr; ehemalige russische Ultranationalisten<br />

sympathisieren mit deutschen Neonazis; in Südasien<br />

kommt es zum offenen Krieg zwischen Hindus,<br />

Sikhs <strong>und</strong> Moslems; <strong>und</strong> im Sudan beschlagnahmt<br />

das Militär internationale Hilfsgüter, um sie an diejenigen<br />

Flüchtlinge zu verkaufen, für die sie eigentlich<br />

bestimmt waren.<br />

Diese Beispiele zeigen, dass sich die zukünftigen<br />

Geographien nicht einfach aus den Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> räumlichen Strukturen der Vergangenheit ablei-<br />

Tabelle 13.1 Die Welt im Jahr 2020<br />

•i<br />

Relative Gewissheiten<br />

Globalisierung weitgehend irreversibel, Zentrierung<br />

auf die westliche Welt wahrscheinlich abnehmend<br />

Weltwirtschaft wesentlich größer<br />

steigende Zahl global agierender Unternehmen<br />

erleichtert Ausbreitung neuer Technologien<br />

Wesentliche Ungewissheiten<br />

ob die Globalisierung hinterher hinkende Ökonomien erfassen wird;<br />

Ausmaß, in dem Ländern Asiens neue „Spielregeln“ vorgeben werden<br />

Tiefe der Kluft zwischen Arm <strong>und</strong> Reich; Rückfälligwerden fragiler<br />

Demokratien; Bewältigung oder Abwehr von Finanzkrisen<br />

Ausmaß, in dem weltweite Verflechtungen Regierungen infrage<br />

stellen<br />

I<br />

I<br />

Aufstieg Asiens <strong>und</strong> Herausbildung von möglicherweise<br />

neuen wirtschaftlichen „Mittelgewichten“<br />

ob der Aufstieg von China/Indien reibungslos verläuft<br />

R I<br />

I<br />

M f<br />

N<br />

E'<br />

w<br />

alternde Bevölkerungen in den etablierten<br />

Industriestaaten<br />

fossile Energieträger decken den weltweiten Bedarf<br />

nichtstaatliche Akteure gewinnen an Macht<br />

der politische Islam bleibt eine einflussreiche Größe<br />

einige Staaten besitzen vergrößerte Arsenale an<br />

Massenvernichtungswaffen<br />

Bogen der Instabilität spannt sich vom Nahen Osten<br />

über Asien <strong>und</strong> Afrika<br />

zum totalen Krieg eskalierender Machtkonflikt<br />

unwahrscheinlich<br />

Umwelt- <strong>und</strong> ethische Fragen noch stärker im<br />

Vordergr<strong>und</strong><br />

die USA sind weiterhin der wirtschaftlich,<br />

technologisch <strong>und</strong> militärisch mächtigste Akteur<br />

Fähigkeit der EU <strong>und</strong> Japans, Arbeitsmarkt <strong>und</strong> Sozialsysteme<br />

anzupassen <strong>und</strong> Einwanderergruppen zu integrieren; ob die EU eine<br />

Supermacht wird<br />

politische Instabilität in Erzeugerländern; Versorgungsengpässe<br />

Bereitschaft <strong>und</strong> Fähigkeit von Staaten <strong>und</strong> internationalen<br />

Institutionen, sich auf diese Akteure einzustellen<br />

Auswirkung von Religiosität auf die Einheit von Staaten <strong>und</strong><br />

Konfliktpotenzial islamistischer Ideologie<br />

mehr oder weniger Atommächte; Fähigkeit von Terroristen, in Besitz<br />

biologischer, chemischer oder nuklearer Waffen zu gelangen<br />

unvorhergesehene Ereignisse, die den Sturz von Regimen<br />

herbeiführen<br />

Fähigkeit, Krisen <strong>und</strong> den Wettstreit um Ressourcen zu entschärfen<br />

Ausmaß, in dem neue Technologien ethische Probleme schaffen<br />

oder lösen<br />

ob andere Länder Washington offener herausfordern; ob die USA<br />

ihre Überlegenheit in Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie verlieren<br />

Quelle: National Intelligence Council. Mapping the Global Future. Washington DC (US Government Printing Office). 2004, S. 8


Ressourcen, Technologien <strong>und</strong> räumlicher Wandel 729<br />

ten lassen. Sie entstehen vielmehr aus einer Kombination<br />

von existierenden Mustern <strong>und</strong> neuen Trends.<br />

Anders ausgedrückt gilt es also abzuschätzen, welche<br />

neuen Kulturlandschaften <strong>und</strong> räumlichen Strukturen<br />

aus den Bruchstücken des Überkommenen<br />

<strong>und</strong> den gegenwärtigen Wandlungen erwachsen<br />

werden.<br />

Dies ist sicher ein schwieriges <strong>und</strong> spekulatives<br />

Unterfangen, gleichwohl bietet das Wissen über Mechanismen<br />

geographischer Veränderungen <strong>und</strong> die<br />

Prinzipien räumlicher Organisation Gr<strong>und</strong> zur Zuversicht<br />

bei Voraussagen. Das Studium der <strong>Humangeographie</strong><br />

führt zu der Erkenntnis, dass der räumliche<br />

Wandel Folge einer Reihe von lokalen Prozessen<br />

ist (Kapitel 7), welche auf bestimmten Prinzipien<br />

räumlicher Organisation innerhalb des dynamischen<br />

Weltsystems beruhen (Kapitel 2). Es hat uns auch gelehrt,<br />

dass räumliche Organisation <strong>und</strong> räumlicher<br />

Wandel höchst unterschiedliche Dimensionen annehmen<br />

können, angefangen von der demographischen<br />

Ebene (Kapitel 3) bis hin zur urbanen<br />

(Kapitel 12).<br />

Ein Blick in die Zukunft macht deutlich, dass<br />

einige humangeographische Dimensionen in ihren<br />

zeitlichen Veränderungen besser vorhersagbar sind<br />

als andere (Tab. 13.1). In gewissen Bereichen hat<br />

die Zukunft bereits begonnen, ist Bestandteil globaler<br />

institutioneller Strukturen <strong>und</strong> äußert sich in der<br />

dynamischen Bevölkerungsentwicklung. Auf der<br />

Basis heutiger Geburten- <strong>und</strong> Sterberaten wissen<br />

wir über die demographischen Trends der kommenden<br />

25 Jahre beispielsweise recht gut Bescheid.<br />

Weitgehend bekannt sind auch die begrenzten Vorkommen<br />

natürlicher Ressourcen, die Eigenschaften<br />

lokaler <strong>und</strong> regionaler Ökonomien sowie die rechtlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Rahmenbedingungen, innerhalb<br />

derer der geographische Wandel vermutlich<br />

erfolgt.<br />

Andere Zukunftsaspekte sind dagegen so gut wie<br />

unbekannt. Zu den größten Unwägbarkeiten gehören<br />

die politischen <strong>und</strong> technologischen Entwicklungen.<br />

Während einige Faktoren - zum Beispiel die möglicherweise<br />

wachsende Bedeutung des ethnisch geprägten<br />

Nationalismus oder die Entwicklung neuer Hochgeschwindigkeitszüge<br />

- vorhersehbar sind, können<br />

andere Entwicklungen der politischen <strong>und</strong> technologischen<br />

Systeme überraschend <strong>und</strong> unerwartet einsetzen.<br />

Die Anschläge vom 11. September 2001 in<br />

den USA waren ein schmerzhaftes Beispiel dafür, welche<br />

unvorhergesehenen politischen Ereignisse passieren<br />

können, ln einer Zeitspanne von nur 100 Minuten<br />

ließen Terroristen zwei Flugzeuge in das World<br />

Trade Center <strong>und</strong> eines in das Pentagon rasen, versetzten<br />

der US-amerikanischen Wirtschaft einen<br />

empfindlichen Schlag <strong>und</strong> das gesamte Land in militärische<br />

Alarmbereitschaft <strong>und</strong> veränderten das tägliche<br />

Leben in den USA ganz entscheidend. Andere<br />

mögliche Szenarien wie zum Beispiel eine politische<br />

Instabilität in Saudi-Arabien, Krieg zwischen Nordkorea<br />

<strong>und</strong> seinen Nachbarländern oder ein plötzlicher<br />

Durchbruch in der Biotechnologie können<br />

Geographien schlagartig <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legend verändern.<br />

L<br />

Ressourcen, Technologien<br />

<strong>und</strong> räumlicher Wandel<br />

Wie bereits in Kapitel 2 beschrieben, wirkten sich<br />

technologische Durchbrüche <strong>und</strong> die Nutzbarkeit<br />

der Ressourcen wesentlich auf frühere Entwicklungsprozesse<br />

aus <strong>und</strong> aller Wahrscheinlichkeit nach werden<br />

zahlreiche Aspekte zukünftiger Geographien<br />

ebenfalls von der Nachfrage nach bestimmten Ressourcen<br />

<strong>und</strong> der Nutzung neuer Technologien abhängen.<br />

Die Evolution dieser Welt war immer von den<br />

Schlüsselressourcen sowie von den Vor- <strong>und</strong> Nachteilen<br />

einzelner Standorte <strong>und</strong> Regionen durch zeitlich<br />

einander ablösende Technologiesysteme abhängig.<br />

Man kann daher fragen, auf welche Ressourcen<br />

sich in Zukunft das Interesse richten wird <strong>und</strong> welcher<br />

Art die technologischen Veränderungen sein<br />

werden.<br />

Im Zuge der weltwirtschaftlichen Expansion <strong>und</strong><br />

der Globalisierung der Industrie wird es zweifelsfrei<br />

zu einer verstärkten Nachfrage nach den unterschiedlichsten<br />

Rohstoffen kommen. Vor allem einige bergbaulich<br />

bis dahin wenig entwickelte Regionen in Afrika,<br />

Eurasien <strong>und</strong> Ostasien können mit ihren bisher<br />

ungenutzten Rohstoffen davon profitieren. Aber derlei<br />

Rohstoffe machen natürlich nur einen kleinen Teil<br />

der zukünftig benötigten Ressourcen aus. Das Hauptproblem<br />

wird eindeutig im Bereich der Energieversorgung<br />

liegen. Der Weltenergieverbrauch ist in der<br />

jüngeren Vergangenheit stetig angestiegen (Abbildung<br />

13.1), <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der zunehmenden Industrialisierung<br />

sowie der wachsenden Bevölkerung in<br />

den Ländern der Peripherie wird sich dieser Trend<br />

in Zukunft noch kräftig verstärken. Gerade die Entwicklung<br />

einer industriellen Basis ist häufig von<br />

einem besonders hohen Energieverbrauch gekennzeichnet.<br />

Die Internationale Energiebehörde lEA (International<br />

Energy Agency) geht - ziemlich optimi-


730 13 Geographien der Zukunft<br />

i<br />

BevölKem ngszahi <strong>und</strong> Pro-Kopf>Energieverbrauch (2002)<br />

Europa Nachfolgestaaten Nord- Mittel- <strong>und</strong> Afrika Asien<br />

der UDSSR amerika Südamerika <strong>und</strong> Indien<br />

13.1 Entwicklung des Energieverbrauchs Der globale<br />

Energieverbrauch steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich. Weltweit<br />

wurden im Jahr 2003 14,3 Milliarden SKE (Steinkohleeinheiten)<br />

verbraucht, das ist doppelt so viel wie noch 1970.<br />

Prognosen gehen davon aus, dass sich der weltweite Verbrauch<br />

bis zum Jahr 2050 noch einmal verdoppeln wird. Hierzu tragen<br />

in Zukunft verstärkt auch große Schwellenländer wie China <strong>und</strong><br />

Indien bei, aber natürlich auch der anhaltende Energiehunger<br />

der Industrieländer. Damit intensiviert sich der weltweite Verteilungskampf<br />

um Rohstoffe <strong>und</strong> Energie. Überdies sind die<br />

Energiereserven räumlich sehr ungleich verteilt. R<strong>und</strong> 70 Prozent<br />

der Welterdölreserven <strong>und</strong> r<strong>und</strong> 40 Prozent des Ergases<br />

kommen aus einer Region, die von der Arabischen Halbinsel <strong>und</strong><br />

dem Persischen Golf bis zu den Anrainerstaaten des Kaspischen<br />

Meeres reicht. Die politische Stabilität dieser Staaten steht<br />

teilweise in Frage.<br />

stisch - davon aus, dass die peripheren Regionen in<br />

Zukunft ähnlich intensiv Energie erzeugen, wie es<br />

heute die Länder des Zentrums tun. Demnach wird<br />

sich der Energiebedarf der Entwicklungsländer bis<br />

zum Jahre 2015 verdoppeln, was einen Anstieg des<br />

weltweiten Energiebedarfs um fast 50 Prozent zur<br />

Folge hätte.<br />

Bis 2020 werden die peripheren <strong>und</strong> semiperipheren<br />

Länder mehr als die Hälfte des weltweiten Energieangebots<br />

für sich beanspruchen. Davon wird ein<br />

Großteil in die Industrien fließen, die den Weltmarkt<br />

mit Automobilen, Klimaanlagen, Kühlschränken,<br />

Fernsehgeräten, Haushaltsgegenständen <strong>und</strong> anderen<br />

Konsumgütern beliefern.<br />

Es bedarf in Zukunft zunehmender Investitionen<br />

in die Erk<strong>und</strong>ung <strong>und</strong> Förderung von Rohstoffen<br />

wie Öl, Kohle <strong>und</strong> Gas. Ansonsten wird die Produktion<br />

nicht in der Lage sein, die wachsende Nachfrage<br />

zu decken. Viele Experten glauben, dass die aktuellen<br />

Produktionsraten tatsächlich den „Höchststand des<br />

Öls“ anzeigen <strong>und</strong> dass im Jahr 2020 die weltweite<br />

Erdölproduktion nur 90 Prozent des aktuellen Spitzenwerts<br />

betragen wird, sodass es zu einem beträchtlichen<br />

Anstieg der Energiepreise kommen wird. Dies<br />

hätte einschneidende Folgen bis in die feinsten geographischen<br />

Verästelungen: Firmen müssten ihre<br />

Strategien neu ausrichten, während die privaten<br />

Haushalte in den Ländern des Zentrums ihre Ansprüche<br />

an das Wohnen oder das Pendlerverhalten zu<br />

überdenken hätten. Darüber hinaus wären die Menschen<br />

in der Peripherie von noch größerer Armut bedroht.<br />

Wenn die Ölkrise von 1973 - damals hatte das<br />

Kartell der OPEC-Länder die Ölpreise vervierfacht -<br />

eines deutlich gezeigt hat, dann dies, dass die Verteuerung<br />

von Energie zu tief greifenden Veränderungen<br />

in den Mustern industrieller Standorte <strong>und</strong> städtischer<br />

Strukturen führt. Deutlich höhere Energiekosten<br />

können die Standorteigenschaften entscheidend<br />

beeinflussen, sodass es an der einen Stelle zur Deindustrialisierung<br />

kommt, an anderer hingegen zu<br />

einer neuen Spirale kumulativer Verstärkung. Wegen<br />

höherer Kraftstoffpreise werden sich immer mehr<br />

Menschen für einen Wohnort in der Nähe des<br />

Arbeitsplatzes entscheiden. Zudem können Teleheimarbeitsplätze<br />

die Kosten für den Personaltransport<br />

senken.<br />

Es ist auch wichtig festzustellen dass nahezu die gesamte<br />

Erhöhung der Erdölförderung in den nächsten<br />

15 bis 20 Jahren aus Räumen außerhalb der Kernregionen<br />

der Weltwirtschaft kommen wird. Dies bedeutet<br />

dass die Weltwirtschaft zunehmend abhängig<br />

wird von den Regierungen der OPEC-Staaten welche<br />

die Kontrolle über 70 Prozent aller gesicherten Ölreserven<br />

haben, die meisten davon im Vorderen<br />

Orient.<br />

Wo Geld für Forschung <strong>und</strong> Entwicklung vorhanden<br />

ist, können neue Materialien den steigenden<br />

Energie- <strong>und</strong> Rohstoffbedarf für die Gewinnung herkömmlicher<br />

Rohmaterialien wie Aluminium, Kupfer<br />

<strong>und</strong> Zinn dämpfen. Japan könnte den Kraftstoffverbrauch<br />

seiner Autos durch den Einsatz keramischer<br />

Werkstoffe um 15 Prozent senken, was einer Gesamteinsparung<br />

von drei Prozent entspräche. Keramiken<br />

könnten auch andere teure Rohmaterialien im Bereich<br />

hitzebeständiger Komponenten ersetzen. Zudem<br />

werden neue Technologien <strong>und</strong> ein optimiertes<br />

Produktdesign einen positiven Einfluss auf die Nachfrage<br />

bestimmter Ressourcen haben. So waren die<br />

amerikanischen Automobile 2004 um 22 Prozent<br />

leichter als ihre Vorgängermodelle aus dem Jahre<br />

1974. Hinzu kommt natürlich, dass zukünftige technologische<br />

Innovationsschritte vielleicht zu abermals<br />

drastischen Effizienzsteigerungen führen oder die<br />

wirtschaftliche Nutzung erneuerbarer Energien (wie<br />

Wind-, Gezeiten- oder Sonnenenergie) ermöglichen.<br />

Genau wie im Falle der technologischen Revolutionen<br />

der Vergangenheit (Dampfenergie, Elektrizität,<br />

Verbrennungsmotoren <strong>und</strong> Kernkraft) wären auch


Ressourcen, Technologien <strong>und</strong> räumlicher Wandel 731<br />

die zukünftigen Entwicklungen Katalysatoren für eine<br />

tief greifende Neuordnung der globalen Wirtschaftsgeographien.<br />

Welche neuen Technologien werden die humangeographischen<br />

Gegebenheiten wohl am intensivsten<br />

beeinflussen? Vergegenwärtigt man sich die geographischen<br />

Wandlungsprozesse der Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> die allgemeinen Prinzipien räumlicher Organisation,<br />

so besteht an der f<strong>und</strong>amentalen Bedeutung der<br />

Transporttechnologien kein Zweifel. Man denke<br />

nur an die Auswirkungen hochseetauglicher Dampfschiffe<br />

<strong>und</strong> der Eisenbahn im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert oder<br />

an die umfassenden Konsequenzen, welche die Verbreitung<br />

des Automobils <strong>und</strong> des Lastkraftwagens im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert mit sich brachten (Kapitel 2). Zu<br />

den wichtigsten Transporttechnologien, welche die<br />

Raumüberwindung der nächsten Generation prägen,<br />

gehören sicherlich Hochgeschwindigkeitszüge sowie<br />

mit elektronischen Steuerungen ausgestattete smart<br />

roads <strong>und</strong> smart cars. Auch verschiedene neu entstehende<br />

Industriebereiche könnten von so großer Bedeutung<br />

sein, dass sie einmal die Muster internationaler,<br />

regionaler <strong>und</strong> lokaler Entwicklung beeinflussen.<br />

Studien im Auftrag der Regierungen der USA,<br />

Japans <strong>und</strong> der Europäischen Union sowie der<br />

OECD (Organization for Economic Cooperation<br />

and Development) <strong>und</strong> der Vereinten Nationen kommen<br />

zu dem Schluss, dass Biotechnologie, Materialforschung<br />

<strong>und</strong> Informationstechnologie die entscheidenden<br />

Felder zukünftiger wirtschaftlicher Entwicklung<br />

darstellen.<br />

T ransporttechnologien<br />

Bei den landgeb<strong>und</strong>enen Systemen liegt der zukünftige<br />

Schwerpunkt sicherlich bei der Entwicklung<br />

neuer Hochgeschwindigkeitszüge. Durch Fortschritte<br />

im Lokomotivbau, bei der Entwicklung spezieller<br />

Trassen <strong>und</strong> der Konstruktion der Triebköpfe <strong>und</strong><br />

Waggons konnten bereits im letzten Jahrzehnt Geschwindigkeiten<br />

von 275 bis 370 Kilometern pro<br />

St<strong>und</strong>e erreicht werden. Kürzere Wartezeiten <strong>und</strong><br />

zentral gelegene Bahnhöfe, großräumig nach dem<br />

Rad-Speichen-System angelegt, werden dazu beitragen,<br />

dass das Flugzeug im Kampf um die Kurzstrekkenverbindungen<br />

das Nachsehen hat. In Florida, Texas<br />

<strong>und</strong> Kalifornien sind solche Systeme bereits in<br />

Planung. Diesbezüglich am weitesten sind indes die<br />

Europäer. Innerhalb des Trans-European Network<br />

(TEN) will die Europäische Union bis zum Jahre<br />

2010 insgesamt 30 000 Kilometer Hochgeschwindigkeitstrassen<br />

verlegen (Abbildung 13.2). Zusätzlich<br />

sind in vielen Teilen Europas schon heute Züge<br />

mit Neigetechnik im Einsatz. Sie mindern in engen<br />

Kurven die Auswirkungen der Zentrifugalkräfte<br />

<strong>und</strong> erreichen deshalb im normalen Gleisnetz höhere<br />

Geschwindigkeiten. Im Jahre 2000 führte die Deutsche<br />

Bahn AG die ICE-Züge (Intercity Express) der<br />

dritten Generation ein. Sie erreichen Geschwindigkeiten<br />

bis zu 330 Kilometer pro St<strong>und</strong>e. Die geographischen<br />

Folgen dieser Entwicklung sind offenk<strong>und</strong>ig:<br />

Rechnen sich diese Systeme erst einmal, dann<br />

sind die daran angeschlossenen Standorte in den<br />

kommenden R<strong>und</strong>en wirtschaftlicher Entwicklung<br />

im Vorteil, während abgelegenere Regionen wohl<br />

ins Hintertreffen geraten werden.<br />

Von ähnlicher Bedeutung werden auch intelligente<br />

Verkehrsleitsysteme (intelligent transport Systems,<br />

ITS) sein, vorausgesetzt es gelingt, sie aus dem Stadium<br />

der Prototypen in die Gewinnzone zu bringen.<br />

Ein ITS ist die Kombination aus sogenannten smart<br />

highways <strong>und</strong> smart cars. Das gr<strong>und</strong>legende Ziel ist<br />

dabei die interaktive Verbindung elektronischer<br />

Fahrzeugsysteme mit Sensoren entlang der Straße,<br />

Satelliten <strong>und</strong> zentralen Verkehrsleitstellen. Diese<br />

Verbindungen erlauben die Echtzeitüberwachung<br />

des Verkehrs <strong>und</strong> ermöglichen es dem Fahrer, sich<br />

über Gegensprechanlagen, Videoanzeigen oder elektronische<br />

Straßenkarten über alternative Fahrtrouten<br />

zu informieren. Im nächsten Schritt käme es zu einer<br />

völligen Automatisierung der Schnellstraßen. Dann<br />

würden Fahrzeugkolonnen in kompakten Verbänden<br />

automatisch <strong>und</strong> praktisch ohne Eingriffe durch den<br />

Fahrer geleitet. Es gäbe weniger Staus, <strong>und</strong> das Fahren<br />

wäre sicherer, weniger umweltbelastend <strong>und</strong> effizienter.<br />

Verdichtungsräume, die über solche Systeme<br />

verfügten, hätten einen signifikanten Standortvorteil<br />

<strong>und</strong> zögen neue Industrien <strong>und</strong> Arbeitskräfte an. Die<br />

erste Generation elektronisch gesteuerter smart cars<br />

<strong>und</strong> smart trucks ist bereits auf der Straße. Sie nutzen<br />

Software zur Routenplanung <strong>und</strong> Verkehrsführung,<br />

das Global Positioning System (GPS) <strong>und</strong> die drahtlose<br />

Kommunikation. Einige Fahrzeuge verfügen<br />

über automatische Geschwindigkeitsregler, welche<br />

den Sicherheitsabstand zum Vordermann einhalten.<br />

In der Entwicklung befinden sich Anlagen, die einen<br />

Unfall überstehen <strong>und</strong> Einzelheiten direkt an eine<br />

Notrufzentrale weiterleiten sollen. Honda, Nissan<br />

<strong>und</strong> Toyota entwickeln kleine elektrische Fahrzeuge,<br />

die von den Nutzern an zentralen Stationen (zum<br />

Beispiel einem Bahnhof) angemietet werden können.<br />

Reisende benötigten dann lediglich eine wieder aufladbare<br />

Scheckkarte, auf der die Nutzungsdauer gespeichert<br />

ist.


732 13 Geographien der Zukunft<br />

Gesam tinvestitionskosten für transeuropäische Netze<br />

0 Flughäfen<br />

1 Wasserwege<br />

■ Bahn<br />

I Straße<br />

D internationales Kennzeichen<br />

D F I E NL A G R G B S DK B P FIN IRL L<br />

EU-Mitgliedsstaaten<br />

llliftB..<br />

' p l 't o 'C Z 'H 'S K iSW 'BG ’ L T 'Iv 'C Y 'E ^<br />

Beitrittskandidaten<br />

13.2 Transeuropäische Verkehrsnetze Die ökonomische <strong>und</strong> politische Integration Europas innerhalb der EU hat in den letzten<br />

Jahrzehnten zu einer massiven Zunahme des Personen- <strong>und</strong> Güterverkehrs, vor allem der grenzüberschreitenden Verkehre, beigetragen.<br />

Der Ausbau transeuropäischer Netze für Verkehr, Energie <strong>und</strong> Telekommunikation v/ird zu einer wichtigen Zukunftsaufgabe (a).<br />

Der Schwerpunkt in der EU liegt dabei in der Entwicklung eines Hochgeschwindigkeitsbahnnetzes durch Neubaustrecken mit<br />

maximalen Geschwindigkeiten von bis zu 300 St<strong>und</strong>enkilometern. In Europa mit seinen relativ kurzen Distanzen zwischen den<br />

größeren Städten <strong>und</strong> seiner großen Bevölkerungsdichte ist prinzipiell die Bahn der vorteilhaftere Verkehrsträger im Vergleich mit dem<br />

Luftverkehr. Allein die Fahrt zum Flughafen <strong>und</strong> das Einchecken dauern oft so lange, dass Bahnfahren schneller <strong>und</strong> bequemer ist. Die<br />

Europäische Union plant in den nächsten Jahren 250 Milliarden Dollar in den Ausbau von 30 000 Kilometer Hochgeschwindigkeitsstrecken<br />

zu investieren. Der Kern des Systems bilden Strecken, welche Paris, Brüssel, Köln, Amsterdam <strong>und</strong> London verbinden.<br />

Dies bringt für die Geographie Europas einige Veränderungen. Hochgeschwindigkeitszüge halten nur an wenigen Bahnhöfen, andernfalls<br />

wären die Zeitverluste durch das Beschleunigen <strong>und</strong> Abbremsen zu hoch. Orte, die nicht an den Strecken liegen, sind dann<br />

schlechter erreichbar <strong>und</strong> verlieren an Attraktivität. Inzwischen verkehrt zwischen Köln <strong>und</strong> Paris bereits der französische „Talys“, im<br />

Jahr 2007 wurde die neue Hochgeschwindigkeitsstrecke zwischen Paris <strong>und</strong> Straßburg eingeweiht, welche dort auch Anschluss an<br />

das deutsche Netz findet (b). (Quelle: Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Verkehr <strong>und</strong> Kommunikation. Heidelberg (Spektrum<br />

Akademischer Verlag) 2001, S. 43)<br />

I I ' t i<br />

Im Seeverkehr existieren derzeit noch keine Entwicklungen<br />

welche einen vergleichbaren Einfluss<br />

haben könnten, wenngleich die EU Forschungen zu<br />

Brennstoffzellen für Ozeandampfer finanziell gefördert<br />

hat. In der Luftfahrt hingegen wartet noch ein<br />

riesiger Markt auf die Erschließung. Der Airbus A<br />

380 gehört zu einer neuen Generation von Großraumflugzeugen<br />

<strong>und</strong> bietet Platz für 850 Passagiere<br />

(das aktuelle Maximum liegt bei 450 Passagieren),<br />

bei einem effizienteren Kraftstoffverbrauch pro Passagier<br />

als ein Mittelklasse-Familienwagen. Geräu.scharme<br />

Überschalltechnologien (Quiet Supersonic Aircraft<br />

Technology, QSAT) werden sich durch neuartige<br />

Triebwerke auszeichnen, die ein lautloses Durchbrechen<br />

der Schallmauer ermöglichen. Wenn wir<br />

noch weiter in die Zukunft blicken, dann soll ein<br />

japanisches Raketenflugzeug in nur 2 St<strong>und</strong>en von<br />

Tokio nach Los Angeles fliegen. So lange ist der<br />

durchschnittliche Pendler heute allein in Tokio unterwegs.<br />

Damit wird eine Zukunft heraufbeschworen,<br />

in der die Führungskräfte ständig zwischen den großen<br />

Metropolen dieser Welt pendeln.<br />

Die neuen Transporttechnologien werden sowohl<br />

auf die Länder des Zentrums als auch auf die der<br />

Peripherie enorme Auswirkungen haben. Eine der<br />

Fragen, die wir uns die.sbezüglich stellen müssen, lautet:<br />

In welchem Umfang erlauben sie eine effiziente<br />

globale Gemeinschaft? Ist es beispielsweise sinnvoll,<br />

große Mengen fossiler Brennstoffe zu verbrauchen<br />

<strong>und</strong> so die Umwelt zu belasten, nur um Gr<strong>und</strong>nah-


Ressourcen,<br />

Technologien <strong>und</strong> räumlicher Wandel 733<br />

rungsmittel um die ganze Welt zu schaffen, während<br />

sie genauso gut vor Ort produziert werden könnten?<br />

Obwohl der französische Apfelanbau auf eine lange<br />

Tradition zurückblicken kann, findet man auf den<br />

lokalen Märkten zunehmend Äpfel aus Neuseeland.<br />

Obwohl die Haltung Milch produzierender Tiere in<br />

der Mongolei weit verbreitet ist, stammt die Butter<br />

in den Regalen der Geschäfte aus Deutschland.


734 13 Geographien der Zukunft<br />

Biotechnologie<br />

Der Begriff Biotechnologie wird meist mit genveränderten<br />

Nutzpflanzen, etwa den Hybridformen von<br />

Reis, Mais, Weizen, Salat, Tomaten, Zuckerrohr<br />

<strong>und</strong> Baumwolle der Grünen Revolution (Kapitel 9),<br />

gleichgesetzt <strong>und</strong> mit den sich daraus ergebenden<br />

pharmazeutischen Potenzialen (durch Produkte wie<br />

Interferon oder Wachstumshormone). Dieser Zweig<br />

wird aller Voraussicht nach jedoch auch die Bereiche<br />

Tierzucht, industrielle Produktion, erneuerbare<br />

Energien <strong>und</strong> Abfall-Recycling sowie die Kontrolle<br />

von Schadstoffemissionen beeinflussen, japanische<br />

Fischzuchtbetriebe produzieren Algen mithilfe der<br />

Zellfusion <strong>und</strong> steigerten damit die Salzwassergarnelenaufzucht<br />

um 350 Prozent. Amerikanische Farmer<br />

setzen zur Erhöhung der Milchproduktion rekombinante<br />

Wachstumshormone von Rindern ein - hergestellt<br />

von gentechnisch veränderten Bakterien. Durch<br />

das Einschleusen eines speziellen Gens gelang die<br />

Zucht frostbeständiger Tomaten, beim Raps sorgt<br />

ein Gen des Lorbeerbaumes für eine bessere Ölausbeute,<br />

ein Hühner-Gen macht die Kartoffel krankheitsresistent.<br />

Die Vereinten Nationen schätzen in ihrem Entwicklungsprogramm,<br />

dass die Anbaufläche genetisch<br />

veränderter Produkte in den fahren von 1996 bis 2000<br />

von zwei auf 44 Millionen Hektar angewachsen ist.<br />

Allein 98 Prozent dieser Flächen liegen in Argentinien,<br />

Kanada <strong>und</strong> den USA. Schon vor der fahrtausendwende<br />

waren 60 verschiedene genetisch veränderte<br />

Feldfrüchte (insbesondere Sojabohnen) auf<br />

den Markt gekommen. Die US-Regierung hat über<br />

4 500 solcher Pflanzen untersucht <strong>und</strong> mehr als 40<br />

davon freigegeben, darunter 13 Mais-, 11 Tomaten<strong>und</strong><br />

4 Sojasorten. In den Vereinigten Staaten waren<br />

2004 bereits über 75 Prozent der Sojabohnen, über<br />

35 Prozent der Maispflanzen <strong>und</strong> über 70 Prozent<br />

der Baumwolle genetisch veränderten Ursprungs.<br />

80 Prozent des hier produzierten Käses enthielt Chymosin,<br />

das von genetisch veränderten Bakterien<br />

stammt. Diese Produkte tauchen in großer Zahl nunmehr<br />

auch in den Regalen der Geschäfte auf <strong>und</strong> finden<br />

sich in Keksen, Kartoffelchips <strong>und</strong> Babynahrung.<br />

Im fahre 2004 waren 75 Prozent des jährlichen Anstiegs<br />

der weltweiten landwirtschaftlichen Produktion<br />

auf die Anwendung biotechnologischer Methoden<br />

zurückzuführen.<br />

Dem sehr freizügigen Umgang mit genveränderten<br />

Pflanzensorten in den Vereinigten Staaten steht eine<br />

erhebliche Skepsis <strong>und</strong> eine entsprechend restriktive<br />

Gesetzgebung in einigen Ländern der Europäischen<br />

Union, besonders in Deutschland, gegenüber. Genverändert<br />

heißt hier meist „genmanipuliert“ - bereits<br />

in der Semantik spiegelt sich eine unterschiedliche<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> Bewertung dieser Technologie.<br />

Optimisten sehen in einer Landwirtschaft mit genverändertem<br />

Saatgut die Lösung des Welthungerproblems.<br />

Zudem lassen sich Pflanzen gentechnisch so<br />

modifizieren, dass sie eine höhere Widerstandsfähigkeit<br />

gegen Schädlingsbefall besitzen. Auf diese Weise<br />

können die Pestizidmengen gegenüber der konventionellen<br />

Landwirtschaft auf ein Fünftel verringert<br />

<strong>und</strong> somit Kosten gespart werden. In jedem Fall<br />

sind die Folgen für die landwirtschaftliche Produktion<br />

ebenso einschneidend wie für die Geographie der<br />

Agrarwirtschaft. Wenn Pflanzen gegenüber Krankheiten,<br />

niedrigen Temperaturen oder anderen Klimafaktoren<br />

resistent werden, hat dies gr<strong>und</strong>legende<br />

Konsequenzen. Orangenhaine <strong>und</strong> Avocadoplantagen<br />

in den gemäßigten Breiten wären dann nur eines<br />

von vielen, heute noch befremdlich anmutenden Szenarien.<br />

Doch die Zukunft genetisch veränderter Feldfrüchte<br />

ist in keiner Weise gesichert. In Europa<br />

<strong>und</strong> fapan stehen sowohl Regierungen als auch Konsumenten<br />

gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln<br />

äußerst skeptisch gegenüber. Hier stellen Umweltgruppen<br />

dieses Thema in den Mittelpunkt ihrer<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> beteiligen sich damit an einer der<br />

wichtigsten kritischen Bewegungen zu Beginn des<br />

21. fahrh<strong>und</strong>erts: lokale Mobilisierung <strong>und</strong> Protest<br />

gegen die transnationale Wirtschaft.<br />

Die Supermärkte in zahlreichen europäischen Ländern<br />

sind dazu übergegangen, ihre gentechnisch veränderten<br />

Waren bereits auf freiwilliger Basis zu kenn<br />

zeichnen <strong>und</strong> verstärkt Produkte aus biologischer<br />

Landwirtschaft zu fördern. Verschiedene Regierungen<br />

haben hier der gesetzlich vorgeschriebenen Auszeichnung<br />

von Produkten mit einem gewissen Anteil<br />

gentechnisch veränderter Inhaltsstoffe bereits zugestimmt.<br />

1999 gab der US-amerikanische Hersteller<br />

von Babynahrung Gerber dem wachsenden Widerstand<br />

nach <strong>und</strong> kündigte an, in Zukunft auf gentechnisch<br />

veränderte Zutaten zu verzichten. Ähnliche<br />

Verlautbarungen kommen von japanischen Bierbrauern<br />

<strong>und</strong> mexikanischen Tortillabäckern. Der große<br />

US-amerikanische Handelskonzern Cargill Inc. sicherte<br />

Soja- <strong>und</strong> Maislieferanten Prämien zu, wenn<br />

sie auf den Einsatz der genetisch manipulierten Sorten<br />

verzichten. Ein anderer Agrobusiness-Gigant, Archer<br />

Daniels Midland, forderte getrennte Getreidesilos,<br />

ein aufwendiges <strong>und</strong> kostspieliges Unterfangen.<br />

Der Widerstand der Konsumenten in den wohlhabenden<br />

Ländern wird somit die kommerzielle Nut-


Ressourcen, Technologien <strong>und</strong> räumlicher Wandel 735<br />

zung der Gentechnik im Nahrungsmittelsektor zumindest<br />

für eine gewisse Zeit bremsen. Bei der Herstellung<br />

von Enzymen oder ähnlichem für die Verwendung<br />

als Katalysatoren bei der Metallgewinnung,<br />

der Reststofb^erwertung oder in Bioenergiereaktoren<br />

werden biotechnologische Verfahren indes an Bedeutung<br />

gewinnen.<br />

Aus geographischer Sicht sind von der Biotechnologie<br />

demnach langfristig vor allem in denjenigen<br />

Ländern wirtschaftliche Effekte zu erwarten, die<br />

sich Eorschung <strong>und</strong> Entwicklung sowie die dafür notwendigen<br />

Anlagen leisten können. Andererseits sind<br />

viele biotechnologische Anwendungen auch in kleinem<br />

Maßstab wirtschaftlich <strong>und</strong> ohne komplexe Infrastruktur<br />

einsetzbar. Das könnte der Verbreitung in<br />

peripheren Regionen zugute kommen. Theoretisch<br />

besteht die Aussicht, dass derlei Anwendungen in diesen<br />

Ländern nicht nur zum wirtschaftlichen Erfolg<br />

beitragen, sondern auch die Nahrungsmittelknappheit<br />

mindern. Vielleicht helfen solche wirtschaftlichen<br />

Lösungen auch im Kampf gegen die Umweltzerstörung.<br />

Chemische Düngemittel <strong>und</strong> giftige Schädlingsbekämpfungsmittel<br />

könnten ersetzt, Abfallstoffe<br />

wiederverwendet <strong>und</strong> Flüsse gereinigt werden. Andererseits<br />

besteht jedoch das Risiko, dass die natürliche<br />

Artenvielfalt durch die Einführung geklonten Saatguts<br />

<strong>und</strong> die Ablösung traditioneller durch industrielle<br />

Anbaumethoden eingeschränkt wird. Tausende<br />

von Pflanzenarten könnten auf diese Weise verschwinden,<br />

<strong>und</strong> mit ihnen auch deren natürliche<br />

Schutzmechanismen gegenüber Schädlingen.<br />

Neue Werkstoffe<br />

Die Materialforschung bringt immer neue Legierungen,<br />

Polymere, kunststoffbeschichtete Metalle, elastotherme<br />

Kunststoffe, laminierte Gläser <strong>und</strong> fiberverstärkte<br />

Keramiken hervor. Sie können seltene natürliche<br />

Rohstoffe ersetzen, in vielen industriellen Prozessen<br />

den Rohstoffverbrauch vermindern, zur Reduzierung<br />

von Größe <strong>und</strong> Gewicht bestimmter Produkte<br />

beitragen <strong>und</strong> deren Eigenschaften verbessern.<br />

Sie können außerdem die Abfallmenge verringern sowie<br />

die kommerzielle Entwicklung neuartiger Produkte<br />

ermöglichen. Die Erforschung neuer Materialien<br />

ist heute bereits auf einem Stand, der es der Industrie<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich ermöglichen würde, die Umweltverträglichkeit<br />

ihrer Produkte zu steigern -<br />

wenngleich dies mangels kommerzieller Anreize<br />

nicht unbedingt geschehen wird. Ähnlich wie die Biotechnologie<br />

ist auch die Entwicklung neuer Werkstoffe<br />

durch kontinuierliche Fortschritte gekennzeichnet.<br />

Mittlerweile steht dem Einsatz dieser Materialien in<br />

rasch zunehmendem Umfang vorwiegend in den Bereichen<br />

der Automobil- <strong>und</strong> Luftfahrtindustrie nichts<br />

mehr im Wege. Schätzungen gehen dahin, dass die<br />

Produktion spezieller Werkstoffe schon jetzt einen<br />

Anteil am Bruttoinlandsprodukt der USA von etwa<br />

1 Milliarde US-Dollar ausmacht.<br />

Im Gegensatz zur Biotechnologie erfordern diese<br />

Anwendungen eine enge Kooperation mit der kostenintensiven<br />

Infrastruktur der Industrie. Im Ergebnis<br />

wird sich diese Branche daher in Zukunft vor allem<br />

auf die Länder des Zentrums konzentrieren. Diejenigen<br />

peripheren Länder, die gegenwärtig in hohem<br />

Maße von der Gewinnung <strong>und</strong> dem Export ihrer natürlichen<br />

Rohstoffe abhängig sind (zum Beispiel Guinea<br />

<strong>und</strong> Jamaika von Bauxit, Sambia <strong>und</strong> die Republik<br />

Kongo von Kupfer, Bolivien von Zinn <strong>und</strong> Peru<br />

von Zink), werden dann vermutlich als Verlierer<br />

aus dem durch diese neue Technologie angestoßenen<br />

Prozess der kreativen Destruktion hervorgehen. Mit<br />

anderen Worten: Wenn sich die Nachfrage nach<br />

den traditionellen Rohstoffen infolge neuer Werkstoffe<br />

verringert, werden Produktion <strong>und</strong> Beschäftigung<br />

in jenen Ländern absinken <strong>und</strong> Investoren<br />

ihr Kapital abziehen, um es anderswo gewinnbringender<br />

anzulegen. Andere Regionen <strong>und</strong> Länder<br />

der Periphere werden dagegen von der steigenden<br />

Nachfrage nach sogenannten seltenen Erden profitieren.<br />

Allein aus Brasilien, Nigeria <strong>und</strong> der Republik<br />

Kongo stammen r<strong>und</strong> 90 Prozent der jährlichen<br />

Niobproduktion (Niob wird zusammen mit Titan<br />

bei der Herstellung von Supraleitern benötigt). Brasilien,<br />

Malaysia, Thailand, Mocambique <strong>und</strong> Nigeria<br />

decken indes 75 Prozent des Bedarfs an Tantal, einem<br />

wichtigen Bestandteil elektrischer Speicher <strong>und</strong> anderer<br />

elektronischer Bauteile.<br />

Informationstechnologien<br />

Die Informationstechnologien umfassen die Hardware<br />

(Siliziumchips, Mikroelektronik, Computer, Satelliten<br />

<strong>und</strong> so weiter) <strong>und</strong> die Software einer ganzen<br />

Reihe von Bereichen der Information, der Computersteuerung<br />

<strong>und</strong> der Kommunikation. Neben der Telematik,<br />

der automatisierten Telekommunikation <strong>und</strong><br />

dem Datentransfer zwischen Computern, fallen darunter<br />

auch Entwicklungen zur Echtzeitüberwachung<br />

in der Flaschenproduktion, computergesteuerte Herstellungsprozesse,<br />

chemische <strong>und</strong> biologische Sensoren<br />

im Abwasserbereich, Datenerhebung „r<strong>und</strong> um<br />

die Uhr“, Barcode-Lesegeräte des Einzelhandels, Telemetriksysteme<br />

der Postdienste <strong>und</strong> Geographische


736 13 Geographien der Zukunft<br />

Informationssysteme. Diese Anwendungen haben<br />

längst in allen Bereichen des Handels, der Wirtschaft,<br />

des Finanz- <strong>und</strong> Bankwesens <strong>und</strong> der öffentlichen<br />

Verwaltung Einzug gehalten. Dennoch schöpfen<br />

selbst die entwickelten Länder das Potenzial dieser<br />

Entwicklung nicht vollständig aus.<br />

Wie in den vorangegangenen Kapiteln wiederholt<br />

erörtert wurde, haben die Dynamiken des Splintering<br />

urbanism bereits bestimmte Fragestellungen der <strong>Humangeographie</strong><br />

verändert. Hinsichtlich der Beschäftigtenzahlen<br />

<strong>und</strong> der Produktion besteht eine allgemeine<br />

Konzentration in den Kernländern mit in hohem<br />

Maße standortgeb<strong>und</strong>enen Forschungsagglomcrationen,<br />

während gleichzeitig die normalen Produktionsabläufe<br />

sowie Test- <strong>und</strong> Montagewerke in semiperiphere<br />

Länder verlagert wurden (Kapitel 12).<br />

Sie konzentrieren sich in den Ländern des Zentrums,<br />

wo sie sich an hoch spezialisierten Standorten<br />

ansiedeln (in den USA zum Beispiel das kalifornische<br />

Silicon Valley, der Korridor an der Route 128 um<br />

Boston, entlang des Highways Nummer 7 im Norden<br />

Virginias, an der M4 in Südengland, Silicon Gien in<br />

Schottland, die Technologieparks in der Umgebung<br />

von Livingston, entlang eines 80 Kilometer breiten<br />

Streifens zwischen Edinburgh <strong>und</strong> Glasgow sowie<br />

in den Vororten von Tokio <strong>und</strong> Osaka). Die massenhafte<br />

Fertigung von Komponenten erfolgt indes dezentral<br />

beispielsweise in den südostasiatischen „Tigerstaaten“<br />

wie Hongkong, Singapur, Taiwan oder<br />

Südkorea.<br />

Die zukünftigen Raummuster der Informationstechnologie<br />

hinsichtlich Produktion <strong>und</strong> Beschäftigung<br />

werden vermutlich alle dem gleichen Schema<br />

folgen: Ein Großteil der Forschung, Entwicklung<br />

<strong>und</strong> High-End-Produktion wird in den Ländern<br />

des Zentrums erfolgen, während sich die Routineaufgaben<br />

in periphere <strong>und</strong> semiperiphere Regionen wie<br />

China, Indonesien, die Philippinen, Sri Lanka oder<br />

Thailand verlagern. Die Geographie der technologischen<br />

Innovation <strong>und</strong> des Erfolgs zeigt ein deutlich<br />

ausgeprägtes Kernland-Peripherie-Muster, das sich<br />

in absehbarer Zukunft wahrscheinlich nicht ändern<br />

wird (Abbildung 13.3). Das heißt nicht, dass es nicht<br />

auch Ausnahmen gäbe. Insbesondere durch die staatliche<br />

Förderung der Industrie (Steuervergünstigungen,<br />

vereinfachter Devisenhandel) konnte sich Indien<br />

eine Nische in der Software-Entwicklung schaffen. Im<br />

Silicon Valley von Bangalore haben sich über 200 exportorientierte<br />

Softwarefirmen angesiedelt, die von<br />

den relativ preiswerten aber hoch qualifizierten einheimischen<br />

Arbeitskräften profitieren. Hier befindet<br />

sich auch das größte Forschungszentrum von General<br />

Electric außerhalb der USA, in dem über 2 000 indische<br />

Ingenieure <strong>und</strong> Forscher arbeiten. Die gesamte<br />

Softwareindustrie Indiens erwirtschaftete 2004 über<br />

700 Milliarden US-Dollar in Devisen. Der „Multimedia<br />

Super Corridor“ bei Kuala Lumpur in Malaysia<br />

entstand, nachdem der Standort durch Steuervergünstigungen<br />

Investitionen von Microsoft, Sun Microsystems,<br />

Nippon Telegraph <strong>und</strong> IBM anzog.<br />

Geographen interessieren indes vor allem die<br />

räumlichen Folgen der Informationstechnologie<br />

<strong>und</strong> ihre Einflüsse auf räumliche Strukturen. Wie<br />

aus den vergangenen Kapiteln hervorging, hat dies<br />

jetzt schon tief greifende Auswirkungen auf die Globalisierung<br />

von produzierendem Gewerbe, Finanzwesen<br />

<strong>und</strong> Kultur. Auf lokaler wie auf regionaler Ebene<br />

hatte die Informationstechnologie eine überaus<br />

ungleichmäßige Verteilung von Arbeitsplätzen <strong>und</strong><br />

Wohnstandorten zur Folge. In den peripheren Ländern<br />

finden Computer vor allem bei Routineaufgaben<br />

bei der Lagerverwaltung, im Rechnungswesen <strong>und</strong> bei<br />

Lohnabrechnungen Verwendung. Für eine weite Verbreitung<br />

in privaten Haushalten, kleinen Betrieben<br />

<strong>und</strong> lokalen Verwaltungen sind sie jedoch viel zu<br />

teuer. Mehr als 80 Prozent der Weltbevölkerung haben<br />

noch nie ein Telefon benutzt, geschweige denn<br />

eine E-Maü verschickt. Auch in Zukunft werden<br />

die Auswirkungen der Informationstechnologien<br />

ähnlich ungleich sein. Die Welt insgesamt wird zusehends<br />

kleiner, während der Einzug der Informationstechnologien<br />

in die peripheren Regionen auch weiterhin<br />

auf sich warten lässt. Die digitale Kluft zwischen<br />

den „beschleunigten“ <strong>und</strong> den „langsamen“ Teilen<br />

der Welt wird also nicht nur weiter bestehen bleiben,<br />

sie wird sich noch vertiefen. Im Entwicklungsprogramm<br />

der Vereinten Nationen steht dazu: „Das Internet<br />

schafft parallele Kommunikationssysteme:<br />

eines für jene Menschen mit Einkommen, Bildung,<br />

<strong>und</strong> - im wörtlichen Sinne - Beziehungen [...] ein anderes<br />

für jene ohne Beziehungen, die unter zeitlichen<br />

Einschränkungen <strong>und</strong> Kosten sowie der Ungewissheit<br />

<strong>und</strong> Abhängigkeit von veralteten Informationen leiden.<br />

Die Menschen in diesen zwei Systemen leben<br />

<strong>und</strong> konkurrieren Seite an Seite, doch der Vorteil<br />

von Beziehungen ist unschlagbar. Die Belange jener<br />

Menschen, die arm sind, denen es an Einkommen,<br />

Bildung <strong>und</strong> Zugang zu öffentlichen Einrichtungen<br />

mangelt, geraten immer mehr ins Abseits“.<br />

Es ist offensichtlich, dass die Informationstechnologien<br />

die Lebensstile <strong>und</strong> Raummuster der „beschleunigten“<br />

Welt prägen werden. Im fahre 2005 arbeiteten<br />

in den Ländern des Zentrums r<strong>und</strong> 8 Prozent<br />

der Menschen „online“ von zu Hause. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

niedrigeren Kosten wird dieser Anteil zwischen 2005<br />

<strong>und</strong> 2020 auf 20 Prozent anwachsen. Immer mehr


Ressourcen, Technologien <strong>und</strong> räumlicher Wandel 737<br />

S Ä '<br />

ASIEN<br />

■ ■'V<br />

SÜD­<br />

AMERIKA<br />

Atlantischer<br />

Ozean<br />

r<br />

V " 'O<br />

AFRIKA<br />

, . . .<br />

. f ■'<br />

o<br />

Indischer<br />

Ozean<br />

(Q<br />

Pazifischer<br />

Ozean<br />

Technological achievement Index<br />

■<br />

Führer<br />

potenzielle Führer<br />

dynamische Adoptoren<br />

marginalisiert<br />

0 1SOO 3000 Kiometer<br />

AUSTF<br />

keine Angaben<br />

Bewertung technolo-<br />

Zentren 9'scher Innovation<br />

o 16 (Maximum)<br />

ANTARKTIS<br />

Europa,<br />

O<br />

4 (Minimum)<br />

13.3 Die räumliche Verteilung technologischer Innovation <strong>und</strong> Leistung Diese Karte zeigt das Ergebnis einer Untersuchung,<br />

die von Regierungsstellen <strong>und</strong> der Industrie durchgeführt wurde. Sie ist so gestaltet, dass diejenigen Orte <strong>und</strong> Regionen hervortreten,<br />

weiche in der neuen digitalen Geographie die wichtigste Rolle spielen. Jeder Ort wurde auf einer Skala von eins bis vier<br />

eingestuft, <strong>und</strong> zwar jeweils für vier Bereiche technologischer Innovation; die Fähigkeit von Universitäten <strong>und</strong> Forschungseinrichtungen,<br />

spezialisierte Kräfte auszubilden oder neue Technologien zu entwickeln; das Vorhandensein etablierter Unternehmen <strong>und</strong><br />

transnationaler Konzerne, die für Expertise <strong>und</strong> wirtschaftliche Stabilität sorgen; die Bereitschaft der Bevölkerung, neue Unternehmungen<br />

zu wagen; die Verfügbarkeit von Unternehmenskapital, um Ideen in marktfähige Produkte umzusetzen. In den „Technological<br />

achievement Index“ fließen als Messgrößen angemeldete technologische Patente, die Diffusion von Innovationen sowie<br />

wissenschaftliche <strong>und</strong> technische Fähigkeiten ein. (Quelle: United Nations Development Program. Human Development Report 2001:<br />

Making New Technologies Work for Human Development. New York (Oxford University Press). 2001. S. 45)<br />

Menschen können auf diese Weise kleine selbstständige<br />

Unternehmungen gründen. Irgendwann wird<br />

ein Punkt erreicht, an dem vielleicht 30 oder 40 Prozent<br />

der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr zu<br />

einer traditionellen Arbeitsstelle gehen. Möglicherweise<br />

werden sich die Menschen dann anders kleiden,<br />

da Kleidung für den beruflichen Erfolg {dress for<br />

success) eine immer geringere Rolle spielt. Sie werden<br />

woanders essen, ihre Freizeitgewohnheiten <strong>und</strong><br />

den sozialen Umgang ändern <strong>und</strong> ihre Zeit selbst<br />

einteilen. Und wer braucht ein Auto für 25 000<br />

oder 35 000 Euro, wenn er im Jahr keine 10 000 Kilometer<br />

fährt?<br />

Mit der steigenden Leistungsfähigkeit von Compu<br />

tern, Telematikinfrastruktur, GIS <strong>und</strong> Überwachungsanlagen<br />

werden komplexe <strong>und</strong> schwer handhabbare<br />

gesellschaftliche Veränderungen wie Kriminalität<br />

oder Straßenverkehr zunehmend zu einem<br />

Feld automatischer Überwachung. Neue Gebäude,<br />

gleich ob einzelne Häuser oder riesige Baukomplexe,<br />

werden im virtuellen Raum entwickelt <strong>und</strong> getestet,<br />

wobei reale Umgebungen zunehmend mit Sensoren<br />

<strong>und</strong> Prozessoren bestückt sein werden (smart environments).<br />

Diese Entwicklungen werden auch in<br />

den Zentren des Weltwirtschaftssystems die Kluft<br />

zwischen Arm <strong>und</strong> Reich vergrößern. Computer<br />

<strong>und</strong> Roboter haben hier schon Millionen von Arbeitnehmern<br />

arbeitslos gemacht. Mit der weiteren Entfaltung<br />

<strong>und</strong> Ausweitung der Informationsrevolution<br />

werden sich die Arbeitsmärkte weiter verändern.<br />

Auf diejenigen, die auf die neuen Bereiche der Wissensgesellschaft<br />

gut vorbereitet sind, warten gut bezahlte<br />

Positionen. Schlecht ausgebildete Arbeitskräfte<br />

werden es indes zunehmend schwerer haben. Unter<br />

dem Strich wird sich die sozioökonomische Polarisierung<br />

verstärken.


738 13 Geographien der Zukunft<br />

Regionale Aussichten<br />

Organisationen wie die Vereinten Nationen <strong>und</strong> die<br />

Weltbank treffen seit Jahren regelmäßig Vorhersagen<br />

über die Entwicklung der Weltwirtschaft. Sie basieren<br />

auf ökonomischen Modellen, in deren Berechnung<br />

verschiedene makroökonomische Daten eingehen<br />

wie beispielsweise Angaben zur Entwicklung des<br />

Bruttoinlandsprodukts, Import- <strong>und</strong> Exportraten,<br />

Angaben zur Wirtschaftsstruktur, zu Investitionen<br />

<strong>und</strong> Einsparungen <strong>und</strong> zur demographischen Entwicklung<br />

eines Landes. Dabei spielen die Abhängigkeiten<br />

dieser Variablen voneinander eine wichtige<br />

Rolle, um Aussagen über die künftige wirtschaftliche<br />

Entwicklung treffen zu können. Dies ist allerdings<br />

eine ungenaue Wissenschaft, denn mit den bekannten<br />

Wirtschaftsmodellen, ist es nicht möglich, wichtige<br />

technologische Innovationen <strong>und</strong> deren Folgen, bedeutende<br />

geopolitische Veränderungen, regierungspolitische<br />

Entscheidungen <strong>und</strong> deren Folgen (wie<br />

beispielsweise der Aufbau einer starken Nationalwirtschaft)<br />

sowie die nicht genau erklärbaren längeren<br />

Aufschwung- <strong>und</strong> Niedergangsphase der Weltwirtschaft<br />

angemessen zu berücksichtigen.<br />

Fest steht lediglich, dass zumindest in globaler<br />

Hinsicht die Weltwirtschaft sehr viel produktiver, ertragreicher<br />

<strong>und</strong> dynamischer als vor 15 oder 20 Jahren<br />

ist <strong>und</strong> sich diese Entwicklung auch in Zukunft<br />

fortsetzen wird. Das U.S. National Intelligence<br />

Council gab 2004 den Bericht Mapping the Global Future<br />

heraus, der für die nächsten Jahre ein eindrucksvolles<br />

Wachstum der Weltwirtschaft prognostiziert.<br />

Laut des Berichts, der auf Befragungen von Nichtregierungsexperten<br />

aus der ganzen Welt basiert, verzeichnet<br />

die Weltwirtschaft bis zum Jahr 2020 im<br />

Vergleich zu 2000 eine Wachstumsrate von über<br />

80 Prozent <strong>und</strong> das durchschnittliche Pro-Kopf-Einkommen<br />

wird 2020 ungefähr 50 Prozent höher sein<br />

als heute.<br />

Ungleiche wirtschaftliche<br />

I Entwicklung<br />

Natürlich wird die Weltwirtschaft nicht in allen Teilen<br />

der Erde in gleichem Maße expandieren. Bis zum<br />

Jahr 2020 werden weltweit einschneidende Veränderungen<br />

erfolgen. Aufstrebende Wirtschaftsnationen<br />

wie China, Indien <strong>und</strong> möglicherweise Brasilien<br />

<strong>und</strong> Indonesien könnten die alten Kategorien von<br />

West <strong>und</strong> Ost, Nord <strong>und</strong> Süd, wirtschaftlich angepassten<br />

<strong>und</strong> nicht angepassten beziehungsweise entwickelten<br />

<strong>und</strong> nicht entwickelten Ländern ins Wanken<br />

bringen. Im Verlauf dieses Prozesses werden die<br />

traditionellen geographischen Wirtschaftskooperationen<br />

in globaler Hinsicht zunehmend an Bedeutung<br />

verlieren, sodass es neben der traditionellen auf den<br />

Nationalstaaten basierenden Welt, zugleich auch eine<br />

Welt der durch Telekommunikation, Handels- <strong>und</strong><br />

Finanzströme verb<strong>und</strong>enen Megastädte geben wird.<br />

Wirtschaftliche Allianzen werden sich schneller bilden<br />

<strong>und</strong> auch wieder lösen als dies in der Vergangenheit<br />

der Fall war.<br />

Nicht nur die Welt lässt sich in Kernländer <strong>und</strong><br />

periphere Regionen einteilen, sondern auch ein<br />

Großteil der Weltbevölkerung kann einer von beiden<br />

Kategorien zugeordnet werden: der Elite, denjenigen,<br />

die sich zum Aufbruch bereit machen, <strong>und</strong> den Marginalisierten.<br />

Zur Elite gehören jene Menschen, die in<br />

der industrialisierten Welt leben <strong>und</strong> teilhaben an den<br />

neuen Transportmöglichkeiten, der modernen Telekommunikation,<br />

weltweiten Produktionsnetzwerken<br />

<strong>und</strong> der globalen Konsumkultur. Als dritte Kategorie<br />

kommen die semiperipheren Regionen hinzu. Die<br />

Bewohner dieser Aufbruchsländer sind ebenfalls<br />

Nutznießer der globalisierten Welt, auch wenn sie<br />

weniger unabhängig sind <strong>und</strong> weniger Vorteile <strong>und</strong><br />

Möglichkeiten haben als die Angehörigen der Elite.<br />

Dazu gehören beispielsweise Fließband-Arbeiter in<br />

ojfshore-Produktions- <strong>und</strong> Vermarktungsketten. Die<br />

Marginalisierten müssen in der nichtindustrialisierten<br />

Welt überleben <strong>und</strong> sind meist abgeschnitten<br />

von wirtschaftlicher Produktion <strong>und</strong> den Vorteilen<br />

der Globalisierung.<br />

Die wirtschaftliche Globalisierung führt also auch<br />

zu einer sozialen Schichtung, sodass es Menschen<br />

gibt, die zur Elite, zu den Marginalisierten oder<br />

den Aufbrechenden gehören. Allerdings sind diese<br />

Einteilungen nicht mehr so dauerhaft, wie früher<br />

angenommen. Man kann beispielsweise nicht länger<br />

sagen, dass Nigeria insgesamt eine Entwicklungsregion<br />

ist. In Nigeria gibt es ebenso wie in den<br />

USA oder anderen Ländern, innerhalb eines Landes<br />

verschiedene Regionen- <strong>und</strong> Gruppenabstuftingen.<br />

Inzwischen haben die führenden Regionen <strong>und</strong><br />

Gruppen eines Landes mehr Gemeinsamkeiten mit<br />

den Eliteregionen <strong>und</strong> -gruppen eines anderen Landes,<br />

als mit den sozial marginalisierten <strong>und</strong> sich im<br />

Aufbruch befindlichen Gruppen des eigenen Landes<br />

(Abbildung 13.4).<br />

Die Geographien der Zukunft sind durch eine<br />

weltweite, immer größer werdende Kluft zwischen<br />

Armen <strong>und</strong> Reichen gekennzeichnet, die sich zwischen<br />

Kernländern <strong>und</strong> Peripherie schon seit Länge-


13.4 Soziale Unterschiede. Gerade in peripheren Entwicklungsländern wie Laos zeigen sich deutliche soziale Unterschiede,<br />

a) Im Hof eines baufälligen Hauses in Savannakhet bereitet sich eine Familie ein einfaches Mahl, b) vor einem Bus erbetteln Kinder<br />

Kleinigkeiten, c) während eine Gesellschaft der gehobenen Mittelschicht in einem Hotelpark nahe des Tatlo-Wasserfalls eine stilvolle<br />

Mahlzeit einnimmt, d) Buddhistische Mönche hingegen stehen abseits aktueller ökonomisch definierter sozialer Unterschiede.<br />

rem aufspannt. In den USA sind mittlerweile die Einkommensunterschiede<br />

genauso ausgeprägt wie zum<br />

Beispiel in China, Bolivien, Malaysia, dem Senegal<br />

<strong>und</strong> Russland. Es gibt außerdem Hinweise auf zunehmende<br />

Disparitäten: Das Statistische B<strong>und</strong>esamt der<br />

USA hat ermittelt, dass die Unterschiede zwischen<br />

armen <strong>und</strong> reichen Menschen in den USA so groß<br />

sind, wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.<br />

Laut Angaben der Vereinten Nationen ist das Verhältnis<br />

des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf (gemessen<br />

an konstanten Preisen <strong>und</strong> Devisenkursen)<br />

zwischen industrialisierten <strong>und</strong> sich entwickelnden<br />

Ländern <strong>und</strong> Regionen von 10:1 (1970) auf 12:1<br />

(1985) beziehungsweise 13:1 (2002) gestiegen. Es<br />

scheint aussichtslos, dass ein weltweiter Wirtschaftsboom<br />

diesen Trend umkehren könnte. Trotz, <strong>und</strong> in<br />

vielerlei Hinsicht gerade wegen, der Globalisierung<br />

sind zahlreiche Länder <strong>und</strong> Regionen der Erde von<br />

Bankiers <strong>und</strong> führenden Wirtschaftsunternehmen<br />

quasi abgeschrieben worden.<br />

Eine neue Weltordnung?<br />

Die gleichen Ereignisse <strong>und</strong> Auswirkungen, die den<br />

Kernländern der Erde im Prozess der Globalisierung<br />

wesentliche Vorteile verschaffen - das Ende des Kalten<br />

Kriegs, die Verfügbarkeit leistungsfähiger Telekommunikation,<br />

die transnationale Umstrukturierung<br />

von Industrie <strong>und</strong> Finanzwesen, die Liberalisie-


740 13 Geographien der Zukunft<br />

rung des Handels <strong>und</strong> die Herausbildung einer globalen<br />

Kultur - sind auch die Gr<strong>und</strong>lage für eine<br />

neue geopolitische <strong>und</strong> geoökonomische Ordnung,<br />

in der sich die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Beziehungen<br />

der Kernländer untereinander teilweise f<strong>und</strong>amental<br />

ändern werden.<br />

Neue Beziehungen zwischen Orten, Regionen <strong>und</strong><br />

Ländern werden sich heräusbilden. Wie bereits angedeutet,<br />

wird die alte Ordnung des „kurzen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts“<br />

(von 1914 bis 1989), die in wirtschaftlicher<br />

<strong>und</strong> politischer Hinsicht von den USA dominiert<br />

wurde, relativ schnell überformt <strong>und</strong> verändert. In<br />

der gegenwärtigen Übergangsphase steht eine neue<br />

Weltordnung in den Startlöchern <strong>und</strong> es zeigt sich<br />

das Ende eines geopolitischen Führungszyklus. Das<br />

heißt aber nicht automatisch, dass die USA ihre<br />

alte Position nicht erneuern oder ausweiten <strong>und</strong><br />

auf diese Weise zur neuen dominierenden Weltmacht<br />

werden könnten. Wie bereits in Kapitel 2 erläutert,<br />

war die Weltmacht Großbritannien in der Lage,<br />

gleich in zweifacher Hinsicht zu dominieren: Sie<br />

nutzte ihre Hegemonie, um die eigene politische<br />

Sichtweise sowie die eigenen wirtschaftlichen <strong>und</strong><br />

kulturellen Praktiken in großen Teilen der Welt<br />

durchzusetzen <strong>und</strong> zu verbreiten.<br />

Die Vereinigten Staaten<br />

Die Vereinigten Staaten sind mehr als nur ein Mitbewerber:<br />

Sie sind die herrschende Hegemonialmacht.<br />

Die US-Wirtschaft ist die größte der Welt <strong>und</strong> ruht<br />

auf einer breiten Rohstoffbasis. Der Arbeitsmarkt<br />

ist groß <strong>und</strong> umfasst gut ausgebildete <strong>und</strong> hoch spezialisierte<br />

Arbeitskräfte. Der heimische Markt zeichnet<br />

sich durch eine Kaufkraft aus, wie es sie in keinem<br />

anderen Land der Erde gibt. Hinzu kommt das hohe<br />

Niveau technologischer Entwicklungen. Die USA verfügen<br />

über den mächtigsten <strong>und</strong> technisch fortschrittlichsten<br />

Militärapparat <strong>und</strong> haben in der internationalen<br />

Politik <strong>und</strong> Wirtschaft das letzte Wort. Bei<br />

der Nutzung neuer Technologien <strong>und</strong> Industrien<br />

einer globalisierten Wirtschaft ist das Land mindestens<br />

so gut positioniert wie seine Konkurrenten.<br />

Gegenwärtig befindet sich die amerikanische Hegemonie<br />

aber eher auf einem absteigenden Ast, zumindest<br />

relativ gesehen. Die wirtschaftliche Überlegenheit<br />

wird im Gegensatz zu den 1950er-, 1960er-<br />

Lind 1970er-Jahren zunehmend infrage gestellt. Aufgr<strong>und</strong><br />

des mäßigen Wirtschaftswachstums könnte die<br />

US-Wirtschaft von Japan, Deutschland oder Japan<br />

überholt werden. Schon jetzt liegt die Europäische<br />

Union in einigen Bereichen der wirtschaftlichen Entwicklung<br />

vor den USA. Noch wichtiger ist, dass die<br />

Vereinigten Staaten im Zuge der Globalisierung zunehmend<br />

die Fähigkeit verlieren, mit ihrer wirtschaftlichen<br />

Macht die internationalen Finanzmärkte zu<br />

kontrollieren - was lange Zeit der Fall war.<br />

Und wenn die USA am Ende des Kalten Kriegs<br />

auch als Sieger dastanden, so verloren sie doch ihr<br />

Image als Verteidiger der freien Welt. Auch ihre Autorität<br />

als Weltpolizei wurde geschwächt. Ohne die<br />

Gegner des Kalten Kriegs <strong>und</strong> angesichts der Globalisierung<br />

der Wirtschaft fällt es den USA zunehmend<br />

schwerer, ihre nationalen Interessen zu identifizieren<br />

<strong>und</strong> zu definieren. Dies wird wiederum die Dissonanzen<br />

<strong>und</strong> Unbeständigkeiten auf nationaler Ebene<br />

fördern - eine Entwicklung, die sich unausweichlich<br />

auch auf die internationalen Beziehungen auswirkt.<br />

Die unentschlossene Politik der USA in den<br />

1990er-Jahren gegenüber dem Kosovo, Osttimor,<br />

Somalia, Sudan, Bosnien <strong>und</strong> Haiti war dafür symptomatisch.<br />

Die 2001 von der Al-Qaida-Terrororganisation<br />

verübten Anschläge haben die geopolitischen Ausrichtung<br />

der USA neu definiert. Die Bedeutung der<br />

USA ist allerdings aufgr<strong>und</strong> der Besetzung des Iraks,<br />

obwohl dort keine Massenvernichtungswaffen gef<strong>und</strong>en<br />

wurden, der Weigerung sich an populären internationalen<br />

Abkommen wie dem Kyoto-Protokoll zu<br />

beteiligen <strong>und</strong> einer fehlenden Zusammenarbeit mit<br />

dem Internationalen Strafgerichtshof stark zurückgegangen,<br />

sodass die Vereinigten Staaten, sogar nach<br />

der selbst im eigenen Land weit verbreiteten Meinung,<br />

nicht mehr die frühere politische, kulturelle<br />

<strong>und</strong> moralische Führungsrolle in internationalen Angelegenheiten<br />

innehaben (Exkurs 13.2 „Geographie<br />

in Beispielen - Das Image der USA in der Welt“).<br />

Eine wachsende Anzahl von Menschen, vor allem<br />

im Nahen Osten <strong>und</strong> der restlichen muslimischen<br />

Welt, glaubt, dass die USA eine regionale Hegemonie<br />

anstreben. Mit anderen Worten: die direkte politische<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Vorherrschaft über andere Staaten<br />

<strong>und</strong> deren Ressourcen. Wachsendes Misstrauen<br />

könnte in Zukunft dazu führen, dass einzelne Staatsregierungen<br />

eine feindseligere Einstellung zu den<br />

USA einnehmen, ihren Widerstand gegen die Interessen<br />

der USA auf multinationaler Ebene bek<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> als eine Art Absicherung gegen die USA ihre Militärmacht<br />

ausbauen. Inzwischen ist auch das Selbstbild<br />

der USA als weltweiter Vertreter des Guten <strong>und</strong><br />

Bewahrer traditioneller Werte durch einen landesweit<br />

verbreiteten <strong>und</strong> tief verankerten Konservatismus angekratzt.<br />

Neil Smith <strong>und</strong> andere Geographen behaupten,<br />

dass dieser Nationalismus in der Vergangenheit<br />

die Fähigkeit der USA untergraben hat, ihre Vision


Regionale Aussichten 741<br />

von der Globalisierung zu verbreiten <strong>und</strong> dies vermutlich<br />

auch in Zukunft verhindern wird.<br />

Alles in allem sind die Vereinigten Staaten zwar<br />

noch immer stärkster Konkurrent, doch kann man<br />

daraus in keinem Fall schließen, dass sie die politische<br />

<strong>und</strong> wirtschaftliche Führung tatsächlich auch übernehmen<br />

werden. Die USA stehen heute vor Entscheidungen,<br />

die vielleicht denen ähneln, die am Ende des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts auf Großbritannien zukamen. Sie<br />

können sich gegen ihre Konkurrenten stellen oder<br />

sich mit ihnen arrangieren. Sie können sich um ein<br />

nahtloses globales System unter ihrer eigenen hegemonialcn<br />

Kontrolle bemühen oder sich die Macht<br />

über regionale Interessen <strong>und</strong> Verantwortlichkeiten<br />

mit den anderen teilen.<br />

L Die Europäische Union<br />

Schon jetzt ist offenk<strong>und</strong>ig, dass die Europäische<br />

Union (EU) einmal zu den bedeutsamsten Anwärtern<br />

auf die globale Führung gehören wird. Aus geopolitischer<br />

Sicht haben sich die Aussichten der Europäischen<br />

Union nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion<br />

verbessert. Sie entstand aus der im Jahre 1952<br />

gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft<br />

(EWG), ist heute eine wirtschaftliche Union mit einer<br />

unter den Mitgliedsländern abgestimmten Wirtschaftspolitik<br />

<strong>und</strong> hat seitdem eine bedeutende Strecke<br />

des langen Weges hin zu einer supranationalen<br />

politischen Union mit zentralen institutioneilen<br />

<strong>und</strong> politischen Strukturen zurückgelegt. Nach dem<br />

Beitritt von Zypern, der Tschechischen Republik, Estland,<br />

Ungarn, Litauen, Malta, der Slowakei <strong>und</strong> Slowenien<br />

lebten 2004 r<strong>und</strong> 458 Millionen Menschen in<br />

der EU (in den USA etwa 293 Millionen). Im Jahre<br />

2004 betrug das Wirtschaftsvolumen der EU 11,7 Milliarden<br />

US-Dollar (das Bruttoinlandsprodukt der<br />

USA lag knapp unter 11 Milliarden US-Dollar).<br />

Die EU-Erweiterung um Bulgarien <strong>und</strong> Rumänien<br />

sowie die geplante Erweiterung um Kroatien <strong>und</strong><br />

möglicherweise die Türkei würde bedeuten, dass<br />

dann insgesamt 527 Millionen Menschen in der<br />

EU leben würden <strong>und</strong> das Wirtschaftsvolumen<br />

12,1 Milliarden US-Dollar betragen würde. Sollte<br />

sich die Union auch politisch vereinen, so wird sie<br />

im Internationalen Währungsfond <strong>und</strong> in der Weltbank<br />

mächtiger sein als die USA.<br />

Die Europäische Union hat sich seit ihrer Gründung<br />

1952, mit sechs Mitgliedsstaaten entscheidend<br />

verändert: Inzwischen gibt es einen gemeinsamen europäischen<br />

Pass <strong>und</strong> eine einheitliche Währung, den<br />

Euro, der in zahlreichen Mitgliedsstaaten die Staatswährung<br />

ist. Die Europäische Union reguliert den<br />

Handel <strong>und</strong> koordiniert Energiewirtschaft, Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Transportwesen. Es gibt einen EU-Präsidenten<br />

des Europäischen Rats, ein EU-Parlament,<br />

eine gemeinsame Außen- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik<br />

<strong>und</strong> den Europäischen Gerichtshof, dessen Urteile<br />

für die Mitgliedsstaaten <strong>und</strong> Einzelpersonen bindend<br />

sind. Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt<br />

<strong>und</strong> die weltgrößte Exportmacht. Zwanzig der größten<br />

Handels- <strong>und</strong> Geschäftsbanken sind europäische<br />

Banken. In der EU liegt eine der dynamischsten <strong>und</strong><br />

am höchsten entwickelten industriellen Kernregionen<br />

der Welt, die sich vom Südosten Englands<br />

nach Norditalien erstreckt. Die Wirtschaftspolitik<br />

der EU <strong>und</strong> ihre Investitionen in den Ausbau der Infrastruktur<br />

begünstigten die Entstehung von wirtschaftlichen<br />

Entwicklungsachsen, die sich von Osten<br />

nach Westen beziehungsweise Norden nach Süden<br />

durch die EU ziehen (Abbildung 13.5). Außerdem<br />

ist die europäische Industrie Weltführer in den Bereichen<br />

Chemie, Maschinenbau <strong>und</strong> Raumfahrtindustrie.<br />

Das Credo der Europäischen Union unterscheidet<br />

sich wesentlich vom sogenannten amerikanischen<br />

Traum: „Die EU stellt gemeinsame Beziehungen über<br />

die individuelle Autonomie, kulturelle Vielfalt über<br />

kulturelle Assimilation, Lebensqualität über die Anhäufung<br />

von Reichtum, nachhaltige Entwicklung<br />

über grenzenloses materielles Wachstum, deep play<br />

über unerbittliche Mühen, allgemein anerkannte<br />

Menschenrechte <strong>und</strong> verbindlichen Naturschutz<br />

über private Eigentumsrechte <strong>und</strong> globale Zusammenarbeit<br />

über die einseitige Ausübung von Macht“<br />

(Rifkin 2004).<br />

Die erfolgreiche Erweiterung der EU in Kombination<br />

mit der bereits erfolgreichen Währungsunion<br />

<strong>und</strong> wirtschaftlichen Integration kann Europa auf<br />

eine Stufe mit der Hegemonialmacht USA stellen<br />

oder es zu einem „Senior-Chef‘ unter den Supermächten<br />

machen. Ein Teil der EU-Bürger steht<br />

der Einführung einer gemeinsamen Verfassung, als<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer supranationalen politischen Einheit,<br />

kritisch gegenüber. Es gibt auch Bedenken, dass die<br />

Erweiterung der EU auf dreißig Länder das innere<br />

Gleichgewicht <strong>und</strong> den Zusammenhalt der Europäischen<br />

Union gefährden könnte. Die künftige internationale<br />

Rolle Europas wird im Wesentlichen davon<br />

abhängen, ob die EU wichtige Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialreformen<br />

durchführt <strong>und</strong> das Problem der überalternden<br />

Arbeitskräfte in den Griff bekommen wird.<br />

Eine Lösung dafür wäre es, die verstärkte Einwanderung<br />

von ausländischen Arbeitskräften - die meisten<br />

kommen aus Nordafrika <strong>und</strong> dem Nahen Osten - zuzulassen<br />

<strong>und</strong> sie besser als bisher zu integrieren. Auch<br />

%


742 13 Geographien der Zukunft<br />

vPrI<br />

Exkurs 13.2<br />

Geographie in Beispielen - Das Image der USA in der Welt<br />

Im Jahr 2004 lud der nationale Nachrichtendienst der USA<br />

weltweit Experten zu sechs Regionalkonferenzen ein, bei denen<br />

die Teilnehmer befragt wurden, wie sie die Rolle der<br />

Vereinigten Staaten auf nationaler <strong>und</strong> internationaler Ebene<br />

einschätzen.<br />

Asien<br />

Die Teilnehmer aus Asien äußerten, dass der von den USA geführte<br />

Kampf gegen den Terror von keinerlei Bedeutung für die<br />

asiatischen Sicherheitsfragen ist. Sie waren der Meinung, dass<br />

die Kernaufgabe der Vereinigten Staaten darin bestehen sollte,<br />

den asiatischen Staaten eine attraktive Vision regionaler Sicherheitspolitik<br />

anzubieten, die mit der chinesischen Variante<br />

konkurrieren oder diese übertreffen kann. Das Desinteresse<br />

der USA an den Belangen der asiatischen Partner könnte<br />

dazu führen, dass diese auf den „chinesischen Zug aufspringen“<br />

<strong>und</strong> China die Sicherheitslage im asiatischen Raum dominiert<br />

- ohne eine Beteiligung der Vereinigten Staaten. Die Vertreter<br />

der asiatischen Länder waren außerdem der Meinung,<br />

dass der Aufstieg Chinas unvereinbar ist mit einer von den<br />

USA geführten internationalen Politik <strong>und</strong> Gesellschaftsordnung.<br />

Hier stellt sich sich die Frage, ob diese Ordnung flexibel<br />

genug ist, um sich an eine wechselnde Kräfteverteilung auf<br />

globalem Niveau anzupassen. Ist sie zu starr, steigt die Wahrscheinlichkeit<br />

dass es zu politischen Konflikten zwischen<br />

neuen mächtigen Nationalstaaten <strong>und</strong> den Vereinigten Staaten<br />

kommt. Eine flexible gesellschaftliche Ordnung würde hingegen<br />

die Chance auf eine Einigung mit diesen neuen Kräften<br />

sowie auf politische <strong>und</strong> soziale Stabilität eröffnen.<br />

Subsaharisches Afrika<br />

Die afrikanischen Experten waren darüber beunruhigt, dass die<br />

Vereinigten Staaten <strong>und</strong> andere Industrienationen gewissermaßen<br />

„die Zugbrücke hochziehen“ <strong>und</strong> die Region schlichtweg<br />

im Stich lassen. Nach Ansicht der Teilnehmer aus Afrika<br />

dürften weder die USA noch andere westliche Nationen länger<br />

zulassen, dass Afrika seinen erfolgreichsten „Exportartikel“,<br />

die Menschen, an das Ausland verliert. Anders als in früheren<br />

Zeiten flüchten die Menschen vor allem aus wirtschaftlichen<br />

Missständen <strong>und</strong> nicht vor politischer Verfolgung. Manche<br />

Teilnehmer waren beunruhigt darüber, dass die westlichen Industrieländer<br />

für einige afrikanische Länder von einer aussichtlosen<br />

wirtschaftlichen Entwicklung in den nächsten 15 Jahren<br />

- aufgr<strong>und</strong> der wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Lage sowie<br />

massiver Umweltprobleme - sprachen. Die Befürchtung<br />

dass sich die Vereinigten Staaten in Zukunft nur noch auf Länder<br />

mit Erfolg versprechenden Aussichten konzentrieren werden,<br />

wurde von allen afrikanischen Experten geteilt.<br />

Lateinamerika<br />

Die Experten aus Lateinamerika waren sich darüber einig, dass<br />

die Vereinigten Staaten eine wirtschaftliche, politische <strong>und</strong> militärische<br />

Schlüsselposition im Weltgeschehen einnehmen.<br />

Man stellte außerdem fest, dass die amerikanische Regierung<br />

Lateinamerika traditionell zu wenig Aufmerksamkeit schenkt<br />

<strong>und</strong> im Allgemeinen eher auf Krisen reagiert, anstatt aktiv<br />

zur Lösung von Problemen in der Region beizutragen. Nach<br />

Meinung der lateinamerikanischen Experten „fährt“ die US-Regierung<br />

eine „f<strong>und</strong>amentalistische Schiene“, was zu Unilateralismus<br />

<strong>und</strong> einer Isolation der Vereinigten Staaten führen <strong>und</strong><br />

die Zusammenarbeit mit Lateinamerika unterminieren könnte.<br />

wenn die Zuwanderungszahlen weiterhin begrenzt<br />

bleiben, wird sich Westeuropa mit der Integration<br />

einer wachsenden muslimischen Bevölkerung auseinandersetzen<br />

müssen. Eine Beschränkung der legalen<br />

Einwanderung in die Europäische Union zieht unweigerliche<br />

eine höherer Zahl von schwerer zu integrierenden<br />

illegalen Einwanderern nach sich - <strong>und</strong> das ist<br />

ein langfristiges europäisches Problem.<br />

Es ist denkbar, dass die Europäische Union ihre<br />

Arbeitsmärkte <strong>und</strong> Sozialsysteme erfolgreich an die<br />

neuen Gegebenheiten anpasst, es ist jedoch schwierig,<br />

sich vorzustellen, dass Länder wie beispielweise<br />

Deutschland Millionen neue Einwanderer in relativ<br />

kurzer Zeit erfolgreich integrieren können.<br />

I<br />

China <strong>und</strong> Indien<br />

Nach dem Bericht „Mapping the Global Future“ des<br />

National Intelligence Council (NIC) der USA werden<br />

von der Globalisierung vor allem jene Länder <strong>und</strong><br />

Kooperationen profitieren, die in der Lage sind,<br />

neue Technologien zu entwickeln <strong>und</strong> anzuwenden.<br />

Laut „Mapping the Global Future“ haben besonders<br />

China <strong>und</strong> Indien sehr gute Voraussetzungen in<br />

der globalisierten Welt zu technologischen Marktführern<br />

zu werden. Die nächste erwartete technologische<br />

Revolution in den Bereichen Nano-, Bio-, Informations-<br />

<strong>und</strong> Materialtechnologie wird die Aussichten<br />

Chinas <strong>und</strong> Indiens aller Voraussicht nach we-


Regionale Aussichten 743<br />

Es bestand die weithin geteilte Ansicht, dass der von den USA<br />

geführte „Krieg gegen den Terror“ keine große Bedeutung für<br />

die Sicherheitsfragen <strong>und</strong> -problème im Lateinamerika hat.<br />

Einwanderer aus Lateinamerika stärken die US-Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> bilden einen bedeutenden Anteil der in den Vereinigten<br />

Staaten zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte. Diese Einwanderer<br />

schicken nicht nur Geld in ihre Heimat, sondern man<br />

hofft, dass sie neue Auffassungen von Demokratie <strong>und</strong> persönlichem<br />

Einsatz in der Heimat verbreiten <strong>und</strong> auf diese Weise<br />

die Region positiv beeinflussen. Es wurde einhellig festgestellt,<br />

dass die Politik der Vereinigten Staaten einen positiven Einfluss<br />

auf Lateinamerika haben kann. Einige Experten waren<br />

der Ansicht, dass die Region von regional regulierenden Maßnahmen<br />

der Vereinigten Staaten eher profitiert, als von Strafmaßnahmen<br />

gegen Regime, die nicht auf einer Wellenlänge mit<br />

den USA liegen, wie zum Beispiel die Regierung Fidel Castros<br />

in Kuba.<br />

Naher Osten<br />

Die Experten aus dem Nahen Osten hielten fest, dass die Außenpolitik<br />

der Vereinigten Nationen, sofern sie den Nahen<br />

Osten betrifft, weiterhin sehr kritisch zu sehen ist. In dem<br />

die USA augenscheinlich korrupte Regime weiterhin wirtschaftlich<br />

unterstützen, als Gegenleistung für sichere Ölquellen,<br />

haben sie dazu beigetragen, dass die Entwicklung in der<br />

Region seit langem stagniert. Dass die Vereinigten Staaten<br />

sich aus diesem Prozess zurückziehen, ist höchst unwahrscheinlich,<br />

es würde allerdings weitreichende Folgen für die<br />

Region haben. Im Hinblick auf die Entwicklung einer demokratischen<br />

Gesellschaftsordnung im Nahen Osten waren sich die<br />

Vertreter aus dem Nahen Osten einig, dass die westlichen Länder<br />

sich zu stark auf die Durchführung demokratischer Wahlen<br />

konzentrieren. Dies ist, nach Ansicht der Experten, nur ein Teil<br />

des Demokratisierungsprozesses im Nahen Osten. Allgemein<br />

wurde die Ansicht geteilt, dass die Vereinigten Staaten <strong>und</strong><br />

Europa eher mit neuen Regierungen Zusammenarbeiten <strong>und</strong><br />

sie fördern sollten, als sie zu „bevorm<strong>und</strong>en“. Nur auf diese<br />

Weise kann dauerhafte Demokratie entstehen. Nach Meinung<br />

einiger Teilnehmer hat die US-Regierung ihre „Nullsummen-Politik“<br />

in der Region verstärkt, indem sie sich nur auf die arabischen<br />

Führungsspitze konzentriert <strong>und</strong> keinerlei Verbindungen<br />

zu anderen wichtigen Personen der arabischen Welt inner- <strong>und</strong><br />

außerhalb der Regierung aufbaut. Der Nahe Osten könnte von<br />

der Globalisierung vor allem in wirtschaftlicher Hinsicht in<br />

großem Maße profitieren. Dagegen stehen jedoch die Befürchtungen<br />

der Araber <strong>und</strong> Muslime, dass durch den Einfluss der<br />

westlichen Länder <strong>und</strong> insbesondere Amerikas die traditionellen<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> religiösen Werte sowie die einheimische<br />

Kultur bedroht sind.<br />

Europa <strong>und</strong> Eurasien<br />

Die Teilnehmer aus Europa <strong>und</strong> Asien diskutierten heftig darüber,<br />

ob sich in den nächsten 15 Jahren eine Kluft zwischen<br />

den Vereinigten Statten <strong>und</strong> Europa auftun wird. Sollte das internationale<br />

Gefüge zusammenbrechen, würde als Teil damit<br />

auch das Bündnis zwischen den Vereinigten Staaten <strong>und</strong> Europa<br />

kollabieren. Sollten die USA ihren Kooperationsschwerpunkt<br />

nach Asien verlagern, dann könnte, nach Ansicht einiger<br />

Experten, die Beziehung zwischen der Europäischen Union <strong>und</strong><br />

den Vereinigten Staaten über die Belastbarkeitsgrenze hinaus<br />

strapaziert werden. Verschiedene Meinungen bestanden darüber,<br />

ob der wirtschaftliche Aufstieg Chinas die USA <strong>und</strong><br />

Europa näher zusammenbringen wird oder nicht, <strong>und</strong> welche<br />

Bedeutung übergeordnete wirtschaftliche, Umwelt- <strong>und</strong> Energieprobleme<br />

für die Gemeinschaft haben. Die europäischen<br />

<strong>und</strong> asiatischen Experten waren sich einig, dass die Vereinigten<br />

Staaten nur begrenzten Einfluss auf die Innenpolitik der<br />

zentralasiatischen Staaten haben, auch wenn der Erfolg<br />

oder das Scheitern der USA im Irak Auswirkungen auf Zentralasien<br />

haben wird. Die Experten gehen davon aus, dass die Länder<br />

des westlichen Eurasiens auch in Zukunft eine Balance zwischen<br />

Russland <strong>und</strong> dem Westen anstreben. Nach Meinung<br />

der Experten wird sich die ukrainische Regierung mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit weiterhin darum bemühen, dass das<br />

Land Mitglied der Europäischen Union <strong>und</strong> der NATO wird.<br />

Georgien <strong>und</strong> Moldawien werden höchstwahrscheinlich ihren<br />

bisherigen Kurs beibehalten.<br />

sentlich verbessern, denn beide Länder investieren in<br />

diesen Bereichen in die Gr<strong>und</strong>lagenforschung <strong>und</strong><br />

dominieren die Forschungsfront in zahlreichen<br />

Schlüsselfeldern. Der Bericht des NIC hält fest,<br />

dass „die gegenwärtige Entstehung neuer global<br />

players wie zum Beispiel China <strong>und</strong> Indien vergleichbar<br />

ist mit den Entwicklungen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

als zum ersten Mal ein geeintes Deutschland auf der<br />

Bildfläche erschien, <strong>und</strong> den Ereignissen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

als die USA zu einer Weltmacht wurden.<br />

Die aktuellen Ereignisse werden die geopolitische<br />

Landschaft entscheidend verändern, <strong>und</strong> ihre Auswirkungen<br />

möglicherweise so folgenschwer sein,<br />

wie die Entwicklungen der vergangenen 200 Jahren<br />

zusammengenommen. So wie einige das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

als „amerikanisches Jahrh<strong>und</strong>ert“ bezeichnen,<br />

kann man das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert als Epoche bezeichnen,<br />

in der China <strong>und</strong> Indien auf den Plan treten.<br />

Der schnelle wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Aufstieg<br />

der beiden Länder gründet sich vor allem auf ein anhaltendes<br />

Wirtschaftswachstum, zunehmende militärische<br />

Stärke <strong>und</strong> eine besonders hohe Bevölkerungszahl<br />

[...] Wenn es nicht zu einem abrupten Ende dieser<br />

Konjunktur oder einschneidenden Umbrüchen in<br />

China <strong>und</strong> Indien kommen wird, ist der Aufstieg der<br />

beiden Länder faktisch sicher.“<br />

Die meisten wirtschaftlichen Vorhersagen gehen<br />

davon aus, dass im Jahr 2020 das Bruttonationaleinkommen<br />

von China das einiger westlicher Industrienationen<br />

(mit Ausnahme der USA) übertreffen wird.


744 13 npngmphier^ e r Zukunft<br />

Petersburg<br />

Moskau O<br />

Der wirtschaftliche<br />

Kemraum Europas<br />

■<br />

mit geringem<br />

Wirtschaftswaclistum<br />

^ mit starkem<br />

R ? Wirtschaftswachstum<br />

A<br />

■<br />

zukünftige<br />

Verschiebung<br />

/ des wirtschaftlichen<br />

Mittelpunktes der EU<br />

■<br />

von den wichtigsten<br />

Aktivräumen<br />

ausgehendes<br />

Wirtschaftswachstum<br />

der europäische<br />

»Sunbelt“ <strong>und</strong><br />

zukünftige<br />

Entwicklungsachsen<br />

Gürtel von<br />

„Hightech”-<br />

Regionen<br />

I I I Gürtel der<br />

Unterentwicklung<br />

m m Achse mit<br />

Problemregionen<br />

zukünftige<br />

Entwicklungsachsen<br />

• n „<br />

nuÄi 111 ■ *<br />

13.5 Europäische Entwicklungsachsen Im Kontext der Europäischen Union wurden verschiedene geoökonomische Raummodelle<br />

entwickelt, welche die Kernräume wirtschaftlicher Entwicklung ausweisen. Zum bekanntesten Modell wurde die sogenannte „Blaue<br />

Banane“, ein breites Entwicklungsband von London über die Randstad Holland, Brüssel, das Ruhrgebiet <strong>und</strong> die Rheinschiene über die<br />

Schweiz bis Mailand, das die zukünftige „Megalopolis“ Europas bilden soll. Meist wird dieses gekrümmte Band ergänzt durch einen aus<br />

der amerikanischen Geographie übernommenen Sunbelt entlang der Mittelmeerküste von Barcelona über Marseille <strong>und</strong> Nizza bis<br />

Rom. In der „Banane“ <strong>und</strong> im Sunbelt, so die Erwartung der europäischen Strukturpolitiker, wird sich das zukünftige wirtschaftliche<br />

Wachstum des europäischen Binnenmarktes konzentrieren, während die übrigen europäischen Regionen von der Marktöffnung<br />

geringer profitieren oder sogar negativ betroffen sein könnten.<br />

Das Bruttonationaleinkommen in Indien wird bis dahin<br />

annährend das Niveau der größeren europäischen<br />

Wirtschaftsnationen erreicht haben. Allein aufgr<strong>und</strong><br />

der vom Statistischen B<strong>und</strong>esamt der USA bis 2020<br />

erwarteten Bevölkerungszahlen von 1,4 Milliarden<br />

(China) <strong>und</strong> 1,3 Milliarden (Indien) werden die beiden<br />

Ländern zu bedeutenden Wirtschaftsnationen<br />

aufsteigen - auch wenn sie bis dahin nicht unbedingt<br />

den westlichen Lebensstandard erreicht haben. Es<br />

wird sich noch zeigen, wie China <strong>und</strong> Indien ihren<br />

wachsenden wirtschaftlichen Einfluss nutzen werden,<br />

ob beide Nationen zur internationalen Kooperation<br />

mit anderen Staaten bereit sein oder harte Konkurrenten<br />

im internationalen Wirtschaftssystem werden.<br />

Wenngleich China heute noch nicht einmal zu den<br />

Kernregionen des Weltwirtschaftssystems gehört,<br />

glauben viele Beobachter an ein asiatisch-pazifisches<br />

21. lahrh<strong>und</strong>ert. In diesem Szenario wird China im<br />

Zentrum der Weltwirtschaft stehen, deren Dreh<strong>und</strong><br />

Angelpunkt dann nicht mehr im nordatlantischen,<br />

sondern eher im pazifischen Raum liegt. China<br />

verfügt zweifelsohne über das Potenzial zu einem<br />

ernsthaften Wettbewerber. Es ist ein großes Land<br />

mit vielseitigen Ressourcen <strong>und</strong> einer langen politischen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> ökonomischen Geschichte.<br />

Mit 1,3 Milliarden Menschen (im lahr 2004) ist es<br />

das bevölkerungsreichste Land der Erde. Nach 1978<br />

kam es unter der Führung von Deng Xiaoping zu<br />

einer weitreichenden Reorganisation <strong>und</strong> Wiederbelebung<br />

der Wirtschaft, die gegenwärtig in rapidem<br />

Wachstum begriffen ist. Die kollektive Landwirtschaft<br />

wurde reprivatisiert, sodass die Bauern nun<br />

in gewissem Umfang private Gewinne erzielen können.<br />

Staatliche Unternehmen wurden geschlossen<br />

oder privatisiert, <strong>und</strong> an die Stelle der zentralen<br />

Staatspläne traten private Unternehmungen. Seit<br />

1992 weitet China seine Politik der „offenen Tür“<br />

(die Zulassung von Handelsbeziehungen mit allen


13.6 Chinas regionales W irtschaftswachstum Die Modernisierung Chinas ist Folge einer zentral gesteuerten Liberalisierung<br />

des ehemals kommunistischen Wirtschaftssystems. Das rascheste Wachstum setzte in den Küstenregionen um Tianjin, Shanghai<br />

<strong>und</strong> Guangzhou (a) <strong>und</strong> den eigens dafür eingerichteten Sonderwirtschaftszonen ein. Neben Shanghai ist das Perlflussdelta im Süden,<br />

r<strong>und</strong> um Hongkong, Guangzhou <strong>und</strong> Shenzen, ein „Hot Spot“ des Wirtschaftswachstums. Hier leben mehr als 60 Millionen Menschen,<br />

<strong>und</strong> obwohl drei Viertel der Bevölkerung ärmliche Fischer <strong>und</strong> Bauern sind, welche die lokalen Märkte mit Fischen, Krabben, Reis,<br />

Bananen <strong>und</strong> Lychee-Früchten überschwemmen, wächst die Industrie in atemberaubendem Tempo. Alle acht Jahre verdreifacht sich<br />

hier die wirtschaftliche Produktion. Bei aller Armut sind Bildungs- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsstand im Vergleich zu anderen Ländern dieser<br />

Einkommensstufe hier ungleich höher. Dieser Umstand forderte umfangreiche Investitionen, ausgehend von der neuen kapitalistischen<br />

Klasse Chinas genauso wie von Japan, Südkorea, Taiwan, Hongkong (b) <strong>und</strong> Thailand. Aus diesen Regionen stammen zudem<br />

die meisten der 30 Millionen Chinesen, die heute im Ausland leben <strong>und</strong> die über geschätzte Mittel von mindestens 2 Milliarden US-<br />

Dollar verfügen - <strong>und</strong> diese nun in jener Region investieren wollen.<br />

jS?<br />

Teilen der Welt) über sogenannte special economic<br />

zones (Sonderwirtschaftszonen) aus <strong>und</strong> ermöglicht<br />

Ausländern, in die einheimischen JVIärkte zu investieren.<br />

ln den wirtschaftlich schwachen 1980er- <strong>und</strong><br />

frühen 1990er-Jahren verzeichnete die chinesische<br />

Industrie ein Wachstum von jährlich fast 15 Prozent.<br />

Die Wachstumsraten bewegen sich seit 2000 im zweistelligen<br />

Bereich. Fast alle Schuhe, die einst in Südkorea<br />

oder Thailand gefertigt wurden, stammen nun aus<br />

China. Mehr als 60 Prozent aller Spielwaren mit<br />

einem Handelsvolumen von 9 Milliarden US-Dollar<br />

kommen aus chinesischen Fabriken. Aufgr<strong>und</strong> der<br />

zunehmenden Bedeutung Chinas im Welthandel entstand<br />

eine völlig neue Situation, die zum Rückgang<br />

der Preise für bestimmte Erzeugnisse auf dem Weltmarkt<br />

führte (Abbildung 13.6). Nicht nur macht die<br />

Größe seiner Wirtschaft China zu einem der wichtigsten<br />

Produzenten, das enorme Angebot an Arbeitskräften<br />

stellt auch sicher, dass die Löhne langfristig<br />

nicht das Niveau im Westen erreichen. Schon heute<br />

ist China die weltweit viertgrößte Wirtschaftsmacht<br />

(nach der Europäischen Union, den Vereinigten Staaten<br />

<strong>und</strong> Japan).<br />

Dennoch wird Chinas Wirtschaft noch für einige<br />

Zeit landwirtschaftlich geprägt sein. Zudem wird die<br />

Notwendigkeit, die riesige Bevölkerung mit Nahrungsmitteln,<br />

Kleidung <strong>und</strong> Wohnungen zu versorgen,<br />

die Modernisierung der Wirtschaft behindern<br />

<strong>und</strong> damit eine dominierende Rolle Chinas in der<br />

Welt hinauszögern. Unterdessen gilt es zahlreiche soziale<br />

<strong>und</strong> politische Reformen umzusetzen. Erst dann<br />

kann freies Unternehmertum sich entfalten. Doch bevor<br />

China wirklich eine hegemoniale Machtposition<br />

erreicht, muss das Land noch einen wesentlichen humangeographischen<br />

Aspekt in den Griff bekommen,<br />

nämlich die räumlich ungleiche Entwicklung infolge<br />

der ökonomischen Reformen. Der sich selbst verstärkende<br />

Wirtschaftsboom fand bisher nur in den Metropolen<br />

<strong>und</strong> Küstenregionen statt, während sich im<br />

ausgedehnten Landesinneren Armut ausbreitet. Ironischerweise<br />

war genau diese räumliche Polarisierung<br />

in den 1940er-Jahren Auslöser der kommunistischen<br />

Revolution. Heute ist sie die Ursache potenzieller Unruhen<br />

<strong>und</strong> politischer Spannungen zwischen der Zentralregierung<br />

<strong>und</strong> den Provinzregierungen des Landesinneren<br />

<strong>und</strong> der Küstenregionen. Kurzfristig


746 13 Geographien der Zukunft<br />

-1<br />

muss sich China im eigenen Land neue Räume schaffen,<br />

indem es interne Märkte fördert <strong>und</strong> deren<br />

Wachstum in moderaten Grenzen hält. Mit einem<br />

umfangreichen Programm zur Förderung der Infrastruktur<br />

hat China damit in einigen Punkten schon<br />

begonnen. Indem sie die Vergabe von Krediten erleichterte,<br />

bemühte sich die Regierung zudem um<br />

die Steigerung der heimischen Nachfrage. Ob sie<br />

die Situation auch weiterhin unter Kontrolle hat,<br />

bleibt indes abzuwarten. Wenn sich die Lebensbedingungen<br />

durch die kapitalistische Umgestaltung erst<br />

einmal gr<strong>und</strong>legend verändert haben - <strong>und</strong> neuer<br />

Reichtum sich innerhalb einer armen Gesellschaft<br />

ausbreitet, die auf anderen Gr<strong>und</strong>lagen ruht - ist<br />

der Lauf der Dinge nur schwer zu kontrollieren.<br />

In der neuen Weltordnung des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

gibt es keine alleinige Hegemonialmacht. Stattdessen<br />

entsteht durch die wirtschaftliche <strong>und</strong> kulturelle Globalisierung<br />

ein polyzentrisches Netzwerk, in dem<br />

Nationen, Regionen <strong>und</strong> Weltstädte durch Waren<strong>und</strong><br />

Kapitalströme miteinander verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Die neue Weltordnung gründet sich nicht auf die militärische<br />

Stärke von Nationalstaaten, sondern beruht<br />

auf der gegenseitigen Abhängigkeit von transnationaler<br />

Produktion <strong>und</strong> Absatzmärkten. Die Stabilität <strong>und</strong><br />

Regulierung dieses Systems gewährleisten einflussreiche<br />

internationale Institutionen wie die Weltbank,<br />

der Internationale Währungsfonds, die Welthandelsorganisation,<br />

die Europäische Union, die NATO <strong>und</strong><br />

die Vereinigten Staaten.<br />

Die Randregionen<br />

Was auch immer eine neue Weltordnung mit sich<br />

bringen wird - die Aussichten für die peripheren<br />

Länder <strong>und</strong> ihre Bevölkerungen stehen schlecht.<br />

Trotz des Schuldenerlass-Program ms <strong>und</strong> anderer<br />

Hilfsprogramme der G8-Länder als reichste Länder<br />

der Erde <strong>und</strong> der Popularität der Live-8-Konzerte<br />

(Abbildung 13.7) stehen die Länder der Peripherie<br />

<strong>und</strong> ihre marginalisierten Bevölkerungsschichten<br />

vor schier unüberwindlichen Hindernissen auf dem<br />

Weg zu wirklichem Portschritt. Sie wurden bereits<br />

von ausländischen Investoren abgeschrieben <strong>und</strong><br />

ihre Nationalwirtschaften liegen vielfach am Boden.<br />

Diese Länder sind nicht nur von einem gravierenden<br />

sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Niedergang betroffen,<br />

sondern sie kämpfen auch mit enormen demographischen<br />

<strong>und</strong> Umweltproblemen. Die am schlimmsten<br />

betroffenen Regionen, vor allem in West- <strong>und</strong> Zentralafrika,<br />

werden in den nächsten 15 bis 20 Jahren<br />

am Rande des Abgr<strong>und</strong>s stehen - vollkommen ausgelaugt<br />

von Ressourcenknappheit, schweren Umweltproblemen,<br />

Überbevölkerung, Krankheiten, Kriminalität,<br />

Flüchtlings- <strong>und</strong> Wanderungsströmen, mit.<br />

gewalttätiger Anarchie <strong>und</strong> Chaos. Die afrikanischen<br />

Länder werden weiterhin benachteiligt sein, da die<br />

Preise der hier <strong>und</strong> in anderen peripheren Regionen<br />

hergestellten Waren weiter sinken, während die aus<br />

den Kernländern importierten Waren immer teurer<br />

werden. Das bedeutet, dass es in den peripheren Ländern,<br />

insbesondere in Afrika, auch weiterhin durch<br />

den Rückgang der Exporterträge eine zu geringe<br />

Kaufkraft geben wird. Durch ihre hohe Verschuldung,<br />

den Rückgang ausländischer Finanzhilfen, Rcssourcenknappheit,<br />

das Fehlen von Geldern für technologische<br />

Neuerungen sowie durch die hohen Kosten<br />

für den Transport <strong>und</strong> die Vermarktung von Gütern<br />

<strong>und</strong> Waren werden die peripheren Länder auch<br />

in Zukunft von der globalen Wirtschaft ausgeschlossen<br />

sein.<br />

Von dem Ideal von Modernisierung <strong>und</strong> Demokratie<br />

scheinen diese Regionen weiter entfernt als jemals<br />

zuvor. Korrupte Regime <strong>und</strong> Staatsoberhäupter<br />

wie der ehemalige Präsident von Zaire, Mobutu, <strong>und</strong><br />

der frühere Militärdiktatur von Nigeria, Abacha, haben<br />

„Kleptokratien“ (wie bei Kleptomanie besteht<br />

auch hier der fortwährende Drang zu Stehlen) statt<br />

Demokratien gegründet. Anfang des Jahres 2004 veröffentlichte<br />

Transparency International, eine weltweit<br />

agierende nichtstaatliche Organisation, die sich in der<br />

nationalen <strong>und</strong> internationalen Korruptionsbekämpfung<br />

engagiert, eine Liste der zehn politischen Führer,<br />

die sich in der jüngsten Vergangenheit am meisten<br />

persönlich bereichert haben. Nach der Summe des<br />

von ihnen gestohlenen Vermögens sind dies: der ehemalige<br />

Präsident von Indonesien, Suharto (15 Milliarden<br />

bis 35 Milliarden US-Dollar), der ehemalige Präsident<br />

der Philippinen, Ferdinand Marcos (5 Milliarden<br />

bis 10 Milliarden US-Dollar), der ehemalige Präsident<br />

Nigerias, Sani Abacka (2 Milliarden bis 5 Milliarden<br />

US-Dollar), der ehemalige jugoslawische Präsident,<br />

Slobodan Milosevic (1 Milliarde US-Dollar),<br />

der ehemalige Präsident von Haiti, Jean-Claude Duvalier<br />

(300 Millionen bis 800 Millionen US-Dollar),<br />

der ehemalige Präsident von Peru, Alberto Fuhjmori<br />

(600 Millionen US-Dollar), der ehemalige ukrainische<br />

Premierminister, Pavlo Lazarenko (114 Millionen<br />

bis 200 Millionen US-Dollar), der ehemalige<br />

Präsident Nicaraguas, Amoldo Alemán (100 Millionen<br />

US-Dollar) <strong>und</strong> ein weiterer Ex-Präsident der<br />

Philippinen, Joseph Estrada (78 Millionen bis 80 Millionen<br />

US-Dollar).<br />

In einigen Ländern wie beispielsweise in Liberia,<br />

im Sudan <strong>und</strong> in Sierra Leone haben die Regierungen


Regionale Aussichten 747<br />

13.7 Live-8-Konzert Das von dem einstigen Popstar Bob Geldorf organisierte Live-8-Konzert im Juni 2005 im Londoner Hyde Park<br />

war eines von mehreren Konzerten, die im Rahmen einer großen Kampagne die Staatschefs der G8 dazu bewegen sollte, die<br />

Entwicklungshilfe zu verdoppeln, Schulden zu erlassen <strong>und</strong> die Handelsbedingungen für Afrika zu verbessern. Auf dem Konzert traten<br />

unter anderem Mariah Carey, Pink Floyd, Madonna, U2 <strong>und</strong> The Who auf.<br />

die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren.<br />

Hier überfallen Gruppen arbeitsloser Jugendlicher<br />

Einheimische <strong>und</strong> Touristen, es kommt zu Stammeskriegen,<br />

Flüchtlinge schleppen sich aus Kriegsgebieten<br />

von einem Zeltlager in das nächste <strong>und</strong> wieder<br />

zurück, <strong>und</strong> die Umweltzerstörung schreitet unaufhörlich<br />

voran (Abbildung 13.8). Das Auswärtige<br />

Amt der USA schätzt die Zahl der afrikanischen<br />

Kriegsflüchtlinge in den 1990er-Jahren auf über<br />

8 Millionen. Etwa 7 Millionen bis 8 Millionen Menschen<br />

wurden in dieser Zeit getötet, unter ihnen auch<br />

über 2 Millionen Kinder. Eine der blutigsten Auseinandersetzungen<br />

ist der Eritrea-Äthiopien-Krieg, der<br />

im Mai 1998 ausbrach <strong>und</strong> bei dem es um die Kontrolle<br />

über die Grenzregion Badme geht.<br />

Die meisten Konflikte in Afrika sind Bürgerkriege,<br />

die sich zu komplizierten <strong>und</strong> langwierigen Kriegen<br />

ausweiteten, weil die Zahl der Guerillagruppen stark<br />

zunahm <strong>und</strong> diese sich in der Folge in gegeneinander<br />

kämpfende Splittergruppen teilten. Am stärksten betroffen<br />

sind Algerien, Angola, Bur<strong>und</strong>i, die Republik<br />

Kongo <strong>und</strong> die Demokratische Republik Kongo (ehemals<br />

Zaire), Guinea-Bissau, Ruanda, die Republik<br />

Sierra Leone, Somalia, Sudan <strong>und</strong> Uganda (Exkurs<br />

„Neue Kriege“).<br />

Das Chaos hat auch vielen Krankheiten wieder<br />

zum Ausbruch gebracht, sodass einige Teile Afrikas<br />

heute gefährlicher sind als vor 100 Jahren. Im subsaharischen<br />

Afrika sind Malaria <strong>und</strong> Tuberkulose<br />

inzwischen weit verbreitet <strong>und</strong> AIDS ist zu einer<br />

wahren Seuche geworden. In Uganda, wo für die jährliche<br />

Ges<strong>und</strong>heitsvorsorge der Bevölkerung weniger<br />

als 5 US-Dollar ausgegeben werden (verglichen mit<br />

der internationalen Schuldenrückzahlung von fast<br />

20 US-Dollar pro Person) stirbt jedes fünfte Kind<br />

vor seinem fünften Geburtstag <strong>und</strong> die HIV/AIDS-<br />

Infektionsrate der jungen Erwachsenen hat dramatische<br />

Werte erreicht. Über 23 Millionen Menschen<br />

waren im Jahr 2002 im subsaharischen Teil Afrikas<br />

mit dem Hl-Virus infiziert - das ist jeder zwölfe<br />

Mensch. Fast dreißig Prozent der Bevölkerung von<br />

Simbabwe im Alter zwischen 15 bis 49 Jahren ist<br />

mit dem Hl-Virus infiziert, gefolgt von Botswana<br />

(25 Prozent) <strong>und</strong> Sambia (19 Prozent). Acht weitere<br />

afrikanische Länder haben Infektionsraten von über<br />

10 Prozent unter der erwachsenen Bevölkerung.<br />

Der Kontinent Afrika, auf dem knapp 10 Prozent<br />

der Weltbevölkerung leben, ist die Heimat von<br />

über zwei Drittel der weltweit 33 Millionen mit<br />

HIV infizierten Menschen. Etwa 6 Millionen afrikanische<br />

Kinder haben durch AIDS ihre Eltern verloren<br />

<strong>und</strong> sind zu Waisen geworden. Das sind 7 Prozent der<br />

weltweiten Aidswaisen. In den neun am schlimmsten<br />

von der Seuche betroffenen Ländern der Erde - alle<br />

Länder sind afrikanische - hat ein 2003 geborenes<br />

Kind eine Lebenserwartung von 43 Jahren. Ohne


748 13 Geographien der Zukunft<br />

Südwest*<br />

' fc -f<br />

2^9<br />

r<br />

^ f<br />

<strong>und</strong> MssWttf'<br />

r<br />

« ■Sodem erika<br />

Betroffene Bevölkerung<br />

1000000<br />

500000<br />

■100000<br />

-10000<br />

Zwilrelafrika un^<br />

dfe Region \<br />

der


Herausforderungen <strong>und</strong> Bedrohungen 749<br />

Neue Kriege<br />

Trotz der globalen politischen Veränderungen seit 1990 sind<br />

Kriege <strong>und</strong> Konflikte in der Welt keineswegs drastisch zurückgegangen,<br />

ganz im Gegenteil. Allerdings handelt es sich kaum<br />

mehr um Kriege zwischen Staaten, sondern um „neue Kriege“<br />

privatisierter Gewalt, um „inoffizielle“ oder „entartete“ Kriege.<br />

Diese „neuen Kriege“ finden ihren Nährboden weltweit, in<br />

Form von terroristischen Anschlägen auf Touristenzentren<br />

oder Symbole der Macht. Sie haben sich aber auch räumlich<br />

konzentriert, auf die Region, welche der Geograph Samuel Cohen<br />

als „shatterbelt“ bezeichnet: den Nahen <strong>und</strong> Mittleren<br />

Osten, Teile Südostasiens (Indonesien, Philippinen) <strong>und</strong> besonders<br />

das gesamte Afrika. In diesen Regionen zerfällt staatliche<br />

Gewalt in einem bisher nicht für möglich gehaltenen Ausmaß<br />

<strong>und</strong> die Macht geht immer mehr auf regionale Heerführer<br />

<strong>und</strong> ihre Milizen über, eine Situation ganz ähnlich der Landsknechtherrschaft<br />

in Mitteleuropa während des Dreißigjährigen<br />

Kriegs.<br />

Der klassische Staatenkrieg, der die Szenarien des Kalten<br />

Kriegs noch weithin geprägt hatte, ist zu einem „Auslaufmodell“<br />

geworden, die Staaten haben als faktische Monopolisten<br />

des Kriegs abgedankt, <strong>und</strong> an ihre Stelle treten immer häufiger<br />

parastaatliche oder auch private Akteure: lokale warlords <strong>und</strong><br />

Guerillagruppen, aber auch weltweit operierende Söldnerfirmen<br />

bis hin zu internationalen Terrornetzwerken, für die<br />

der Krieg zu einem dauerhaften Betätigungsfeld geworden ist.<br />

Diese neuen Kriege haben sich auch „ökonomisiert“, daher<br />

sind sie so schwer zu beenden. „Sie werden durch reiche Privatleute,<br />

Staaten oder Emigrantengemeinden finanziell unterstützt,<br />

verkaufen Bohr- <strong>und</strong> Schürfrechte für die von ihnen<br />

kontrollierten Gebiete, betreiben Drogen- <strong>und</strong> Menschenhandel<br />

oder erpressen Schutz- <strong>und</strong> Lösegeld, <strong>und</strong> durchweg<br />

profitieren sie von den Hilfslieferungen internationaler Organisationen,<br />

da sie die Flüchtlingslager (oder zumindest die Zugänge<br />

zu ihnen) kontrollieren. Wie auch immer aber die Kriegsparteien<br />

zu den erforderlichen Mitteln gelangen - stets ist die<br />

Finanzierung des Kriegs, anders als in den klassischen Staatenkriegen,<br />

ein wichtiger Aspekt der Kriegsführung selbst. Die<br />

gewandelten Finanzierungsformen tragen entscheidend dazu<br />

bei, dass die neuen Kriege sich oftmals über Jahrzehnte erstrecken,<br />

ohne dass ein Ende in Sicht kommt“ (Münkler 2002).<br />

„Der Krieg ernährt den Krieg“, hatte es Mutter Courage in<br />

Brechts Theaterstück auf die kürzeste Formel gebracht. Die<br />

spezifische Ökonomie der neuen Kriege sorgt dafür, dass<br />

die ausgezehrten <strong>und</strong> verwüsteten Regionen ohne umfassende<br />

Hilfe von außen nicht mehr auf die Beine kommen.<br />

Vor allem drei Entwicklungen sind kennzeichnend für diese<br />

neuen Kriege. Zunächst die Entstaatlichung beziehungsweise<br />

die Privatisierung von Gewalt, welche dadurch möglich<br />

wird, dass leichte Waffen billig zu haben sind <strong>und</strong> keine komplexe<br />

Ausbildung benötigen. Kennzeichnend ist zum zweiten<br />

die Asymmetrisierung kriegerischer Gewalt, also der Umstand,<br />

dass meist keine gleichartigen Gegner miteinander<br />

kämpfen, dass es keine Fronten gibt <strong>und</strong> es daher selten<br />

zu regelrechten Schlachten kommt, sondern dass sich die Gewalt<br />

vielmehr gegen die Zivilbevölkerung richtet. Hochhäuser<br />

werden zu Schlachtfeldern, Fernsehbilder zu Waffen. Schließlich<br />

ist zum dritten typisch die Tendenz zur Verselbständigung<br />

oder Autonomisierung vorher militärisch eingeb<strong>und</strong>ener<br />

Gewaltformen, wobei den Gewaltakteuren der Krieg als Auseinandersetzung<br />

zwischen Gleichartigen fremd ist.<br />

Kurz: In den neuen Kriegen verschwimmt die Grenze zwischen<br />

Krieg (üblicherweise als politisch motivierte Gewalt zwischen<br />

organisierten politischen Gruppen definiert), organisiertem<br />

Verbrechen (privat motivierte, normalerweise auf finanziellen<br />

Gewinn abzielende Gewalttaten) <strong>und</strong> massiven Menschenrechtsverletzungen<br />

(Kaldor 2000).<br />

Neue Kriege dieses Typs sind reine Staatszerfallskriege,<br />

die zerstörte Gesellschaften ohne tragfähige Zukunftsperspektive<br />

erzeugen. Letztlich produzieren solche Kriege im Ergebnis<br />

neokoloniale Strukturen, da sie die gesellschaftliche<br />

Fähigkeit zur Selbstorganisation für lange Zeit zerstören<br />

<strong>und</strong> damit eigene Entscheidungen über den einzuschlagenden<br />

Entwicklungsweg unmöglich machen (Münkler 2002). Dieser<br />

Typ von Krieg ist schwer zu beenden, aber er ist leicht zu beginnen,<br />

auch deshalb, weil die Gewalt den Akteuren kurzfristig<br />

mehr einbringt, als sie kostet - die langfristigen Folgen haben<br />

ja dann andere zu tragen.<br />

Dies liegt auch daran, dass die neuen Kriege billig sind,<br />

nicht nur weil sie überwiegend mit leichten Waffen geführt<br />

werden, sondern weil Jugendliche, manchmal noch Kinder,<br />

verfügbar sind, die sich aufgr<strong>und</strong> der Aussicht auf Lebensunterhalt<br />

<strong>und</strong> eine sonst unerreichbare soziale Reputation einem<br />

warlord oder Milizenführer anschließen. Es ist, ökonomisch gesehen,<br />

eine rational choice, sich so zu verhalten. Hinzu kommt<br />

der neue Status: Ray-Ban-Sonnenbrillen, Rolex-Uhren oder<br />

auch nur die Kalaschnikow sind die ikonischen Zeichen dieser<br />

Macht.<br />

H. Gebhardt<br />

Herausforderungen <strong>und</strong><br />

, Bedrohungen_________<br />

Wenn wir uns den künftigen räumlichen Wandel auf<br />

dieser Erde ansehen, dürfen wir die sich gegenseitig<br />

beeinflussenden <strong>und</strong> nicht genau vorhersehbaren<br />

Entwicklungen in Politik, Gesellschaft <strong>und</strong> Umwelt<br />

nicht außer Acht lassen. Wie bereits beschrieben,<br />

ist die unmittelbare Zukunft geprägt durch eine Phase<br />

geopolitischer <strong>und</strong> geoökonomischer Veränderungen,<br />

durch die anhaltende <strong>und</strong> globale Ausdehnung<br />

der Weltwirtschaft sowie die fortschreitende Globalisierung<br />

von Industrie, Finanzen <strong>und</strong> Kultur. Im Zuge<br />

dieses Wandels werden unweigerlich Veränderungen


750 13 Geographien der Zukunft<br />

Vorstadt von Auckland, Neuseeland.<br />

Bewachtes Wohngebiet in Seaport Villages, Cape Canaveral, Florida.<br />

13.9 Gesicherte Wohnareale <strong>und</strong> Überwachungskameras Die soziale, ökonomische <strong>und</strong> ethnische Polarisierung hat in den<br />

Kernregionen der Erde zu einem erheblichen Wandel der Stadtlandschaften geführt. Ein Aspekt dieser Veränderungen ist die<br />

zunehmende elektronische Überwachung des öffentlichen wie des privaten Raums, ein anderer die verstärkte Präsenz privater<br />

Sicherheitsdienste in den gehobenen Wohnvierteln der Städte. „Archipele der Sicherheit“ nennt Wehrheim (2002) solche abgegrenzten<br />

<strong>und</strong> gesicherten Einrichtungen für das Einkäufen, das Arbeiten, Wohnen <strong>und</strong> sich Erholen, welche mit neuen modernen<br />

Überwachungstechniken (Videoüberwachung) kontrolliert werden.<br />

erfolgen <strong>und</strong> es kommt zu Konflikten <strong>und</strong> Bedrohungen.<br />

Einige dieser Veränderungen können wir schon<br />

jetzt prognostizieren: Bruchlinien zwischen Kulturen,<br />

vielfältige Sicherheitsfragen sowie das Problem der<br />

Nachhaltigkeit.<br />

Globalisierte Kultur <strong>und</strong> kulturelle<br />

, Gegensätze____________________<br />

Einerseits hatte die Globalisierung in Gestalt einheitlicher<br />

Konsumgüter eine Homogenisierung der Kultur<br />

zur Folge. Diese Ebene des „Planet Reebok“ ist<br />

durch Jumbojets, CNN, Musiksender, Mobiltelefone<br />

<strong>und</strong> das Internet vernetzt sowie von Coca-Cola, Budweiser,<br />

McDonald’s, GAP-Bekleidungen, Nike, Walkmans,<br />

Nintendos, Hondas, Walt-Disney-Produkten<br />

<strong>und</strong> den immer gleichen Hollywoodfilmen beherrscht.<br />

In den selbstbewusst auftretenden, länderübergreifenden<br />

Klassen der Mittel- <strong>und</strong> Oberschicht<br />

erkannten Soziologen darüber hinaus eine bestimmte<br />

Kultur des global metropolitanism. Hinter dieser Bezeichnung<br />

steht nichts anderes als eine homogene<br />

Kultur des gehobenen Konsums - französische Weine<br />

statt Budweiser, Hugo Boss statt Levis, BMW statt<br />

Honda. Die Mitglieder dieser neuen Kultur nehmen<br />

zudem an internationalen Konferenzschaltungen teil,<br />

verschicken Telefaxe <strong>und</strong> E-Mails, treffen wirtschaftliche<br />

Entscheidungen transnationaler Größenordnung,<br />

sind in den Medien präsent, entwerfen <strong>und</strong> vermarkten<br />

internationale Produkte <strong>und</strong> sind privat <strong>und</strong><br />

geschäftlich in aller Welt unterwegs.<br />

Diese Trends lassen die traditionellen kulturellen<br />

Unterschiede verschwimmen. Wir identifizieren<br />

uns vielleicht eher mit Leuten, welche die gleichen<br />

Produkte kaufen, die gleiche Musik hören <strong>und</strong> die<br />

gleichen Sportidole haben. Dies führt jedoch auch<br />

dazu, dass sich die Schere zwischen den Armen in<br />

der „langsamen“ Welt <strong>und</strong> den Reichen in der „beschleunigten“<br />

Welt weiter öffnet. Die alleinige Konzentration<br />

auf den Konsum sorgt gleichzeitig dafür,<br />

dass neuentstehende Verwerfungen überlagert <strong>und</strong><br />

verdeckt werden, seien es Spannungen zwischen kulturellen<br />

Gruppen, die zuvor miteinander harmonierten,<br />

oder Konflikte zwischen ideologisch unterschiedlich<br />

geprägten Gesellschaftssystemen.<br />

Das Entstehen solcher neuen Risse kann mehrere<br />

Gründe haben. Einer davon liegt in dem weichenden<br />

Druck nach dem Ende des Kalten Kriegs. Durch den<br />

Wegfall äußerer Bedrohungen konnten sich die Menschen<br />

auf andere Probleme konzentrieren. Ein anderer<br />

Gr<strong>und</strong> ist die Globalisierung der Kultur selbst. Je<br />

stärker sich die individuellen Lebensweisen durch<br />

ähnliche Berufe <strong>und</strong> eine einheitliche materielle Kultur<br />

angleichen, de.sto mehr Men.schen suchen nach<br />

Subjektivität, Zusammengehörigkeit <strong>und</strong> kultureller<br />

Identität. In der „langsamen“ Welt der Armen sind<br />

indes andere Prinzipien am Werk. Das Aufeinandertreffen<br />

von Armut, Umweltzerstörung <strong>und</strong> Übervöl-


Herausforderungen <strong>und</strong> Bedrohungen 751<br />

Formen von governance jenseits von Nationalstaaten<br />

Governance ist in den Sozialwissenschaften zu einem Modethema<br />

der letzten Jahre geworden, das inzwischen auch die<br />

Geographie erreicht hat. Unter dem Begriff lässt sich in allgemeiner<br />

Form die Gesamtheit der vielfältigen kollektiven Regelungsformen<br />

gesellschaftlicher Sachverhalte in einer Stadt/<br />

Region/Nation verstehen.<br />

Im Kontext der Globalisierung verlieren nach Meinung<br />

nicht weniger Wissenschaftler die Nationalstaaten an Steuerungsfunktion<br />

zugunsten übernationaler oder transnationaler<br />

Organisationen (wirtschaftliche Zusammenschlüsse wie EU<br />

oder ASEAN, politische Zusammenschlüsse wie die UN<br />

oder Nichtregierungsorganisationen). Eine geoökonomische<br />

Weltkonstellation zunehmend zusammenwachsender Kommunikation<br />

jenseits von Nationalstaaten <strong>und</strong> politischen Systemen<br />

entwickelte besonders Castells mit seinem Entwurf<br />

einer „Netzwerkgesellschaft“. Er sieht, wie nicht wenige ökonomische<br />

Theoretiker der Globalisierung, die Zukunft der Welt<br />

weniger in territorialen Einheiten (space of places), als vielmehr<br />

in Netzwerken verfasst (space of fbws), welche die<br />

neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften bilden<br />

<strong>und</strong> prinzipiell in der Lage sind, grenzenlos zu expandieren<br />

(Castells 2001). Die „Staatsschwäche“ der traditionellen Nationalstaaten<br />

sollte in solchen Netzwerkgesellschaften durch<br />

neue Formen \Jon global governance substituiert werden. Neben<br />

der globalen Ebene von global governance interessieren<br />

Geographen auch die darunter liegenden Ebenen von local governance,<br />

„urban governance beziehungsweise von multllevel<br />

governance (Benz 2004).<br />

Nationalstaaten verlieren nicht nur nach außen an Bedeutung,<br />

sondern auch nach „innen“. „Effektive Gebietsherrschaft“<br />

über den Raum, für den das politische Gemeinwesen<br />

bestimmte Leistungen in den Bereichen Herrschaft, Sicherheit<br />

<strong>und</strong> Wohlfahrt erbringt, ist heute jenseits der Kernräume der<br />

Weltwirtschaft nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme<br />

(Exkurs „Neue Kriege“). Wir haben es vielmehr mit einer Vielzahl<br />

von „beschädigten“, „fragmentierten“ oder „fragilen“<br />

Staatlichkeiten [states of risk, falling States) zu tun, in<br />

denen informelle Akteure traditionelle Aufgaben des Staates<br />

ersetzen. Hier herrschen häufig asymmetrische Machtbeziehungen<br />

zwischen öffentlichen <strong>und</strong> nichtstaatlichen Akteuren,<br />

welche in oft subtilen <strong>und</strong> häufig auch konfliktträchtigen<br />

Wechselbeziehungen zueinander stehen. Staatsschwächen<br />

zeigen sich nicht nur im fehlenden Machtmonopol des Staates,<br />

sondern auch im Fehlen eines glaubwürdigen <strong>und</strong> durchsetzbaren<br />

Rechtssystems mit allgemein akzeptierten gesellschaftlichen<br />

Regeln, in mangelnder Entscheidungsfähigkeit<br />

der Institutionen, zum Beispiel aufgr<strong>und</strong> von Inkompetenz<br />

oder fehlender Rechtsmittel, <strong>und</strong> in der Unfähigkeit öffentliche<br />

Güter - sowohl in technischer wie finanzieller Hinsicht - in<br />

angemessener Form bereitzustellen.<br />

In Räumen begrenzter Staatlichkeit, bei denen eine übergeordnete<br />

Instanz fehlt (Mayntz 2007), können Sonderräume<br />

\/or\ pollticaland culturalotherness entstehen. Einen Extremfall<br />

bilden hier beispielsweise Flüchtlingslager. Konzipiert als „humanitäre<br />

Schutzräume“, in denen Mindestrechte (Recht auf<br />

Arbeit, medizinische Versorgung <strong>und</strong> Bildung) gewährleistet<br />

sein sollen, werden sie gleichwohl außer von internationalen<br />

Flüchtlingshilfsorganisationen auch von zahlreichen nichtformelle<br />

Akteuren bis hin zu lokalen warlords <strong>und</strong> Banden gesteuert.<br />

Im Vorderen Orient, insbesondere im Libanon, gibt es eine<br />

große Zahl an seit Jahrzehnten bestehenden Palästinenserlagern,<br />

welche inzwischen zu eigenen Stadtvierteln geworden<br />

sind, die sich von anderen Stadtteilen lediglich physiognomisch<br />

durch eine höhere Bebauungsdichte <strong>und</strong> sehr schlechte<br />

Bausubstanz abheben. Dennoch wurden diese hoch segregierten<br />

Armenviertel aufgr<strong>und</strong> ihres Sonderstatus von vornherein<br />

aus der städtischen Planung ausgeblendet <strong>und</strong> ihre Gestaltung<br />

wird weitgehend von privaten, teilweise informellen Akteuren<br />

bestimmt.<br />

Hans Gebhardt<br />

kerung sowie einem weltweit einheitlichen Materialismus<br />

ist für kriminelle Aktivitäten ein genauso idealer<br />

Nährboden wie für religiösen F<strong>und</strong>amentalismus.<br />

Gerade hierin liegt vermutlich die größte Gefahr für<br />

massive kulturelle Konflikte.<br />

Im Ergebnis tun sich derlei kulturelle Klüfte auf<br />

allen räumlichen Maßstabsebenen auf - <strong>und</strong> geben<br />

Einblicke in einige überaus problematische Aspekte<br />

zukünftiger Geographien. In den Städten wird die Gesellschaft<br />

zunehmend zersplittert <strong>und</strong> polarisiert sein,<br />

offene Konflikte werden sich nur mithilfe umfassender<br />

elektronischer Überwachung <strong>und</strong> der „Militarisierung“<br />

des öffentlichen Raums durch Sicherheitsposten<br />

<strong>und</strong> Zugangsbeschränkungen verhindern lassen<br />

(Abbildung 13.9, Exkurs „Gated communities <strong>und</strong><br />

Kontrolle öffentlicher Räume“). Dies kann natürlich<br />

nur dort geschehen, wo die erforderlichen Finanzmittel<br />

vorhanden sind. In den wuchernden Großstädten<br />

der Peripherie werden ungeregelte Ströme von Zuwanderern<br />

<strong>und</strong> Flüchtlingen aufeinandertreffen<br />

<strong>und</strong> in Konflikt geraten, es sei denn, die unterschiedlichen<br />

Interessen treten gegenüber einem gemeinsamen<br />

Ziel, etwa religiös-f<strong>und</strong>amentalistischen Bestrebungen,<br />

in den Hintergr<strong>und</strong>.<br />

Auf subnationaler Ebene sind zunehmende ethnische<br />

<strong>und</strong> rassische Rivalitäten, Intoleranz <strong>und</strong> Engstirnigkeit<br />

zu erwarten. Auf der ganzen Welt gibt es<br />

schon Beispiele dafür. In Nordamerika zeigt sich<br />

dies in der Unabhängigkeitsbestrebung der französischsprachigen<br />

Provinz Quebec. In Europa sind<br />

die Basken <strong>und</strong> Katalanen in Spanien zu nennen,<br />

das separatistische Denken in Norditalien sowie der


752 13 Geographien der Zukunft<br />

Krieg in Serbien, Kroatien <strong>und</strong> Bosnien. Auch in<br />

Asien lassen sich zahlreiche Beispiele finden. In Indien<br />

flammen die Feindseligkeiten zwischen Hindus<br />

<strong>und</strong> Moslems wieder auf, in Sri Lanka stehen sich die<br />

hinduistischen Tamilen <strong>und</strong> die buddhistischen Singhalesen<br />

gegenüber. Unterdessen führt Afrika die lange<br />

Liste der von Rassenkonflikten, Fanatismus <strong>und</strong><br />

anderen Motiven genährten kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

an. Der blutige Konflikt zwischen den<br />

Hutu <strong>und</strong> Tutsi in Ruanda, Bur<strong>und</strong>i, dem Nordosten<br />

der Republik Kongo (vormals Zaire) <strong>und</strong> dem Westen<br />

Tansanias ist nur ein Beispiel. Nur wo sich die<br />

wirtschaftlichen Verhältnisse entscheidend verbessern,<br />

werden solche Spannungen <strong>und</strong> Feindseligkeiten<br />

vielleicht ein Ende haben. Wo sich die ökonomische<br />

Misere indes weiter verschärft, dürften die Auseinandersetzungen<br />

an Umfang <strong>und</strong> Härte zunehmen.<br />

Auf globaler Ebene wächst das Bewusstsein der<br />

Menschen bezüglich ihrer historischen, geographischen,<br />

ethnischen <strong>und</strong> religiösen Wurzeln. Westlich,<br />

lateinamerikanisch, Anhänger der konfuzianischen<br />

Lehre, Japaner, Moslems, Hindus oder slawisch-orthodox<br />

- einige Beobachter befürchten, dass derlei<br />

Abgrenzungen, sollten sie sich weiter verstärken, an<br />

die Stelle der ideologischen Differenzen während<br />

des Kalten Kriegs treten <strong>und</strong> sich zu einem wesentlichen<br />

Konfliktpotenzial entwickeln könnten. Zahlreiche<br />

Globalisierungsexperten gehen davon aus,<br />

dass sich hier eine neue Entwicklung andeutet:<br />

Wenn Menschen sich selbst weniger als Bürger einer<br />

einzelnen Nation oder eines Staates sondern vielmehr<br />

als Weltbürger sehen, die eine gemeinsame globale<br />

Idee teilen, kann daraus eine neue Gr<strong>und</strong>lage für Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> Einheit entstehen (Kapitel 10).<br />

Unter den gegebenen Umständen massiver wirtschaftlicher<br />

Unterschiede zwischen den Kernregionen<br />

<strong>und</strong> Peripherien mehren sich die Anzeichen<br />

für ein Szenario, in dem die internationalen Beziehungen<br />

geprägt sind von einer offen zutage tretenden<br />

Zweiteilung in den Westen, einschließlich Japans, auf<br />

der einen <strong>und</strong> die „restliche“ Welt auf der anderen<br />

Seite.<br />

Sicherheit<br />

Neben kulturellen Bruchlinien werden durch die Globalisierung<br />

auch enorme wirtschaftliche <strong>und</strong> daraus<br />

folgend politische Umwälzungen ausgelöst, die vielfältige<br />

Sicherheitsfragen aufwerfen. Mit der allmählichen<br />

Integration von China, Indien <strong>und</strong> anderen Ländern<br />

in die globale Wirtschaft werden Millionen Arbeitnehmer<br />

auf dem globalen Arbeitsmarkt verfügbar<br />

sein, von denen immer mehr gut ausgebildet sind.<br />

Diese gewaltige Arbeitskraft ist eine attraktive <strong>und</strong><br />

wettbewerbsfähige Quelle von Niedriglohnarbeit,<br />

während zugleich technologische Innovationen weltweite<br />

berufliche Mobilität erforderlich machen <strong>und</strong><br />

begünstigen. Dieser Wandel wird vor allem die mittelständischen<br />

Kernregionen betreffen <strong>und</strong> einen raschen<br />

Jobwechsel sowie eine berufliche Neuausrichtung<br />

bedeuten. Andererseits wird das outsourcing in<br />

zunehmendem Maße die Antiglobalisierungsbewegung<br />

verstärken. Die Folgen dieses Drucks hängen<br />

davon ab, wie die jeweilige Nationalregierung darauf<br />

reagiert, wie flexibel die Arbeitsmärkte sein werden<br />

<strong>und</strong> ob das Wirtschaftswachstum stark genug sein<br />

wird, um mit einer wachsenden Zahl von freigesetzten<br />

Arbeitskräften fertig zu werden. Für einige Regionen<br />

sind die Aussichten relativ ungünstig: Hier werden<br />

schwache Staatsregierungen, eine kraftlose Wirtschaft,<br />

religiöser Extremismus <strong>und</strong> Jugendüberschuss<br />

eine ideale Basis für innere Konflikte schaffen, mit<br />

weitreichenden Folgen für die Sicherheitslagc in anderen<br />

Regionen.<br />

Solche innenpolitischen Konflikte, insbesondere<br />

wenn sie grenzübergreifend sind <strong>und</strong> ethnische Gruppen<br />

davon betroffen sind, drohen sich zu regionalen<br />

Konflikten auszuweiten, bei denen auch die Landesregierung<br />

unter Umständen machtlos ist <strong>und</strong> unter<br />

Umständen die Kontrolle über diese Gebiete <strong>und</strong><br />

die dort lebende Bevölkerung verliert. Jene Regionen<br />

können dann zu Zufluchsorten für internationale<br />

Terroristen <strong>und</strong> Terrororganisationen werden wie<br />

zum Beispiel Afghanistan für das Al-Quaida-Netzwerk<br />

oder Kolumbien für kriminellen Gruppen<br />

<strong>und</strong> Drogenkartelle. Einem Bericht des National<br />

Intelligence Council der USA zufolge wird das Al-<br />

Quaida-Netzwerk in den nächsten 15 Jahren wahrscheinlich<br />

durch eine Reihe anderer extremistischer<br />

islamischer Gruppen ersetzt werden. Außerdem besteht<br />

ein ernstes Risiko, dass sich die mit Al-Qaida<br />

verwandten islamistischen Gruppen mit regionalen<br />

separatistischen Bewegungen zusammenschließen.<br />

Durch die moderne Telekommunikation, <strong>und</strong> ihr<br />

Potenzial, praktisch sofort mit jemandem kommunizieren<br />

oder wichtige Informationen austauschen zu<br />

können, sind die Terroristen in der Lage, auch dezentral<br />

zu operieren. So kann sich ein breites Spektrum<br />

an Gruppen, Zellen <strong>und</strong> Einzelpersonen entwickeln,<br />

die bei der Planung <strong>und</strong> Durchführung von Terroranschlägen<br />

nicht mehr auf ein standortgeb<strong>und</strong>enes<br />

Hauptquartier angewiesen sind. Das Internet ist im<br />

zunehmenden Maße die bevorzugte Quelle über<br />

die Ausbildungsmaterial, Informationen über mögliche<br />

Ziele, Kenntnisse im Umgang mit Waffen <strong>und</strong>


Herausforderungen <strong>und</strong> Bedrohungen 753<br />

Gated communities <strong>und</strong> Kontrolle öffentlicher Räume<br />

Sicher die umfassendste Entwicklung zu sicherem Wohnen<br />

sind die in den letzten Jahren, vor allem von US-Amerika ausgehenden<br />

gated communities. gated communities, das heißt<br />

für die Öffentlichkeit geschlossene, privat betriebene Wohnsiedlungen,<br />

sind in den USA seit etwa 20 Jahren zu einem Massentrend<br />

geworden, der vor allem die Großstädte erfasst hat.<br />

Im letzten Jahrzehnt haben solche Siedlungen als Wohnform<br />

auch in anderen Kontinenten, insbesondere für die Mittelschicht<br />

in Südostasien (Thailand), für die kriminalitätsgeplagten<br />

Bewohner in Lateinamerika (Brasilien) <strong>und</strong> Südafrika (Johannesburg)<br />

sowie in Nachkriegsstaaten wie dem Libanon<br />

Schule gemacht. Für das Ende der 199üer-Jahre schätzen Blakely<br />

& Snyder (1997), dass allein in den USA mehr als 20 000<br />

geschlossene Siedlungen, gated communities, mit insgesamt<br />

mehr als 3 Millionen Wohneinheiten existieren.<br />

Im Gefolge solcher Sicherheitsdiskurse kam es zum Aufbau<br />

von weitreichenden Kontrollmechanismen. Die sogenannte<br />

präventive Videoüberwachung von Straßen <strong>und</strong> Plätzen<br />

will Straftaten verhindern <strong>und</strong> Sicherheit schaffen. Zum<br />

Boomland der Videoüberwachung avancierte in den 1990er-<br />

Jahren Großbritannien. In den letzten Jahren waren hier<br />

Wachstumsraten von 15 bis 20 Prozent jährlich zu verzeichnen.<br />

Inzwischen werden in allen Großstädten mit über<br />

500 000 Einwohnern - mit Ausnahme von Leeds - Kameras<br />

eingesetzt, die den öffentlichen Raum der Innenstädte überwachen.<br />

In Deutschland sind Schätzungen zufolge 500 000 Videokameras<br />

zur Überwachung öffentlicher Räume installiert. Den<br />

Vorreiter bildete Leipzig; in der sächsischen Metropole werden<br />

seit 1996 öffentliche Plätze überwacht, insbesondere der<br />

Bahnhofsvorplatz <strong>und</strong> einige andere „Brennpunkte“, in der<br />

man die Etablierung einer offenen Drogenszene befürchtete.<br />

Manche Kameras können noch aus 100 Meter Entfernung<br />

die Aufschrift einer Zigarettenschachtel lesen. Inzwischen ist<br />

es möglich, den Weg von Personen <strong>und</strong> Kraftfahrzeugen automatisch<br />

zu verfolgen, <strong>und</strong> es sind Verfahren in der Erprobung,<br />

um Gesichter aus Menschenmengen, zum Beispiel bei Demonstrationen,<br />

zu erfassen <strong>und</strong> namentlich zu identifizieren. Auch<br />

Verhaltensweisen können überwacht werden. Wer sich an<br />

einer Bushaltestelle oder einer Tiefgarage nicht nach einem<br />

vorprogrammierten Muster verhält, löst Alarm aus (Siebei<br />

2002).<br />

Geändert haben sich auch die Akteure, welche für die Sicherheit<br />

verantwortlich sind. Platte früher die Polizei, das heißt<br />

der Staat ein Sicherheitsmonopol, das im Rahmen demokratischer<br />

Institutionen <strong>und</strong> Gesetze auch kontrolliert wurde, so<br />

gehen immer mehr Funktionen an private Sicherheitsdienste<br />

über. Deren Zahl hat sich zwischen 1992 <strong>und</strong> 2000 in<br />

Deutschland fast verdoppelt. Fleute kommt auf zwei Polizisten<br />

ein „schwarzer Sheriff“, die englische Bezeichnung macht<br />

schon deutlich, wo das Vorbild steckt.<br />

Erste Praxiserfahrungen vor allem in Großbritannien haben<br />

inzwischen gezeigt, dass die Floffnung auf zahlreiche Verhaftungen<br />

aufgr<strong>und</strong> von Videoaufnahmen nicht erfüllt werden<br />

konnten (Belina 2002). So konnten in Leipzig in den ersten<br />

21 Monaten der Überwachung nur in 0,9 Prozent der im videoüberwachten<br />

Bereich registrierten Straftaten auch Tatverdächtige<br />

dingfest gemacht werden. Angesichts dieser mageren<br />

Ausbeute wird die Wirksamkeit der Videoüberwachung inzwischen<br />

eindeutig im präventiven Bereich gesehen. Die Konsequenz<br />

der Videoüberwachung ist nicht die Verhinderung von<br />

Straftaten, sondern deren Verdrängung. „Wer einen Mord begehen,<br />

einen Pkw aufbrechen oder Heroin konsumieren will,<br />

wird das dann zwar vermutlich nicht mehr an den videoüberwachten<br />

Plätzen tun, aber deshalb noch lange nicht von seinem<br />

Plan ablassen, sondern ihn eben anderswo in die Tat Um ­<br />

sätzen“ (Belina 2002).<br />

Im Ergebnis bringt Videoüberwachung damit eine „sehr ungleiche<br />

Geographie innerhalb des öffentlichen Raums“ hervor,<br />

wie Williams <strong>und</strong> Johnstone feststellen (2000). Videoüberwachung<br />

<strong>und</strong> deren räumliche Selektivität wird weniger zur Kriminalprävention<br />

<strong>und</strong> schon gar nicht zur Aufklärung von Verbrechen<br />

benutzt, sondern dazu, bestimmte Gruppen aus bestimmten<br />

Stadträumen zu exkludieren.<br />

H. Gebhardt<br />

Gelder für neue Anschläge ausgetauscht <strong>und</strong> beschafft<br />

werden. Auch der Umstand, dass biotechnologische<br />

Informationen immer leichter zugänglich sind, erhöht<br />

die Zahl derjenigen, die solche Informationen<br />

missbrauchen <strong>und</strong> durch den Einsatz von Biowaffen<br />

Menschen töten. Die Fortschritte in der Biotechnologie<br />

machen es zunehmend schwieriger, biologische<br />

Kriegsführungsprogramme zu verhindern. In den<br />

nächsten 10 bis 20 Jahren werden die biotechnologischen<br />

Entwicklungen vermutlich dazu führen,<br />

dass für jede Spezies - Mensch, Tier <strong>und</strong> Kulturpflanzen<br />

- eigene Biowaffen entwickelt werden<br />

könnten.<br />

Durch wirtschaftliche <strong>und</strong> politische Unruhen <strong>und</strong><br />

Instabilität steigt auch die weltweite Kriminalitätsrate.<br />

Internationale kriminelle Gruppen sind eine ernstzunehmende<br />

Bedrohung der weltweiten Sicherheit,<br />

denn sie bringen nicht nur gefährliche Substanzen,<br />

Waffen <strong>und</strong> Drogen in Umlauf, sondern sie schädigen<br />

lokale Gesellschaften, stören empfindliche Ökosysteme<br />

<strong>und</strong> kontrollieren wichtige wirtschaftliche Ressourcen.<br />

Im Jahr 2003 besaßen diese transnationalen<br />

kriminellen Gruppen ein geschätztes Finanzvolumen<br />

von 2 Billionen US-Dollar - das ist mehr, als alle<br />

Nationalwirtschaften zusammengenommen (mit Ausnahme<br />

der USA, Deutschlands <strong>und</strong> Japans). Der<br />

Großteil der Einnahmen stammt aus dem Drogenhandel,<br />

aber auch der Handel mit anderen Produkten,<br />

von geschützten Pflanzen <strong>und</strong> Tieren über Giftmüll<br />

bis hin zu verbotenen Chemikalien, boomt.


754 13 Geographien der Zukunft<br />

„1984“, „Brave new world“ <strong>und</strong> andere Überwachungsgeschichten<br />

ln seinem berühmten Roman 1984 hatte 1948 der Schriftsteller<br />

George Orwell die Horrorvision eines totalen Überwachungsstaates<br />

mit Fernsehkameras noch in jedem Zimmerwinkel<br />

<strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Überwachung des Sprechens<br />

wie des Denkens angeprangert. Viele der Zitate <strong>und</strong><br />

Gedanken von 1984 sind ja fast schon in die Alltagssprache<br />

übergegangen: der „große Bruder, der dich sieht“, die „Gedankenpolizei“,<br />

welche über in jedes Zimmer eingebaute Teleschirme<br />

alles beobachten <strong>und</strong> sich in jede Privatleitung einschalten<br />

kann, <strong>und</strong> die Wahlsprüche der Partei von Ozeanien:<br />

Krieg ist Frieden, Freiheit ist Sklaverei, Unwissenheit ist Stärke.<br />

„Sein literarischer Erfolg verdankt sich einem beklemmenden<br />

Wirklichkeitsbezug, dem auch der Leser von heute sich<br />

nicht entziehen kann“, steht auf dem Klappentext der Neuauflage<br />

von 2000. In der Tat liest sich die Fiktion von den<br />

drei Supermächten, welche die Welt untereinander aufgeteilt<br />

haben, auch heute noch höchst aktuell. Im „Ministerium für<br />

Wahrheit“, das für die Verfälschung der Geschichte nach Parteilinie<br />

zuständig ist, arbeitet der 39-jährige Winston Smith.<br />

Eine Liebesaffäre mit Julia wird für Winston zu einem Akt<br />

des Widerstands gegen das System. Trotz ständiger Überwachung<br />

durch die Gedankenpolizei können die beiden Liebenden<br />

sich heimlich in einem Zimmer in einem Proletarierviertel<br />

Londons treffen. Doch die Geschichte endet tragisch, die Hoffnung<br />

auf innere Freiheit erlischt <strong>und</strong> irgendwann gewinnt der<br />

„große Bruder“, der Chef des Überwachungsstaates, auch<br />

Macht über Winston. Während in 1984 vor allem der totalitäre<br />

Überwachungsstaat im Vordergr<strong>und</strong> steht, beschwört der<br />

schon früher entstandene Klassiker, Brave New World von Aldous<br />

Huxley, vor allem die Gefahren künftiger Technik <strong>und</strong> des<br />

Kapitalismus mit ihrer Kontrollmacht.<br />

Vor all dem scheint sich aktuell niemand mehr zu fürchten,<br />

anders noch als 1987, als eine große Zahl von Bürgern bereits<br />

eine gewöhliche Volkszählung infrage stellte. In den 1990er-<br />

Jahren stiegen in Deutschland die Gesamtausgaben von B<strong>und</strong>,<br />

Ländern <strong>und</strong> Gemeinden um etwa 9 Prozent, die für innere<br />

Sicherheit aber um gut 25 Prozent. Der 11. September<br />

2001 gab dem Innenminister die Gelegenheit weitere Sicherheitsgesetze<br />

durchzusetzen. Neue Möglichkeiten bestehen<br />

vor allem auch bei der Ausspähung von Computern <strong>und</strong> bei<br />

Online-Durchsuchungen. Neue Polizeistrategien <strong>und</strong> Sicherheitsdefinitionen<br />

greifen immer weiter in den Alltag des Einzelnen<br />

ein. Zero tolerance hieß das Schlagwort, mit dem der<br />

frühere New Yorker Bürgermeister Giuliani die hohe Kriminalität<br />

in seiner Stadt bekämpfte. Das ist ihm gelungen, aber es<br />

führte dazu, dass inzwischen auch gegen kleinste Ordnungsverstöße<br />

vorgegangen wird, sogenannte quality of Hfe crimes:<br />

Lärm, aggressives Betteln oder Alkoholkonsum in der Öffentlichkeit.<br />

Hier hat der südo.stasiatische Stadtstaat Singapur<br />

den Vorreiter gespielt. Schon vor 10 Jahren war die Stadt<br />

mit Verbotsschildern gepflastert, welche beispielsweise das<br />

Wegwerfen einer Zigarettenkippe unter strenge Strafe stellten.<br />

„How is Singapur? Singapur is fine!“, kommentierten Taxifahrer<br />

gegenüber den verblüfften auswärtigen Besuchern<br />

ironisch <strong>und</strong> doppeldeutig diese Strategie..<br />

Im Jahre 1999 wurde ein US-amerikanischer Film, Die Trumen<br />

Show, zum Kassenschlager auch in deutschen Kinos. Er<br />

trieb das Prinzip der Big-Brother-Sendungen von RTL 2, in denen<br />

Personen r<strong>und</strong> um die Uhr bei ihren alltäglichen Verrichtungen<br />

beobachtet wurden, quasi auf die Spitze. Truman, der<br />

Protagonist des Films, hat sein ganzes Leben in einer künstlichen<br />

Welt, in einer Fernsehshow verbracht, er wurde 24<br />

St<strong>und</strong>en am Tag von seiner weltweiten Fangemeinde beobachtet.<br />

Der Film zeigt, wie Truman sich ganz allmählich seiner<br />

Rolle bewusst wird. Am Schluss entschwindet er mit einem<br />

ironischen Zitat aus seinem künstlichen Alltag: „Und falls<br />

wir uns nicht mehr sehen sollten, guten Tag, guten Abend,<br />

gute Nacht“. In einem vordergründigen Sinn wird hier natürlich<br />

die uramerikanische Imagination „^o westyoungman“ thematisiert,<br />

in einem umfassenderen Sinn kann der Film aber als<br />

Befreiung aus einer totalen Überwachungssituation interpretiert<br />

werden, als Appell, sich den allgegenwärtigen Kameras<br />

<strong>und</strong> Beobachtern zu entziehen, von seinem Menschenrecht<br />

Gebrauch zu machen, zwischendurch allen Blicken „Adieu“<br />

zu sagen.<br />

H. Gebhardt<br />

M<br />

Auch der Menschenhandel, bei dem die Verschleppten<br />

zu Arbeit oder Prostitution gezwungen oder<br />

ihnen Organe entnommen werden), ist international<br />

weit verbreitet. Schätzungen des Auswärtigen Amtes<br />

der USA zufolge werden jährlich 600 000 bis 800 000<br />

Menschen verschleppt. Mit dem Handel von Waffen<br />

verdienen die kriminellen Syndikate verhältnismäßig<br />

wenig. Der Anteil liegt schätzungsweise bei unter<br />

1 Milliarde US-Dollar jährlich. Allerdings ist der<br />

Waffenhandel ein ernstes Sicherheitsproblem, das<br />

zahlreiche Länder betrifft. Inzwischen gibt es neue<br />

internationale Gesetze gegen Waffenhandel <strong>und</strong> die<br />

Beschlagnahmung von Waffen durch UN-Truppen<br />

verläuft im Allgemeinen schnell <strong>und</strong> eher unbürokratisch.<br />

Auch die Ges<strong>und</strong>heit von Mensch <strong>und</strong> Umwelt ist<br />

durch die Globalisierung bedroht, da die weltweiten<br />

Handels-, Verkehrs- <strong>und</strong> Touristenströme stark zugenommen<br />

haben: Nicht nur Menschen <strong>und</strong> Waren<br />

verteilen sich über die ganze Welt, sondern auch andere<br />

Arten, Keime <strong>und</strong> zoonotisch übertragbare<br />

Krankheitserreger. Neue Pflanzen- <strong>und</strong> Tierarten<br />

dringen in fremde Ökosysteme ein, befallen Land<br />

<strong>und</strong> Vieh, stören Wasserkreisläufe, rufen Arten-


Herausforderungen <strong>und</strong> Bedrohungen 755<br />

sterben hervor <strong>und</strong> verursachen teure <strong>und</strong> unvorhersehbare<br />

Folgen. In den USA hat beispielsweise<br />

die europäische Wandermuschel die Trinkwassersysteme<br />

in fast der Hälfe des Landes befallen <strong>und</strong><br />

andere marine Arten verdrängt. Während der<br />

1990er-Jahren wurde 1 Milliarde US-Dollar ausgegeben,<br />

um die Wandermuschel wieder auszurotten<br />

<strong>und</strong> jedes Jahr investierten die USA 138 Milliarden<br />

Dollar, um die Folgen des Eindringens fremder Arten<br />

in einheimische (Öko-)Systeme zu beseitigen. Die<br />

Schnelligkeit <strong>und</strong> Intensität globaler Waren- <strong>und</strong><br />

Menschenströme begünstigt außerdem die Verbreitung<br />

von Infektionskrankheiten wie Grippe <strong>und</strong><br />

zoonotisch übertragbaren Krankheiten wie Milzbrand,<br />

Vogelgrippe, Ebola <strong>und</strong> Westnil-Fieber.<br />

Hier bekommt die Bezeichnung „Risikogesellschaft“<br />

(Kapitel 1) noch einmal eine ganz andere Bedeutung.<br />

, Nachhaltigkeit<br />

Wie die Ausführungen in Kapitel 4 gezeigt haben, sehen<br />

wir uns einer Vielzahl bedrohlicher Umweltveränderungen<br />

gegenüber, zum Beispiel dem Verlust der<br />

Artenvielfalt durch die Abholzung der Regenwälder,<br />

umfassenden Ges<strong>und</strong>heitsgefährdungen durch fortschreitende<br />

Umweltverschmutzung, der Degradierung<br />

der Böden <strong>und</strong> der Verschmutzung von Gr<strong>und</strong>wasser<br />

<strong>und</strong> Meeren oder der Zerstörung der stratosphärischen<br />

Ozonschicht <strong>und</strong> saurem Regen. Wir<br />

wissen auch, dass die meisten dieser Bedrohungen<br />

in den peripheren Regionen am größten sind. Die<br />

täglich steigenden Umweltbelastungen werden in<br />

eine Katastrophe münden, die sich - zeitlich verzögert<br />

- erst in den kommenden Jahren offenbaren<br />

wird (Exkurs 13.3 „Geographie in Beispielen -<br />

„Die braune Wolke Asiens““)<br />

Zukünftige Entwicklungen werden die Unterschiede<br />

zwischen armen <strong>und</strong> reichen Regionen verstärken.<br />

Wir wissen dass Umweltprobleme direkt mit Prozessen<br />

der Bevölkerungszunahme, der ökonomischen<br />

Entwicklung <strong>und</strong> gesellschaftlicher Wohlfahrt verknüpft<br />

sind. Hinzu kommt, dass Umweltbeeinträchtigungen<br />

in zunehmendem Maße mit nationalen Sicherheitsinteressen<br />

<strong>und</strong> regionalen Konflikten verwoben<br />

sind. Die räumlichen Wechselwirkungen wirtschaftlicher,<br />

ökologischer <strong>und</strong> sozialer Probleme haben<br />

schon jetzt einige Teile der Welt in ökologische<br />

Zeitbomben verwandelt. Die Gefahr innerer Unruhen<br />

<strong>und</strong> Massenmigrationen infolge hohen Bevölkerungsdrucks,<br />

Entwaldung, Bodenerosion, Wassermangel,<br />

Luftverschmutzung, Epidemien <strong>und</strong> hartnäckiger<br />

Armut ist real gegeben <strong>und</strong> bedroht nicht allein<br />

die Menschen in den betreffenden Regionen, sondern<br />

ebenso deren Nachbarn. Die US-Regierung bestreitet<br />

solche Gefahren <strong>und</strong> verweigerte sich erfolgreich der<br />

Lösung dieser Probleme. Präsident George W. Bush<br />

gab bereits 2001 bekannt, dass die Vereinigten Staaten<br />

sich nicht länger an die Verpflichtungen des Kyoto-<br />

Protokolls halten werden.<br />

Die USA mögen sich weigern, zur Lösung einiger<br />

der gravierendsten Umweltprobleme der Erde beizutragen,<br />

wir aber können nicht einfach abwarten <strong>und</strong><br />

Zusehen, was die Zukunft bringen wird. Wenn wir<br />

unsere Aussichten verbessern wollen, müssen wir<br />

unser Verständnis von der Welt <strong>und</strong> den geographischen<br />

Zusammenhängen <strong>und</strong> Prozessen nutzen.<br />

Keine Wissenschaft spielt dabei eine so bedeutsame<br />

Rolle wie die Geographie. Wie schon der britische<br />

Geograph W.M. Adams hervorhob, kann nur diese<br />

Disziplin die Umweltwissenschaften (Physische<br />

Geographie) mit den wirtschaftlichen, technologischen,<br />

sozialen, politischen <strong>und</strong> kulturellen Aspekten<br />

(<strong>Humangeographie</strong>) vereinen. Welche andere<br />

Fachrichtung gibt so viele Einblicke in die ökologischen<br />

Veränderungen, <strong>und</strong> wer könnte sonst die<br />

Vielfalt <strong>und</strong> Komplexität der Umwelt <strong>und</strong> die extrem<br />

unterschiedlichen Maßstäbe des globalen Wandels<br />

erkennen <strong>und</strong> überblicken, wenn nicht der Geograph?<br />

Die reichen Länder der Welt sind es, die bei der<br />

nachhaltigen Entwicklung mit gutem Beispiel vorangehen<br />

müssen, denn unser gegenwärtiger Wohlstand<br />

basiert letztlich auf der früheren <strong>und</strong> heutigen Ausbeutung<br />

weltweiter natürlicher Ressourcen, <strong>und</strong><br />

dies in einem Umfang, der zur Zahl derer, die davon<br />

profitieren, in einem deutlichen Missverhältnis steht.<br />

Zudem verfügen wir über die entsprechenden finanziellen<br />

<strong>und</strong> technischen Voraussetzungen sowie über<br />

die menschlichen Ressourcen. Mit ihrer Hilfe können<br />

wir die Führung übernehmen bei der Entwicklung<br />

sauberer <strong>und</strong> effektiverer Technologien, bei der<br />

Transformation unserer Ökonomien zur behutsamen<br />

Nutzung natürlicher Systeme, bei der Sicherstellung<br />

ähnlicher wirtschaftlicher Perspektiven <strong>und</strong> sozialer<br />

Leistungen für alle Menschen sowie bei der Förderung<br />

technologischer <strong>und</strong> politischer Netzwerke,<br />

die eine nachhaltige Entwicklung in den armen Ländern<br />

gewährleisten. Dies sind schwierige Aufgaben,<br />

die gewiss nicht innerhalb kurzer Zeit zu bewältigen<br />

sind. Doch die nach uns folgenden Generationen<br />

würden uns zu Recht verachten, wenn wir nicht alles<br />

versuchten, dieses Ziel zu erreichen.


13 Geographien der Zukunft<br />

Exkurs 13.3<br />

Geographie in Beispielen - Die „braune Wolke Asiens“<br />

f<br />

Die Kernfrage des Umweltgipfels im September 2002 in<br />

Johannesburg lautete: Wie kann wirtschaftliches Wachstum<br />

erfolgen, ohne dass die Umwelt überlastet <strong>und</strong> die Erde<br />

für zukünftige Generationen zu einem unbewohnbaren Planeten<br />

wird?<br />

Eine reale Umweltbedrohung ist bereits heute die „braune<br />

Wolke Asiens“, eine ausgedehnte, drei Kilometer dicke Luftverschmutzung,<br />

die über dem größten Teil des Indischen<br />

Ozeans sowie Süd-, Südost- <strong>und</strong> Ostasien schwebt <strong>und</strong><br />

sich von der Arabischen Halbinsel über Indien, Südostasien<br />

<strong>und</strong> China bis fast nach Korea erstreckt. Piloten der US-Luftwaffe<br />

hatten den braunen Nebel zuerst entdeckt. Mittlerweile<br />

ist er auch auf Satellitenfotos <strong>und</strong> vom Himalaja-Gebirge aus<br />

deutlich zu erkennen (Abbildung 13.3.1)<br />

Die braune Wolke über Asien ist eine Akkumulation von<br />

Luftschadstoffen, die aus Sulfaten, Nitraten, organischen<br />

Substanzen, Ruß, Flugstaub <strong>und</strong> anderen Verunreinigungen<br />

besteht. Sie entstand durch die dramatische gestiegene<br />

Verbrennung fossiler Brennstoffe in Automotoren, den Industrieöfen<br />

<strong>und</strong> Kraftwerken in Asiens Megastädten, der Brandrodungzur<br />

Landgewinnung <strong>und</strong> den Emissionen aus Millionen<br />

unwirtschaftlichen Kochern, die mit Holz oder Kuhdung geheizt<br />

werden. Eine durch das Umweltprogramm der Vereinten<br />

Nationen finanzierte Untersuchung der braunen Wolke, an<br />

der über 200 Wissenschaftler beteiligt waren, hat ergeben,<br />

dass der Schadstoffnebel nicht nur das lokale Klima beeinflusst,<br />

sondern auch weltweite Folgen haben kann.<br />

Der braune Smog über Asien reduziert den Anteil der auf<br />

die Oberfläche eingehenden Sonnenstrahlen um 10 bis 15<br />

Prozent, wodurch auch die landwirtschaftliche Produktivität<br />

abnimmt. Er hemmt außerdem die Wärmeabstrahlung von<br />

der Erde, sodass die Hitze eingeschlossen wird <strong>und</strong> sich<br />

die untere Erdatmosphäre erwärmt. Die braune Wolke verdrängt<br />

wasserdampfreiche Luft aus einigen Gebieten, sodass<br />

es dort nicht regnet, während andere Regionen von saurem<br />

Regen betroffen sind, der aus der Wolke abregnet <strong>und</strong> Wälder<br />

<strong>und</strong> Feldfrüchte vernichtet. Die Forscher gehen außerdem<br />

davon aus, dass der schädliche Nebel für H<strong>und</strong>erttausende<br />

vorzeitige Todesfälle infolge von Atemwegserkrankungen<br />

verantwortlich ist.<br />

13.3.1 „Braune<br />

Wolke“ über Asien<br />

Diese Aufnahme in<br />

Blickrichtung des<br />

Gelben Meeres <strong>und</strong><br />

Koreas zeigt dichten<br />

Dunst über dem<br />

Osten Chinas.<br />

L Fazit<br />

Mit Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts setzte eine Periode<br />

des allmählichen Wandels der Beziehungen zwischen<br />

Orten, Regionen <strong>und</strong> Ländern ein, die uns noch weitere<br />

Jahrzehnte begleiten wird. Aufgr<strong>und</strong> unserer<br />

Kenntnisse gegenwärtiger Strukturen <strong>und</strong> Trends<br />

sowie der allgemeinen geographischen Prozesse<br />

sind wir durchaus in der Lage, eine Reihe von zukünftigen<br />

Szenarien zu entwerfen. Andere Aspekte liegen<br />

indes weitgehend im Dunkeln. Insbesondere die<br />

politische <strong>und</strong> technologische Entwicklung ist am<br />

wenigsten vorhersehbar.


Fazit 757<br />

Die Zukunft des „Raumschiffs“ Erde<br />

Auch zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts widersprechen sich Prognosen<br />

<strong>und</strong> Zukunftserwartungen zur globalen Entwicklung<br />

unseres Erdballs auf heftigste: Auf der einen Seite finden<br />

wir f<strong>und</strong>amentale Zukunftsängste, das Schwelgen in Katastrophenszenarien<br />

<strong>und</strong> die Furcht vor unlösbaren globalen Herausforderungen,<br />

auf der anderen Seite ähnlich ausgeprägte<br />

Zukunftshoffnungen, die Erwartung eines weiteren Zusammenwachsens<br />

der „einen“ Welt, die Hoffnung auf globale Solidarität<br />

im Kontext verschiedener Kulturen.<br />

Die pessimistische Perspektive hat eine mindestens so<br />

lange Geschichte wie die optimistische. Die konkreten ökonomischen,<br />

sozialen <strong>und</strong> politischen Zukunftserwartungen für<br />

unsere Erde in den kommenden Jahren sind sehr ambivalent.<br />

Prognosen, die von schwindelerregend positiven Entwicklungen<br />

schwadronieren, stehen solche gegenüber, welche der<br />

Menschheit den baldigen Untergang prophezeien.<br />

Schon der englische Landpfarrer <strong>und</strong> Bevölkerungswissenschaftler<br />

Thomas Robert Malthus prophezeite 1798 in seinem<br />

Essay on the Principle of Population, dass die Grenzen der<br />

Tragfähigkeit, die Grenzen des Wachstums erreicht seien -<br />

ein immer wiederkehrendes Angstszenario. In der Tat bieten<br />

die Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung in räumlicher<br />

Sicht in den nächsten 50 Jahren durchaus Anlass für die Sorge,<br />

dass uns unsere Probleme über den Kopf wachsen könnten.<br />

Über 6 Milliarden Menschen leben derzeit auf der Erde,<br />

<strong>und</strong> bis zum Jahre 2050 werden es 9 Milliarden sein. Jährlich<br />

wächst die Weltbevölkerung derzeit um etwa 77 Millionen<br />

Menschen. Fast alle der 3 Milliarden neu hinzukommenden<br />

Menschen werden in weniger entwickelten Staaten leben.<br />

Zu Brennpunkten dieser Entwicklung werden die großen<br />

Städte werden, die proportional viel stärker anwachsen als<br />

ländliche Räume. In Afrika ist der jährliche Zuwachs mit<br />

17,5 Millionen Menschen fast 90-mal so hoch wie in Europa.<br />

An diesem globalen Trend ändern auch gegenläufige Entwicklungen<br />

wie die schreckliche AIDS-Pandemie, die vor allem im<br />

südlichen Afrika Millionen Opfer fordern wird, rein quantitativ<br />

wenig.<br />

Das Megaproblem, diese Menschen nicht nur mit Nahrung<br />

zu versorgen, sondern ihnen über die Gr<strong>und</strong>bedürfnisse hinaus<br />

ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, ist<br />

nach wie vor völlig ungelöst. Nach r<strong>und</strong> zwei Jahrzehnten<br />

der Zuversicht, dass Armut <strong>und</strong> Hunger mehr ein Verteilungsdenn<br />

ein Erzeugungsproblem seien, mehren sich inzwischen<br />

wieder die kritischen Stimmen. Dennis Meadows, Hauptautor<br />

des berühmten Berichts des Club of Rome über die Grenzen<br />

des Wachstums aus dem Jahre 1972, vertritt in seiner Jüngsten<br />

Publikation aus dem Jahre 2000 die Meinung, dass die<br />

Erde aufgr<strong>und</strong> von anhaltendem Bevölkerungswachstum<br />

<strong>und</strong> fortschreitender Ressourcenzerstörung vor dem Kollaps<br />

stehe. „Es ist zu spät für eine nachhaltige Entwicklung. Nun<br />

müssen wir für eine das Überleben sichernde Entwicklung<br />

kämpfen“ (Meadows 2000).<br />

Globale Bevölkerungsprognosen, mehr noch globale Prognosen<br />

zu Armut <strong>und</strong> Wohlstand <strong>und</strong> die daraus abgeleiteten<br />

Computersimulationen leiden natürlich alle unter dem Problem,<br />

dass in solchen „Weltmodellen“ weder die Machtbeziehungen<br />

zwischen reichen <strong>und</strong> armen Ländern noch die Interessenskonflikte<br />

<strong>und</strong> Machtpotenziale von mächtigen <strong>und</strong> ohnmächtigen<br />

Akteuren berücksichtigt werden. Solche Machtbeziehungen<br />

werden aber von entscheidender Bedeutung für die<br />

Zukunft unseres Planeten sein, wie auch Meadows, der Autor<br />

entsprechender auf großen Datenreihen beruhender Weltmodelle,<br />

konzediert: „Wir leben in einer Welt, in der die Reichen<br />

im Großen <strong>und</strong> Ganzen die Aussicht haben, noch reicher zu<br />

werden. Daher hat das von ihnen geschaffene Geld-, Markt<strong>und</strong><br />

Preissystem den Effekt, sie zu bereichern <strong>und</strong> die Armen<br />

noch ärmer zu machen“ (Meadows 2000; zitiert nach Bohle<br />

2001).<br />

Die optimistischen Zukunftserwartungen für die Menschheit<br />

sind vielleicht noch älter als die pessimistischen. Sie spiegeln<br />

sich in den Verheißungen der großen Religionen, im Warten<br />

auf den Messias, auf das gelobte Land. Heute postulieren<br />

Wissenschaftler: „Noch nie hat die Menschheit über so vielfältige<br />

technische <strong>und</strong> finanzielle Ressourcen verfügt, um<br />

mit Hunger <strong>und</strong> Armut fertig zu werden. Die gewaltige Aufgabe<br />

lässt sich meistern, wenn der notwendige gemeinsame Wille<br />

mobilisiert wird“ (Brandt-Report, zitiert nach Nuscheler et al.<br />

1997). Autoren, die möglicherweise selten persönlich in Länder<br />

jenseits der Kernräume gereist sind, versteigen sich hier<br />

mitunter zu geradezu abenteuerlichen Formulierungen. „Die<br />

Lebensverhältnisse in weiten Teilen der Welt sind angenehm<br />

<strong>und</strong> sauber wie nie zuvor, auch wenn die Umwelt in den armen<br />

<strong>und</strong> sozialistischen Ländern gelitten hat. Das heißt, mehr<br />

Menschen <strong>und</strong> höherer Wohlstand korrelieren mit mehr (nicht<br />

weniger) Ressourcen <strong>und</strong> einer sauberen Umwelt-genau das<br />

Gegenteil dessen, was einen der Malthusianismus glauben<br />

machen will. Uns obliegt es, diese schwindelerregend erfreulichen<br />

Trends sinnvoll zu nutzen. Die aktuelle Schwarzmalerei<br />

<strong>und</strong> das Gejammer über eine Umwelt-,Krise‘ sind angesichts<br />

der wissenschaftlichen Tatsachen völlig falsch. Selbst Umweltaktivisten<br />

geben inzwischen zu, dass die Luft <strong>und</strong> das<br />

Wasser in reichen Ländern wie Deutschland oder den USA<br />

während der zurückliegenden Jahrzehnte sauberer <strong>und</strong> nicht<br />

schmutziger geworden sind. Jedem Agrarwissenschaftler ist<br />

bekannt, dass die Weltbevölkerung seit dem Zweiten Weltkrieg<br />

immer mehr <strong>und</strong> immer besser isst. Jeder Rohstoffexperte<br />

weiß, dass alle natürlichen Ressourcen immer reichlicher<br />

<strong>und</strong> nicht knapper werden, was ihre über Jahrzehnte <strong>und</strong><br />

Jahrh<strong>und</strong>erte gesunkenen Preise belegen.“ (Thurow 1998)<br />

In vielen Kapiteln dieses Buchs wird deutlich, dass Räume<br />

<strong>und</strong> Regionen unserer Erde zwar, was Kommunikations-, Verkehrs-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftsbeziehungen anbetrifft, immer näher<br />

zusammenrücken <strong>und</strong> zusammenwachsen, dass aber Arme<br />

<strong>und</strong> Reiche, machvolle <strong>und</strong> ohnmächtige Bevölkerungsgruppen,<br />

Nachbarschaften, Stadtteile, Regionen, Länder <strong>und</strong><br />

kulturelle Großräume immer weiter auseinanderdriften, ein<br />

Prozess, der von wirtschaftlichen Akteuren, aber auch politischen<br />

Entscheidungsträgern oft noch zusätzlich unterstützt<br />

wird.<br />

Die Auflösung des ethisch-moralischen Dilemmas einer<br />

ökonomisch auseinander driftenden, politisch von zunehmenden<br />

Konflikten bestimmten <strong>und</strong> trotz aller Reden von global<br />

governance kaum mehr regierbaren Welt ist im Kinderbuch<br />

einfach. Erich Kästner lässt in seinem 1949, kurz nach dem


758 13 Geographien der Zukunft<br />

Ende des Zweiten Weltkriegs verfassten Kinderbuch Die Konferenz<br />

der Tiere, nachdem 87 internationale Konferenzen der<br />

Staatschefs dieser Erde kein Ende von Krieg, Elend <strong>und</strong> weltweiten<br />

Konflikten gebracht haben, die Tiere zu einer Konferenz<br />

Zusammentreffen, welche um der Kinder willen endlich eine<br />

friedliche Welt schaffen soll. Nach Attacken durch Mäuse<br />

<strong>und</strong> Ratten, welche die Konferenzpapiere zerfressen, <strong>und</strong> Motten,<br />

welche die Mächtigen dieser Weit nackt zurücklassen,<br />

<strong>und</strong> schließlich nach der Entführung aller Kinder dieser<br />

Erde lassen sich die vereinigten Staatschefs <strong>und</strong> Militärs folgenden<br />

Text abpressen: „Wir, die verantwortlichen Vertreter<br />

aller Länder der Erde, verpflichten uns mit Leben <strong>und</strong> Vermögen<br />

zur Durchführung folgender Punkte: 1. Alle Grenzpfähle<br />

<strong>und</strong> Grenzwachen werden beseitigt. Es gibt keine Grenzen<br />

mehr. 2. Das Militär <strong>und</strong> alle Schuss- <strong>und</strong> Sprengwaffen werden<br />

abgeschafft. Es gibt keine Kriege mehr. 3. Die zur Aufrechterhaltung<br />

der Ordnung erforderliche Polizei wird mit Pfeil<br />

<strong>und</strong> Bogen ausgerüstet. Sie hat vornehmlich darüber zu wachen,<br />

dass Wissenschaft <strong>und</strong> Technik ausschließlich im Dienst<br />

des Friedens stehen. Es gibt keine Mordwissenschaften mehr.<br />

4. Die Zahl der Büros, Beamten <strong>und</strong> Aktenschränke wird auf<br />

das unerlässliche Mindestmaß herabgeschraubt. Die Büros<br />

sind für die Menschen da, nicht umgekehrt. 5. Die bestbezahlten<br />

Beamten werden in Zukunft die Lehrer sein. Die Aufgabe,<br />

die Kinder zu wahren Menschen zu erziehen, ist die höchste<br />

<strong>und</strong> schwerste Aufgabe.“<br />

In diesem Text kehren eine Reihe von Themen der <strong>Humangeographie</strong><br />

wieder. Neben dem Aufruf zur Deregulierung<br />

staatlicher Einflussnahme („die Zahl der Büros ... wird auf<br />

das Mindestmaß herabgeschraubt“) werden vor allem einige<br />

Folgen vorweggenommen, die eine wirkliche Globalisierung<br />

der Politik <strong>und</strong> Abschaffung des Einflusses von Nationalstaaten<br />

haben könnten (Abschaffung der Grenzen <strong>und</strong> der militärischen<br />

Arsenale <strong>und</strong> so weiter). Was der Kinderbuchtext von<br />

Kästner beschwört, ist letztlich das im Kontext der Globalisierungsdebatte<br />

immer wieder zitierte Prinzip globaler Solidarität,<br />

das Zusammenwachsen der „einen“ Welt zum Nutzen<br />

aller. Es ist die schöne, erfreuliche Utopie einer zukünftigen<br />

Welt.<br />

Natürlich bleibt Die Konferenz der Tiere, angesichts erneuter<br />

Aufrüstung der Großmächte in den letzten Jahren,<br />

angesichts der Vielzahl neuer Kriege in vielen Regionen der<br />

Welt, angesichts zunehmender als kulturell oder religiös bezeichneter<br />

Konflikte <strong>und</strong> angesichts einer kalten Ökonomisierung<br />

immer weiterer Lebensbereiche, ein Märchen aus fernen<br />

Zeiten.<br />

H. Gebhardt<br />

Für die ärmsten der armen Länder sind die Zukunftsaussichten<br />

düster. Auf ihnen lasten beispiellose<br />

demographische, ökologische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Veränderungen. Und die Ausgangsposition für die<br />

kommenden 50 Jahre ist überaus ungünstig. Ihre<br />

Kennzeichen sind Ressourcenknappheit, Umweltzerstörung,<br />

Übervölkerung, Krankheiten, unkontrollierte<br />

Gewalt, Flüchtlingsströme <strong>und</strong> Anarchie.<br />

Im Gegensatz dazu stellt sich in den westlichen<br />

Industriestaaten die Frage nach dem langfristigen<br />

Erhalt ihrer Vormachtstellung. Die gleichen Faktoren,<br />

welche der Kernregion als Ganzes Vorteile verschaffen<br />

- das Ende des Kalten Kriegs, die Verfügbarkeit<br />

leistungsfähiger Telekommunikation, die<br />

transnationale Umstrukturierung von Industrie <strong>und</strong><br />

Finanzwesen, die Liberalisierung des Handels <strong>und</strong><br />

die Herausbildung einer globalen Kultur -, all diese<br />

Faktoren werden auch Gr<strong>und</strong>lage für eine neue<br />

geopolitische <strong>und</strong> geoökonomische Ordnung sein,<br />

in der sich die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Beziehungen<br />

dieser Länder unter Umständen f<strong>und</strong>amental<br />

ändern.<br />

Zahlreiche Aspekte zukünftiger Geographien werden<br />

von dem Ressourcenbedarf <strong>und</strong> der Nutzung<br />

neuer Technologien abhängig sein. Mit der Expansion<br />

der Weltwirtschaft <strong>und</strong> der Globalisierung der<br />

Industrie wird die Nachfrage nach Rohstoffen aller<br />

Art zweifelsohne kräftig ansteigen. Davon könnten<br />

die Regionen in Afrika, Eurasien <strong>und</strong> Ostasien profitieren,<br />

deren reichhaltige Lagerstätten bisher noch<br />

kaum genutzt sind. Dabei werden die Energiereserven<br />

die mit großem Abstand wichtigste Rolle spielen.<br />

Es scheint auch, dass es infolge der sich verstärkenden<br />

Unterschiede zwischen Arm <strong>und</strong> Reich - <strong>und</strong><br />

zwischen Zentrum <strong>und</strong> Peripherie - zu sozialen Unruhen<br />

kommt. Immer mehr Menschen wenden sich<br />

gegen die derzeitigen Wohlstandsdisparitäten innerhalb<br />

ihrer Länder <strong>und</strong> die Ungleichverteilung zwischen<br />

Zentrum <strong>und</strong> Peripherie. In Russland, wo öffentliche<br />

Demonstrationen über Jahrzehnte hinweg<br />

verboten waren, gehen die Arbeiter auf die Straße,<br />

um sich gegen den Lohnverfall zu wehren, der sich<br />

aus der Bevorzugung transnationaler Konzerne seitens<br />

der Regierung ergibt. Indische Bauern zerstörten<br />

ein Kentucky-Fried-Chicken-Restaurant, weil der<br />

Konzern an der Verlagerung der lokalen Hühnerzuchtbetriebe<br />

beteiligt war. In Mexiko fordern die Beschäftigten<br />

transnationaler Firmen Sicherheitsmaßnahmen<br />

zum Schutz vor ges<strong>und</strong>heitsschädlichen<br />

Chemikalien.<br />

Während sich an einer Stelle der Protest gegen die<br />

Globalisierung <strong>und</strong> die neuen Geographien formiert,<br />

sind die Produkte der globalen Wirtschaft <strong>und</strong> Kultur<br />

an anderer Stelle gefragter denn je. So wachsen in<br />

Bangkok oder Nigeria die Märkte für blau gefärbte<br />

Kontaktlinsen, <strong>und</strong> in Asien lassen sich immer<br />

mehr Menschen von plastischen Chirurgen die Augen<br />

nach westlichem Vorbild verändern. Selbst in


Zitierte <strong>und</strong> weiterführende Literatur 759<br />

den entlegensten Teilen der Welt kann man „Baywatch“<br />

<strong>und</strong> CNN empfangen. In der Peripherie entstehen<br />

vielerorts Schnellstraßen, Flughäfen <strong>und</strong> Container-Terminals.<br />

Auf den Punkt gebracht kann man sagen, dass in<br />

eben diesem Moment über die zukünftigen Geographien<br />

verhandelt wird - <strong>und</strong> zwar in den Vorstandsetagen<br />

der transnationalen Konzerne genauso wie in<br />

den Hütten irgendeines entlegenen Dorfs. Und während<br />

sich die Auswirkungen dieser Verhandlungen<br />

erst nach <strong>und</strong> nach zeigen, treffen wir in unserem<br />

alltäglichen Leben scheinbar immer unwichtigere<br />

Entscheidungen: Was soll ich anziehen, wo will ich<br />

essen, wo möchte ich arbeiten, wohin will ich verreisen,<br />

<strong>und</strong> wie gestalte ich meine Freizeit? All diese<br />

Fragen haben entweder positive oder negative Auswirkungen<br />

auf die Prozesse der Globalisierung, sei<br />

es auf die Standorte neuer Fabriken oder auf die<br />

Entscheidungen hinsichtlich neuer Produkte, einschließlich<br />

deren Verpackung <strong>und</strong> Versand an die<br />

Konsumenten. Kurzum, wir können durch unsere<br />

Kenntnisse über die Wechselwirkungen zwischen<br />

Menschen, Orten <strong>und</strong> Regionen innerhalb der globalen<br />

Wirtschaft die zukünftigen Geographien zu einem<br />

Teil mitgestalten.<br />

L<br />

Zitierte <strong>und</strong> weiterführende<br />

Literatur<br />

Agnew, J.; Corbridge, S. Mastering Space. Hegemony Territory,<br />

and International Political Economy. New York (Routledge)<br />

1995.<br />

Atkinson, R. D. Technological Change and Cities. In: Cityscape: A<br />

Journal of Policy Development and Research 3 (1998) S.<br />

129-170.<br />

Berry, B. J. L. Long-Wave Rhythms in Economic Development and<br />

Political Behavior. Baltimore (Johns Hopkins University<br />

Press) 1991.<br />

Castells, M. End of Millenium. The Information Age Bd. 3. Oxford<br />

(Blackwell) 1998.<br />

Coates, J.F.; Mahaffie, J.B.; Hines, A. 2025: Scenarios of U.S.<br />

and Global Society Reshaped by Science and Technology.<br />

Greensboro, NC (Oakhill Press) 1997.<br />

Cohen, D. Fehldiagnose Globalisierung: die Neuverteilung des<br />

Wohlstands nach der 3. Industriellen Revolution. Frankfurt<br />

(Campus) 1998.<br />

De Alcantara, C. H. (Hrsg.) Social Futures, Global Visions. Oxford<br />

(Blackwell) 1996.<br />

Hammond, A. Which World? Scenarios for the 21st Century. Washington,<br />

DC (Island Press) 1998.<br />

Held, D.; McGrew, A.; Goldblatt, D.; Perraton, J. Global Transformations.<br />

Malden (Blackwell) 1999.<br />

Huntington, S. The Clash of Civilizations? Foreign Affairs 71<br />

(1993) S. 2 2 -4 9 .<br />

Jacobs, J. Dark Age Ahead. New York (Random House) 2004.<br />

Johnston, R. P.; Taylor, P. J.; Watts, M. (Hrsg.) Geographies of Global<br />

Change. Cambridge, MA (Blackwell) 1995.<br />

Kaplan, R. D. The Coming Anarchy. Atlantic Monthly Februar<br />

(1994) 8 .4 4 -7 6 .<br />

National Intelligence Council Mapping of the Global Future. Washington,<br />

DC (U.S. Government Printing Office) 2004.<br />

OMeara, P.; Mehlinger, H.; Krain, M. (Hrsg.) Globalization and the<br />

Challenges of a New Century. Bloomington (Indiana University<br />

Press) 2000.<br />

Ö Tuathail, G.; Luke, T. Present at the (Dis)integration: Deterritorialization<br />

and Reterritorialization in the New Wor(l)d Order. In:<br />

Annals, Association of American Geographers 84 (1994) S.<br />

381-398.<br />

Pearson, I. The Macmillian Atlas of the Future. New York (Macmillian)<br />

1998.<br />

Sassen, S. Globalization and its Discontents. New York (New<br />

Press) 1998.<br />

Smith, N. The Endgame of Globalization. New York (Routledge)<br />

2005.<br />

Thurow, L. Head to Head: The Coming Economic Battle among<br />

Japan, Europe, and America. New York (Morrow) 1992.<br />

United Nations Global Outlook 2000: An Economic, Social, and<br />

Environmental Perspective. New York (United Nations Publications)<br />

1990.<br />

Wehrheim, J. Die übenwachte Stadt - Sicherheit, Segregation<br />

<strong>und</strong> Ausgrenzung. In: Stadt, Raum <strong>und</strong> Gesellschaft, Bd. 17<br />

Opladen (Leske + Budrich) 2002.<br />

World Commission on Environment and Development Our Common<br />

Future. New York (Oxford University Press) 1987.<br />

Worldwatch Institute State of the World 2005. New York (W.W.<br />

Norton) 2005.<br />

Literatur zu den Exkursen<br />

Belina, B. Videoüberwachung öffentlicher Räume in Großbritannien<br />

<strong>und</strong> Deutschland. In: Geographische R<strong>und</strong>schau Bd. 54,<br />

H. 7 /8 (2002) S. 16-23.<br />

Benz, A. (Hrsg.): Governance - Regieren in komplexen Regelsystemen.<br />

Wiesbaden (VS Verlag für Sozialwissenschaften)<br />

2004.<br />

Blakely, E. J.; Snyder, M. G. Fortress America. Gated Communities<br />

in the United States. Washington D.C. (Brookings Institution<br />

Press) 1997.<br />

Blohm, B.; Schäfer, F. Die Krise des Kapitalismus. Bonn (Siegler)<br />

1998.<br />

Blotevogel, H. (2002): Zum Verhältnis des Zentrale-Orte-Konzepts<br />

zu aktuellen gesellschaftspolitischen Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

<strong>und</strong> Zielsetzungen. In: Hans H. BLOTEVOGEL (Hg.): Fortentwicklung<br />

des Zentrale-Orte-Konzepts. Hannover: Akademie<br />

für Raumforschung <strong>und</strong> Landesplanung. S. 17-23. =<br />

Forsch.- u. Sitzungsberichte 217.<br />

Bohle, H.-G. Bevölkerungsentwicklung <strong>und</strong> Ernährung. Geographische<br />

R<strong>und</strong>schau 53 (2001) S. 18-25.<br />

Brieskorn, N. (Hrsg.) Globale Solidarität: Die verschiedenen Kulturen<br />

<strong>und</strong> die eine Welt. Stuttgart, Berlin, Köln (Kohlhammer)<br />

1997.


760 13 Geographien der Zukunft<br />

Castells, M. Das Informationszeitalter, Bd. 1. Die Netzwerkgesellschaft.<br />

Opladen (Leske + Budrich) 2001.<br />

Enzensberger, H. M. Milliarden aller Länder, vereinigt euch! Andeutungen<br />

über die Weltbank <strong>und</strong> den Internationalen Währungsfonds.<br />

((Ort, Verlag)) 1991, S. 141 f.<br />

Escher, A. Der informelle Sektor in der Dritten Welt. Plädoyer für<br />

eine kritische Sicht. Geographische R<strong>und</strong>schau 51 /1 2 (1999)<br />

S. 658-661.<br />

Harvey, D. The new impenälsm. Oxford (Oxford University Press)<br />

2005.<br />

Kaldor, M. Neue <strong>und</strong>aite Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter<br />

der Globalisierung. Frankfurt (Suhrkamp) 2000.<br />

Kästner, E. Die Konferenz der Tiere. Hamburg (Dressier, Atrium)<br />

1998.<br />

Lind, M. The Next American Nation: The New Nationalism and the<br />

Fourth American Revolution. New York (Free Press) 1995.<br />

Lipietz, A. Berlin, Bagdad, Rio. Das 21. Jahrh<strong>und</strong>ert hat begonnen.<br />

Münster (Westf. Dampfboot) 1993.<br />

Mayntz, R.; Die Handlungsfähigkeit des Nationalstaats in Zeiten<br />

der Globalisierung. In: Heidbrink, L.; Hirsch, A. (Hrsg.) Staat<br />

ohne Verantwortung? Zum Wandel der Aufgaben von Staat<br />

<strong>und</strong> Politik. Frankfurt (Campus) 2007, 267-281.<br />

Meadows, D.; Meadows, D.; Randers, J. Die Grenzen des Wachstums.<br />

Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit.<br />

Stuttgart (DVA) 2000.<br />

Menzel, U. Globalisierung versus Fragmentierung. Frankfurt<br />

(Suhrkamp) 1998.<br />

Münkler, H. Die neuen Kriege. Reinbek b. Hamburg (Rowohlt)<br />

2002.<br />

Nuscheler, F. et al. Globale Solidarität. Die verschiedenen Kulturen<br />

der Welt. Stuttgart 1997.<br />

Orwell, G. 1984. Berlin ((Verlag??)) 1990.<br />

Oßenbrügge, J.; Sandner, G. Zum Status der Politischen Geographie<br />

in einer unübersichtlichen Welt. Geographische R<strong>und</strong>schau<br />

46(12) (1994), S. 676-684.<br />

Reuber, P.; Wolkersdorfer, G. Festung Europa - Grenzen im Zeitalter<br />

der Globalisierung. Berichte zur deutschen Landesk<strong>und</strong>e<br />

79(2/3) (2005), S. 253-263.<br />

Rifkin, J. The European Dream. Los Angeles (J. P. Tarcher) 2004.<br />

Rufin, J.-C. Das Reich <strong>und</strong> die neuen Barbaren. Berlin (Volk <strong>und</strong><br />

Welt) 1993.<br />

Scholz, F. Perspektiven des „Südens" im Zeitalter der Globalisierung.<br />

Geographische Zeitschrift 88(1) (2000), S. 1-2 0.<br />

Thurow, L.C. Die Reichtum-Pyramide. Düsseldorf (Metropolitan)<br />

1999.<br />

Zierhofer, W. Gr<strong>und</strong>lagen für eine <strong>Humangeographie</strong> des relationalen<br />

Weltbildes. Erdk<strong>und</strong>e 51(2) (1997) S. 8 1 -9 9 .


i/ii<br />

Anhang: Karten <strong>und</strong><br />

Geographische<br />

Informationssysteme<br />

M ;<br />

t ß<br />

Karten<br />

Karten sind - in der Regel - zweidimensionale grafische Darstellungen der<br />

Erdoberfläche, in denen Linien, Flächen, Symbole, Zahlen <strong>und</strong> Schrift verwendet<br />

werden, um räumliche Informationen wiederzugeben. Da jede<br />

Karte das Ergebnis eines Selektions- <strong>und</strong> Bewertungsprozesses ist, ist sie<br />

auch ein Abbild der jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie ein<br />

„soziales Produkt“, mit dem auch Fakten manipuliert <strong>und</strong> Handlungen<br />

legitimiert werden können. Im Allgemeinen reflektieren Karten die Ansichten,<br />

Bewertungen <strong>und</strong> Überzeugungen jener, die sie entwerfen.<br />

Wenn beispielsweise im 18. oder 19. Jahrh<strong>und</strong>ert weite Gebiete Kanadas,<br />

Australiens oder Afrikas von den europäischen Kolonialmächten als unbesiedelt<br />

- das heißt ohne Ortsnamen - dargestellt wurden, obwohl dort<br />

indigene Völker seit Jahrtausenden lebten, diente dies auch einem politischen<br />

Zweck, nämlich der Legitimation der Kolonialpolitik. Wenn nach<br />

dem Ersten Weltkrieg E. Tolomei den Siegermächten bei den Friedensverhandlungen<br />

in Paris eine Karte vorlegte, in denen alle deutschen Ortsnamen<br />

Südtirols ins Italienische übersetzt worden waren, so hatte diese Manipulation<br />

den Zweck, den Anspruch Italiens auf das damals zu 95 Prozent<br />

deutschsprachige Südtirol anzumelden. Wie Karten gestaltet sind, was in<br />

ihnen verzeichnet ist <strong>und</strong> was nicht, aber auch wie etwas dargestellt ist,<br />

hängt in hohem Maße von den Intentionen, Prioritäten, Sichtweisen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen ihrer Autoren ab. Jeder Geograph sollte in der Lage<br />

sein, die bei der Kartenproduktion angewandten Manipulationen zu erkennen.<br />

Karten, die das Relief der Erdoberfläche sowie relativ konstante Objekte<br />

wie Gebäude, Verkehrswege, Flurgrenzen <strong>und</strong> politische Grenzen abbilden,<br />

werden als topographische Karten bezeichnet (Abbildung A l.l).<br />

Ende des 18. oder im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts haben die meisten Staaten<br />

topographische Karten ihres Territoriums nach einheitlichen Richtlinien<br />

produziert. Diese amtlichen Kartenwerke liegen in der Regel in verschiedenen<br />

Maßstäben (zum Beispiel 1:25 000, 1:50 000 oder 1:100 000) vor.<br />

Topographische Karten werden aber auch von privaten Anbietern produziert.<br />

Wegen ihrer Qualität besonders berühmt sind zum Beispiel die<br />

Alpenvereinskarten, die sich anders als die amtlichen topographischen<br />

Karten nicht über lange Zeiträume auf eine bestimmte Kartendarstellung<br />

festlegen mussten, sondern mit jedem Kartenblatt experimentieren <strong>und</strong><br />

jeweils die besten Kartographen beschäftigen konnten.<br />

Karten, die die räumliche Dimension bestimmter Zustände, Prozesse<br />

oder Ereignisse aus Wirtschaft, Gesellschaft, Politik <strong>und</strong> Natur abbilden.


764 Anhang<br />

A1.1 Topographische Karten Topographische Karten bilden<br />

die dreidimensionale Erde zweidimensional ab. Der Kartenausschnitt<br />

zeigt eine deutsche topographische Karte 1:50000<br />

aus Südwestdeutschland. Oberflächenformen werden durch<br />

braune Höhenlinien <strong>und</strong> Schummerung dargestellt, Zählhöhenlinien<br />

sind stärker ausgeführt. Waldbedeckung <strong>und</strong> Ackerland<br />

werden durch eine entsprechende Signatur gekennzeichnet,<br />

ebenso werden Siedlungen, Verkehrswege <strong>und</strong> deren Bedeutung<br />

(B<strong>und</strong>esautobahn, B<strong>und</strong>esstraße, Landstraße) sowie<br />

weitere Infrastruktureinrichtungen durch entsprechende Symbole<br />

markiert. (Quelle: Landesvermessungsamt Baden-Württemberg)<br />

nennt man thematische Karten. Die Darstellung<br />

räumlicher Unterschiede oder Beziehungen kann<br />

auf verschiedene Weise erfolgen. Eine Möglichkeit<br />

ist die Verwendung von Isolinien. Diese verbinden,<br />

ähnlich wie Höhenlinien, Punkte gleicher Wertigkeit<br />

(zum Beispiel der Luftverschmutzung, wie in Abbildung<br />

Al.2 dargestellt). Karten, in denen gleiche Wertigkeiten<br />

durch Linien dargestellt sind, bezeichnet<br />

man als Isolinienkarten. Eine in der thematischen<br />

Kartographie ebenfalls gebräuchliche Darstellungsform<br />

ist die der proportionalen Symbole. Dabei werden<br />

Kreise, Quadrate, Kugeln, Würfel oder andere<br />

Formen in ihrer Größe (Flächeninhalt) entsprechend<br />

der Häufigkeit des Auftretens eines bestimmten Phänomens<br />

oder Ereignisses an einem spezifischen Ort<br />

eingezeichnet. Signaturen wie Pfeile, Linien oder Bänder<br />

können ebenfalls proportional dargestellt werden,<br />

wenn sie quantitative Aussagen zu Bewegungen oder<br />

Lageveränderungen von Objekten zwischen gegebe-<br />

A1.2 Isolinienkarten Isolinienkarten liefern räumliche Informationen,<br />

indem Punkte gleicher Werte miteinander verb<strong>und</strong>en<br />

werden. Besonders bekannte Isolinien sind Höhenlinien in topographischen<br />

Karten. Diese Karte zeigt das unterschiedliche<br />

Ausmaß der Luftverschmutzung in den östlichen Vereinigten<br />

Staaten. (Quelle: Wiedergabe mit Genehmigung von Prentice<br />

Hall. Aus Rubenstein, J. M. The Cultural Landscape: An Introduction<br />

to Human Geography, 1996, S. 584. Verändert nach<br />

Stevens, W. K. Study of Add Rain Uncovers Threat to Far Wider<br />

Area. In: New York Times (16. Januar 1990) S. 21)<br />

neu Punkten ausdrücken sollen (zum Beispiel Transportvolumen).<br />

Die Abbildung A l.3 zeigt Vektoren<br />

<strong>und</strong> Kreise als Beispiele für proportionale Symbole.<br />

Einfache Verteilungen werden sehr anschaulich in<br />

Form von Punktestreuungskarten dargestellt, bei denen<br />

ein einzelner Punkt oder ein beliebiges anderes<br />

Symbol eine bestimmte Anzahl des Auftretens bestimmter<br />

Phänomene oder Ereignisse repräsentiert.<br />

Ein anderes Mittel der Darstellung ist die Choroplethenkarte,<br />

in der beispielsweise durch abgestufte<br />

Flächentönungen Häufigkeiten oder Dichtewerte<br />

wiedergegeben werden (siehe zum Beispiel die Abbildungen<br />

8.1 <strong>und</strong> 11.1). Thematische Karten können<br />

schließlich auch orts- oder arealbezogene Diagramme<br />

enthalten. Auf dieses Weise lässt sich eine große Zahl<br />

von Informationen in ein <strong>und</strong> derselben Karte darstellen<br />

(Abbildung Al.4).


Der M edienstandort Köln 1999<br />

nach Postleitzahlgebieten (5-stellig)<br />

Anzahl der<br />

Medienunternehmen<br />

1mm^ -= 1 Unternehmen<br />

Medientyp<br />

► Printmedien<br />

► audiovisuelle Medien<br />

C> Multimedia<br />

► Werbung <strong>und</strong> Marktforschung<br />

► Aus- <strong>und</strong> Weiterbildung<br />

Grenze des PLZ-Gebietes<br />

Gemeindegrenze<br />

Autoren: P.Gräf, T.Matuszis<br />

‘^ 7 © In stitu t fü r L ä n d e rk u n d e . L e ip z ig 2 0 0 0<br />

A1.3 Ein Beispiel für proportionale Symbole in der thematischen Kartographie: Medienstandort Köln Durch die Kombination<br />

von Signaturen oder Diagrammen mit einer Basiskarte lassen sich eine Fülle von Informationen in einer einzigen Abbildung darstellen.<br />

Das Beispiel zeigt den Medienstandort Köln, aufgeteilt in die Postleitzahlengebiete, kombiniert mit der Anzahl der Medienunternehmen<br />

<strong>und</strong> dem Medientyp. (Quelle: Nationalatlas B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland. Verkehr <strong>und</strong> Kommunikation. Heidelberg (Spektrum<br />

Akademischer Verlag) 1999, S. 115)<br />

I Kartenmaßstäbe<br />

Der Kartenmaßstab ergibt sich aus dem Verhältnis<br />

zwischen einer Strecke auf der Karte <strong>und</strong> in der Natur.<br />

Der Maßstab wird in der Regel durch Längenangaben<br />

wie „ein Zentimeter entspricht einem Kilometer“,<br />

einen Bruch (in diesem Fall 1/100 000)<br />

oder ein Verhältnis (1:100 000) ausgedrückt. Kleinmaßstäbige<br />

Karten sind durch kleine Quotienten<br />

(zum Beispiel 1/1 000 000 oder 1/10 000 000) gekennzeichnet.<br />

Mit einem kleinen Maßstab ließe sich auf<br />

einer Seite dieses Buches somit ein größerer Ausschnitt<br />

der Erdoberfläche abbilden als mit einem großen<br />

Maßstab. Eine Karte im Maßstab 1:10 000 000,<br />

die auf einer Seite Platz hätte, könnte etwa die Hälfte<br />

des Gebiets der Vereinigten Staaten umfassen; im<br />

Maßstab 1:16 000 000 würde eine Karte von Europa<br />

auf eine einzelne Seite passen. Großmaßstäbige<br />

Karten basieren auf größeren Streckenquotienten<br />

(zum Beispiel 1/25 000 oder 1/10000). Eine Karte<br />

im Maßstab 1:10 000 von der Größe einer Buchseite<br />

könnte in etwa eine Vorortsiedlung abbilden, bei<br />

einem Maßstab von 1:1000 wären es gerade ein<br />

oder zwei Häuserblöcke.<br />

Kartenprojektionen <strong>und</strong><br />

Netzentw ürfe<br />

Kartenprojektionen <strong>und</strong> Netzentwürfe sind systematische<br />

Übertragungen der geographischen Koordinaten<br />

der Erdoberfläche in eine Ebene. Da die Erdoberfläche<br />

allseitig gekrümmt ist <strong>und</strong> die Erde keine ideale<br />

Kugelgestalt besitzt, ist es unmöglich, diese auf einer<br />

ebenen Fläche - einem Blatt Papier oder einem Bildschirm<br />

- ohne Verzerrungen darzustellen. Deshalb<br />

haben Kartographen eine ganze Reihe unterschiedlicher<br />

Verfahren zur Übertragung des Gradnetzes der<br />

Erde (Abbildung Al.5) in eine Ebene entwickelt, wobei<br />

jedes dieser Verfahren Vor- <strong>und</strong> Nachteile aufweist.<br />

Keine der Projektionen <strong>und</strong> keiner der Netzentwürfe<br />

kann Strecken in allen Richtungen exakt


766 Anhang<br />

íyv<br />

vVAtÓ.'<br />

cr><br />

Opiumexporte<br />

aus Indien<br />

(Mio. $ pro Jahr)<br />

200-1 -<br />

^ao<br />

Opiumimporte nacfrOhlftl^'<br />

(durchschnittliche Menge<br />

in tausend Kisten pro Jahr)<br />

Importe nach China lig e /<br />

32Mio. $ , ^ 4 5 Mio. $<br />

Gambia<br />

'MML<br />

Am-<br />

2 m-<br />

B e n ^ r *<br />

Xanton.<br />

»exput- -<br />

tiertes f “ I ‘ ‘<br />

durchschnitt in Mio. $)<br />

.1500 1600 1700 1800<br />

^3^<br />

C6000<br />

\ Windward Coast 4 000<br />

{A.. (y.'*r^2000<br />

NC6 te d’Ivoire)^<br />

1810<br />

^ 10000<br />

^ ' / 6000'<br />

Britischer <strong>und</strong> franzö-\ ®<br />

, siecher Sklavenhaixiel \ 4000<br />

, l 2000<br />

__ \ pro Jahr, deren J<br />

^Herkunft bekannt Ist) (<br />

12 000<br />

»BuchWop^anln<br />

y<br />

ii<br />

/<br />

1<br />

12000-<br />

r 2.5 J<br />

1700 W<br />

Nach Portum exportiertes<br />

OpH[Jahres-<br />

( durchschhitt in Mio. $)<br />

10000-<br />

8000-<br />

.6000.<br />

i^ooo<br />

Bucht von &afra<br />

M * i<br />

G e w in n e d u rch d e n S k lav e n h a n d e l<br />

m b ritis c h e S c h iffe<br />

i H H fra n z ö s is c h e S c h iffe<br />

G e w in n e a u s O p iu m h a n d e l<br />

(1 8 00-1 840)<br />

in d is c h - c h in e s is c h e r O p iu m h a n d e l<br />

yAnnt^Jam<br />

S ilb e re x p o rte n a c h S p a n ie n<br />

u n d P o rtu g a l (1531 -1 8 1 0 )<br />

V e rrin g e ru n g v o n E in k ü n fte n a u s<br />

in d is c h e n L ä n d e re ien (1760-1 8 1 0 )<br />

G o ld e x p o rte n a c h S p a n ie n<br />

u n d P o rtu g a l (1 5 03-1 800)<br />

G e w in n e a u s S k la v e n a rb e it<br />

in B ritis c h - W e s tin d ien (1 8 . Jh .)<br />

G e w in n e au s h o llä n d isc h e m<br />

G e w ü rz h a n d e i (1650 -1 7 8 0 )<br />

R e ise d e s S k lav e n h ä n d le rs c h iffe s<br />

E n te rp ris : 1804 v o n L ive rp o o l n a c h<br />

B o n n e y , N ig e ria; 1 8 0 4-1805 v o n<br />

B o n n e y n a c h H a v a n n a , C u b a ; m it<br />

194 M ä n n e rn , 32 m ä n n lich e n Ju g e n d ­<br />

lich e n u n d 66 Ju n g e n , 42 F ra u e n ,<br />

36 M ä d c h e n . N e tto g e w in n d e r<br />

R e ise 1 3 0 0 0 0 $.<br />

^Madrid<br />

A I.4 Verortete Diagramme Durch die Kombination von Diagrammen oder Symbolen mit einer Gr<strong>und</strong>karte lassen sich sehr viele<br />

Informationen in einer Abbildung darstellen. Das Beispiel zeigt die Profite, die europäische Kolonialmächte über drei Jahrh<strong>und</strong>erte<br />

durch Sklavenhandel <strong>und</strong> die weltweite Plünderung von Mineralen <strong>und</strong> Gewürzen erzielten. (Quelle: S. <strong>Marston</strong>, S., <strong>Knox</strong>, P., Liverman,<br />

D. World Regions in Global Context. Upper Saddle River NJ (Prentice Hall) 2002, S. 84)<br />

i<br />

wiedergeben. Karten sind entweder längentreu, winkeltreu<br />

oder flächentreu. Daneben existieren auch sogenannte<br />

vermittelnde Projektionen. Die Wahl der<br />

Kartenprojektion (oder des Netzentwurfs) hängt im<br />

Wesentlichen vom Verwendungszweck einer Karte<br />

ab. Projektionen, die eine größtmögliche Längentreue<br />

erzielen, bezeichnet man als äquidistante Projektionen.<br />

Derartige Projektionen bilden Strecken oder<br />

Entfernungen nur in einer Richtung (üblicherweise<br />

Nord-Süd) exakt ab. Auf äquidistanten Projektionen<br />

basierende Weltkarten oder Karten, die große Teile<br />

der Erde wiedergeben, werden unter ästhetischen Gesichtspunkten<br />

meist als ansprechend empf<strong>und</strong>en. Ein<br />

Beispiel dafür ist die polykonische Projektion (Abbildung<br />

Al,5).<br />

Winkeltreue Projektionen werden auch als konforme<br />

Projektionen bezeichnet. Die Mercatorprojektion<br />

(Abbildung A l.5) zeichnet sich beispielsweise<br />

durch Winkeltreue aus, das heißt die geradlinige Verbindung<br />

zwischen zwei Orten entspricht der exakten<br />

Kompassrichtung. Die Mercatorprojektion wurde daher<br />

über Jahrh<strong>und</strong>erte hinweg bei der Navigation ein-


Karten 767<br />

polykonische Projektion<br />

A I.5 Vergleich unterschiedlicher Kartenprojektionen Unterschiedliche Kartenprojektionen besitzen unterschiedliche Eigenschaften.<br />

Die polykonische Projektion (eine der Kegelprojektionen) weist einen exakten Maßstab nur entlang der Breitenkreise <strong>und</strong><br />

entlang des Mittelmeridians auf. Es besteht weder Winkel- noch Flächentreue, lediglich der Bereich entlang des zentralen Meridians ist<br />

verzerrungsfrei abgebildet. Bei der Mercatorprojektion (eine der Zylinderprojektionen) entspricht die geradlinige Verbindung zweier<br />

beliebiger Punkte der tatsächlichen Kompassrichtung. Die Umrisse der Landmassen bilden die wahren Verhältnisse ab, die<br />

Größenverhältnisse sind jedoch verzerrt wiedergegeben. Die äquidistante Azimutalprojektion ist dadurch gekennzeichnet, dass die<br />

vom Kartenmittelpunkt gemessenen Entfernungen exakt abgebildet werden, Richtungen, Flächen sowie Umrissformen aber desto<br />

stärker verzerrt sind, je weiter entfernt sie vom Kartenzentrum liegen.<br />

gesetzt. Sie wird außerdem sehr häufig bei Schulwandkarten<br />

verwendet. Deshalb ist das auf dieser<br />

Projektion basierende Bild der Welt tief im allgemeinen<br />

Bewusstsein verankert: Aufgr<strong>und</strong> der durch die<br />

Mercatorprojektion zu den Polen hin zunehmenden<br />

Größenverzerrung der Flächen haben viele Europäer<br />

<strong>und</strong> Nordamerikaner eine übertriebene Vorstellung<br />

von der Größe der nördlichen Kontinente <strong>und</strong> sind<br />

sich der tatsächlichen Größe Afrikas nicht bewusst.<br />

Es gibt andere Projektionen, bei denen exakte Himmelsrichtungen<br />

nur von einem Mittelpunkt aus gegeben<br />

sind. Diese bezeichnet man als Azimutalprojektionen.<br />

Solche Projektionen können längentreu sein,<br />

wie die äquidistante Azimutalprojektion (Abbildung<br />

Al.5), die gelegentlich zur Entfernungsdarstellung<br />

von Flugrouten, ausgehend von einem bestimmten


768 Anhang<br />

IfJ ,<br />

Punkt, verwendet wird. Andere Projektionen wie die<br />

Lambert’sche flächentreue, äquatorständige Azimutalprojektion<br />

geben dagegen die Flächenverhältnisse<br />

richtig wieder.<br />

Projektionen oder Netzentwürfe, die Ausschnitte<br />

der Erdoberfläche in den tatsächlichen Proportionen<br />

abbilden, heißen flächentreue oder äquivalente<br />

Projektionen. Kartographen verwenden sie, um Verteilungen<br />

auf der Erdoberfläche, zum Beispiel die<br />

Elächenanteile verschiedener Arten der Landnutzung,<br />

miteinander zu vergleichen. Beispiele für flächentreue<br />

Projektionen sind der Eckert’sche Entwurf IV,<br />

Bartholomews polständige Projektion (die Abbildung<br />

2.3.2 zugr<strong>und</strong>e liegt) <strong>und</strong> die Mollweideprojektion<br />

(Abbildung A l.5). Flächentreue Entwürfe wie die<br />

Moll Weideprojektion eignen sich besonders als<br />

Gr<strong>und</strong>lage für thematische Karten, in denen ökonomische,<br />

demographische oder kulturelle Informationen<br />

dargestellt sind. Leider weisen flächentreue Weltkarten<br />

die Tendenz auf, dass Gebiete teilweise deformiert<br />

erscheinen <strong>und</strong> deren Umrissformen oft unbefriedigend<br />

wiedergegeben werden.<br />

Da für bestimmte Anwendungen das ästhetische<br />

Erscheinungsbild einer Karte wichtiger ist als Winkel-,<br />

Flächen- oder Längentreue, haben Kartographen<br />

eine Reihe weiterer Abbildungsverfahren entwickelt.<br />

Dazu gehören beispielsweise die in zahlreichen Weltatlanten<br />

verwendete Timesprojektion sowie die Robinsonprojektion,<br />

die in vielen Veröffentlichungen<br />

der National Geographie Society als Kartengr<strong>und</strong>lage<br />

dient. Die Robinsonprojektion (Abbildung Al.6) ist<br />

eine sogenannte vermittelnde Projektion, bei der<br />

zwar sowohl die Flächen- als auch die Winkelverhältnisse<br />

verzerrt dargestellt werden, die als Weltkarte<br />

aber dennoch vielseitig einsetzbar ist. Bisweilen orien-<br />

tiert sich die Wahl der Projektion auch an politischen<br />

Erwägungen. Staaten können in einer spezifischen<br />

Projektion größer <strong>und</strong> damit „bedeutender“ erscheinen<br />

als in einer anderen. So steht zum Beispiel hinter<br />

der Petersprojektion (Abbildung A l.7) die Absicht,<br />

die geringer entwickelten Länder der Äquatorialgebiete<br />

<strong>und</strong> der Südhalbkugel besonders hervorzuheben.<br />

In diesem Buch findet gelegentlich eine andere für<br />

viele Leser vielleicht ungewohnte Darstellung Verwendung:<br />

die von Buckminster Füller entwickelte<br />

Dymaxionprojektion (Abbildung Al.8). Füller, der<br />

sich als Architekt <strong>und</strong> Industriedesigner einen Namen<br />

gemacht hat, wollte eine Weltkarte entwerfen, die in<br />

den Bereichen der großen Landmassen möglichst geringe<br />

Verzerrungen aufweist. Die Dymaxionprojektion<br />

erfüllt diese Anforderung, wenngleich die Art der<br />

Darstellung auf den ersten Blick verwirrend erscheinen<br />

mag. Dies ist nicht notwendigerweise negativ zu<br />

bewerten, da man so zu einer neuen, unvoreingenommenen<br />

Sicht auf die Welt <strong>und</strong> die Beziehungen<br />

zwischen Orten gezwungen wird. Da Europa, Nordamerika<br />

<strong>und</strong> Japan zum Zentrum der Kartenprojektion<br />

hin angeordnet sind, bietet sich die Darstellung<br />

zur Illustration zweier zentraler Themen dieses Buches<br />

an, des Beziehungsgeflechts zwischen den rei-<br />

P ! ’<br />

A1.6 Die Robinsonprojektion Bei der Robinsonprojektion<br />

sind Entfernungen, Winkelverhältnisse <strong>und</strong> Umrissformen<br />

verzerrt wiedergegeben, um ein ausgewogenes Kartenbild zu<br />

erzielen. Sie eignet sich gut für thematische Karten <strong>und</strong><br />

Arbeitskarten im Weltmaßstab. (Quelle: Nach Bergman,<br />

E. F. Human Geography: Cultures, Connections, and Landscapes.<br />

Upper Saddle River NJ (Prentice Hall) 1995, S. 12)<br />

A1.7 Die Petersprojektion Die flächentreue Projektion<br />

wurde als Alternative zu traditionellen Entwürfen konzipiert, die,<br />

so die Argumentation von Arno Peters, allesamt die Größe <strong>und</strong><br />

damit die (scheinbare) Bedeutung der höheren Breiten, also der<br />

Kernregionen der Erde, übertreiben <strong>und</strong> so die „Europäisierung“<br />

der Erde indirekt begünstigen. Während der Weltkirchenrat, die<br />

Lutheranische Kirche von Amerika, verschiedene Stellen der<br />

Vereinten Nationen <strong>und</strong> andere internationale Einrichtungen<br />

diese Karte bevorzugen, wurde die Darstellung von US-amerikanischen<br />

Kartographen aus ästhetischen Gründen kritisiert.<br />

Die Kritik bezog sich auf die verzerrte Form der Landmassen, die<br />

eine Konsequenz der Flächentreue ist. (Quelle: Nach Bergman,<br />

E. F. Human Geography: Cultures, Connections, and Landscapes.<br />

Upper Saddle River NJ (Prentice Hall) 1995, S. 13)


A I.8 Die Dymaxionprojektion nach Fuller Diese ungewöhnliche Kartenprojektion wurde von Buckminster Fuller (1895- 1983)<br />

entwickelt. Wie die Abbildung zeigt, löste Fuller das Problem, die Formverzerrung der großen Landmassen zu minimieren, indem er den<br />

Globus in dreieckige Flächen unterteilte. Dreiecke, die keine größeren Landflächen umschließen, schnitt er heraus, sodass sich die<br />

verbieibenden Teile des Globus „aufgefaltet“ in die Ebene projizieren lassen. (Quelle: Buckminster Fuller Institute <strong>und</strong> Dymaxion Map<br />

Design, Santa Barbara, CA. Die Bezeichnung „Dymaxion“ <strong>und</strong> das Fuller Projection Dymaxion Map Design sind geschützte Warenzeichen<br />

des Buckminster Fuller Institute, Santa Barbara, CA, © 1938, 1967 <strong>und</strong> 1992. Alle Rechte Vorbehalten.)<br />

eben Industrieländern <strong>und</strong> der Beziehungen zwischen<br />

der hoch entwickelten Kernregion <strong>und</strong> den weniger<br />

wohlhabenden, peripheren Ländern der Erde.<br />

Denn Füllers Projektion zeigt die ökonomisch peripheren<br />

oder benachteiligten Länder der Erde auch<br />

kartographisch in peripheren Positionen.<br />

Eine besondere Art der Darstellung, auf die gelegentlich<br />

bei kleinmaßstäbigen thematischen Karten<br />

zurückgegriffen wird, ist das Kartogramm. Dabei<br />

wird der Raum nach statistischen Größen so aufgeteilt,<br />

dass die größten Kartierungseinheiten den höchsten<br />

statistischen Werten entsprechen. Die Abbildung<br />

Al.9 zeigt ein Kartogramm der Erde, in dem die Größe<br />

der Länder proportional zu ihrer Bevölkerungszahl<br />

dargestellt ist. Mit dieser Art der Projektion lässt sich<br />

die ungleiche Verteilung der Weltbevölkerung besonders<br />

gut veranschaulichen. In Abbildung Al.9a ist ein<br />

Kartogramm dargestellt, dem Telefontarife, umgesetzt<br />

in lineare Distanzen, zugr<strong>und</strong>e liegen. Die beabsichtigte<br />

Verzerrung der KontinenLe bei dieser Art der<br />

Darstellung unterstreicht eindrucksvoll die räumlichen<br />

Disparitäten.<br />

Schließlich haben Kartographen seit der Entwicklung<br />

der Computergrafik die Möglichkeit, Karten


i<br />

□<br />

770 Anhang<br />

Vtn kmgH» S»—» n<br />

Guatemala-“<br />

El Salvador*^<br />

Honduras<br />

Nicaragua ''<br />

Costa Rica'<br />

Trtnidad A<br />

kI. Antill^'<br />

Puerto Rico<br />

Antigua <strong>und</strong> E<br />

' LI—I COuadeloupe<br />

S t VOominlca<br />

,0 Vncent“, 5- Martinique<br />

g *Saint Lucia<br />

\_Barbados Senegal<br />

^ Gambia<br />

Sierra Lei<br />

Ubei<br />

CÖte d'Ivoire<br />

Arabische Emirate<br />

uwaH<br />

Katar<br />

Eritrea<br />

Djibouti<br />

Mocambique<br />

^Komoren<br />

N a tü rlic h es B evö lkeru n g sw ach stu m<br />

1993 (in Pro z en t)<br />

■ ü b e r 3 2 0 M illio n e n<br />

n 2 b is 3<br />

1 M illio n<br />

1 b is


K a r t e ?<br />

Unüberwachte Klassifizierung<br />

TM 3,4,5,7<br />

U nüb erwach te K lassifizieru n g in 12 Kla sse n .<br />

Zusam m enfassung zu 6 K la sse n<br />

■<br />

W u tar<br />

■<br />

■<br />

■<br />

■<br />

■<br />

Flachwasser, sehr feuchter Boden<br />

Weid. Beumpflenninoen.<br />

vertxischte FUchen<br />

landwfrtschafliche NutzSächen.<br />

mttlere Vegetedonsdichte<br />

Fliehen mK geringer Vegetabonsbededcung.<br />

Straßen <strong>und</strong> Siedlungen<br />

vogetebons freie FUchen<br />

N<br />

Ä<br />

MMlUb 1:360000<br />

5 J )<br />

0 « « r SOOOni aTM-Zon«4a<br />

srs MO MS MO 3 K 400 4M 410 415 4J0<br />

U « W m » Pä » 12S Row a 041<br />

n m m i<br />

A1.10 Landnutzungskarte Dieser Ausschnitt aus einer Landnutzungskartierung des Nordostens von Thailand (im Grenzgebiet zu<br />

Laos) \wurde auf der Basis einer Landsat-Satellitenaufnahme erstellt (Landsat TM 5-System). Herangezogen wurden die Spektralkanäle<br />

3, 4, 5 <strong>und</strong> 7, um eine möglichst gute Vegetationsdifferenzierung zu erreichen. Für die Analyse wurden 12 Spektralklassen zu sechs<br />

Objektklassen zusammengefasst: „Wasser“, „Flachwasser“, „sehr feuchter Boden, Wald, Baumpflanzungen, verbuschte Flächen“,<br />

„landwirtschaftliche Nutzflächen mit mittlerer Vegetationsdichte“, „Flächen mit geringer Vegetation, Straßen <strong>und</strong> Siedlungen“ sowie<br />

„vegetationsfreie Flächen“. In der Abbildung sind schließlich vier zusammengefasste Landnutzungsklassen dargestellt.<br />

nicht mehr nur als zweidimensionale Abbilder der<br />

Erdoberfläche einzusetzen. Computerprogramme,<br />

die statistische Daten auf der zweidimensionalen<br />

Oberfläche eines Monitors dreidimensional darstellen<br />

können, erlauben die Visualisierung vieler humangeographischer<br />

Inhalte auf innovative <strong>und</strong> anregende<br />

Weise (Abbildung Al. 10).<br />

Geographische Informationssysteme<br />

(GIS)<br />

Geographische Informationssysteme - kurz GIS -<br />

spielen heute in vielen Bereichen der Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft eine zentrale Rolle. Sie sind nicht<br />

nur ein unverzichtbares Werkzeug der Geographie,<br />

sondern werden auch in der Markforschung, der<br />

Logistik von Krankenhäusern, im Tourismus, in<br />

der Energiewirtschaft, der Raumplanung, im Katastrophenschutz,<br />

bei Audioftihrungen in Museen<br />

<strong>und</strong> vielen anderen Bereichen eingesetzt, in denen<br />

ortsbezogene Massendaten verarbeitet werden. Der<br />

GIS-Sektor zählt derzeit zu den zehn am schnellsten<br />

wachsenden Branchen der Privatwirtschaft <strong>und</strong> hat<br />

Geographen viele neue Berufsfelder geöffnet.<br />

Geographische Informationssysteme bestehen aus<br />

einer Verbindung von Computerhardware, spezifischer<br />

Software <strong>und</strong> raumbezogenen Daten. Die<br />

einzelnen Bestandteile bilden zusammen mit dem<br />

Anwender ein System, mit dessen Hilfe sich räumlich<br />

referenzierte, also verortete Daten erfassen, speichern,<br />

aktualisieren, reorganisieren, analysieren <strong>und</strong><br />

darstellen lassen. Die vier funktionalen Komponenten<br />

eines GIS sind:<br />

• Erfassung<br />

• Verwaltung<br />

• Analyse<br />

• Präsentation<br />

Die Präsentation der Daten kann auf alphanumerische<br />

oder grafische Weise erfolgen. Die grafische Präsentation<br />

(Visualisierung) bietet verschiedenste Möglichkeiten,<br />

angefangen von statischen zweidimensio-


772 Anhang<br />

Geometriedafen<br />

Rasterdaten<br />

Sachdaten<br />

A I. 11 Aufbau <strong>und</strong> Informationsschichten<br />

eines GIS Ein GIS<br />

kann verschiedene thematische<br />

Informationsschichten verwalten.<br />

Diese sogenannten Datenlayer<br />

thematisieren jeweils eine Informationsebene<br />

der realen Welt.<br />

(Quelle: Nicolai Freiwald, Rüdiger<br />

Göbel, Universität Heidelberg)<br />

I i<br />

! I<br />

‘ I<br />

nalen Karten über interaktive Online-Karten (Web<br />

GIS) bis hin zu animierten 3D-Visualisierungen,<br />

die auch zeitliche Veränderungen veranschaulichen<br />

können. GIS-Software wird von verschiedenen Herstellern<br />

angeboten. Üblicherweise handelt es sich um<br />

ganze Programmpakete, die verschiedene, aufeinander<br />

abgestimmte Softwaremodule enthalten.<br />

Um einen Datensatz mit einem GIS verarbeiten zu<br />

können, muss die räumliche Position der untersuchten<br />

Objekte oder Phänomene bekannt sein. Deren<br />

Lage kann durch die Koordinaten x, y <strong>und</strong> z für geographische<br />

Länge, geographische Breite <strong>und</strong> Höhe<br />

über dem Meeresspiegel oder auch durch Bezugssysteme<br />

wie Adressen, Postleitzahlen oder Autobahnkilometer<br />

definiert sein. In ein GIS können die unterschiedlichsten<br />

Arten von Informationen eingespeist<br />

werden, vorausgesetzt, diese sind eindeutig lokalisierbar.<br />

Ein wesentlicher Vorzug von GIS besteht darin,<br />

dass zahlreiche Datensätze zusammengeführt werden<br />

können, die unterschiedliche Sachverhalte repräsentieren,<br />

unterschiedliche Maßstäbe aufiveisen oder aus<br />

unterschiedlichen Quellen stammen können (Abbildung<br />

A 1.11). Dies wird durch ihre eindeutige Verortung<br />

im Raum als gemeinsamer Referenz möglich.<br />

Allerdings erfordert die Arbeit mit Datensätzen<br />

unterschiedlicher Herkunft <strong>und</strong> mit unterschiedlichem<br />

Generalisierungsgrad auch besondere Vorsicht.<br />

Denn von einer Analyse, in der unterschiedlich generalisierte<br />

Datengr<strong>und</strong>lagen verwendet werden, dürfen<br />

nicht Aussagen mit höchster Genauigkeit erwartet<br />

werden. Hier helfen sogenannte „Metadaten“, das<br />

sind Zusatzinformationen, die die Basisdatensätze genauer<br />

beschreiben <strong>und</strong> die gemeinsame Nutzung heterogener<br />

Geodäten durch entsprechende Qualitätsangaben<br />

erst sinnvoll ermöglichen. Die Metadaten<br />

können beispielsweise über Inhalt, Alter, Genauigkeit,<br />

Vollständigkeit, Erfassungsmethode, Erfasser,<br />

Gebietsgröße, Geometriemodelle, Nutzungsrechte,<br />

Datenformate, Zugriffsmöglichkeiten <strong>und</strong> vieles weitere<br />

Auskunft geben. Ein bedeutsamer Standard hierfür<br />

ist der ISO 19115 Standard des Technical Comittees<br />

211 (Geographie Information) der International<br />

Organization for Standardization (ISO). Nach einem<br />

Standard strukturierte Metadaten sind besonders für<br />

die international gerade in Aufbau befindlichen<br />

„Geodateninfrastrukturen“ (GDI) bedeutsam, da<br />

sie die Suche nach bestimmten Geodäten stark vereinfachen.<br />

Als Beispiel für eine Geodateninfrastruktur<br />

der amtlichen Geodäten kann die deutsche GDI-DE<br />

genannt werden (www.geoportal.b<strong>und</strong>.de).<br />

Die Datenerfassung - das Einspeisen von Informationen<br />

in das System - ist der zeitaufwendigste<br />

Schritt bei der Arbeit mit GIS. Neben den Geometriedaten,<br />

das heißt der räumlichen Lage <strong>und</strong> Form von<br />

Objekten, müssen auch die für die Analyse relevanten<br />

Merkmale (Attributdaten) bestimmt werden. Daten,<br />

die aus unterschiedlichen Quellen stammen <strong>und</strong> deshalb<br />

oft unterschiedliche Maßeinheiten, Größenordnungen<br />

<strong>und</strong> Darstellungsformen aufweisen, müssen<br />

vereinheitlicht werden, Änderungen müssen verfolgt<br />

<strong>und</strong> gemeinsam mit den Metadaten aktualisiert werden.<br />

Als Faustregel wird angenommen, dass auf jeden<br />

Euro, der für GIS-Hardware ausgegeben wird, zehn<br />

für Software <strong>und</strong> Schulung <strong>und</strong> 100 für den Erwerb<br />

<strong>und</strong> die Aktualisierung von Daten kommen. Demzufolge<br />

sind es im Wesentlichen die Industrieländer <strong>und</strong><br />

die größeren, wirtschaftlich erfolgreichen Organisationen,<br />

welche die Vorteile der GIS-Technologie in<br />

vollem Umfang nutzen können.<br />

L<br />

Anwendungen von GIS<br />

Die GIS-Technologie ermöglicht es, Rauminformationen,<br />

die mit herkömmlichen Methoden nur eingeschränkt<br />

zusammengeführt werden können, mitei-


Geographische Informationssysteme (GIS) 773<br />

Land Acquisition Policy Panel Model<br />

Highest Scoring Available land<br />

Purchasable With Eefflaining land Acquisition F<strong>und</strong>ing<br />

M « iu ie Allies<br />

n '6 Î *i«r «I<br />

□ 5«:o# Wtf •! B îim l 5 « ' tf l i U<br />

w m w ^ m<br />

A/ •«*


774 Anhang<br />

-N<br />

X" vN'-<br />

T ,<br />

1.13 Dreidimensionales Geländebeziehungsweise<br />

Stadtmodell der Stadt<br />

Heidelberg a) Dieses dreidimensionale Geländemodell<br />

wurde automatisch aus verschiedenen<br />

Datensätzen, wie Isolinien,<br />

Gr<strong>und</strong>risse der Straßen <strong>und</strong> Gebäude des<br />

städtischen Vermessungsamts oder Waldverbreitung<br />

aus der TK 1:25 000, generiert,<br />

b) Das Modell der Altstadt von Heidelberg<br />

wurde aus den Gr<strong>und</strong>rissdaten des Städtischen<br />

Vermessungsamts generiert. Die<br />

Dachlandschaft wurde aus einem Flugzeug<br />

mit Laserscannern aufgenommen <strong>und</strong> nach<br />

verschiedenen Überarbeitungen auf die<br />

automatisch generierten Häuserblöcke<br />

„aufgesetzt“. Die (im Bild nicht sichtbaren)<br />

Fassaden der Häuser wurden fotografiert<br />

<strong>und</strong> dann auf die Seitenflächen der Häusermodelle<br />

aufgetragen. Dieses Modell bildet<br />

die Basis für einen virtuellen historischen<br />

Touristenführer, der Benutzer mit unterschiedlichen<br />

Interessen <strong>und</strong> Anforderungen<br />

durch die Stadt Heidelberg führen soll. Da zu<br />

(fast) jedem Gebäude aus vielen Zeitepochen<br />

historische, kunsthistorische, architektonische<br />

<strong>und</strong> geographische Informationen zur<br />

Verfügung stehen, kann das System Je nach<br />

Benutzerprofil eigenständig eine optimale<br />

Tour zur Verfügung stellen.<br />

(Quelle; EML, Alexander Zipf)<br />

ren Attributdaten auch die Erstellung, Analyse <strong>und</strong><br />

Visualisierung dreidimensionaler digitaler Geländemodelle<br />

(Abbildung A 1.13). So können automatisch<br />

Höhenlinien interpoliert, Bauvolumen bestimmt<br />

oder Hangabflussberechnungen durchgeführt werden.<br />

Durch Hinzufugen der Dimension Zeit lassen<br />

sich auch Prozesse aussagekräftig darstellen <strong>und</strong><br />

Veränderungen analysieren. Die Dimensionalität<br />

von Daten spielt bei deren Analyse <strong>und</strong> Visualisierung<br />

eine wichtige Rolle. Bei der Untersuchung dreidimensionaler<br />

Geometriedaten, die um die zeitliche Dimension<br />

erweitert werden, stoßen modernste GIS heute<br />

an ihre Grenzen. Die Erstellung, Analyse <strong>und</strong> Visualisierung<br />

dreidimensionaler temporaler Stadtmodelle<br />

sind deshalb ein aktuelles Forschungsthema. Solche<br />

vierdimensionalen Modelle sind beispielsweise für<br />

die Stadtplanung interessant, wenn neben dem Baubestand<br />

auch zukünftige Planungen oder historische<br />

Bestände untersucht <strong>und</strong> dargestellt werden sollen.<br />

Geographische Informationssysteme werden in den<br />

unterschiedlichsten Bereichen eingesetzt, beispielsweise<br />

in der Stadtplanung, im Stadtmarketing, im<br />

Katastrophenschutz, im Umweltschutz, in der Energie-<br />

<strong>und</strong> Wasserversorgung, in Touristeninformationssystemen,<br />

in der Logistik von Transportunternehmen<br />

oder in modernen Navigationssystemen.<br />

Ein typisches Anwendungsgebiet für Geographische<br />

Informationssysteme ist die Standortplanung.<br />

Dabei kann es sich um Standorte von Filialen einer<br />

Bank oder Ladenkette, um Standorte von Fabriken,


Staudämmen oder Mülldeponien genauso handeln<br />

wie um Standorte von Sendemasten für den Mobilfunk,<br />

von Windrädern, Naturschutzgebieten oder<br />

Evakuierungszentren im Katastrophenschutz. GIS<br />

können aber auch Rettungsfahrzeuge auf dem<br />

schnellsten Weg zum UnfaUort leiten, Fahrzeugflotten<br />

von Speditionen überwachen (Telematik), die<br />

Ausbreitung übertragbarer Krankheiten analysieren,<br />

Bioindikatoren berechnen, den potenziellen K<strong>und</strong>enkreis<br />

eines Geschäftsstandorts ermitteln <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>lagen<br />

für die Stadt, Regional- <strong>und</strong> Umweltplanung<br />

bereitstellen. Außerdem bieten sich GIS überall<br />

dort an, wo natürliche Ressourcen, technische Leitungen<br />

<strong>und</strong> Kanäle sowie andere Infrastruktureinrichtungen<br />

oder Gr<strong>und</strong>stücke <strong>und</strong> Gebäude inventarisiert,<br />

dokumentiert <strong>und</strong> verwaltet werden müssen.<br />

Vor allem Marketingunternehmen haben das Potenzial<br />

von GIS für kommerzielle Anwendungen erkannt<br />

<strong>und</strong> diese rasch zu einem Werkzeug ihrer täglichen<br />

Arbeit gemacht (Geomarketing). Auf der Basis<br />

von Zensus-, Wohnungs- <strong>und</strong> Wirtschaftsdaten (zum<br />

Beispiel Verkaufszahlen oder Angaben über Vermögensverhältnisse)<br />

lassen sich Bevölkerungsprofile erstellen<br />

<strong>und</strong> Karten erzeugen, die den potenziellen<br />

K<strong>und</strong>enkreis relativ exakt ausweisen. Diese mittels<br />

GIS gewonnenen Informationen ermöglichen es Firmen,<br />

gezielt Werbeaktionen bei klar definierten K<strong>und</strong>engruppen<br />

anzusetzen.<br />

Große Einkaufszentren nutzen Geographische<br />

Informationssysteme, um potenzielle neue Standorte<br />

zu bewerten. Neben soziodemographischen Daten,<br />

wie beispielsweise Variable Bevölkerungsdichte, Einkommen<br />

<strong>und</strong> Bildung, beinhalten ihre Datenbanken<br />

oft auch Informationen über konkurrierende Einkaufszentren,<br />

über Gr<strong>und</strong>eigentums- <strong>und</strong> Mietverhältnisse,<br />

über einzuhaltende Bauvorschriften oder<br />

die Standorte von Konkurrenzunternehmen. Ein<br />

GIS ist sehr gut dafür geeignet, Verkehrsmuster zu<br />

modellieren, denn aus soziodemographischen Daten<br />

lassen sich Informationen über Arbeitswege gewinnen,<br />

<strong>und</strong> zwar deren Länge, die Art der benutzten<br />

Verkehrsmittel sowie die Richtung <strong>und</strong> Häufigkeit<br />

der Fahrten. In vielen GIS sind bereits Modelle enthalten,<br />

die eine Prognose von Verkehrsmustern erlauben.<br />

Indem man Bereiche mit hohem Verkehrsaufkommen<br />

identifiziert, erhält man Hinweise auf<br />

verkaufsstrategisch günstige Standorte.<br />

Weitere Einsatzmöglichkeiten umfassen die Aufbereitung<br />

von betrieblichen Verkaufszahlen, die Bestimmung<br />

von Vertriebsgebieten, aber auch die Berechnung<br />

von Emissionsverteilungen sowie der Erosions-<br />

oder Hochwassergefahr. Neben den oben dargestellten<br />

Anwendungen aus Wissenschaft, Verwaltung,<br />

Umwelt <strong>und</strong> Wirtschaft gibt es auch zahlreiche<br />

militärische Nutzungsmöglichkeiten von GIS; diese<br />

haben anfangs sogar wesentlich zur technischen Weiterentwicklung<br />

von GIS beigetragen.<br />

Neue Anwendungsmöglichkeiten ergeben sich<br />

durch die Nutzung von GIS-Funktionen über das Internet<br />

wie zum Beispiel in Online-Stadtinformationssystemen,<br />

Kartendiensten oder Routenplanern. Die<br />

Bandbreite reicht von interaktiven Umweltinformationssystemen<br />

zu Echtzeit-Stauinformationsdiensten<br />

oder historischen Stadtatlanten. Durch die Entwicklung<br />

breitbandiger Mobilfunktechnologie <strong>und</strong> die Integration<br />

von Positionierungssystemen wie GPS<br />

(Global Positioning System) <strong>und</strong> zukünftig Galileo<br />

in Handys oder digitalen Kleinstrechnern (Personal<br />

Digital Assistant, PDA) werden auch sogenannte ortsbezogene<br />

Dienste (Location Based Services, LB,) ermöglicht.<br />

War GIS früher hauptsächlich ein Werkzeug<br />

für Fachexperten, bedeuten diese neuen Anwendungen<br />

wie Navigationsunterstützung <strong>und</strong> örtliche<br />

Informationsdienste das Eindringen von GIS-Funktionen<br />

in den Massenmarkt - auch wenn dem Endanwender<br />

in diesem Fall in der Regel nicht mehr bewusst<br />

ist, dass im Hintergr<strong>und</strong> ein GIS-Server seinen<br />

Dienst versieht.<br />

Ein aktuelles Thema ist in diesem Zusammenhang<br />

der Einsatz dreidimensionaler Stadtmodelle für Partizipations-<br />

<strong>und</strong> Planungszwecke. Konkreter Anwendungsbereich<br />

ist beispielsweise die im deutschen Planungsrecht<br />

verankerte Öffentlichkeitsbeteiligung bei<br />

städtebaulichen Vorhaben. Virtuelle 3D-Stadtmodelle<br />

können dem Bürger auf anschauliche Weise vermitteln,<br />

wie sich geplante Bauten später in das Stadtbild<br />

einfügen werden. Auch für Stadtplaner oder Architekten<br />

ist die Nutzung solcher Stadtmodelle interessant,<br />

da bereits frühzeitig ermittelt werden kann, inwiefern<br />

verschiedene Planungsvarianten mit dem<br />

Baubestand harmonieren. Wie erwähnt stoßen viele<br />

herkömmliche GIS beim Arbeiten mit dreidimensionalen<br />

Daten heute an ihre Grenzen. Dies gilt nicht<br />

nur für die Erfassung beziehungsweise Eingabe der<br />

Daten, sondern insbesondere für die Präsentation<br />

der Daten. Möchte man 3D-Stadtmodelle nicht<br />

nur zu einem einzigen Zeitpunkt, beispielsweise in<br />

Form des aktuellen Baubestands, visualisieren, sondern<br />

auch zukünftige Planungen oder sogar historische<br />

Zustände dreidimensional visuell darstellen,<br />

hat es sich bewährt, neben GIS weitere, aufgabenspezifische<br />

Softwareanwendungen einzusetzen. Neben<br />

CAD-Software (Computer Aided Design), wie sie beispielsweise<br />

von Architekten oder Stadtplanern verwendet<br />

wird, spielt in diesem Bereich der Einsatz<br />

von 3D- <strong>und</strong> Animationssoftware eine wichtige Rolle.


776 Anhang<br />

A l.14 Dreidimensionales Stadtmodell für Partizipations- <strong>und</strong> Planungszwecke Die beiden Teile der Abbildungen zeigen<br />

jeweils denselben Ausschnitt eines digitalen 3D-Stadtmodells des Heidelberger Universitätscampus zu unterschiedlichen Zeitpunkten.<br />

Links ist der Baubestand im Jahre 2005 dargestellt. Dieser ist unterlegt mit der Gesamtplanung des Universitätsbauamts<br />

Heidelberg. Rechts ist die auf Basis der Gesamtplanung zu erwartende Bebauung für das Jahr 2020 abgebildet. Die Umsetzung des<br />

Modells erfolgte auf Gr<strong>und</strong>lage von CAD-Plänen des Universitätsbauamts. Diese wurden in einem GIS ausgewertet <strong>und</strong> georeferenziert.<br />

Danach wurden die Daten in eine 3D-Softwareanwendung importiert <strong>und</strong> dort um die dritte Dimension erweitert sowie mit<br />

entzerrten Fassadenfotos ausgestattet. (Quelle; Universität Heidelberg, Nicolai Freiwald, www.heidelberg3d.de)<br />

Die Basisdaten werden für den angesprochenen<br />

Zweck von einem GIS bereit gestellt. Während manche<br />

GIS heute schon rudimentäre Animationsmöglichkeiten<br />

bieten, werden für die Erzeugung einer grafisch<br />

professionellen Präsentation in Form einer Animation,<br />

die das Stadtmodell dreidimensional zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten zeigt, die benötigten Geodäten<br />

aus dem GIS in die CAD- beziehungsweise 3D-<br />

Software exportiert <strong>und</strong> dort entsprechend weiterverarbeitet.<br />

Die Abbildung Al. 14 zeigt einen Ausschnitt<br />

eines 3D-Stadtmodells zu verschiedenen Zeitpunkten.<br />

Einen Schritt weiter als solche dreidimensionalen<br />

Darstellungen gehen interaktive Online-Informationssysteme,<br />

die dem Nutzer die Möglichkeit bieten,<br />

sich frei in dem virtuellen 3D-Stadtmodell zu bewegen.<br />

Solche Systeme können Werkzeuge bereitstellen,<br />

mit denen der Nutzer Informationen zu einzelnen<br />

Gebäuden abfragen kann oder mit deren Hilfe zukünftige<br />

oder historische Stadtbestandteile ein- <strong>und</strong><br />

ausgeblendet werden können.<br />

Um unterschiedliche geographische Informationsdienste<br />

über das Internet miteinander zu verknüpfen<br />

<strong>und</strong> daraus neue webbasierte Anwendungen erstellen<br />

zu können, ist die Standardisierung der technischen<br />

Programmierschnittstellen <strong>und</strong> Datenformate sinnvoll.<br />

Dieser Aufgabe widmet sich das Open Geospatial<br />

Consortium (OGC), ein Zusammenschluss von GIS-<br />

Herstellern, Forschungsinstitutionen <strong>und</strong> Anwendern.<br />

Mittlerweile wurden auf diese Weise viele relevante<br />

Geoinformationsdienste als Web-Services spezifiziert,<br />

die es ermöglichen, viele Funktionen eines<br />

GIS auch über das Internet zu nutzen. Dies reicht<br />

von Kartendiensten (Web Map Service) über Dienste<br />

zum Austausch von Geodäten (Web Feature Service<br />

für Vektordaten <strong>und</strong> Web Coverage Service für Rasterdaten),<br />

der Suche in Metadaten (Web Catalog<br />

Service) bis hin zu Diensten für das Verarbeiten<br />

von Geodäten (Web Processing Service, Web Coordinate<br />

Transformation Service, OpenLS Route Service).<br />

Auch Dienste, die über das Internet 3D-Ansichten<br />

oder Szenen liefern, sind in Vorbereitung (Web<br />

Terrain Service/Web 3D Service). Besondere Erwähnung<br />

verdient dabei die Geographie Markup Language<br />

(GML) als gemeinsames Datenformat - vielleicht<br />

die zukünftige lingua franca für Geodäten.<br />

Im Bereich der schon erwähnten ortsbezogenen<br />

Dienste (LBS) auf mobilen Geräten ist vor allem<br />

die Open Location Services Initiative (OpenLS) des<br />

OGC zu erwähnen. Diese hat ebenfalls eine Reihe<br />

von Diensten spezifiziert, die für die Entwicklung<br />

derartiger mobiler Geo-Anwendungen, welche die<br />

aktuelle Position des Geräts ausnutzen, relevant<br />

sind. Zu erwähnen sind insbesondere der für Tourenplanung<br />

<strong>und</strong> Navigationsanwendungen notwendige<br />

Route Service, der auf einem Straßennetz die schnellste<br />

oder kürzeste Route bestimmen kann. Die Palette<br />

möglicher ortsbezogener Anwendungen reicht dabei<br />

von mobilen Stadtplänen, Navigationsunterstützung,<br />

Gelbe-Seiten-Funktionen (Suche nach dem nächstgelegenen<br />

Geschäft eines bestimmten Typs), über


Friends Finder <strong>und</strong> ortsbezogene Spiele bis hin zum<br />

ortsbezogenem Marketing. Neben diesen Anwendungen<br />

für den breiten Massen markt werden durch die<br />

Leistungssteigerungen der mobilen Geräte auch professionellere<br />

Anwendungen für Spezialisten immer<br />

besser möglich. Dies betrifft insbesondere die Unterstützung<br />

bei der Kartierung <strong>und</strong> digitalen Aufnahme<br />

von Geoobjekten im Feld mit Unterstützung von GPS<br />

<strong>und</strong> weiteren Sensoren, aber selbst 3D-Anwendungen<br />

kommen in greifbare Nähe. Überhaupt ist die zunehmend<br />

automatisierte Integration von Messdaten von<br />

(mobilen) Sensoren unterschiedlichster Art (Pegelstände,<br />

Schadstoffe in Luft, Boden <strong>und</strong> Wasser, Wetterdaten,<br />

Verkehrsinformationen oder Videobilder)<br />

ein aktueller Trend der Geoinformatik. Dies wird<br />

durch die weitergehende Miniaturisierung der Sensoren<br />

unterstützt, die es ermöglicht, diese in kleine mobile<br />

Geräte einzubauen oder sie mit diesen zu koppeln.<br />

Hieraus ergeben sich zahlreiche neue Anwendungsfelder<br />

in Bereichen wie Umweltmonitoring,<br />

Katastrophenmanagement oder Telematik. Ein Beispiel<br />

stellt die verstärkte Nutzung von RFID (Radio<br />

Frequency Identifier) dar. Diese zunehmende Konvergenz<br />

der internetbasierten Geodienste mit mobilen<br />

Geoanwendungen, vernetzten Sensoren <strong>und</strong> Positionierungssystemen<br />

führt dazu, dass bald auf unterschiedlichsten<br />

Geräten eine wachsende Bandbreite<br />

von Geoinformationsdiensten quasi ubiquitär genutzt<br />

werden kann <strong>und</strong> diese damit verstärkt in<br />

den Alltag sowohl von Privatpersonen als auch von<br />

beruflichen Nutzern einziehen. Durch die kleinen<br />

Displaygrößen der mobilen Geräte entstehen dabei<br />

neue Herausforderungen für die Kartographie <strong>und</strong><br />

die Gestaltung der Interaktionsmöglichkeiten (Fehlen<br />

von Maus <strong>und</strong> Tastatur), aber auch Chancen durch<br />

die mögliche Verwertung von Sensordaten.<br />

A. Zipf, P. Meusburger <strong>und</strong> N. Freiwald<br />

Google Earth<br />

Seit 2005 ist Google als Anbieter von digitalen Karten<br />

im Internet vertreten, im Frühjahr 2005 trat „Google<br />

Maps“ seinen Dienst als browserbasierter Kartendienst<br />

an <strong>und</strong> im Sommer 2005 erschien die browserunabhängige<br />

Anwendung „Google Earth“, die bis<br />

Jahresanfang 2007 mehr als 100 000 000-mal heruntergeladen<br />

wurde. Die von Google Earth verwendeten<br />

Bilder stammen aus verschiedenen Quellen, daher<br />

sind auch verschiedene Qualitäten <strong>und</strong> Aktualitäten<br />

der Fotos festzustellen. Als Quellen der Aufnahmen<br />

kommen sowohl Satelliten als auch Flugzeuge zum<br />

Einsatz. In der Regel haben die Bilder ein Alter<br />

von zwei bis drei Jahren <strong>und</strong> eine Auflösung zwischen<br />

15 Metern <strong>und</strong> 70 Zentimetern. Zu Jahresbeginn<br />

2007 waren bereits 20 Prozent der Landmasse (auf<br />

dieser Fläche leben etwa ein Drittel der Weltbevölkerung)<br />

hochauflösend erfasst; das heißt diese Bereiche<br />

können bis auf etwa 300 Meter (Sicht-)Höhe ohne<br />

Schärfeverlust herangezoomt werden (Abbildung<br />

A l.15).<br />

Das Programm Google Earth ist intuitiv zu bedienen.<br />

Über den in der rechten Ecke integrierten Kompass<br />

lassen sich Ansichtshöhe, Blickwinkel <strong>und</strong> -richtung<br />

einstellen. Das Suchfeld in der linken Seitenleiste<br />

A 1.15 Eine Google-Earth Aufnahme des<br />

Rheintals bei Liechtenstein Dies ist ein<br />

Beispiel einer hochauflösenden Google-<br />

Earth-Aufnahme, die für zahlreiche Zwecke<br />

verwendet werden kann. Links im Bild die<br />

Gemeinden Triesen <strong>und</strong> Triesenberg, im<br />

Hintergr<strong>und</strong> Balzers. Auf der Schweizer Seite<br />

(rechts des Rheins) liegt die Gemeinde<br />

Trübbach. Mit diesen Google Daten wäre es<br />

möglich, Distanz- <strong>und</strong> Flächenberechnungen<br />

durchzuführen, Hangneigungen zu messen,<br />

zukünftige Planungen zu visualisieren oder<br />

den Katastrophenschutz zu organisieren.<br />

(Quelle: Google)


778 Anhang<br />

dient der konkreten Suche nach Orten, sowohl in<br />

Form von Text als auch in Koordinaten. Zusätzlich<br />

sind auch eine Branchensuche <strong>und</strong> ein Routenplaner<br />

integriert. Besonders hilfreich ist die Möglichkeit,<br />

einmal besuchte Orte lokal zu speichern ohne dass<br />

die Informationen erneut aus dem Internet geladen<br />

werden müssen. Zudem besteht die Möglichkeit,<br />

weitere Informationsebenen darzustellen. Auch die<br />

Erstellung eigener Punkt- oder Polygonmarkierungen<br />

mit eigenen Inhalten ist bereits fester Bestandteil von<br />

Google Earth. Aber nicht nur die zur Verfügung<br />

gestellten Eunktionen machen Google Earth so interessant,<br />

sondern vor allem die Anpassungsfähigkeit<br />

spielt eine tragende Rolle. Mithilfe der Keyhole<br />

Markup Language, einer Auszeichnungssprache, die<br />

auf der eXtensible Markup Language XML basiert,<br />

können geographische Objekte modelliert <strong>und</strong> gespeichert<br />

werden. Diese Kartengr<strong>und</strong>lage kann mit<br />

weiteren Daten angereichert werden, zum Beispiel<br />

mit Video-, Audio- oder Textdateien. Mithilfe von<br />

Zusatzprogrammen lassen sich sogar texturierte, das<br />

heißt mit Bildern versehene 3D-Objekte in Google<br />

Earth platzieren. Da diese Datenanreicherung zudem<br />

für jedermann über die sogenannten „Communities“<br />

zur Verfügung steht, spricht man hierbei von „Collaborative<br />

Mapping“.<br />

Die Visualisierung von Geodäten in Google Earth<br />

basiert auf der Idee, dass Google Earth einen sogenannten<br />

Application Service Provider (ASP) darstellt,<br />

das heißt einen Dienst, der Satellitenbilder, Luftbildaufnahmen<br />

aber auch sonstige Geodäten herunterlädt<br />

<strong>und</strong> visualisiert. Als Backend dient eine Geodatenbank<br />

mit einer Größe von etwa 12 Terabyte. Die Anwendung<br />

an sich ist eine browserunabhängige Software,<br />

die mittlerweile auf allen gängigen Betriebssystemen<br />

(Windows, MacOS X, Linux) lauffähig ist.<br />

Auch im Zeitalter von Plâtrâtes <strong>und</strong> DSL würde<br />

der Geodatentransport allerdings zu viel Zeit in Anspruch<br />

nehmen. Daher nutzt Google Earth eine spezielle<br />

Earth-View-Streaming-Technologie. Das Prinzip<br />

ist folgendes: Die Erdkugel wird als Polygon<br />

mit Dreiecksmaschen dargestellt, je weiter sich der<br />

Betrachter von der Oberfläche entfernt, desto weniger<br />

Maschen sind nötig, um die Illusion einer r<strong>und</strong>en Kugel<br />

aufrechtzuerhalten. Zudem findet eine temporäre<br />

Auslagerung auf der lokalen Festplatte statt, sodass<br />

bereits „besuchte“ Orte aus dem lokalen Speicher geladen<br />

werden <strong>und</strong> kein erneuter Download durchgeführt<br />

werden muss.<br />

Die Einsatzmöglichkeiten von Google Earth sind<br />

vielfältig, sei es in der Lehre in form einer Vor<strong>und</strong>/oder<br />

Nachbereitung einer Exkursion, in der Privatwirtschaft<br />

in Form eines Ferienhausangebots, in<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung oder als Hilfsmittel<br />

für den Katastrophenschutz.<br />

Wenn man sich die gängigen Definitionen eines<br />

GIS vor Augen führt, so lässt sich Google Earth zweifelsohne<br />

als solches bezeichnen. Denn trotz des<br />

Schwerpunkts auf anschauliche Präsentation sind<br />

auch die Komponenten der Dateneingabe, Datenverwaltung<br />

<strong>und</strong> Datenanalyse - Letztere allerdings sehr<br />

rudimentär - vorhanden. Zudem ist Google Earth<br />

dynamisch, da die Daten auch vom Nutzer manipuliert<br />

werden können, indem zum Beispiel eine Marke<br />

gesetzt <strong>und</strong> gestaltet wird oder man eigene Google-<br />

Earth-Dateien generiert. Durch die Einbindung von<br />

Text, Audio, Bildern <strong>und</strong> Videos vollzieht Google<br />

Earth auch die Entwicklung hin zu einem ausgesprochen<br />

multimedial-konzipierten Geographischen Informationssystem.<br />

Die Stärken liegen deutlich in<br />

der Eigenschaft, Geodäten anschaulich zu präsentieren.<br />

Zudem besticht Google Earth durch seine einfache<br />

Handhabung - downloaden, installieren <strong>und</strong> per<br />

point-and-click auf die einzelnen Funktionen zugreifen<br />

- intuitive Bedienung, relativ hohes Auflösungsvermögen<br />

<strong>und</strong> unüberschaubar viele, durch<br />

die Benutzergemeinde bereitgestellte Google-Earth-<br />

Dateien.


Kapitel 1<br />

Kapiteleröffnungsbild: “India Orientalis” Gerhard Mercator,<br />

Atlas, Ausgabe 1606; 1.1 Paul L <strong>Knox</strong>; 1.4 Hans<br />

Gebhardt; 1.5 Hans Gebhardt; S. 17 Hans Gebhardt; 1.9<br />

Christoph J. Morris/Corbis/Bettmann; 1.10 dpa, 1.11<br />

oben: GeoEye Inc., Mitte: Hans Gebhardt, unten:<br />

NASA Goddard Space Flight Center; 1.19 Globus;<br />

1.20 Hans Gebhardt; 1.21 Hans Gebhardt; 1.22 Hans<br />

Gebhardt; 1.23 Hans Gebhardt; 1.24 oben: Rothenburg<br />

Tourismus Service, unten: Hans Gebhardt.<br />

, Kapitel 2<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt, 2.3 links: Swanstock,<br />

Inc.; 2.4 DRK; S. 58 unten links: Hans Gebhardt,<br />

unten rechts: Larry Mulvehill/Photo Researchers, Inc.;<br />

S. 59 links oben: Mcduff Everton/Swanstock, Inc., links<br />

Mitte <strong>und</strong> unten: Paul L. <strong>Knox</strong>, rechts oben: Hans Gebhardt,<br />

rechts unten: Peter Meusburger; 2.6 Hans Gebhardt;<br />

2.3.1 Corbis/Bettermann; 2.3.3 The Granger Collection;<br />

2.3.4 Blatt 27, Chartres (David Rumsey Historical<br />

Map Collection, online in the Luna Insight Digital<br />

Image Database); 2.9 Philip de Bay/Corbis/Historical<br />

Picture Archive; 2.4.1 Library of Congress, 2.4.2 Lexikon<br />

der Naturwissenschaftler. Heidelberg (Spektrum Akademischer<br />

Verlag); 2.4.3 Corbis; 2.16 oben rechts: Library<br />

of Congress, unten links: Corbis; 2.17 links: Paul L.<br />

<strong>Knox</strong>; 2.18 Corbis/Bettmann; S. 88 unten: Library of<br />

Congress; S. 89 links oben <strong>und</strong> unten sowie rechts<br />

oben: Library of Congress, rechts unten: Corbis/Bettmann;<br />

2.25 Andreas Meier/Corbis/Bettmann; 2.27 Richard<br />

Hamilton Smith/ Corbis/Bettmann; 2.31 Jim<br />

Hollander/Corbis/Reuters America LLC; 2.32 oben:<br />

Antoine Serra/In Visu/Corbis/Bettmann, unten: Getty<br />

Images, Inc. - Agence France Presse; 2.33 AP Wide<br />

World Photos; 2.24 Bazuki Muhammad/Corbis/Reuters<br />

America LLC.<br />

, Kapitel 3<br />

Kapiteleröffhungsbild: Paul Gans; 3.5 Peter Meusburger;<br />

3.11 Paolo Koch/Photo Researchers, Inc.; 3.23 Peter<br />

Meusburger; 3.28 rechts: Hans Gebhardt.<br />

Kapitel 4<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 4.1 NASA; 4.2<br />

National Geographie Society; 4.5 Martin Rowe, Lantern<br />

Books; 4.6 Werner Schuering; 4.7 Hans Gebhardt; 4.1.1<br />

Diego Lezama Orezzoli/Corbis/Bettmann; S. 197 Hans<br />

Gebhardt; 4.8 AP Wide World Photos; 4.9 Erich Hartmann/Magnum<br />

Photos, Inc.; 4.10 Georgius Agricola,<br />

De Re Metallica/Dover Publications, Inc.; 4.12 Reuters/<br />

Corbis/Bettmann; 4.13 Alex Maclean/Landslides Aerial<br />

Photography; 4.16 Serge Dedina; 4.2.1 James Davis/<br />

Eye Ubiquilüus/Corbis/Bettmann; 4.18 China Photo/<br />

Reuters/Corbis/Bettmann; 4.19 Christiane Martin; 4.20<br />

Najlah Feanny/CORBIS SABA Press Photo, Inc.; 4.21<br />

Greg Gibson/AP Wide World Photos; 4.26 Hans Gebhardt;<br />

4.29 Hans Gebhardt; S. 235 Keystone.<br />

I Kapitel 5<br />

Kapiteleröffhungsbild: Nasir Khan/MorqueFile; 5.2 Peter<br />

Meusburger; 5.4 oben rechts <strong>und</strong> unten: BASF; 5.6<br />

picture-alliance, M. Cavanaugh <strong>und</strong> P. Delouche; S. 8<br />

Charles Booth Online Archiv; 5.9 London School of<br />

Economics and Political Science; 5.15 links: Bibliothèque<br />

municipale de Dijon, rechts: Peter Meusburger; S. 281<br />

www.historyonthenet.com; 5.16 King 1997; 5.17 Peter<br />

Meusburger; 5.18 Peter Meusburger; 5.19 picture-alliance/akg-image;<br />

5.22 Peter Meusburger.<br />

, Kapitel 6<br />

Kapiteleröffhungsbild: Stefan Bolliger; 6.1 Yellow Dog<br />

Prods/The Image Bank; 6.2 University of California Berkeley;<br />

6.3 Gavriel Jecan/Corbis/Bettmann; 6.4 All Possible<br />

Worlds: A History of Geographical Ideas, 2nd Ed.,<br />

Preston E. James/Geoffrey W. James, p. 211; 6.5 Amet<br />

Jean Pierre/Corbis Sygma; 6.6 Payer, Wien; 6.8 Doris<br />

Wastl-Walter; 6.13 Barry Jarvinen/AP Wide World<br />

Photos; 6.14 AP Wide World Photos; 6.17 Laurie Platt<br />

Winfrey, Inc.; 6.4.1 Daniel Laine/Corbis/Bettmann;<br />

6.26 Michael Bonine; 6.27 AP Wide World Photos;<br />

6.29 AP Wide World Photos; 6.30 Bob Krist/Corbis/<br />

Bettmann; 6.32 rechts: Andrew Hollbrooke/The Stock<br />

Market; 6.33 Peter Meusburger; 6.34 Hans Gebhardt;<br />

6.35 AP Wide World Photos.<br />

Kapitel 7<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 7.1 Mike Greenair/The<br />

Image Works; 7.3 oben: Joseph Sohm/CÜR-<br />

BIS-NY, unten: Hans Gebhardt; 7.4 Paul L. <strong>Knox</strong>; 7.5<br />

Patrick Doherty/The Image Bank; 7.6 oben: Peter Meusburger,<br />

unten: Stefan Bolliger; 7.10 Gail Mooney/COR-


780 Bildnachweise<br />

BIS-NY, S. 394 Mitte links: Pepys Library, Magdalene<br />

College Cambridge, Mitte rechts: Paul L. <strong>Knox</strong>, unten:<br />

Paul L. <strong>Knox</strong>; S. 395 oben: National Maritime Museum,<br />

Mitte links: National Archives at College Park, Mitte<br />

rechts <strong>und</strong> unten: Paul L. <strong>Knox</strong>; 7.11 London Aerial Photo<br />

Library/Corbis; 7.12 Old Tucson Studios; 7.13 Hans<br />

Gebhardt; 7.14 Hans Gebhardt; 7.17 Cristiano Mascaro/<br />

Getty Images, Inc.; 7.18 Hans Gebhardt; 7.19 M. P. L.<br />

Fogden/Bruce Coleman Inc.; 7.23 links: Hans Gebhardt,<br />

rechts: Bianca Alton; 7.24 Mike Yamashita/Corbis; 7.25<br />

Alex S. MacLean/Landslides Aerial Photography; 7.2.2<br />

Dave Batruff/Corbis/Bettmann; 7.27 AP Wide World<br />

Photos.<br />

Kapitel 8<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 8.5 Lineair/Peter<br />

Arnold, Inc.; 8.6 Jeremy Horner/Corbis/Bettmann; 8.19<br />

Piel Patrick/Liaison Agency, Inc.; 8.20 James Sugar/Corbis/Bettmann;<br />

8.22 Yann Arthurs-Bertrand/Corbis/Bettmann;<br />

8.4.1 John Van Hasselt/Corbis/Sygma; 8.30 Luc<br />

Gnago/Corbis/Reuters America LLC; 8.5.1 AP Wide<br />

World Photos; 8.32 Peter Turnley/Corbis/Bettmann;<br />

8.38 Hans Gebhardt; 8.42 Benetton USA, Corp.; 8.44<br />

Steve Starr/Corbis/Bettmann; 8.46 Jaadeesh/Corbis/Reuters<br />

America LLC; 8.7.1 Peter Meusburger; 8.50 oben<br />

links: Theo Allofs/Getty Images, Inc. - Stone Allstock,<br />

rechts: Paul Nicklen/Getty Images, unten: Tom Cockrem/Getty<br />

Images, Inc. - Loneley Planet Images;<br />

8.8.2 Jörns.<br />

Kapitel 9<br />

Kapiteleröffnungsbild: Peter Meusburger; 9.1 Alain Le<br />

Garsmeur/CORBIS-NY; 9.4 Curt CarnemarkAVorld<br />

Bank Photo Library; 9.5 James P. Blair/National Georgraphic<br />

Society; 9.7 Michael S. Yamashita/CORBIS-<br />

NY; 9.8 links: Bernard Pierre Wolfe/Photo Researchers,<br />

Inc., rechts: Peter Meusburger; 9.9 Matthieu Paley/COR-<br />

BIS-NY ; 9.15 U. S. Department of Agriculture, 9.16 Larry<br />

Lefever/Grant Heilman Photography, Inc.; 9.18 Wenfy<br />

Stone/CORBIS-NY; 9.19 Anneliese Schuller; 9.20 Hans<br />

Gebhardt; 9.22 Liba Taylor/Corbis/Bettmann; 9.23<br />

Hans Gebhardt; 9.24 AP Wide Worlf Photos; 9.25<br />

EROS Data Center, U. S. Geological Surv'^ey; 9.26 Antoine<br />

Serra/Corbis/Sygma; 9.27 Catherine Karnow/Woodfm<br />

Camp & Associates; 9.2.2 Kevin Fleming/Corbis/Bettmann.<br />

Wastl; 10.4 oben: Hans Gebhardt, unten: Landesbildstelle<br />

Berlin; 10.10 P. Le Segretain/Corbis/Sygma;<br />

10.14 Hulton Deutsch Collection/Corbis; 10.2.2 Corbis/Bettmann;<br />

10.3.2 Eddy Van Wessel/Gamma Press<br />

USA, Inc.; 10.21 AP Wide World Photos; 10.26 Sallie<br />

A. <strong>Marston</strong>; 10.29 Boston Gazette, 26 March 1812.<br />

I Kapitel 11<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 11.2 Nik Wheeler/Corbis/Bettmann;<br />

11.3 Hans Gebhardt; 11.5 Michael<br />

Wohlgemuth/Corbis/Bettmann; 11.6 Hans Gebhardt;<br />

11.7 Hans Gebhardt; 11.17 Paul L. <strong>Knox</strong>; 11.2.2 Hans<br />

Gebhardt; 11.2.3 Hans Gebhardt; 11.18 Hans Gebhardt;<br />

11.19 Hans Gebhardt; 11.20 Hans Gebhardt; 11.21 Polos:<br />

courtesy of John O. Browder.<br />

I Kapitel 12<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 12.3 Hans Gebhardt;<br />

12.4 Hans Gebhardt; 12.6 Hans Gebhardt; 12.7<br />

Hans Gebhardt; 12.8 Dennis Brack/Stockphoto.com/<br />

Black Star; 12.9 Peter DaSilva/Corbis/Bettmann; 12.11<br />

Hans Gebhardt; 12.13 Jonathan Blair/Corbis/Bettmann;<br />

12.14 Bettmann/Corbis/Bettmann; 12.15 (S. 696) oben<br />

links <strong>und</strong> rechts: Hans Gebhardt, unten H. Heineberg,<br />

(S. 697) oben <strong>und</strong> Mitte: Hans Gebhardt, unten: Paul<br />

L. <strong>Knox</strong>; 12.16 Hans Gebhardt; 12.17 Alexander Burkatowski/Corbis/Bettmann;<br />

12.18 Hans Gebhardt; 12.19<br />

Hans Gebhardt; 12.20 Hans Gebhardt; 12.21 Hans Gebhardt;<br />

12.22 Wolfgang Kaehler/Corbis/Bettmann; 12.23<br />

Yann Arthus-Bertrand/Corbis/Bettmann; 12.25 Hans<br />

Gebhardt; 12.26 John Maier, Jr./The Image Works;<br />

12.27 Lynsey Addario/CORBIS-NY; 12.28 Janet Jaman/CORBIS-NY;<br />

12.29 World Bank Photo Library;<br />

12.30 Ed Huffman/World Bank Photo; 12.31 Yann Arthus-Bertrand/Corbis/Bettmann;<br />

12.32 Martin Lay;<br />

12.33 oben: SONY/O. Reuter, unten: Hans Gebhardt;<br />

12.34 Hans Gebhardt; 12.2.1 Hans Gebhardt.<br />

I Kapitel 13<br />

Kapiteleröffnungsbild: Hans Gebhardt; 13.4 Hans Gebhardt;<br />

13.6 Hans Gebhardt; 13.7 AP Wide World Photos;<br />

13.8 unten links: Kevin Carter/Corbis/Sygma, unten<br />

rechts: Jehad Nga/Corbis/Bettmann; 13.9 links: Paul L.<br />

<strong>Knox</strong>, rechts: James Patelli; 13.3.1 SeaWiPS/NASA<br />

Headquaters.<br />

, Kapitel 10<br />

Kapiteleröffnungsbild: Doris Wastl-Walter; S. 580 Corbis;<br />

10.1 Sarah Leen/Matrix International, Inc.; 10.2 Raymond<br />

Gehman/Corbis/Bettmann; 10.3 oben: Ahn<br />

Young-joon/AP Wide World Photos, unten: Rudolf<br />

Anhang<br />

Kapiteleröffnungsbild: Alexander Zipf, Universität Bonn;<br />

A l.10 EML, Alexander Zipf; A l.13 EML, Alexander<br />

Zipf; Al. 14 Nicolai Freiwald, Universität Heidelberg;<br />

A 1.15 Google.


Index<br />

Aborigines 215<br />

Absatzmärkte 109<br />

Absolutismus 65<br />

Ackerbau <strong>und</strong> Viehzucht 53, 55,<br />

205f, 532<br />

Ackerbaukultur 53-56, 521<br />

action setting 258f<br />

Afghanistan 612-614<br />

Afrika 742<br />

-A ID S 147f<br />

- Bevölkerungspolitik 176-179<br />

- Binnenwanderung 171<br />

- Dekolonisation 599f<br />

- Desertifikation 230<br />

- Kolonialismus 93<br />

- Kolonisation 596<br />

- soziale Strukturen 176-179<br />

- Sprachen 336f, 340<br />

- Zukunftspotenziale 746-748<br />

Afroamerikaner 291<br />

Agglomerationseffekt 477<br />

Agglomerationsnachteil 482,<br />

665<br />

Agrardichte 131<br />

Agrargeographie 519-570<br />

- traditionelle 519-531<br />

Agrargeschichte 530-535<br />

Agrarkapitalismus 74<br />

Agrarrevolution 53 If<br />

- dritte 531, 533-535<br />

- erste 53f, 56, 205, 526<br />

- siehe auch neolithische<br />

- neolithische 53f, 530-532<br />

- vierte 531<br />

-zw eite 531-533<br />

Agrarsystem 532<br />

- Umstrukturierung 539-552<br />

Agrobusiness 546-548<br />

Ägypten 56, 585, 645<br />

- Bevölkerung 130<br />

AIDS 358, 747f<br />

-Ausbreitung 17-19, 147f<br />

Aktiengesellschaft 80<br />

Aktionsraum 304<br />

Algerien, französischer<br />

Kolonialismus 597f<br />

Alltagskultur 109<br />

Almwirtschaft 528f<br />

Alphabetisierung 267,276-278<br />

Al-Qaida 614, 752<br />

Alte Welt 63, 66, 209<br />

- kolonialer Handel 211<br />

Alterspyramide 132-138<br />

- Entwicklungsländer 133<br />

Altersstrukturindizes 138<br />

altindustrialisierte Regionen<br />

480f<br />

Altsteinzeit 53, 203<br />

Amerika, Sklaverei 159, 162<br />

Amerikanisierung 114, 366f<br />

Amish 263f<br />

Amtssprache 340f<br />

Analphabetenquote 278<br />

Analphabetismus 267 - 269<br />

- geographischer 3, 43<br />

Animismus 196, 200<br />

Anomietheorie 299<br />

Antarktis 604, 606<br />

Antike 530<br />

Apartheid 602-604<br />

Aralsee 17<br />

Arbeitsbevölkerung 124<br />

Arbeitslosigkeit 432-441, 708<br />

Arbeitsmarktanalyse 44, 433<br />

Arbeitsmigration 155f<br />

Arbeitsstättenzählung 124<br />

Arbeitsteilung {division of<br />

labour) 52, 206, 263f, 275<br />

- horizontale 52<br />

-internationale 91-93,101,<br />

459, 486<br />

- räumliche 51<br />

- regionale 451-456<br />

- vertikale 51 f<br />

Armut 267, 269f, 289 - 297, 709<br />

Armutsgrenze 269<br />

Asien 742<br />

- Dekolonisation 601<br />

- Umweltzerstörung 756<br />

- Verstädterung 652<br />

- wirtschaftliche Entwicklung<br />

453f, 457<br />

Atomwaffen 214f<br />

Ausbildungsniveau 286f<br />

Auslandsinvestitionen 485f<br />

Auslandsverschuldung 459-463<br />

Außenhandel 458f, 486<br />

Australien 214f, 230<br />

Auswanderung 155<br />

Azteken 210, 213<br />

B<br />

Babyboom 133-136<br />

— Generation 132, 136<br />

back office 500f<br />

Bacon, F. 202<br />

Baikalsee 15f<br />

Bangkok 660,673,711<br />

Bangladesch 561, 597<br />

Barber, B. R. 74<br />

baskische Unabhängigkeitsbestrebung<br />

625<br />

Bauhaus 699<br />

Baumwolle 211<br />

Bekleidungsindustrie 496-498<br />

beschleunigte Welt U lf, 366f,<br />

384<br />

Besichtigungstourismus 396f<br />

Besiedlung der Erde 204<br />

Bevölkerung<br />

- Entwicklungsländer 132<br />

- Industrieländer 132<br />

- Verdoppelungszeit 143<br />

Bevölkerungsabnahme 123,<br />

137f<br />

- natürliche 145<br />

Bevölkerungsbewegungen<br />

151-171<br />

Bevölkerungsdichte 129-132,<br />

525<br />

- rohe 131<br />

Bevölkerungsdynamik 138-151<br />

Bevölkerungsentwicklung 144,<br />

174<br />

Bevölkerungsgeographie<br />

123-182<br />

-M ethoden 124-129<br />

H<br />

Bevölkerungskollaps 210<br />

Bevölkerungsmaximum 172<br />

Bevölkerungsoptimum 172


782 Index<br />

!'<br />

. I<br />

Bevölkerungspolitik 171-182<br />

- Definition 173<br />

- nachhaltige Entwicklung 181f<br />

Bevölkerungsprogramme 173-<br />

181<br />

Bevölkerungsverteilung 129-138<br />

Bevölkerungswachstum 123,<br />

171, 173, 203, 206, 649f, 669<br />

- natürliches 145<br />

Bewässerung 206, 213, 223, 448<br />

BID (Business Improvement<br />

Districts) 688<br />

Bildung 268f, 286-289, 689<br />

- geographische 43f<br />

Bildungsverhalten 287 - 289<br />

Binnenhandel 458<br />

Binnenschifffahrt 85f<br />

Binnenwanderung 152<br />

- erzwungene 170f<br />

- freiwillige 162-170<br />

Biodiversität 234<br />

Biorevolution 554-556<br />

Biosphäre 201<br />

Biotechnologie 536, 548,<br />

554-556, 734f<br />

Bioterrorismus 615<br />

Blache, P. V. de la 320f<br />

Bobek, H. 272-274, 321f<br />

Bodenbewertung 273, 560<br />

Bodenerosion 193, 204, 557f<br />

Bodennutzung 273<br />

Bodenschätzung, siehe<br />

Bodenbewertung<br />

Bodenversalzung 207, 213<br />

Bodenzahl 560<br />

Booth, C. 269<br />

Bosch, C. 533, 535<br />

Boston 684<br />

brain drain 154<br />

Brände 204f<br />

Brandenburger Tor 584<br />

Brandrodung 53, 203f, 213, 523<br />

Brasilia 400-402<br />

Brasilien 400-402<br />

- Verschuldung 460<br />

- Verstädterung 674f<br />

Braunkohle-Tagebau 218, 446<br />

Brennholznutzung 222, 448<br />

Brennstoffzellen 226<br />

Briefkastenfirmen 504f<br />

Britisches Empire 94, 394<br />

Bruttoinlandsprodukt 295,422,<br />

425, 463<br />

Bruttosozialprodukt 422-426,<br />

451<br />

Buddhismus 331-334<br />

Bush, G. W. 232<br />

Callcenter 501<br />

Carson, R. L. 199f<br />

cash crop 375f<br />

- siehe auch Marktfrucht<br />

Cassini, C. F. 68<br />

Castro, F. 608<br />

Cayman Islands 503, 506<br />

CBD (Central Business District)<br />

684f<br />

Chicago 650<br />

Chicagoer Schule 269-271,<br />

297, 304<br />

China 333<br />

- Auswanderung 158f<br />

- Bevölkerungspolitik 180f<br />

- Dynastien 57<br />

- Städtewachstum 670f<br />

- Umweltverschmutzung 217<br />

- Weltreich 62-64<br />

- Wirtschaft 421<br />

- wirtschaftliche Entwicklung<br />

745<br />

- Wirtschaftswandel 454f<br />

- Zukunftspotenziale 742-746<br />

Chinatown 364f, 686<br />

Chorologie 60<br />

Choroplethenkarte 764<br />

Christaller, W. 654f<br />

Christentum 202, 332, 347,<br />

410f<br />

Christopher Street Day 356<br />

Citta-Slow-Bewegung 308, 412<br />

Colbertismus, siehe<br />

Merkantilismus<br />

computervermittelte<br />

Kommunikation (CMC) 317f<br />

continuous partial attention<br />

(CPA) 317f<br />

Cook, I. 67<br />

core-domain-sphere-ModeW 35<br />

Costa Rica 504<br />

Costa, L. 400f<br />

cost-henefit-ModeWe 156<br />

Counterurbanisierung 665f<br />

Critical Geopolitics 580<br />

cultural studies 323f<br />

Cyberspace 409, 414-416<br />

D<br />

Dalai Lama 333f<br />

Dampfmaschine 73, 79<br />

Dampfschifffahrt 85, 87, 92<br />

Darwin, C. 577<br />

Datenanalyse 23<br />

D-Day 395<br />

DDR<br />

- Energieversorgung 221<br />

- Flucht 165<br />

debt-for-nature swap 558f<br />

Deep Ecology 201<br />

Deindustrialisierung 480, 482 —<br />

484, 665<br />

de jure-Territonum 8, 585<br />

Dekolonisation 599-604<br />

demographische Daten 134<br />

demographische Indikatoren<br />

175<br />

demographischer Übergang<br />

148-151<br />

- Phasen 153<br />

Demokratie 631<br />

Denkmäler 283<br />

Dependenztheorie 467<br />

Deportierte 164<br />

Depression 79<br />

Desertifikation 229f, 558f<br />

- Definition 229<br />

Desurbanisierung 681<br />

Deutschland<br />

- Arbeitslosigkeit 434-439<br />

- Armut 295f, 430<br />

- Bevölkerungsentwicklung<br />

139-141<br />

- Bevölkerungsverteilung 169<br />

- Binnenwasserstraßen 86<br />

- Einkommensdifferenzierung<br />

430-432<br />

- Einzelhandel 474<br />

- Energiesituation 221<br />

- ländlicher Raum 565-568<br />

- Mobilität 306-309<br />

- Stadtgeographie 642-644<br />

- Stadtstruktur 693<br />

- Vertreibung 159, 162f<br />

- Wahlen 633<br />

- Wissenschaftleraustausch 98<br />

Dezentralisierung 500—502,665<br />

Dialekt 335<br />

Diaspora 330<br />

Dichte des Nahrungsangebotes<br />

131


Index 783<br />

Dienstleistungen 102, 469, 476,<br />

485, 478, 50If, 654f<br />

Dienstleistungssektor 455<br />

Dienstleistungsunternehmen 81<br />

Diffusion<br />

- expansive 33<br />

- hierarchische 33<br />

- räumliche 33f<br />

Distanz 27-30<br />

- kognitive 27<br />

Distanz-Abnahme-Funktion 27<br />

Domestikation 53f, 205f, 532<br />

Domino-Theorie 608f<br />

downtown 714<br />

Dritte Welt 13, 95, 422<br />

- Umweltprobleme 222<br />

Drogenhandel 302<br />

Dschihad 114<br />

Dubai 704<br />

Dust Bowl 558<br />

ecofarming 524<br />

edge city 714<br />

Einheitsstaat 591<br />

Einwohnerregister 126<br />

Einzelhandel 468, 474f<br />

Eisenbahn 79f, 85-90, 733<br />

Emerson, R. W. 198<br />

Emigration 152, 155, 162<br />

Emigrationsrate 154f<br />

Emissionshandel 232<br />

emotionale Ortsbezogenheit 37,<br />

40, 386-390<br />

Energiereserven 463<br />

Energieverbrauch 447, 730<br />

- Umweltprobleme 215-226<br />

-weltweiter 216<br />

Engels, F. 172<br />

Enklave 683<br />

Entankerung 329<br />

Entdeckungsreisen 66-68<br />

Entkolonialisierung 95<br />

Entwaldung 207f, 226-228<br />

- Definition 226<br />

Entwicklung<br />

- gesellschaftliche 56<br />

- wirtschaftliche 56<br />

Entwicklungshilfe 2, 46 If<br />

Entwicklungsländer 201, 217,<br />

225, 275, 422, 524, 640, 706<br />

- Analphabetisierung 277<br />

- Armut 294<br />

- Bevölkerung 174f, 181<br />

- Bildung 287<br />

Epidemie 147<br />

Erdgas 215, 217, 221, 224,<br />

447f, 463<br />

Erdöl 215, 217-221, 447f,<br />

463, 489, 730<br />

- Umweltverschmutzung<br />

218-220<br />

Erdwärme 226<br />

Ernährungsregime 549<br />

Ernährungssicherheit 561<br />

erneuerbare Energie 215, 217,<br />

223-226<br />

Erreichbarkeit 29f, 680-682<br />

Erste Welt 95, 422<br />

Ertrag, landwirtschaftlicher 57<br />

Ertragsmesszahl 560<br />

Erwerbstätigkeit 432-441<br />

Ethnie 364f<br />

ethnische Minderheiten,<br />

Bildung 290<br />

Ethnizität 336, 362-365<br />

Ethnozentrismus 73<br />

Europa 743<br />

- Alphabetisierung 275f<br />

- Bevölkerungsentwicklung<br />

149-152<br />

- Bevölkerungswachstum 208f<br />

- Binnenkolonisation 208<br />

- Entwicklungsgefälle 425f<br />

- Industrialisierung 82<br />

- Kolonialismus 594-599<br />

- Kolonisation 207-213<br />

- Städtebildung 647-649<br />

- Stadtentwicklung 667,<br />

691-700<br />

-Tourism us 509-511<br />

- Verkehrsnetz 732f<br />

- Wanderungsbilanz 160<br />

- Weltsystem 64, 69f<br />

- wirtschaftliche Entwicklung<br />

744<br />

- wirtschaftlicher Abschwung<br />

480<br />

europäische Stadt 691-700,<br />

703<br />

Europäische Union 619, 632,<br />

731<br />

- Zukunftspotenziale 74 If<br />

europäischer Wandel 589<br />

existenzieller Imperativ 384<br />

Exportbasis 664<br />

Exportzonen, freie 494f<br />

externe Arena 64<br />

Exurbanisierung 642<br />

/flce-fo-/ace-Kontakt 475<br />

Familienplanung 173, 175<br />

Feminismus 353 —355<br />

Feng-Shui 197<br />

Fernerk<strong>und</strong>ung 23<br />

Fertüität 143, 175f, 180<br />

- siehe auch Fruchtbarkeit<br />

Fcstungsstädte 647<br />

Feuchtgebiete 230<br />

Finanzwesen, internationales<br />

101-105<br />

fiskalische Probleme 687<br />

Flüchtlinge 155, 158, 164<br />

föderales System 590-592<br />

Ford, H. 91<br />

Forschungsreise 605<br />

fossile Brennstoffe 186, 193,<br />

215, 219<br />

Fragmentierung 75<br />

Frankreich<br />

- Indochinakonflikt 609<br />

- Sprachpolitik 339f<br />

Fruchtbarkeit 139, 143f, 178f<br />

Fruchtbarkeitsrate 140<br />

Fruchtwechselwirtschaft 521,<br />

525<br />

Fühlungsvorteil 475<br />

- branchenspezifischer 469<br />

F<strong>und</strong>amentalismus 286<br />

-christlicher 334,611-615<br />

- islamischer 351f, 611<br />

Gama, V. da 66<br />

Gambia 552f<br />

Gastarbeiter 155<br />

gated communities 720-722,<br />

753<br />

gateway city 649<br />

Gaza 167<br />

Geburtenkontrolle 136, 142,<br />

172-181<br />

Geburtenrate 138-144, 154<br />

- rohe 138<br />

Geld 55<br />

Gender 181, 359<br />

Gender Empowerment Index<br />

427


784 Index<br />

1<br />

i<br />

Gender-Geographie 353-355<br />

genetisch modifizierter<br />

Organismus (GMO) 562f<br />

Gentechnik 6, 562f, 734f<br />

Gentrification 666<br />

Gentrifizierung 686f<br />

geodemographische Analyse 132<br />

Geodeterminismus 188<br />

Geographie<br />

- Angewandte 43-45<br />

- Antike 60<br />

- Arbeitstechniken 23-42<br />

- Definition 4<br />

- der Sexualität 355-358<br />

- der Zukunft 725-756<br />

- des Verhaltens 380<br />

- Differenzierung 43-45<br />

-Gegenstände 1-46<br />

- marxistische 264<br />

- medizinische 44, 147<br />

- Methoden 23-42<br />

- Moderne 64-70, 72<br />

- physische 2l<br />

- regionale 22, 73<br />

-V orm oderne 61-64<br />

geographische Breite 24<br />

geographische Länge 25<br />

geographische Pfadabhängigkeit<br />

476<br />

geographische Vorstellung<br />

40-42<br />

Geomantie, siehe Geomantik<br />

Geomantik 197<br />

Geomarketing 775<br />

Geopolitik 577, 581, 587-618<br />

- Geschichte 578f<br />

Gerrymandering 634<br />

Gesellschaft, Definition 190<br />

Ges<strong>und</strong>heit 16f<br />

Ghetto 683, 689<br />

Gini-Koeffizient 295<br />

GIS (geographische<br />

Informationssysteme) 23,<br />

7 7 1 - 779<br />

- Anwendungen 26, 300, 537,<br />

7 7 2 - 777<br />

Glacken, C. 193<br />

Glasnost 592<br />

Gleichberechtigung der<br />

Geschlechter 180f, 427-429<br />

global change 230<br />

global city 105, 659-663<br />

global governance 621-624,751<br />

global office 495-503<br />

global village 51<br />

- siehe auch Globales Dorf<br />

globale Erwärmung 15, 231<br />

globale Fertigungsstraße<br />

487-495<br />

globale Zukunftsprognose 757f<br />

globaler Wandel 49-118<br />

Globales Dorf 50<br />

Globalisierung 11, 21, 49f, 52f,<br />

99-117, 201, 233f, 236, 253,<br />

341, 344, 375, 377, 392, 399f,<br />

62 If, 746<br />

- Definition 11<br />

- der Kultur 74f, 96, 325, 330,<br />

365, 368, 414, 416, 750-752<br />

- der Landwirtschaft 539-542,<br />

553f<br />

- der Politik 74<br />

- der Religion 334<br />

- der Wirtschaft 74, 428f, 485-<br />

513, 729f, 738<br />

- der Wissenschaft 96-98<br />

- in der Postmoderne 408-414<br />

-K ritik 76f, 114-117<br />

- Risiken 750-755<br />

- städtischer Räume 720-722<br />

-T heorie 74-77<br />

- <strong>und</strong> Verstädterung 666-675<br />

- Ursachen <strong>und</strong> Folgen<br />

101-109<br />

- Zentrum <strong>und</strong> Periphere<br />

109-112<br />

Globus 61<br />

Godwin, W. 172<br />

Goldenes Dreieck 82<br />

Golfkrieg 219<br />

Governance 751<br />

GPS (Global Positioning<br />

System) 25f, 537, 731, 775<br />

Graffitikunst 381<br />

Green-Belt-Bewegung 189<br />

Greenpeace 199, 214<br />

Grenzzone 582<br />

Griechenland<br />

- antikes 57, 60, 193<br />

- Kolonisation 646<br />

Großbritannien 85<br />

- Hegemonie 93f<br />

- Industrialisierung 79, 82<br />

Größenvorteile {economies of<br />

scale) 30<br />

Großunternehmen 80<br />

Großvieheinheit 530<br />

Grüne Revolution 538, 542-<br />

546, 555, 734<br />

GUS (Gemeinschaft unabhängiger<br />

Staaten) 587, 592<br />

H<br />

Haber, F. 533<br />

Hägerstrand, T. 304<br />

Handel<br />

- fairer 462-465<br />

- freier 457<br />

- internationaler 457-464<br />

Handelsblöcke 457<br />

Handelsnetz 458<br />

Hanse 62<br />

Hartke, W. 272-274, 322<br />

Haushofer, K. 578f<br />

Heartland-Theorie 604-607<br />

Heimat 388f<br />

Heinrich der Seefahrer 67<br />

Held, D. 74<br />

Heteronormativität 357f<br />

Hinduismus 331<br />

Hinterland 62<br />

Hip-Hop-Kultur 326-329<br />

Hispanics 291<br />

Hobbes, T. 202<br />

Hochkulturen 213<br />

Homeland 171, 364, 603f<br />

Homosexualität 355-358<br />

Hongkong 569, 670f<br />

Human Development Index 295,<br />

426f<br />

<strong>Humangeographie</strong> 45, 60, 112,<br />

252<br />

- Definition 2, 21f<br />

-Studienfach 21-42<br />

Humanressourcen 445-447<br />

Humboldt, A. von 72<br />

Hunger 560, 748<br />

Hungersnot 560f<br />

Hydrokultur 570<br />

Hyperglobalisierung 13<br />

lEA (International Energy<br />

Agency) 729f<br />

IK-Technologie, siehe Informations-<br />

<strong>und</strong> Kommunikationstechnologie<br />

ILO (International Labor Organisation)<br />

427, 432-435, 495


Index 785<br />

Immigration 152<br />

Immigrationsrate 154f<br />

Imperialismus 70, 93-95, 594,<br />

599, 601<br />

Imperium, siehe Weltreich<br />

Importsubstitution 69, 454f,<br />

461, 481f<br />

Indian Removal Act 170,<br />

Indien<br />

- britischer Kolonialismus 597<br />

- Geburtenkontrolle 142<br />

- Religion 331-333<br />

- Sprachen 336-338<br />

- Zukunftpotenziale 742-744<br />

Indochina 609<br />

Industrialisierung 71-93, 213<br />

- der Landwirtschaft 535-539,<br />

549<br />

- Phasen 79-83<br />

- <strong>und</strong> Verstädterung 649-651<br />

Industriekapitalismus 74<br />

Industrieländer 201, 217, 225,<br />

231, 276, 453, 564<br />

- Armut 294<br />

- Bevölkerung 174f<br />

Industrielle Revolution 41f, 70,<br />

72f, 79, 90, 193, 211, 215, 532f,<br />

649f<br />

Industriestadt 650<br />

Industriestandorttheorien<br />

471-473<br />

inequality 261<br />

- siehe auch soziale Ungleichheit<br />

inequity 261<br />

- siehe auch soziale Ungleichheit<br />

Inflation 489<br />

Information 247-250, 261<br />

- Manipulation 282-285<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologie<br />

(IK-Technologie)<br />

51<br />

Informationstechnologie 76,<br />

668, 735-737<br />

informeller Sektor 708, 712<br />

- siehe auch Wirtschaftssektor,<br />

informeller<br />

Infrastruktur 31, 475f, 479, 687,<br />

710<br />

Infrastrukturproblem<br />

- nordamerikanischer Städte<br />

687f<br />

- peripherer Städte 710-712<br />

Inkas 213<br />

innerdeutsche Grenze 584<br />

Innovation<br />

- technische 81<br />

- technologische 730f, 736f<br />

Integrationsstufenlehre 321<br />

Interaktion, räumliche 30, 33<br />

Interdependenz 7, 9-21<br />

- Agglomerationseffekt 469 -<br />

476<br />

internationale Angelegenheiten<br />

44<br />

internationale Organisation<br />

618f, 622<br />

Internationaler Strafgerichtshof<br />

623<br />

Internet 50f, 233, 409, 414-<br />

416, 736, 776, 1112f<br />

Intersubjektivität 37, 40<br />

intervenierende Faktoren<br />

{intervening opportunities) 32f<br />

Intifada 628<br />

Invasion 686<br />

IPCC (Intergovernmental Panel<br />

on Climate Change) 231 - 233,<br />

235<br />

IRA (Irisch-Republikanische<br />

Armee) 611<br />

Irak 645<br />

Irland 611<br />

Irredentismus 35<br />

Islam 114, 196, 332, 347-352,<br />

410f<br />

- Ausbreitung 64<br />

islamische Architektur 702<br />

islamische Welt 347<br />

islamisch-orientalische Stadt<br />

700-704<br />

Islamismus 35 If<br />

Isolinienkarte 764<br />

Israel 167<br />

- Entwicklungshilfe 462<br />

israelisch-palästinensischer<br />

Konflikt 626-629<br />

Italien 308<br />

ITS {intelligent transport<br />

systems) 731<br />

J<br />

lacobs, 1. 727<br />

Jäger <strong>und</strong> Sammler 53f, 61, 203<br />

Japan<br />

- Industrialisierung 83f<br />

- Landwirtschaft 538f<br />

- Megalopolis-Region 717<br />

- Wirtschaft 482<br />

Jerusalem 403f, 41 Of<br />

Judentum 332, 410f<br />

Jugendkultur 319<br />

Jugoslawien 593f, 630<br />

Jungsteinzeit 205<br />

K<br />

Kakao 459, 461<br />

Kambodscha 609f<br />

Kanada 342f<br />

- Kulturpolitik 352f<br />

Kant, I. 72<br />

Kapitalismus 20, 65, 69f, 112,<br />

213, 261f, 483<br />

Karavelle 64f<br />

Karibik 348f<br />

Karte 763-771<br />

- Maßstab 765<br />

- thematische 764f<br />

- topographische 68, 763f<br />

Kartenprojektion 66, 765-771<br />

- äquidistante 766<br />

- flächentreue 768<br />

- konforme 766f<br />

Kartogramm 769-771<br />

Kartographie 66-68, 605<br />

Katz, C. 375<br />

Kaufkraftparität 422, 424<br />

Kelly, P. 190<br />

Kenia 600<br />

- Bevölkerungswachstum 132<br />

- Unabhängigkeitskampf 95<br />

Kernenergie 6, 73, 214f, 217,<br />

219-222<br />

Kernregion 53, 69, 71-90, 101,<br />

109f, 174, 217, 220, 414f, 424,<br />

466, 477<br />

Kernspaltung 214<br />

Kinderarbeit 427-429, 706<br />

Kinderrechtskonvention der<br />

Vereinten Nationen 623f<br />

Klimaveränderungen, globale<br />

185f, 231-233, 235<br />

kognitive Bilder 382-386<br />

kognitive Distanz 27<br />

kognitiver Raum 28<br />

kognitives Raumbild 26<br />

Kohle 215, 217, 221, 224, 447f,<br />

463, 730<br />

Kohlendioxid 217, 224, 227,<br />

231-233


786 Index<br />

- Ausstoß 111<br />

Kohorte 132f, 135, 138<br />

Kolonialismus 71, 93, 208,<br />

594-599<br />

Kolonialstadt 650f<br />

Kolonie 60, 65, 69, 93, 95<br />

Kolonisation 57-61, 70, 91f,<br />

598, 649<br />

Kolosseum 59<br />

Kolumbus, C. 61, 66, 210-212,<br />

332<br />

Kommunikationstechnologie<br />

51<br />

Kommunismus 213, 607-610<br />

Komplementarität 30<br />

Kondratieff-Zyklen 79<br />

- siehe auch Konjunkturzyklen<br />

79<br />

Konföderation 592f, 631<br />

konglomerates Unternehmen<br />

487<br />

Konjunkturzyklen 72<br />

Ko n n ekti vität 28-30<br />

Konsum 398-400<br />

- visueller 413f<br />

Kontrollkrise 83<br />

Kontrollrevolution 83<br />

Koran 196, 347<br />

Koreakrieg 583<br />

Kosmopolitismus 414<br />

Krankheiten 185,208-210,232<br />

kreative Destruktion 483f<br />

Kriminalgeographie 297-303<br />

Kriminalität 267, 269, 271,<br />

297-303<br />

Kuba 607f<br />

Kultur 259-261, 319<br />

- postmoderne 412-414<br />

- <strong>und</strong> Gesellschaft 342-353<br />

- <strong>und</strong> Identität 353-365<br />

kulturelle Gegensätze 750-752<br />

kulturelle Komplexität 323<br />

kulturelle Kontraste 113f<br />

kulturelles Entstehungsgebiet<br />

336<br />

kulturelles Merkmal 322<br />

kulturelles System 330-342<br />

- Definition 330<br />

Kulturgeographie 22, 317—369<br />

- Definition 318f, 324f<br />

- Geschichte 319-330<br />

Kulturlandschaft 10, 36, 194,<br />

273, 319f, 541<br />

Kulturökologie 192-196,233<br />

- Definition 194f<br />

Kulturräume 259-261<br />

Kulturregion 323<br />

Kurden 166<br />

Kyoto-Protokoll 188f, 231<br />

L<br />

Lage<br />

- absolute 24<br />

- geographische 26<br />

- topographische 26<br />

Landflucht 169f<br />

ländliche Räume 564-568<br />

Landnutzung 226, 228<br />

Landnutzungsänderungen<br />

226-231<br />

Landreform 542<br />

Landschaft 36f, 377-382<br />

- als Text 38If<br />

- Definition 377<br />

- symbolische 36f, 377, 379f<br />

- traditionelle 36, 378f<br />

Landwirtschaft 376, 448f, 519,<br />

529, 536, 540, 556-559<br />

- Anfänge 206<br />

- chemische 533<br />

- Definition 519f<br />

- globale Veränderung 552-<br />

556<br />

- marktorientierte 520f<br />

- Umwelteinflüsse 556-559<br />

- urbane 563-570<br />

lange Wellen, siehe Konjunkturzyklen<br />

langsame Welt U lf<br />

Lateinamerika 742f<br />

- Landwirtschaft 542f<br />

- Religion 348f<br />

Lebenserwartung 146f, 151,426<br />

Lebensformengruppe 272f, 320f<br />

Lebensstil 265-267<br />

Lebensverhältnisse 426<br />

Lebenswelt-Konzept 37, 384<br />

Le Corbusier 700<br />

Lenin 590f<br />

Lettland 592<br />

Libanon 167<br />

Libyen 585<br />

Liechtenstein 504f<br />

Lifestyle 265<br />

- siehe auch Lebensstil<br />

London 475, 502, 661, 669<br />

- Docklands 396<br />

- Finanzzentrum 105<br />

Lösch, A. 472<br />

Lovell, W. G. 209<br />

Luftaufnahme 24<br />

Luftverschmutzung 713<br />

M<br />

Maathai, W. 189<br />

Machu Picchu 213<br />

Mackinder, H. 604-607<br />

Magalhaes, F. de (Magellan) 66<br />

Maisanbau 545<br />

Malthus, T. R. 171f<br />

Manchester 650<br />

Mandela, N. 604<br />

Maniok 522<br />

Manufacturing Belt 82-86<br />

Maquiladora-Industrie 494<br />

Marktfrucht 375f<br />

Marx, K. 172, 264<br />

Massenmedien 249, 399, 409<br />

Massenproduktion 466, 492<br />

Massentierhaltung 537<br />

Maßstab 7<br />

Maßstabsebene 7 -9<br />

- der Gemeinschaft 9<br />

- des Zuhauses 9<br />

- geographische 7<br />

- räumliche 8<br />

Mayas 210<br />

Mechanisierung 73<br />

- der Landwirtschaft 533-535<br />

Medien 109<br />

medina 703<br />

Megalopolis-Region 716f<br />

Megastadt 661-664, 708<br />

Mekka 403, 406<br />

Melanchthon, P. 446<br />

Memorizid (Gedächtnismord)<br />

282<br />

Mendel, G. 554<br />

Menschenrechte 623<br />

Mensch-Umwelt-Beziehung<br />

187f, 195, 381<br />

mental map 26, 383<br />

- siehe auch kognitives Raumbild<br />

Meridian 25<br />

Merkantilismus 65<br />

Mesopotamien 56, 206f, 644f<br />

methodologischer Individualismus<br />

250<br />

Metropolen 653, 705


Index 787<br />

Mexiko<br />

- Kolonialzeit 210<br />

- Landwirtschaft 542-545<br />

- Maquiladoras 494<br />

Mexiko-Stadt 660<br />

Migration 152-165<br />

- erzwungene internationale<br />

158-162<br />

- freiwillig internationale<br />

155-158<br />

-internationale 152-162<br />

- siehe auch Wanderung<br />

Migrationsdynamik 154f<br />

Minderheitengruppe, siehe<br />

Minoritätengruppe<br />

Minisystem 53-56, 206<br />

Minoritätengruppe 682<br />

Mischsaat 523f<br />

Missionierung 330, 348f<br />

Mobilität 152, 253, 255,<br />

305-309, 509<br />

Modellbildung 23<br />

Moderne 405-407<br />

Modernisierungstheorie 465f,<br />

477<br />

Modernismus 699f<br />

Monokultur 552<br />

Monotheismus 347<br />

Moschee 701-703<br />

multinationale Unternehmen<br />

487, 491f<br />

- siehe auch transnationale<br />

Unternehmen<br />

Müttersterblichkeit 147<br />

Myrdal, G. 478f<br />

N<br />

Nachfrage-Elastizität 459<br />

Nachhaltigkeit 449f, 569f, 755f<br />

NAFTA (North American Free<br />

Trade Agreement) 494, 619<br />

Naher Osten 359, 743<br />

- Emigration 162, 166f<br />

- kulturelles System 342-344<br />

Nahrungsmittelhilfe 463<br />

Nahrungsmittelindustrie 533,<br />

536, 547<br />

Nahrungsmittelkette 547f<br />

NASDAQ (National Associated<br />

Automated Dealers Quotation<br />

System) 489<br />

Nation 391, 587<br />

Nationalismus 391, 587, 592<br />

- kultureller 344-347, 353<br />

Nationalstaat 286, 390f, 751<br />

- Definition 587<br />

NATO (North Atlantic Treaty<br />

Organization) 609<br />

Natur 185-236<br />

- Definition 190<br />

- <strong>und</strong> Gesellschaft 188-202<br />

- u n d Kultur 190-193<br />

- <strong>und</strong> Philosophie 196-201<br />

- <strong>und</strong> Religion 193, 196<br />

- <strong>und</strong> Technologie 192f<br />

Naturdeterminismus 73, 188<br />

Naturkatastrophe 233, 385<br />

Naturlandschaft 36<br />

Naturschutz, Definition 198f<br />

N aturverständnis<br />

- animistisches 196<br />

- buddhistisches 193<br />

- islamisches 196<br />

- jüdisch-christliches 193, 198<br />

- taoistisches 193<br />

- Wandel 202<br />

Neoimperialismus 99<br />

Neokolonialismus 95, 467, 601<br />

Neoliberalismus 182<br />

Neolithikum 205<br />

- siehe auch Jungsteinzeit<br />

neue Kriege 749<br />

Neue Welt 65f, 208-213<br />

- Einschleppung fremder Arten<br />

210-213<br />

neue Weltordnung 610,<br />

739-749<br />

neue Werkstoffe 735<br />

Neuseeland, Landwirtschaft<br />

550f<br />

New Urbanism 21, 409, 412<br />

New York 393, 475, 661<br />

NGO (Nongovernmental Organisation)<br />

117,465<br />

niche marketing 493<br />

N ichtregierungsorganisationen<br />

(NRO), siehe Non Governmental<br />

Organisation<br />

Niederländische Ostindische<br />

Kompanie 602<br />

Niemeyer, O. 40 If<br />

Nigeria, Geschlechterbeziehung<br />

360f<br />

Nomadismus 527-529<br />

Non Governmental Organisations<br />

(NGO) 234, 659<br />

Nordamerika, Einwanderung<br />

157<br />

Nord-Süd-Konflikt 598<br />

Nord-Süd-Wanderung 156<br />

Nullmeridian 25<br />

NUTS (Nomenclature des unites<br />

territoriales statistiques) 586<br />

Obdachlosigkeit 290, 690f<br />

OECD (Organization of Economic<br />

Cooperation and Development)<br />

111,462,618,620<br />

ojfshore-Vinanzzentrum 503,<br />

506<br />

Ökofeminismus 200f<br />

ökologischer Imperialismus 210<br />

Öko-Migration 171<br />

Ökonomie 13<br />

- postindustrielle 484<br />

ökonomische Struktur 450-<br />

457<br />

Ökosystem, Definition 205f<br />

Ökoterrorismus 199<br />

Ökotourismus 504f, 508<br />

OPEC (Organization of Petroleum<br />

Exporting Countries)<br />

489, 462, 618, 620, 730<br />

Opportunitätstheorie 302<br />

Organismus 202<br />

Orientierungswissen 260f,<br />

279-286<br />

Ort 3, 10, 253-255, 400<br />

- Bedeutung 2, 9, 382-390<br />

- Symbolkraft 38f<br />

- <strong>und</strong> Mensch 383f<br />

- Wechselwirkungen 7<br />

ortsbezogene Dienste 776<br />

Osama bin Laden 614<br />

Osmanisches Reich 62<br />

Österreich<br />

- Bildung 287f<br />

- Energiesituation 221<br />

- Volkszählung 125<br />

Ost-West-Konflikt 607-610<br />

Outsourcing 490, 500-502<br />

Ozeanien, Urangewinnung <strong>und</strong><br />

-Verarbeitung 214f<br />

Pachauri, A. R. K. 235<br />

Paläolithikum 203<br />

- siehe auch Altsteinzeit


788 Index<br />

Palästina 626-629<br />

Panamakanal 92<br />

Paris 512, 699, 714<br />

Park, R. E. 269-271<br />

Partikularisinus 35, 628-630<br />

Pasteur, L. 554<br />

path-dependence, siehe geographische<br />

Pfadabhängigkeit<br />

Pensionsalter 438<br />

Perestroika 592<br />

periphere Region, Zukunftspotenziale<br />

746<br />

Peripherie 52f, 424, 466f, 477<br />

- Verstädterung 654<br />

- siehe auch periphere Region<br />

Pest 208f<br />

Pestizid 557f<br />

Philippinen, Auswanderung 157<br />

Pilger 403f, 406<br />

place 3<br />

Plantage<br />

- Baumwolle 69<br />

- Definition 65<br />

Planwirtschaft 95<br />

Plattenbausiedlung 694, 698<br />

Pleistozän 204<br />

Politik<br />

- der Geographie 630f<br />

- neoliberale 13<br />

Politische Geographie 575-634<br />

- Geschichte 577-581<br />

- Paradigmenwechsel 588<br />

- Wechselbeziehungen 624-<br />

635<br />

politische Grenzen 581-586<br />

politische Ökologie 194-196,<br />

233, 363<br />

politische Systeme 63 If<br />

Polygynie 177<br />

polyzentrische Metropolregion<br />

713-722<br />

poor laws 172<br />

Populärkultur 325<br />

Porter, M. E. 499f<br />

Portsmouth 394f<br />

Postmoderne 407f<br />

- Raum 404-416<br />

Potsdamer Platz 399, 584<br />

Pottasche 523<br />

Präzisionslandwirtschaft {precision<br />

farming) 537f<br />

Preiselastizität 461<br />

primacy 657f<br />

primärer Wirtschaftssektor<br />

450-453<br />

Produktionssysteme 492 - 494<br />

Produktketten 100, 102f<br />

Pro-Kopf-Einkommen 71<br />

Propaganda 284<br />

Prosperität 79<br />

Prostitution 355, 415<br />

Ptolemäus 60f<br />

Pull-Faktoren 155<br />

Push-Faktoren 155<br />

Push-Pull-Modelle 156<br />

Q<br />

Qat 229<br />

quartärer Wirtschaftssektor<br />

450, 455f<br />

Quebec 243f<br />

Queer Studies 392<br />

R<br />

RAF (Rote-Armee-Fraktion)<br />

610f<br />

Ranggrößenregel 657, 659<br />

Ratzel, F. 73, 577-579, 594<br />

Raum 28, 243-246<br />

- absoluter 243<br />

- Arten 28<br />

- Definition 4<br />

- kognitiver 28<br />

- kultureller 362f<br />

- relativer 28<br />

- sozialer 243f<br />

- topologischer 28f<br />

- <strong>und</strong> Gesellschaft 243-261<br />

- <strong>und</strong> Kriminalität 300-302<br />

- <strong>und</strong> Zeit 303-309<br />

- virtueller 414f<br />

Raumanalyse 23-33<br />

Raumgliederung, Alte Welt<br />

61-64<br />

Raumkonzepte 243f<br />

räumliche Disparitäten 245,<br />

287, 289-297<br />

räumliche Kontexte 253, 256-<br />

260<br />

räumliche Muster 245-247<br />

räumlicher Wandel 729-738<br />

räumliches Cluster 502<br />

Raumplanung 308, 484, 655<br />

Raumwiderstand 27<br />

Raum-Zeit-Konvergenz 31 f<br />

Regenwald 226f<br />

Region 22<br />

- formale 35<br />

-periphere 71,78,90,217,236<br />

- semiperiphere 71, 78<br />

Regionalanalyse 34-40<br />

regionale Prognosen 738-749<br />

regionale Wirtschaftsentwicklung<br />

477-481<br />

- Selbstverstärkung 478<br />

Regionalisierung 35<br />

Regionalismus 35, 389, 409,<br />

624-628<br />

Regionalplanung 44f<br />

Reichsbodenschätzung 560<br />

Reichweite<br />

- äußere 655f<br />

- innere 656<br />

Reisanbau 552f<br />

Religion 330-334, 403<br />

religiöser Ort, siehe sakraler<br />

Raum<br />

Renaissance 405, 649<br />

Ressource 441-450, 729-731<br />

- Energie 447<br />

- globale Verteilung 445<br />

- industrielle 449<br />

- primäre 441<br />

- <strong>und</strong> Bevölkerung 171-173<br />

Reurbanisierung 666, 681<br />

Revolution, technologische 742f<br />

Rezession 79<br />

Rio de Janeiro 673, 705<br />

Risikobereitschaft 386f<br />

Risikogesellschaft 20<br />

Ritter, K. 73<br />

Rockefeller Fo<strong>und</strong>ation 544<br />

Romantik 198<br />

Römisches Reich 56-60<br />

Roosevelt, T. 198<br />

Rosenau, J. N. 74<br />

Rostow, W. W. 465f<br />

Royal Geographical Society<br />

605f<br />

Ruanda 598<br />

Rühl, A. 27 If<br />

Russisches Reich 587-591, 616<br />

Russland 617<br />

Sachwissen 277-279<br />

sakraler Raum 402-404<br />

Sanson, N. 66<br />

Säo Paulo 660


H l 1 ■ ■ ■ ■ IIIIIIIIH<br />

Index 789<br />

SARS {severe acute respiratory soziale Klassen 264f - verhaltensorientierte 644<br />

syndrome) 19f soziale Ökologie 245 Stadtgestaltung, postmoderne<br />

Satellitenaufnahme 24 soziale Schichten 264f, 286, 301 718-720<br />

Sauer, C. 192, 319f soziale Schichtung 739 städtische Bevölkerung 652<br />

Säuglingssterblichkeit 145f - nach Geschlecht 359-362 städtische Siedlungssysteme<br />

saurer Regen 224f soziale Ungleichheit 261-269 654-662<br />

Schamanismus 333 sozialer Wohnungsbau 698 Stadtmorphologie 642<br />

Schattenwirtschaft 13 Sozialgeographie 241-309,322 Stadtplanung 44f, 694<br />

Schengener Abkommen 582 - Definition 24 If Stadtstruktur<br />

Schiiten 347-349 - Ebenen 250-253 - interkultureller Vergleich<br />

Schrift 56 - Forschungsfragen 243 683-713<br />

Schulbildung im ländlichen - Geschichte 266-274 - Organisation 680-683<br />

Raum 566-568 - Konzepte <strong>und</strong> Methoden Stalin, J. 283<br />

Schuldendienst 459f 250 Standort 26, 482-484<br />

Schuldenerlass 46 If - Wissen <strong>und</strong> Bildung - industrieller 468<br />

Schuldenkrise 460 274-293 Standortanalyse 44<br />

Schulpflicht 286 Sozialökologie 644 Standortfaktoren 467<br />

Schweiz - Chicagoer Schule 269-271 - harte 473<br />

- Einwanderung 160f Sozialräume 259-261 - weiche 473<br />

- Energiesituation 221 Sozialwissenschaften 244f Standortnutzen 27<br />

Schwellenländer 452 Space 3 Standortplanung 774f<br />

Sechstagekrieg 626 Spanien Standortprinzipien 467-476<br />

Segregation 21, 682f - Kolonien 208-210, 595 Standorttheorien, neoklassische<br />

Seidenstraße 62f - Städtesystem 657 472<br />

sek<strong>und</strong>ärer Wirtschaftssektor Sprachfamilie 335 Standortvorteil 469<br />

450-456 - Verbreitung 335 Sterberate 145-148, 154<br />

Selbstverstärkung 484 Sprachgeographie 335-342 - rohe 145<br />

Semiotik 397f Sprachgruppe 335 Steuerflucht 687<br />

- <strong>und</strong> Kulturlandschaft Sprachzweig 335 Steueroase 503<br />

398-403 Staat 8, 577, 579, 587-594 Stigmatisierung 689<br />

sense of place, siehe emotionale staatliche Interventionen 484 Straßenbau 90<br />

Ortsbezogenheit Stadt strategische Allianz 493<br />

Separatismus 389f - der Peripherie 704-713 Subkultur 299<br />

Sexualität 355 -europäische 691-700 Subsistenzlandwirtschaft<br />

Shanghai 660 - islamisch-orientalische 520-530<br />

Sheffield 468 700-704 Subsistenzwirtschaft 53, 55, 61,<br />

shifling cultivation 521 -527, - nordamerikanische 684-691 375f, 520f<br />

539 Städtebildung 644-651 Subunternehmen 469, 492<br />

shock city 650 Stadtentwicklungsphasen, suburb 166, 684<br />

Sicherheit 20 Mitteleuropa 698 Suburbanisierung 564, 642,<br />

Sikhismus 331 Städtesystem 642 681, 720f<br />

Sinus-Milieus 265 —267 - europäisches 648f - Definition 166<br />

Sippe 344 Städtewachstum 662, 666, Subvention 541<br />

Sixtinische Kapelle 259 715-720 Südafrika 171, 602-604<br />

Sklavenhandel 158f, 348 - in der Peripherie 669-675 Südamerika, Kolonisation 595<br />

Slum 707-710 Städtewesen 56f Sudan 585<br />

smart growth 715f Stadtforschung, kulturgeneti- Suezkanal 92<br />

Solarenergie 226 sehe 695 Sukzession 686<br />

Souveränität 587 Stadtgeographie 269, 271, Sunbelt 168, 717<br />

Sowjetunion 587, 591-593, 640-722 Sunniten 347-349<br />

608, 613f, 616 - Definition 641 supranationale Organisation 8,<br />

Sozialbrache 273 - funktionale 643 541, 619-621<br />

Sozialdarwinismus 271, 577 - morphogenetische 643 suq 701<br />

----- ------


790 Index<br />

System- <strong>und</strong> Organisationstheorie<br />

251<br />

Tauschwirtschaft 55<br />

technischer Wandel 80f<br />

Technologie 202, 555, 726<br />

- Definition 190f<br />

- der Zukunft 729-738<br />

- industrielle 79<br />

Technologiesystem 72-79, 81<br />

Telegrafie 92<br />

Telekommunikation 50-53,<br />

105, 248, 253, 735<br />

Televangelismus 334<br />

Terrassensystem, siehe<br />

Terrassierung<br />

Terrassierung 62, 192, 213,<br />

526<br />

territoriale Falle 260<br />

Territorialität 390-392, 682f<br />

Territorium 390f, 624<br />

- staatliches 581<br />

Terrorismus 20, 610-618, 662,<br />

752<br />

- Definition 610<br />

- religiös motiverter 611<br />

tertiärer Wirtschaftssektor 450,<br />

455f<br />

Themenorte 5<br />

Theorie der kulutrellen Übertragung<br />

299<br />

Thoreau, H. D, 196<br />

Thünen’sche Ringe 470f<br />

Tigerstaaten 454<br />

Topophilie 386<br />

Tourismus 503-513<br />

trail of tears 170f<br />

Transhumanz 527-529<br />

transnationale Organisationen<br />

74, 751<br />

transnationale Unternehmen<br />

11, 99, 101, 409, 487, 489-491,<br />

548<br />

Transportkosten 47 If<br />

Transporttechnologie 731-733<br />

Transzendentalismus 198<br />

Treibhausgas 188, 231<br />

Triangulation 68<br />

Tropen, Landwirtschaft<br />

521-524<br />

Tschernobyl 215<br />

Tschetschenien 611, 616f<br />

U<br />

Überalterung 132, 134-136,<br />

145<br />

Überbevölkerung 180<br />

Übergangsritus 322f<br />

Übergangszone 684f<br />

Überschwemmung 186f<br />

Übertragbarkeit 31<br />

Überurbanisierung 672<br />

UdSSR (Union der Sozialistischen<br />

Sowjetrepubliken) 590-593<br />

- siehe auch Sowetjunion<br />

Umweltdegradation 712<br />

Umwelteinflüsse des Menschen<br />

191-193<br />

- durch Landnutzungsänderung<br />

226-231<br />

- frühe Menschen 202-208<br />

- frühe Siedlungen 206f<br />

- in der Kolonialzeit 211-213<br />

- in jüngster Zeit 213-233<br />

Umweltethik 200<br />

Umweltgerechtigkeit 201<br />

Umweltgipfel von Rio de<br />

Janeiro 23 If, 234<br />

Umweltorganisationen 233f<br />

Umweltphilosophie 106-201<br />

Umweltpolitik, globale<br />

233-235<br />

Umweltprobleme 755<br />

Umweltpsychologie 251<br />

U m Weltschutz 231 f<br />

- Geschichte 198f<br />

- nachhaltige Entwicklung<br />

236<br />

Umweltveränderungen, globale<br />

191<br />

Umweltverschmutzung 199<br />

Umweltverträglichkeit 236<br />

U m weltwahrneh mun g<br />

374-377, 380<br />

Umweltwissen 374f<br />

Umweltzerstörung 214, 512<br />

UN (United Nations), siehe<br />

Vereinte Nationen<br />

UNCHS (United Nations Center<br />

for Human Settlement) 397,<br />

409, 639, 720f<br />

UNDP (United Nations<br />

Development Programme)<br />

276f, 426f<br />

UNESCO 396<br />

UNICEF 427<br />

UNO-Weltklimabericht-2007<br />

235<br />

Unterbeschäftigung 704<br />

Unterernährung 560f<br />

Unternehmensgründungen<br />

436-439<br />

Unternehmenssicherung 490<br />

urhan governance 708<br />

Urbanisierung 663, 681<br />

- siehe auch Verstädterung<br />

Urbanität 644<br />

Ursprungsgebiet 54<br />

USA<br />

-A rm u t 688-691<br />

- Außenpolitik 114<br />

- Bevölkerungsentwicklung<br />

134, 137<br />

- Bildung 290-293<br />

- Binnenwanderung 162, 165f,<br />

168<br />

- Biotechnologie 734<br />

- Einwanderung 362-364<br />

- Farmkrise 553f<br />

- Hegemonie 95, 610, 740<br />

- Image 742f<br />

- Imperialismus 99<br />

- Industrialisierung 82-89<br />

- Irakkrieg 616-618<br />

- Landschaften 377-380<br />

- Landwirtschaft 207, 517f, 563<br />

- Politik 281<br />

- Religion 323f<br />

- Ressourcen 449<br />

- Städtewachstum 715-717<br />

- Stadtstruktur 684-691<br />

- Volkszählung 128<br />

- zukünftige Machtposition<br />

740-744<br />

V<br />

Verbrennungsmotor 73, 90f<br />

Vereinte Nationen 174, 181f,<br />

226, 234, 599, 618f, 651, 734,<br />

738<br />

Vermarktung von Orten<br />

392-398<br />

Verstädterung 42,213,639-675<br />

- Definition 64If<br />

- in der Gegenwart 651-654<br />

- Voraussetzungen 645f<br />

Vertreibung 158<br />

Vertriebene 164<br />

Verwandtschaft 342f


V erwestlichung 114<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit 363<br />

- geschlechterspezifische<br />

360-362<br />

Videoüberwachung 303<br />

Vietnamkrieg 609<br />

Völkerb<strong>und</strong> 599<br />

Volkskultur 324<br />

Volkszählung 124-129, 168,<br />

276<br />

Vorderer Orient 54<br />

Vormoderne 53-64<br />

W<br />

Wachstumspole 484<br />

Wahlkreismanipulation 634<br />

Wahlsysteme 631-634<br />

Waldschäden 224<br />

Wallerstein, I. 74<br />

Wanderfeldbau 52 If<br />

- siehe auch shifling cultivation<br />

Wanderung 155-157<br />

- der frühen Menschen 203f<br />

- internationale 156<br />

- interregionale 156<br />

- intraregionale 156<br />

- siehe auch Migration<br />

Wanderungswellen 162<br />

Wasserkraft 215-217,221, 223f<br />

Wasserversorgung<br />

- in der Peripherie 71 If<br />

- nordamerikanischer Städte<br />

688<br />

Weber, A. 47If<br />

Weidennutzung 228f<br />

Weidewirtschaft 527-530<br />

Welfare Geography 262<br />

Weltbank 462f, 485f, 738<br />

Weltbevölkerung 123, 180<br />

- Entwicklung 173f<br />

- Ernährung 559-570<br />

Weltmarkt 12<br />

Weltökonomie 110<br />

Weltordnung 14<br />

Weltregionen 8, 330-333<br />

Weltreich 56-61, 646f<br />

Weltstadtnetzwerk 108<br />

Weltsystem 53, 69-99, 423<br />

- kapitalistisches 423<br />

Werbung 412f<br />

Westjordanland 167<br />

Wettbewerb 465f, 482, 489<br />

Wettbewerbsvorteil 499f<br />

WHO (World Health<br />

Organisation) 713<br />

wild zones 748<br />

Windkraft 226<br />

wirtschaftliche Allianzen 11<br />

wirtschaftliche Entwicklung<br />

422-468, 731<br />

- Kernregion <strong>und</strong> Peripherie<br />

422-430<br />

- regionale 485-513<br />

- regionale Disparitäten<br />

429-432<br />

- Stadien 464-467<br />

- <strong>und</strong> Verstädterung 664f<br />

- <strong>und</strong> Wissen 488<br />

- Wege 476-485<br />

- zukünftige 738f<br />

wirtschaftlicher Abschwung<br />

480<br />

Wirtschaftsgeographie 27 If<br />

Wirtschaftsimperialismus 99<br />

Wirtschaftssektor 450<br />

- informeller 705-707<br />

Wissen 248-250, 274f<br />

- <strong>und</strong> Macht 277, 279-285<br />

Wissensaustausch 247 - 250<br />

WissensgeseUschaft 274f, 478<br />

Wohlstand 19 If<br />

Wohlstandsniveau 464f<br />

Wohnbevölkerung 126<br />

world cities 503, 650, 658-661<br />

World Development Report 485,<br />

488<br />

World Wide Web 112<br />

WTO (World Trade<br />

Organization) 117, 563<br />

WWF (World Wildlife F<strong>und</strong>)<br />

199, 559<br />

Yunus, M. 360<br />

Zeitgeographie 303-309<br />

zentrale Orte 654-656<br />

Zentralität 657-661<br />

zentrifugale Kräfte 590<br />

zentrifugaler Ausbreitungseffekt<br />

481<br />

zentripetale Kräfte 589f<br />

zentripetaler Entzugseffekt 479<br />

Zentrum 52<br />

- <strong>und</strong> Peripherie 70-99<br />

Zionismus 626<br />

Zukunftsprognose 726-729<br />

Zwangsmigration 155<br />

- kriegsbedingte 164f<br />

Zweite Welt 95, 422

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!