Oktober 2009 - Der Neusser
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16<br />
Gesang der Seele – Ton der Gewalt<br />
Auftaktpremieren im Rheinischen Landestheater unter neuer Leitung<br />
Handlung gibt. Einzelne verlassen<br />
den Saal. Basini blickt auf,<br />
ihnen nach und dann fährt er<br />
fort – mit seiner Detaileinsicht<br />
über den erlebten sexuellen<br />
Missbrauch.<br />
Es ist die zweite Premiere zur<br />
Auftaktveranstaltung des Rheinischen<br />
Landestheaters unter<br />
Roman Konieczny als Basini<br />
der neuen Intendanz von Bettina<br />
Jahnke. Es sind „Die Verwirrungen<br />
des Zöglings Törleß“ unter<br />
der Regie von Marc Lunghuß,<br />
mit dem sich das hier noch unbekannte<br />
Ensemble dem <strong>Neusser</strong><br />
Publikum stellt. <strong>Der</strong> Stoff ist<br />
kein leichter, wenngleich auch<br />
Bestandteil der Schulliteratur für<br />
Jugendliche ab 15 Jahren. <strong>Der</strong> Roman<br />
stammt aus dem Jahr 1906,<br />
in dem der Autor Robert Musil<br />
Erfahrungen als Kadett einer Militärschule<br />
verarbeitet.<br />
Als Schauplatz wählt er ein Internat.<br />
Die Protagonisten: vier Jun-<br />
„Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“, Regie Marc Lunghuß gen. <strong>Der</strong> idealistische Törleß, der<br />
die Welt intellektuell zu begreifen<br />
versucht und sich angestrengt<br />
bemüht, eine Ordnung der Dinge<br />
und Menschen zu finden. <strong>Der</strong><br />
nicht zuletzt der Frage seiner<br />
selbst nachspürt. Daneben Reiting<br />
und Beineberg, sie sind die Rädelsführer<br />
der Klasse und dominieren<br />
ihre Kameraden. Als Reiting den<br />
schwächlichen Basini beim Diebstahl<br />
erwischt, beschließen beide,<br />
Basinis Tat zu vertuschen, um sich<br />
„Wie im Himmel“, Regie Bettina Jahnke diesen gefügig zu machen. Reiting<br />
lebt seine Neigung als roher, sadis-<br />
Stille. Auf der Bühne ein knabenhafter Mann tischer Peiniger aus. Beineberg, nicht weniger an<br />
im luftigen Sommerkleid. Dunkelheit. Spot- physischer und sexueller Demütigung beteiligt,<br />
licht auf den barfüßigen Basini, der vom degradiert Basini zum Lust- und Versuchsobjekt.<br />
äußersten Rand der Aufführungsfläche ge- Macht- und Gewaltgier, körperliche Exzesse, die<br />
senkten Blickes ins Mikrophon berichtet. Heranwachsenden lassen sich treiben und leben<br />
Deutlich, ungeschönt – die Worte schwer zu aus. Und Törleß? Ein Hin- und Hergerissener,<br />
ertragen; die Vorstellung aller geschilderten einer, der alle niederen Beweggründe verab-<br />
Grausamkeit vom Publikum versucht in Grenscheut, nach Moral ruft, aber sich gleichwohl<br />
zen zu halten. Manche hören zu, andere mit vom „Spiel“ angezogen fühlt. Einer, der außen<br />
Absicht weg. Beklommenheit. Zuschauer, die steht und rein will. Einer, der wegschaut, aber<br />
sich abdrehen, obwohl es keine szenische langsam immer näher tritt.<br />
Kulturelles | StattBlatt 10.<strong>2009</strong><br />
Ein Abend davor die Premiere „Wie im Himmel“,<br />
inszeniert von der Intendantin selbst. Auch hier<br />
das Publikum in aufmerksamer Wahrnehmung<br />
eingenommen. Aber die Darbietung eine andere.<br />
Mit Feinfühligkeit und Witz wird die Geschichte<br />
des Daniel Daréus erzählt. Er ist ein<br />
weltberühmter Dirigent, der sich nach einem<br />
Zusammenbruch im Konzertsaal in sein bürgerliches<br />
Heimatdorf zurückzieht. Zögerlich lässt er<br />
sich für die Leitung des Kirchenchores gewinnen<br />
und beginnt mit all seiner künstlerischen Leidenschaft,<br />
die wahre Stimme jedes einzelnen<br />
Chormitgliedes hervorzuholen. Dabei lockert er<br />
nicht nur die Körper und den Tonfluss, sondern<br />
die Gemüter seiner Sänger und bringt deren Leben<br />
und die scheinbare Dorfidylle ins Wanken.<br />
Überzeugende Darsteller in einer souverän einfühlsamen,<br />
aufs Wesentliche konzentrierten Inszenierung.<br />
Zarte Zwischentöne, reine Stimmen,<br />
Chorgesang und ein stimmungsvolles Ende unter<br />
der Mitwirkung des <strong>Neusser</strong> Münsterchores.<br />
Gerührte Stille vor dem Applaus.<br />
<strong>Der</strong> Klang kann verschieden sein, Stille auch. Bei<br />
der zweiten Premiere kam sie kurz einem Erstarren<br />
gleich. Am Ende von Marc Lunghuß’ Stückfassung<br />
sind alle entblößt, Basini, Beineberg und<br />
Reiting – gleichwohl Törleß. Im Zuge von Eskalation,<br />
Machtspiel und Erniedrigung. Ohne Kleider,<br />
ohne Moral. Nur der Seele bleibt ein neuer Erfahrungsring.<br />
War es zu viel, war es zu wenig?<br />
Extreme Schnitte, Brüche im Tempo, im Ton und<br />
in der Darstellung. Alles nur Phantasie und Feuerzangenbowle?<br />
– Das Spiel ist aus. Schweigen.<br />
Fast hätte man geglaubt, jegliches Klatschen<br />
bleibt an der Betroffenheit hängen. Dann Beifall,<br />
kräftig und ausdauernd – für bestechende<br />
schauspielerische Leistung, für eine gewagte,<br />
eindringliche Inszenierung.<br />
<strong>Der</strong> Einstieg der Theatermacher mag Vorgeschmack<br />
auf ein weites Spielfeld sein, das verschiedene<br />
Gruppen zu erreichen sucht, unterhält und<br />
gleichwohl aufrüttelt. Er lässt hoffen, dass sich ein<br />
reges dramaturgisches Treiben entwickelt, das neben<br />
solider Theaterarbeit ein Angebot bereithält,<br />
das Grenzen auslotet und sich künstlerisch fortbewegt.<br />
Hinschauen und hingehen, da tut sich was.<br />
(Weitere Vorstellungen im <strong>Oktober</strong>: „Wie im<br />
Himmel“ am 1., 2., 11., 24., 25. und 26.10.; „Die Verwirrungen<br />
des Zöglings Törleß“ am 7. und 27.10.;<br />
Infos unter www.rlt-neuss.de)<br />
Marion Stuckstätte