Praxis Pietatis - Vandenhoeck & Ruprecht
Praxis Pietatis - Vandenhoeck & Ruprecht
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525559093 — ISBN E-Book: 9783647559094
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525559093 — ISBN E-Book: 9783647559094
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE<br />
DES NEUEREN PIETISMUS<br />
Im Auftrag der Historischen Kommission<br />
zur Erforschung des Pietismus<br />
herausgegeben von<br />
Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen,<br />
Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth,<br />
Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann<br />
Band 37 – 2011<br />
VANDENHOECK & RUPRECHT<br />
© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525559093 — ISBN E-Book: 9783647559094
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Geschäftsführender Herausgeber<br />
Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für<br />
Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale<br />
Redaktion<br />
PD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für<br />
Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale<br />
Anschriften der Autorinnen und Autoren<br />
Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Universität Siegen, Fakultät I/Ev. Theologie, Adolf- Reichwein-<br />
Straße 2, 57068 Siegen Urban Claesson, M.A., Högskolan Dalarn, S-79188 Falun Prof. Dr. Rudolf<br />
Dellsperger, Tulpenweg 110, CH-3098 Köniz Dr. Kai Dose, Humperdinckstr. 76, 55542 Bad Kreuznach<br />
Daniel Eißner, M.A., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Landesexzellenznetzwerk „Aufklärung<br />
– Religion – Wissen“, Franckeplatz 1, Haus 54, 06110 Halle a.d. Saale Matthias Franke, M.A.,<br />
Sanderstr. 25, 12047 Berlin Dr. Viktoria Franke, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres<br />
Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale Dr. Eberhard<br />
Fritz, Schweizer Stapfen 13, 88361 Altshausen Prof. Dr. Ute Gause, Ruhr-Universität-Bochum,<br />
Evangelisch-Theologische Fakultät, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Universitätsstr. 150, 44780 Bochum<br />
Prof. Dr. Richard Gawthrop, 348 E. King St., USA-Franklin, IN 46131 Andrew Z. Hansen,<br />
University of Notre Dame, Departement of History, 219 O’Shaughnessy, USA-Notre Dame, IN 46556<br />
Prof. Dr. Juliane Jacobi, Lützelsteiner Weg 45, 14195 Berlin Jan van de Kamp, M.A., Vrije Universiteit<br />
Amsterdam, Faculteit der Godgeleerdheid, De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam Prof. Dr.<br />
Dr. h.c. Hartmut Lehmann, Caprivistr. 6, 24105 Kiel Prof. Dr. Fred A. van Lieburg, Vrije Universiteit<br />
Amsterdam, Faculteit der Letteren, De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam Dr. Barry Murnane,<br />
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Philosophische Fakultät II: Institut für Germanistik, Herweghstr.<br />
96, 06099 Halle a.d. Saale Dipl. theol. Claudia Neumann, Martin-Luther-Universität Halle-<br />
Wittenberg, Landesexzellenznetzwerk „Aufklärung – Religion – Wissen“, Franckeplatz 1, Haus 54,<br />
06110 Halle a.d. Saale Dr. Ute Pietruschka, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Orientalisches<br />
Institut, Corpus der arabischen und syrischen Gnomologien, Mühlweg 15, 06110 Halle a.d.<br />
Saale Thomas Ruhland, M.A., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Landesexzellenznetzwerk<br />
„Aufklärung – Religion – Wissen“, Franckeplatz 1, Haus 54, 06110 Halle a.d. Saale Prof. Dr. Wolfgang<br />
Sommer, Sonnenstr. 45, 91564 Neuendettelsau Dr. Malte van Spankeren, Westfälische Wilhelms-Universität<br />
Münster, Evangelisch-Theologische Fakultät, Seminar für Kirchengeschichte II, Universitätsstr.<br />
13–17, 48143 Münster PD Dr. Christoph Spehr, Hauptstraße 45, 37083 Göttingen PD<br />
Dr. Friedemann Stengel, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres, Zentrum für<br />
die Erforschung der Europäischen Aufklärung, Franckeplatz 1, Haus 54, 06110 Halle a.d. Saale Tanja<br />
Täubner, M.A., Holbeinstr. 17, 04229 Leipzig Dr. Aira Vősa, Tartu Ülikooli Raamatukogust (Bibliothek<br />
der Universität Tartu), W. Struve 1, EE-50091 Tartu Prof. Dr. Dr. h.c. Johannes Wallmann, Oranienburgerstr.<br />
22, 10178 Berlin Prof. Dr. Hermann Wellenreuther, Markelstr. 33, 37085 Göttingen<br />
Mit 7 Abb.<br />
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der<br />
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind<br />
im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.<br />
ISBN 978-3-525-55909-3<br />
ISBN 978-3-647-55909-4 (E-Book)<br />
© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen/<br />
<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> LLC, Oakville, CT, U.S.A.<br />
www.v-r.de<br />
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt.<br />
Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der<br />
vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.<br />
Printed in Germany.<br />
Satz, Druck und Bindung: H Hubert & Co, Göttingen<br />
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Vorwort<br />
Auch die diesjährige Ausgabe des Jahrbuches bietet die gewohnte und erwartete<br />
Vielfalt an Beiträgen: von Jan van de Kamp eine Darstellung zu Wirkung<br />
und Rezeption von Lewis Baylys <strong>Praxis</strong> pietatis in der protestantischen Erbauungsliteratur<br />
des 17. Jahrhunderts, von Daniel Eißner die Untersuchung einer<br />
ungedruckten Quelle aus den bewegten Zeiten während der Durchsetzung des<br />
Pietismus in Halle und – dazu passend – von Johannes Wallmann eine Studie<br />
zum Aufkommen des Pietismus an der Universität Jena und die dabei wechselhafte<br />
Rolle des Caspar Sagittarius. Kai Dose untersucht die Ikonographie, den<br />
kunsthistorischen Ort und die theologische Aussage der Kupferstiche in Zinzendorfs<br />
Übersetzung des Neuen Testaments und der Arndt-Ausgabe. Friedemann<br />
Stengel rekonstruiert und analysiert historische Lesarten Swedenborgs<br />
und seiner Visionen, u.a. bei Oetinger und bei Kant. Die Internationalität des<br />
Pietismus im 18. und der Erweckungsbewegung im frühen 19. Jahrhundert<br />
dokumentieren die Beiträge von Urban Claesson zu den frömmigkeitlichen<br />
und sozialpädagogischen Initiativen des Spener-Anhängers Olof Ekman im<br />
schwedischen Bergwerksgebiet um Falun, von Malte van Spankeren zur halleschen<br />
Schulzeit und zum transatlantischen Wirken der drei Söhne von Heinrich<br />
Melchior Mühlenberg, dessen 300. Geburtstag in diesem Jahr gefeiert<br />
wird, und von Andrew Hansen zu dem amerikanisch-presbyterianischen<br />
Theologen und Pfarrer Charles Hodge und dessen Beziehungen zu Vertretern<br />
der Erweckungsbewegung in Berlin und in Halle, wie Hengstenberg und Tholuck.<br />
Für Diskussionen sorgen wird und will der Beitrag von Fred van Lieburg,<br />
Professor für die Geschichte des niederländischen Protestantismus an der<br />
Freien Universität Amsterdam und seit 2008 Mitherausgeber dieses Jahrbuchs.<br />
Van Lieburg greift die in den Jahrgängen 28, 2002, im Anschluss an das<br />
Erscheinen des 3. Bandes der Geschichte des Pietismus (2000) und an den I. Internationalen<br />
Kongress für Pietismusforschung (2001), bis 31, 2005, zwischen<br />
Hartmut Lehmann und Johannes Wallmann geführte Auseinandersetzung um<br />
den Pietismusbegriff auf. Er zeichnet die verschlungenen Wege und die kirchlichen<br />
Kontexte der niederländischen Pietismusforschung nach, und er unterbreitet<br />
einen Vorschlag, um für die Befassung mit dem Pietismus begriffliche<br />
Klarheit zu schaffen und um die kulturgeschichtliche bzw. kulturwissenschaftliche<br />
Anschlussfähigkeit der Pietismusforschung auszubauen. Der Vorschlag<br />
lautet, das sei hier vorweggenommen, von einer Definition dessen, was ‚essentialistisch‘<br />
unter Pietismus zu verstehen sei, abzusehen und – zugunsten einer<br />
‚funktionalistischen‘ Betrachtung – überhaupt auf einen einengenden Begriff<br />
von Pietismus zu verzichten.<br />
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Eine Miszelle, Rezensionen, Bibliographie und Register schließen den Band<br />
ab.<br />
Zu den Herausgebern gesellt sich ab diesem Jahrgang Christian Soboth, seit<br />
2002 Redakteur des Jahrbuchs.<br />
Zu guter Letzt sei an dieser Stelle Ulrich Gäbler und Hans Schneider herzlich<br />
zu ihren 70. Geburtstagen gratuliert.<br />
6<br />
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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Für die Herausgeber: Udo Sträter
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Inhalt<br />
Beiträge<br />
Jan van de Kamp: Die Einführung der christlichen Disziplinierung des<br />
Alltags in die deutsche evangelische Erbauungsliteratur durch Lewis<br />
Baylys <strong>Praxis</strong> <strong>Pietatis</strong> (1628) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />
Daniel Eißner: „Besser Kein Christ/ als Ein Pietist“–Zur<br />
Kontextualisierung einer Streitschrift am Rande des Kampfes um die<br />
Durchsetzung des Pietismus in Halle . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena . . . . . . . 36<br />
Kai Dose: Die Kupferstiche in Zinzendorfs Übersetzung des Neuen<br />
Testamentes 1739 und in der Arndt-Ausgabe 1725 . . . . . . . . . . . 86<br />
Friedemann Stengel: Prophetie? Wahnsinn? Betrug? Swedenborgs<br />
Visionen im Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136<br />
Urban Claesson: Das Bergwerk von Falun, der Pfarrer Olof Ekman<br />
(1639–1713) und die Entstehung des schwedischen Pietismus – eine<br />
neue Frömmigkeit in einer außergewöhnlichen sozialen Situation . . . . 163<br />
Malte van Spankeren: Der erste Sprecher des US-Repräsentantenhauses<br />
F.A.C. Mühlenberg als Zögling der Franckeschen Stiftungen. Ein<br />
transkontinentaler Schulwechsel im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . 177<br />
Andrew Z. Hansen: Nineteenth-Century Transatlantic Protestantism:<br />
Charles Hodge and the Prussian Erweckungsbewegung . . . . . . . . . . 191<br />
Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung.<br />
Traditionsaneignung, Identitätspolitik und Erinnerungskultur . . . . . 211<br />
Miszelle<br />
Johannes Wallmann: Comenius der Vater des Pietismus? Notwendige<br />
Präzisierungen zu Speners Begriff der ecclesiola in ecclesia . . . . . . . . . 257<br />
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7
Rezensionen<br />
Valentin Weigel: Sämtliche Schriften. Neue Edition. Hg. v. Horst<br />
Pfefferl. Bd.9: Seligmachende Erkenntnis Gottes. Unterricht Predigte.<br />
Bericht vom Glauben. Hg. u. eingel. v. Horst Pfefferl. Stuttgart, Bad<br />
Cannstatt: frommann-holzboog 2008<br />
Valentin Weigel: Sämtliche Schriften. Neue Edition. Hg. v. Horst<br />
Pfefferl. Bd.11: Informatorium. Natürliche Auslegung von der<br />
Schöpfung. Vom Ursprung aller Dinge. Viererlei Auslegung von der<br />
Schöpfung. Hg. u. eingel. v. Horst Pfefferl. Stuttgart, Bad Cannstatt:<br />
frommann-holzboog 2007: Ute Gause . . . . . . . . . . . . . . . . . 271<br />
Johann Albrecht Bengel: Briefwechsel. Briefe 1707–1722. Hg. v. Dieter<br />
Ising. Göttingen: <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> 2008 (TGP VI.1):<br />
Eberhard Fritz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274<br />
Gerhard Tersteegen: Briefe 1. Briefe 2. Hg. v. Gustav Adolf Benrath<br />
unter Mitarb. v. Ulrich Bister u. Klaus vom Orde. 2 Bde. Gießen u.<br />
Göttingen: Brunnen Verlag u. <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> 2008 (TGP<br />
V.7,1 u. 2): Veronika Albrecht- Birkner . . . . . . . . . . . . . . . . 277<br />
‚Fromme Unternehmer.‘ Briefe der Ärzte Christian Friedrich und<br />
Christian Sigismund Richter an Carl Hildebrand v. Canstein. Hg. v.<br />
Jürgen Helm u. Elisabeth Quast. Halle: Verlag der Franckeschen<br />
Stiftungen 2010 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 11):<br />
Barry Murnane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286<br />
Kinder, Krätze, Karitas. Waisenhäuser in der Frühen Neuzeit. Hg. v.<br />
Claus Veltmann u. Jochen Birkenmeier. Halle: Verlag der Franckeschen<br />
Stiftungen 2009 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 23): Juliane<br />
Jacobi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292<br />
Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer<br />
Stadtentwürfe. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle: Verlag der Franckeschen<br />
Stiftungen 2010 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 25): Matthias<br />
Franke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296<br />
Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der<br />
Frühneuzeitforschung. Hg. v. Michael North. Köln [u.a.]: Böhlau<br />
Verlag 2009: Viktoria Franke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300<br />
Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang<br />
Breul, Marcus Meier und Lothar Vogel. Göttingen. <strong>Vandenhoeck</strong> &<br />
<strong>Ruprecht</strong> 2010 (AGP, 55): Wolfgang Sommer . . . . . . . . . . . . . 305<br />
8<br />
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Johannes Wallmann: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II.<br />
Tübingen: Mohr Siebeck 2008: Wolfgang Sommer . . . . . . . . . . . 309<br />
Hartmut Lehmann: Religiöse Erweckung in gottferner Zeit. Studien zur<br />
Pietismusforschung. Göttingen: Wallstein Verlag 2010: Viktoria Franke . 315<br />
Berthold Ebert: Erziehung und Unterricht der Jugend: Historischpädagogische<br />
Streifzüge durch die Franckeschen Stiftungen und die<br />
Region. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2008: Richard<br />
Gawthrop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320<br />
Heike Liebau: Die indischen Mitarbeiter der Tranquebarmission (1706–<br />
1845): Katecheten, Schulmeister, Übersetzer. Tübingen: Verlag der<br />
Franckeschen Stiftungen Halle im Max Niemeyer Verlag 2008<br />
(Hallesche Forschungen, 26): Thomas Ruhland . . . . . . . . . . . . 322<br />
Stephan Goldschmidt: Johann Konrad Dippel (1673–1734). Seine<br />
radikalpietistische Theologie und ihre Entstehung. Göttingen:<br />
<strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> 2001 (AGP, 39): Rudolf Dellsperger . . . . 328<br />
Douglas H. Shantz: Between Sardis and Philadelphia. The Life and<br />
World of Pietist Court Preacher Conrad Bröske. Leiden, Boston: Brill<br />
2008 (Studies in Medieval and Refomation Traditions, 133): Aira Vősa . 333<br />
Arthur Manukyan: Konstantinopel und Kairo. Die Herrnhuter<br />
Brüdergemeine im Kontakt zum Ökumenischen Patriarchat und zur<br />
Koptischen Kirche. Interkonfessionelle und interkulturelle Begegnungen<br />
im 18. Jahrhundert. Würzburg: Ergon 2010 (Orthodoxie, Orient und<br />
Europa, 3): Ute Pietruschka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336<br />
Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer<br />
Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum. Göttingen:<br />
Vandenhock & <strong>Ruprecht</strong> 2008 (AGP, 53): Malte van Spankeren . . . . 341<br />
John R. Tyson: Assist Me To Proclaim. The Life and Hymns of Charles<br />
Wesley. Göttingen: Edition <strong>Ruprecht</strong> 2007: Hermann Wellenreuther . 345<br />
Andres Straßberger: Johann Christoph Gottsched und die<br />
„philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation<br />
der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie,<br />
Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen: Mohr Siebeck 2010<br />
(Beiträge zur historischen Theologie, 151): Christopher Spehr . . . . . 346<br />
© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
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Ruth Albrecht, Martin Rosenkranz, Kristina Rousseau, Regina Wetjen,<br />
Martina Wüstefeld, Antonia Neumann: Adeline Gräfin von<br />
Schimmelmann. Adlig – fromm – exzentrisch. Neumünster: Wachholtz<br />
2011: Malte van Spankeren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349<br />
Kokou Azamede: Transkulturationen? Ewe-Christen zwischen<br />
Deutschland und Westafrika, 1884–1939. Stuttgart: Franz Steiner 2010<br />
(Missionsgeschichtliches Archiv, 14): Hartmut Lehmann . . . . . . . . 353<br />
Martin Greschat: Protestantismus im Kalten Krieg. Kirche, Politik und<br />
Gesellschaft im geteilten Deutschland 1945–1963. Paderborn [u.a.]:<br />
Ferdinand Schöningh 2010: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . 356<br />
Hedwig Richter: Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter<br />
Brüdergemeine in der DDR. Göttingen: <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong><br />
2009 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 186): Claudia<br />
Neumann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359<br />
Was ist neu am Pietismus? Tradition und Zukunftsperspektiven der<br />
Evangelischen Gemeinschaftsbewegung. Hg. v. Frank Lüdke u. Norbert<br />
Schmidt. Berlin: LIT Verlag 2010 (Schriften der Evangelischen<br />
Hochschule Tabor, 1): Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . 362<br />
Günter Butzer: Soliloquium. Theorie und Geschichte des<br />
Selbstgesprächs in der europäischen Literatur. München: Wilhelm Fink<br />
Verlag 2008: Tanja Täubner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364<br />
Bibliographie<br />
Christian Soboth und Hans Goldenbaum: Pietismus-Bibliographie . . . 373<br />
Register<br />
Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
JAN VAN DE KAMP<br />
Die Einführung der christlichen Disziplinierung des<br />
Alltags in die deutsche evangelische<br />
Erbauungsliteratur durch Lewis Baylys <strong>Praxis</strong> <strong>Pietatis</strong><br />
(1628)<br />
1.<br />
Im Jahre 1628 erschien zum ersten Mal eine deutsche Übersetzung des englischen<br />
puritanischen Erbauungsbuches Practice of Piety, directing a christian how to<br />
walk, that he may please God (1. Aufl.: vor 1612) des walisischen Bischofs Lewis<br />
Bayly (ca. 1575–1631). 1 Unter dem Titel <strong>Praxis</strong> <strong>Pietatis</strong>: Das ist, Ubung der Gottseligkeit<br />
erschien sie bei Ludwig König im reformierten Basel in der Schweiz.<br />
In Baylys Buch werden auf systematische Weise Vorschriften für das christliche<br />
Leben gegeben. Dargelegt wird, wie man den Tag mit Meditation und<br />
Gebet anfangen soll, wie man in einem Jahr die Bibel durchlesen kann, wie<br />
man den ganzen Tag in Gedanken, Worten und Taten mit Gott wandeln, und<br />
wie man den Tag abschließen soll. Absonderliche Aufmerksamkeit wird dabei<br />
dem Sonntag mit dem an diesem Tag auszuführenden Hausgottesdienst gewidmet.<br />
Neben diesem christlichen Tagesablauf gibt es Anleitungen für spezifische<br />
Gelegenheiten wie das Heilige Abendmahl, das Fasten, für Krankheiten, für<br />
das Sterben, und das Märtyrertum. 2 Damit wird ein Kompendium für die<br />
1 Vgl. über Bayly: J. Gwynfor Jones u. Vivienne Larminie: Art. „Bayly, Lewis (c.1575–1631)“.<br />
In: Oxford Dictionary of National Biography, 2008, http://www.oxforddnb.com/view/article/<br />
1766; Leendert Frans Groenendijk: Lewis Bayly (ca. 1575–1631). De dramatische levensloop van de<br />
auteur van The Practice of Piety. In: De praktijk der godzaligheid. Studies over De practycke ofte<br />
oeffeninghe der godtzaligheydt (1620) van Lewis Bayly. Hg. v. Willem Jan op ’t Hof [u.a.]. Amstelveen<br />
2009, 11–39. Vgl. über die internationale Verbreitung des Buches: Jan van de Kamp: De internationale<br />
receptie van The Practice of Piety en de plaats van de Nederlandse vertaling daarin. In:<br />
De praktijk der godzaligheid, s.o., 259–299.<br />
2 Vgl. für eine Zusammenfassung des Inhalts: August Lang: Puritanismus und Pietismus. Studien<br />
zu ihrer Entwicklung von M. Butzer bis zum Methodismus. Neukirchen 1941, 186–203;<br />
Martin Schmidt: Eigenart und Bedeutung der Eschatologie im englischen Puritanismus. In: ThViat<br />
4, 1953, 205–266; hier 224–251; Charles James Stranks: Anglican Devotion. Studies in the Spiritual<br />
Life of the Church of England between the Reformation and the Oxford Movement. London<br />
1961, 35–63; Erhard Peschke: Bekehrung und Reform: Ansatz und Wurzeln der Theologie August<br />
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innerlichen wie die äußerlichen Aspekten der Frömmigkeit geboten, das sich<br />
durch inhaltliche Vollständigkeit auszeichnet und sowohl für Individuen als<br />
für Familien gedacht ist.<br />
Die deutsche Übersetzung wurde im gesamten deutschen Sprachraum sehr<br />
erfolgreich. Seit 1631 lag eine lutherische Bearbeitung vor, verlegt bei den<br />
Brüdern Stern in Lüneburg. Bis 1743 erschienen 69 Auflagen der Schrift. 3 Seit<br />
1631 wurde die Schrift Arte of divine meditation (1601) des Puritaners Joseph<br />
Hall (1574–1656) der Bayly-Übersetzung hinzugefügt.<br />
Die Forschung hat darauf hingewiesen, dass mit Baylys und anderer Puritaner<br />
Schriften ein neues Element in die deutsche evangelische Erbauungsliteratur<br />
introduziert wurde, nämlich die detaillierte christliche Disziplinierung des<br />
Alltags. 4 Diese Behauptung ist allerdings noch nie gründlich überprüft worden.<br />
Wenn diese These bejaht werden kann, so hat Baylys Schrift wesentlichen<br />
Einfluss auf die Frömmigkeit im deutschen Sprachraum ausgeübt. Aus diesem<br />
Grund wird hier ein Ansatz zur Überprüfung geboten, indem die deutschsprachige<br />
evangelische Erbauungsliteratur seit der Reformation auf diese Frage hin<br />
untersucht wird. Dabei wird in der einschlägigen Forschungsliteratur nach<br />
Tagesabläufen im Sinne Baylys gesucht. 5<br />
In der Reformationszeit und danach erschienen allerhand Gebetbücher,<br />
Betrachtungen (unter anderem über die Passion), Predigtliteratur, Anleitungen<br />
zur Vorbereitung des Abendmahls, Anleitungen für kranke Leuten, für die<br />
Sterbensvorbereitung, und Betrachtungen über Sterben, Gericht, Himmel und<br />
Hölle. Tagesabläufe wie Baylys Schrift hat es anscheinend kaum gegeben. Man<br />
findet nur: Wenzeslaus Lincks (1483–1547) Wie sich ein Christenmensch halten<br />
soll des morgens […] und des abends (1530) 6 sowie Veit Dietrichs Etliche Schrifften<br />
Hermann Franckes. Bielefeld 1977, 65–81; Willem Jan op ’t Hof: Engelse piëtistische geschriften in<br />
het Nederlands, 1598–1622. Rotterdam 1987, 170–178; Athina Lexutt: Mitten dazwischen. Lewis<br />
Bayly und seine „Practice of Piety“. In: Mut in Zeiter der Resignation. Betrachtungen zur Bestimmung<br />
des Menschen. Hg. v. Boglarka Hadlinger. Tübingen, Wien 2004, 253–273.<br />
3 S. den Katalog der Auflagen bei Edgar C. McKenzie: A catalog of British devotional and religious<br />
books in German translation from the Reformation to 1750. Berlin [u.a.] 1997, 71–82.<br />
4 Vgl. Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen<br />
Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, 116; Johannes Wallmann:<br />
Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. 2., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 1986, 24;<br />
Willem Jan op ’t Hof: De internationale invloed van het puritanisme. In: Willem van ’t Spijker [u.a.]:<br />
Het puritanisme. Geschiedenis, theologie en invloed. Zoetermeer 2001, 271–384, hier 354; Peter<br />
Damrau: The Reception of English Puritan Literature in Germany. London 2006, 65.<br />
5 Benutzt wurden dabei: Hermann Beck: Die Erbauungsliteratur der evangelischen Kirche<br />
Deutschlands. Bd.1: Von M. Luther bis Mart. Moller. Erlangen 1883; ders.: Die religiöse Volkslitteratur<br />
der evangelischen Kirche Deutschlands in einem Abriß ihrer Geschichte. Gotha 1891; Constantin<br />
Grosse: Die alten Tröster: ein Wegweiser in die Erbauungslitteratur der evang.-luth. Kirche<br />
des 16. bis 18. Jahrhunderts. Hermannsburg 1900; Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen<br />
lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924; Rudolf Mohr: Art. „Erbauungsliteratur<br />
II. Mittelalter – III. Reformations- und Neuzeit“. In: TRE 10, 1982, 43–80; Joseph Weysmayer u.<br />
Albrecht Beutel: Art. „Erbauungsliteratur II. Neuzeit“. In: RGG 4 2, 1999, 1388–1391.<br />
6 Vgl. Beck, Erbauungsliteratur [s. Anm.5], 133f.<br />
12<br />
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
für den gemeinen Mann (1548) 7 . Für die Frühzeit der Reformation ist das Fehlen<br />
daraus zu erklären, dass die damaligen evangelischen Theologen sich auf die<br />
Lehre konzentrierten. Schon im Zeitalter der Reformation entstand aber eine<br />
Frömmigkeitsrichtung, zu der die Namen von Kaspar von Schwenckfeld,<br />
Paracelsus, Valentin Weigel, Johann Arndt, Johann Valentin Andreae, Martin<br />
Moller, Johann Habermann, Joachim Lütkemann, Heinrich Müller, Theophil<br />
Großgebauer und anderen gehören. 8 Sie übten Kritik an der Kirche und deren<br />
Glieder aus und drängten auf die Nachfolge Christi. Jedoch haben auch diese<br />
Autoren anscheinend kaum Tagesabläufe verfasst. Gleiches gilt für die deutschen<br />
Spiritualisten, wozu unter anderem Jakob Böhme und dessen schlesischer<br />
Umkreis, Johann Gifftheil, Joachim Betke, Christian Hoburg, Friedrich Breckling,<br />
Quirinus Kuhlmann und Johann Georg Gichtel gehören. Als Tagesabläufe<br />
stehen Michael Saxos (Sachse) Wochenbüchlein (1596, Andachten für die<br />
sieben Wochentage) 9 und Balthasar Ostens Diarium christianum (1611, eine<br />
Anleitung, wie man zwölf Stunden am Tage mit Jesu umgehen soll) 10 vereinzelt<br />
da. Auch die englische puritanische Literatur, die seit Anfang des 17. Jahrhunderts<br />
ins Deutsche übersetzt wurde, und die von William Perkins’ (1558–<br />
1602) Schriften dominiert wurde, enthält bis 1628 keine Tagesabläufe. 11<br />
Die Forschung hat als Quellen für Baylys Buch die Schriften der spanischen<br />
Jesuiten angewiesen, wie Exercitia spiritualia (1548) von Ignatius de Loyola<br />
(1491–1556); Guía de pecadores (1556/1557) und Libro de la oración y meditación<br />
(1554) von Gaspard Loarte (1498–1578) und Esercitio della vita christiana (1557)<br />
von Luis de Granada (1504–1588). 12 Bayly hat diese Quellen einer konfessionellen<br />
Bearbeitung unterzogen. 13 In den Schriften der erwähnten Jesuiten finden<br />
sich Beschreibungen der Höllenqualen und der himmlischen Freude;<br />
Regeln und Anleitungen für die Frömmigkeit, oft für jeden Wochentag; Ratschläge<br />
zur Befreiung von Sünden und Laster; Mittel gegen die Hauptsünden;<br />
Handreichungen für die Ausübung der Tugenden; Betrachtungen für den<br />
Morgen und den Abend; Methoden für Gebete und Betrachtungen; Anleitungen<br />
zum Sündenbekenntnis, zum Fasten und Almosen, zur Heiligung der Feiertage<br />
und der besonderen Gelegenheiten, zur Sterbensvorbereitung und<br />
Betrachtungen über die Passion Christi. Alle diese Elemente finden sich auch<br />
in Baylys Werk.<br />
7 Vgl. Beck, Erbauungsliteratur [s. Anm.5], 152–154.<br />
8 Vgl. Martin Brecht: Das Aufkommen der neuen Frömmigkeitsbewegung in Deutschland. In:<br />
Geschichte des Pietsmus 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert.<br />
Hg. v. dems. Göttingen 1993, 113–203; ders.: Die deutschen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts.<br />
In: Ebd., 205–240.<br />
9 Vgl. Beck, Erbauungsliteratur [s. Anm.5], 320.<br />
10 Vgl. Beck, Erbauungsliteratur [s. Anm.5], 89.<br />
11 S. McKenzie, A catalog [s. Anm.3], 444f.<br />
12 Vgl. Gordon Stevens Wakefield: Puritan Devotion. Its Place in the Development of Christian<br />
Piety. London 1957, 87; Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 80f.<br />
13 Vgl. Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 117–123.<br />
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13
Es ist sehr gut möglich, dass auch diese jesuitischen Schriften in deutscher<br />
Übersetzung von Evangelischen im deutschen Sprachraum gelesen wurden.<br />
Auf ähnliche Weise wurden in England und in den Niederlanden von Reformierten<br />
vielfach römisch- katholische Erbauungsschriften gelesen. Weil die<br />
reformierten Theologen dies für eine Gefahr erachteten und um eine Lücke zu<br />
füllen, fingen sie selbst an, ähnliche Erbauungsbücher zu verfassen, jetzt aber<br />
mit einem Inhalt, die ihrer eigenen Konfession konform war. 14 Tatsächlich<br />
erschienen seit den siebziger Jahren des 16. Jahrhunderts deutsche Übersetzungen<br />
von Schriften der erwähnten jesuitischen Autoren. 15<br />
2.<br />
Baylys Schrift hat vor allem unter Lutheranern im deutschen Sprachraum<br />
erheblichen Einfluss ausgeübt, und damit die aktive Seite der Frömmigkeit in<br />
der lutherischen und reformierten Konfession im 17. und 18. Jahrhundert<br />
maßgeblich geprägt. Dieser Einfluss zeigt sich an zahlreichen Indizien. 16<br />
Im Jahre 1627, also ein Jahr vor Erscheinen der gesamten deutschen Übersetzung,<br />
erschien in Basel Johann Jacob Grassers (1579–1627) Himmelischer Seelen-Tisch<br />
in dritter Auflage, zu der Teile über das Heilige Abendmahl aus Baylys<br />
Werk hinzugefügt waren. 17<br />
Der lutherische Prediger Ludwig Dunte (1597–1639) aus Reval (heute: die<br />
estische Hauptstadt Tallinn) verfasste 1631 Ubung des Christenthums, eine<br />
Schrift die laut Udo Sträter eine „unübersehbare Verwandtschaft“ mit Baylys<br />
Schrift in Zielsetzung und Inhalt aufweist. 18 Diese Verwandtschaft geht aber<br />
noch weiter, wie aus einem kurzen Textvergleich hervorgegangen ist. Dunte<br />
hat Fragmente aus Practice of Piety über die Sonntagsheiligung, die individuelle<br />
14 Vgl. Op ’t Hof: De internationale invloed [s. Anm.4], 375f.<br />
15 Vgl. Manuel Ruiz Jurado: Art. „LOARTE (GASPARD)“. In: Dsp 9, 1976, 949–952; [Dietrich<br />
Riemenschneider u. Aurelio Funetes Rojo:] Art. „Fray Luis de Granada“. In: Kindlers Neues Literatur<br />
Lexikon 6, 1989, 782–784; [Aurelio Funetes Rojo:] Art. „Ignatius von Loyola“. in: Kindlers<br />
Neues Literatur Lexikon 8, 1990, 345–347; seit 1613 wurden Loyolas Schriften ins Deutsche übersetzt,<br />
siehe VD16 (www.vd16.de) und VD17 (www.vd17.de); Loartes Werke seit 1576 (siehe<br />
VD16), Granadas Schriften seit 1572 (siehe VD16). Alle Internetseiten konsultiert am 09.07.2009<br />
16 Vgl. für die folgenden Absätze im Allgemeinen: Edgar C. McKenzie: British devotional literature<br />
and the rise of German Pietism. Diss. theol. [masch.] Bd.1. St. Andrews 1984, 152–154, 184–<br />
193; Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 76f., 81–83; Damrau [s. Anm.4], 59–68; Kamp [s. Anm.1],<br />
269–280.<br />
17 Vgl. Manfred Edwin Welti: Der Basler Buchdruck und Brittannien: die Rezeption britischen<br />
Gedankenguts in den Basler Pressen von den Anfängen bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts. Basel<br />
1964, 222 Anm.155; 258f. Anm.44.<br />
18 Vgl. Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts.<br />
Tübingen 1995, 52–60, 68. Vgl. über Dunte: Johann Friedrich von Recke u. Karl Eduard Napiersky:<br />
Art. „Dunte (Ludwig)“. In: Allgemeines Schriftsteller- und Gelehrten-Lexikon der Provinzen<br />
Livland, Esthland und Kurland. Hg. v. dens. Bd.1. [Mitau 1827]. ND Berlin [1966], 462–465.<br />
14<br />
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Morgen- und Abendandacht, das Abendmahl, über Krankheit und Sterben in<br />
seinem Werk verarbeitet. 19 Er hat Baylys Werk wohl während seiner Studienreise,<br />
während der er anderthalb Jahre an der Bodleyan Library in Oxford verbrachte,<br />
kennengelernt. Zu Duntes Schrift hat der Lübecker Superintendent<br />
Nikolaus Hunnius (1585–1643) eine Vorrede verfasst. Dieses Beispiel bezeugt<br />
eine recht frühe Rezeption von Baylys Schrift.<br />
Der niedersächsische Pfarrer Justus Gesenius (1601–1673) gibt in seiner Kleinen<br />
Katechismus-Schule, die als Katechismus in Niedersachsen einen sehr hohen<br />
Status erlangte, 20 eine Handreichung an Hausväter um ihr Gesinde in der<br />
christlichen Lehre zu unterrichten. 21 Hans Leube zufolge wurde er dabei durch<br />
die ersten Kapitel aus Baylys Werk angeregt. Auch in seinen Auffassungen<br />
über das Gebet, das Abendmahl und die Sonntagsheiligung wurde Gesenius<br />
von Bayly beeinflusst, was sich in seiner <strong>Praxis</strong> Devotionis (1645) niedergeschlagen<br />
hat. Gesenius war ein Schüler des irenischen lutherischen Theologen<br />
Georg Calixt (1586–1656) aus Helmstedt, der Bayly und Sonthoms Güldenes<br />
Kleinod – ein anderes puritanisches Erbauungsbuch, das in Deutschland ebenfalls<br />
sehr erfolgreich wurde 22 – empfohlen hatte. 23 Übrigens wurde Gesenius’<br />
Katechismus zusammen mit einer anderen Schrift, Von der wahren christlichen<br />
Andacht, 1631 der Übersetzung von Baylys Buch hinzugefügt. Leube und<br />
McKenzie vermuten, dass Gesenius die lutherische Bearbeitung von Bayly und<br />
Sonthom verfasst hat. 24<br />
1633 richteten einige reformierte Theologen und Pfarrer aus dem deutschen<br />
Reich ein Ersuchen an die Kirche Großbritanniens und Irlands, in dem sie um<br />
die Zusammenstellung eines Kompendiums für die praktische Theologie<br />
baten. Zur Unterstützung wiesen sie daraufhin, dass die deutsche Übersetzung<br />
von Baylys Schrift ein großes geistliches Wachstum in vielen Menschen<br />
bewirkt habe. 25<br />
19 Benutzt wurden: Ludovicus Dunte: Wahre und rechtmessige Ubung des Christenthumbs.<br />
Wittenberg 1678 (HAB Wolfenbüttel M: Th 634); [Lewis Bayly:] <strong>Praxis</strong> <strong>Pietatis</strong>: Das ist: Ubung<br />
der Gottseligkeit. [Frankfurt? 1630] (HAB A: 801.4 Theol. (2)). Entlehnungen gibt es an folgenden<br />
Stellen: (Bayly) (Kapitel) 31–35 – (Dunte) (Buch) 2. (Kapitel) 3 (Therma: Sonntagsheiligung); 20,<br />
23, 26 – 3.1, 9 (Anfang und Abschluss des Tages); 39–43 – 6.1–4 (Heiliges Abendmahl); 44, 45, 52<br />
– 7.2–3 (Krankheit, Sterben).<br />
20 Vgl. Hans-Walter Krumwiede: Kirchengeschichte Niedersachsens. Bd 1: Von der Sachsenmission<br />
bis zum Ende des Reiches 1806. Göttingen 1995, 217.<br />
21 Vgl. für die folgenden Absätze im allgemeinen: Leube [s. Anm.5], 169f.; Wallmann, Philipp<br />
Jakob Spener [s. Anm.4], 15–24.<br />
22 Vgl. McKenzie, British devotional literature [s. Anm.16], 144–182; Sträter, Sonthom [s.<br />
Anm.4], 60–76; Damrau [s. Anm.4], 59–70.<br />
23 Vgl. McKenzie, British devotional literature [s. Anm.16], 160.<br />
24 Vgl. für die Argumentation Leube [s. Anm.5], 170; McKenzie, British devotional literature<br />
[s. Anm.16], 188–190. Leube vermutet, dass Gesenius seinen Namen nicht auf dem Titelblatt hat<br />
drucken lassen aus Angst vor einer schweren Strafe.<br />
25 Dieser Brief wurde 1658 durch John Dury (1596–1680) veröffentlicht: The earnest breathings<br />
of forreign protestants, divines and others to the ministers and other able christians of these<br />
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15
1634 erschien die lutherische Fassung von Baylys Schrift in nochmals überarbeiteter<br />
Form in Straßburg. Die Fragmente über das Abendmahl und die<br />
Erwählung waren nochmals bearbeitet. 26 Diese Straßburger Auflage bekam<br />
eine kirchliche Approbation, die höchstwahrscheinlich dem Straßburger Theologieprofessor<br />
und Kirchenpräsidenten Johann Schmidt (1594–1658) zu verdanken<br />
ist. In seinen Predigten hat Schmidt die von Bayly vorgeschriebenen<br />
Pflichten vor, während und nach dem Gottesdienst übernommen. Ebenso wie<br />
Dunte hatte Schmidt eine Studienreise nach England gemacht, wo er den Puritanismus<br />
kennengelernt hatte.<br />
Arnold Mengering (1596–1646), Hauptprediger und Superintendent in<br />
Halle an der Saale, plädierte 1636, Bezug nehmend auf Bayly, für eine strenge<br />
Sonntagsheiligung. Der Politiker, Satiriker und Pädagoge Michael Moscherosch<br />
(1601–1669) zitierte Bayly beifällig im Jahre 1643. Der Hallesche Pfarrer<br />
Gottfried Olearius (1605–1685) empfahl 1652 Bayly als eine nützliche und in<br />
dogmatischer Hinsicht saubere Schrift. Der Rostocker Theologe Theophil<br />
Großgebauer (1626/1627–1661) übernahm in seinen Drey geistreichen Schrifften<br />
(1661) Baylys Auffassung, dass die römisch-katholische Kirche von der neutestamentlichen<br />
Kirche abgewichen sei, und verwies auf dessen Standpunkt über<br />
die Heiligung des Sonntags statt des Samstags. 27 Der Nichttheologe Reinhard<br />
von Derschau zitierte 1684 beifällig Baylys Schrift. Viele Gebete aus Baylys<br />
Schriften wurden in dem durch den Lüneburger Buchhändler und Drucker<br />
Michael Cubach zusammengestellten Gebetbuch Einer gläubigen und andächtigen<br />
Seelen tägliches Bet-, Buß-, Lob- und Dankopfer (1658) übernommen. 28 Georg<br />
Nitzsch (1673–1729), Pfarrer in Wolfenbüttel, übernahm das von Großgebauer<br />
zitierte Fragment 1693 ebenfalls. Schließlich wurden in den zwei Gebetbüchern<br />
des Stuttgarter Theologen Johann Christian Storr (1712–1773): Gottgeheiligtes<br />
Flämmlein auf den Bet-Altar des Herzens und Christliches Haus-Buch zur<br />
Übung des Gebets, die beide 1757 erschienen, viele von Baylys Gebete übernommen.<br />
Nicht nur unter Theologen und Gelehrten fand Bayly Eingang, sondern<br />
three nations for a compleat body of practicall divinity. Ed. by John Dury. London 1658, A3r-B2r,<br />
57. Die Bitte wurde unterzeichnet zu Hanau und Herborn durch Joannes Daniel Wildius (Hanau),<br />
Theodorus Leurelius (Hanau), Conradus Ammonius (Hanau), Paulus Tossanus (Pfalz), Clemens<br />
Boesius (Neu-Hanau), Isaacus Boots (Hanau), Matthaeus Rowyer (Neu- Hanau), Philippus Pareus<br />
(Hanau), Petrus Streithagen (Hofprediger der König von Böhmen), Joh. Moriaen (Köln), Philippus<br />
Snabelius (Hoing, Solms), Johan. Conradus Hopsius (Hanau), Henricus Meerbottius (Schresheim<br />
Ladenburg, Pfalz), Johan. Irlin (Herborn), Casparus Stippius (Siegen), Johannes Arcularius (Beilstein)<br />
en Thomas Dern (Altenkirch). Vgl. Philip Benedict: Christ’s churches purely reformed: a social<br />
history of Calvinism. New Haven, London, 522; Jan van de Kamp: Ein frühes reformiertes pietistisches<br />
Netzwerk in der Kurpfalz in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. In: ARG 40, 2011 (im<br />
Druck).<br />
26 Vgl. Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 50 auch Anm.45.<br />
27 Vgl. Leube [s. Anm.5],165.<br />
28 Vgl. McKenzie, British devotional literature [s. Anm.16], 192, 230. McKenzie hat die Auflage<br />
aus dem Jahre 1688 konsultiert.<br />
16<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
auch unter Fürsten. Herzog Ernst der Fromme (1601–1675) von Sachsen-<br />
Gotha-Altenburg präsentierte 1660 seinen Pfarrern und Schulmeistern eine<br />
Liste mit empfohlenen Erbauungsbüchern, unter ihnen die Schriften Luthers,<br />
Arndts, des Gothaschen Hofpredigers Salomon Glassius und Baylys Schrift. 29<br />
Großen Einfluss hat Baylys Buch auf den lutherischen Pietismus im deutschen<br />
Reich ausgeübt. 30 Der schon erwähnte Johann Schmidt aus Straßburg<br />
war Lehrmeister von Philipp Jakob Spener (1635–1705), Vater des deutschen<br />
lutherischen Pietismus, der in diesem Beitrag als Pietismus im engeren Sinn,<br />
also als Bewegung mit programmatischer Aktivität definiert wird. 31 In seiner<br />
Autobiographie schreibt Spener, wie er bereits in seiner Jugend von der Eitelkeit<br />
der Welt losgelöst wurde.<br />
Als junger Knabe las Spener am häufigsten in Bayly, neben der Bibel, Arndts<br />
Hauptwerk und Sonthom. Bayly rührte ihn aber am meisten, vor allem die<br />
Meditationen über den glückseligen Zustand der Gläubigen und den unglückseligen<br />
Zustand der Ungläubigen. Ein Teil der Betrachtungen über die Glückseligkeit<br />
der Gläubigen setzte er sogar in Verse um. Als seine Großmutter starb,<br />
verlangte der 14-jährige Spener sehr nach dem Tod und bat er Gott um Erfüllung<br />
dieses Verlangens. Es ist Bayly, der in seinem Werk zu diesem Verlangen<br />
auffordert.<br />
Spener wurde von Bayly in seinen Ansichten über die Lebens- und Sonntagsheiligung,<br />
über irdisches Vergnügen, das Predigtamt und die mystische<br />
Vereinigung mit Christus beeinflusst. Während seiner Straßburger Studienzeit<br />
fastete Spener ein Jahr lang einmal pro Woche. 32 In dem 1670 unter anderem<br />
von Spener gegründeten collegium pietatis in Frankfurt wurde Bayly zusammen<br />
mit Joachim Lütkemanns (1608–1655) Vorschmack göttlicher Güte (1653) und<br />
Nikolaus Hunnius’ Epitome credendorum oder Inhalt christlicher Lehre (1625) gelesen.<br />
Welti zählt Baylys Schrift „zum geistigen Stammbaum der Pia Desideria“,<br />
Speners Reformprogramm aus dem Jahre 1675. 33<br />
Später wuchs bei Spener eine kritischere Haltung gegenüber den puritanischen<br />
Schriften, weil sie seines Erachtens Gesetz und Evangelium, Rechtfertigung<br />
und Heiligung nicht streng trennten, sondern vermischten. Aus diesem<br />
Grund bevorzugte er seitdem Arndts Hauptwerk. Trotzdem schätzte er die<br />
29 Vgl. Mary Noll Venables: Pietist Fruits from Orthodox Seeds: The Case of Ernst the Pious of<br />
Saxe-Gotha-Altenburg. In: Confessionalism and Pietism: religious reform in early modern Europe.<br />
Ed. by Frederik Angenietus van Lieburg. Mainz 2006, 91–109, hier 97.<br />
30 Vgl. für die folgenden Absätze im Allgemeinen: McKenzie, British devotional literature [s.<br />
Anm.16], 301–315; Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 45, 102, 114f.; Damrau [s. Anm.4], 63–65.<br />
31 Vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. 2., durchges. u. aktual. Aufl. Göttingen 2005, 26.<br />
32 Vgl. Paul Grünberg: Philipp Jakob Spener. Bd.1: Die Zeit Speners. Das Leben Speners. Die<br />
Theologie Speners. Göttingen 1893, 133, 142.<br />
33 Vgl. Welti [s. Anm.17], 259.<br />
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17
Puritaner weiterhin hoch wegen ihrer Aufforderung zu Bekehrung und ihrer<br />
Vorschriften für die Lebensheiligung. 34<br />
Der wichtigste lutherische Pietist der zweiten Generation, August Hermann<br />
Francke (1663–1727), las in seiner Jugend ebenfalls Bayly neben Arndt und<br />
Sonthom. Seitdem er zum ersten Mal am Heiligen Abendmahl teilnahm, las er<br />
immer als Nachbetrachtung Bayly und „Ludovici Dunters Excitationes“,<br />
womit Duntes Werk gemeint sein wird. Baylys Einfluss zeigt sich weiter in<br />
Franckes Aufforderung zu Meditation und in seinen Ansichten über Sonntagsheiligung,<br />
irdisches Vergnügen und das Predigtamt. 35<br />
Nicht nur für Spener und Francke, sondern für zahllose lutherische Theologen<br />
nach ihnen, bis zu dem Württembergischen Pietisten Johann Albrecht<br />
Bengel (1687–1752), war Baylys Schrift Jugendlektüre. 36 Auch bei anderen<br />
pietistischen oder pietistisch gesinnten lutherischen Theologen wie Johann<br />
Anastasius Freylinghausen (1670–1739), Gottfried Vockerodt (1665–1727),<br />
Johann Georg Böse (ca. 1662–1700) und Johann Melchior Stenger (1638–<br />
1710) ist Baylys Einfluss aufzuweisen, und zwar in ihren Auffassungen über<br />
die Lebensheiligung, das irdische Vergnügen und die Begrenzung der Gnadenzeit.<br />
37 Übrigens zitierte auch der Vater des reformierten Pietismus im deutschen<br />
Reich, Theodor Undereyck (1635–1693), in seinem Kompendium<br />
Christi Braut unter den Töchtern zu Laodiceae (1670) neben vielen anderen Puritanern<br />
Bayly. 38<br />
Die Rezeption von Baylys Schrift beschränkte sich nicht auf die kirchlichen<br />
Pietisten, sondern dehnte sich auch zu radikalen Pietisten aus. Die Lektüre von<br />
Bayly, Sonthom und Arndt überzeugte Erasmus Hoffmann vom gottlosen<br />
Zustand der Kirche, weshalb er diese Schriften einem Freund empfahl. Hoffmann<br />
war Anhänger des Spiritualisten Johann Georg Gichtel (1638–1710). 39<br />
Der Notar Johann Adam Raab (Rabe) aus Erlangen nährte sich an den<br />
Erbauungsschriften von Sebastian Franck (1499–1543) und Valentin Weigel<br />
(1533–1588) wie an den puritanischen Schriften von Bayly, Sonthom und<br />
Daniel Dyke (gest. 1614). 40<br />
34 Vgl. Grünberg [s. Anm.32], 132; Sträter, Sonthom [s. Anm.4], 54 f.<br />
35 Vgl. Erich Beyreuther: Der Ursprung des Pietismus und die Frage nach der Zeugenkraft der<br />
Kirche. In: EvTh 2, 1951/1952, 137–144, hier 139; Peschke [s. Anm.2], 65–82; McKenzie, British<br />
devotional literature [s. Anm.16], 298–301, 307–311.<br />
36 Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm.18], 106.<br />
37 Vgl. McKenzie, British devotional literature [s. Anm.16], 306–314.<br />
38 Vgl. James Robert Tanis: Dutch Calvinistic pietism in the Middle Colonies. A study in the life<br />
and theology of Theodorus Jacobus Frelinghuysen. The Hague [1967], 19.<br />
39 Vgl. Theodor Wotschke: Schwärmerbriefe. In: MEKGR 29, 1935, 12–14, 23, 27.<br />
40 Vgl. Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus<br />
2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen<br />
1995, 107–197, hier 141.<br />
18<br />
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
© 2011, <strong>Vandenhoeck</strong> & <strong>Ruprecht</strong> GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525559093 — ISBN E-Book: 9783647559094
Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Wegen des moralischen Charakters von Baylys Schrift befremdet es nicht,<br />
dass sie von deutschen lutherischen Theologen auch bestritten wurde. 41 Johann<br />
Hülsemann (1602–1661) aus Leipzig bezeichnete 1654 in einer Polemik mit<br />
seinen Helmstedter Kollegen Calixt und Konrad Horn (1590–1649) Bayly und<br />
Sonthom als „Schmadderer“, ein Schimpfwort, mit dem bis dahin die Wiedertäufer<br />
bezeichnet wurden. Die Autoren der Schriften seien notorische calvinistische<br />
Sektierer, die nicht zwischen Gesetz und Evangelium unterscheiden<br />
können. Sogar Speners Schwager, Joachim Stoll (1615–1678) aus Rappoltstein,<br />
verwunderte sich darüber, dass viele deutsche Lutheraner Sonthom,<br />
Bayly und Dyke der einheimischen lutherischen Erbauungsliteratur bevorzugten.<br />
Seines Erachtens enthielten die englischen Bücher ein „heimliches Gift“.<br />
3.<br />
Baylys Buch wurde unter Evangelischen im deutschen Sprachraum sehr<br />
erfolgreich, wie aus der hohen Auflagenzahl und zahlreichen Rezeptionszeugnissen<br />
hervorgeht. Damit hat er die disziplinierte alltägliche Frömmigkeit im<br />
17. und 18. Jahrhundert, nicht zuletzt im Pietismus, erheblich beeinflusst. Der<br />
Erfolg des Buches ist verschiedenen Faktoren zu verdanken. Erstens hat die<br />
Schrift wahrscheinlich eine Lücke in der deutschsprachigen evangelischen<br />
Erbauungsliteratur aufgefüllt. Anscheinend fehlten deutschsprachige evangelische<br />
Anleitungen zur Disziplinierung des Alltags. Dies erklärt, dass die Schrift<br />
auch unter Lutheranern – zwar in konfessioneller Bearbeitung – sehr erfolgreich<br />
wurde. Die meisten Rezeptionszeugnisse betreffen sogar Lutheraner.<br />
Zweitens war die Schrift als Kompendium anderen Erbauungsbüchern überlegen,<br />
indem Bayly in seiner Schrift das Gesamtspektrum der erbaulichen Gattungen<br />
zusammengestellt hatte.<br />
Es fällt auf, dass Baylys Ansichten über die Sonntagsheiligung bei verschiedenen<br />
lutherischen Theologen gewirkt haben: Dunte, Schmidt, Gesenius,<br />
Mengering, Großgebauer, Spener und Francke. War Baylys Sabbatsauffassung<br />
für sie völlig neu? Betrachteten sie seine Sichtweise als eine gute Lösung für die<br />
von ihnen beklagte Vernachlässigung der Gottseligkeit? Wenn man diese<br />
Problematik im Zusammenhang mit dem damaligen innerlutherischen Kampf<br />
um die Sonntagsheiligung betrachtet, in dem die eine Partei auf die Notwendigkeit<br />
heiliger Übungen (cultus privatus) am Tag des Herrn drängte, so werden<br />
diese Fragen – die hier nicht beantwortet werden können – noch gewichtiger.<br />
42<br />
41 Vgl. für diesen Absatz McKenzie, British devotional literature [s. Anm.16], 160–162, 279,<br />
284f.<br />
42 Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm.18], 129–144, bes. 138 Anm.329.<br />
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DANIEL EIßNER<br />
„Besser Kein Christ/ als Ein Pietist“–Zur<br />
Kontextualisierung einer Streitschrift<br />
am Rande des Kampfes um die Durchsetzung<br />
des Pietismus in Halle<br />
Die Auseinandersetzungen um den Pietismus sind, insbesondere während<br />
des letzten Jahrzehnts des 17. Jahrhunderts in publizistischer Dimension hinreichend<br />
beleuchtet worden. Diese Phase besonderer Intensität des „Pietistenstreits“,<br />
die auch als „Theologisierung“ bezeichnet worden ist, fand einen<br />
Abschluss in der literarischen Kontroverse zwischen Samuel Schelwig und Philipp<br />
Jakob Spener. 1 Allerdings haben sich im Schatten des großen Streits vereinzelt<br />
kleinere Händel vollzogen, die bislang nicht gewürdigt worden sind.<br />
So findet sich in den Beständen der Universitäts- und Landesbibliothek Halle<br />
(Sammlung Ponickau) eine zwölf Blatt starke Druckschrift, die bislang keinerlei<br />
Aufmerksamkeit seitens der Forschung erfahren hat. 2 Der Titel selbiger<br />
Streitschrift verweist auf ihren antipietistischen Charakter, das Erscheinungsjahr<br />
1699 auf die entscheidende Phase in der Konfrontation mit der orthodoxen<br />
Halleschen Stadtgeistlichkeit. 3 Seit dem Sommer des vorherigen Jahres<br />
1 Vgl. dazu die Ausführungen von Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und<br />
dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus 1: Das 17. und frühe 18. Jahrhundert. Hg. v.<br />
dems. Göttingen 1993, 279–389, hier 358–367; sowie Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung.<br />
Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts.<br />
Göttingen 1997, 222–240.<br />
2 Es handelt sich hierbei um Besser Kein Christ/ als Ein Pietist/ das ist: Christliches Bedencken über<br />
eine vorgelegte sonderbahre Frage/ gestellet von einem/ welcher der wahren Lutherischen Kirchen von gantzem<br />
Hertzen aufrichtig zugethan ist. Im Jahr 1699. Dieses Exemplar ist über den Online-Katalog der Universitäts-<br />
und Landesbibliothek Halle in digitalisierter Form einsehbar unter der URL http://digitale.bibliothek.uni-<br />
halle.de/urn/urn:nbn:de:gbv:3:1–5390. Ein weiterer Druck dieser Schrift findet<br />
sich in den Bibliotheksbeständen der Franckeschen Stiftungen in Halle; vermutlich stammt er<br />
aus dem Nachlass Johann Friedrich Ruopps (1672–1708), der 1705 seine Pfarrstelle im elsässischen<br />
Goxweiler verloren hatte und danach am Waisenhaus in Halle als Inspektor tätig war. Vgl. Michaela<br />
Scheibe: Rekonstruktion einer Pietistenbibliothek. Der Büchernachlass des Johann Friedrich Ruopp<br />
in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Tübingen 2005.<br />
3 Zeitgleich vollzogen sich weitere Aktivitäten Franckes und seiner Mitarbeiter: So erfolgte am<br />
13.07.1698 die Grundsteinlegung für das Waisenhaus, im Februar 1699 änderte Francke eigenmächtig<br />
die Taufliturgie (Weglassen des Exorzismus) und zu Ostern schaffte er die Messgewänder<br />
ab. All diese Maßnahmen verstärkten die ohnehin bestehenden Spannungen mit der Glauchaer<br />
20<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
hatte August Hermann Francke aufgrund der ihm und seinem Projekt begegnenden<br />
kirchlichen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten den Konflikt mit der<br />
Stadtgeistlichkeit gesucht, um eine Entscheidung herbeizuführen. Dazu griff<br />
er selbige mit scharfen Predigten an, denen er Titel wie Von dem Dienst untreuer<br />
Lehrer (gehalten am 14. Juni 1698 in Glaucha) 4 und Von den falschen Propheten<br />
(gehalten am 14. August 1698 in Glaucha) 5 gab. Darin wurden die orthodoxen<br />
Geistlichen implizit der falschen Amtsführung bezichtigt und generell die<br />
Zustände in der lutherischen Kirche kritisiert. Letztere Predigt erregte gar das<br />
Missfallen Speners in Berlin, welcher in einem Schreiben an Francke bemerkte,<br />
er hätte gewünscht, „das sie nicht gerad in diese Zeit gekommen wäre“. 6 Die<br />
Situation eskalierte jedoch erst, als Francke am 2. Februar 1699 die Predigt Ein<br />
Unterricht vom Kirchengehen hielt und darin die feindselige Haltung der Stadtgeistlichkeit<br />
ans Licht brachte. Jetzt hatte er den Bogen überspannt; die Hallesche<br />
Stadtgeistlichkeit richtete Mitte März eine Klageschrift an die Kurfürstliche<br />
Regierung und begründete dies mit einem offenbaren Eingriff Franckes in<br />
ein fremdes Amt sowie mit der Unbotmäßigkeit seiner Kritik, die ihm nicht<br />
zustünde. Der so Geziehene antwortete am 27. April 1699 mit einem Bekenntniß<br />
von dem Ministerio zu Halle in Sachsen, 7 in welchem er seine Vorwürfe en<br />
detail wiederholte und bekräftigte. Damit hatte Francke den Konflikt vertieft<br />
und mit der Übersendung der Akte, die sein Bekenntniß enthielt, nach Berlin<br />
lief die Entwicklung auf eine Entscheidung für oder gegen den Pietismus in<br />
Halle zu. Francke vermutete in Reaktion auf seine Ausführungen „einen großen<br />
Sturm“, und Spener sah „einen schwehren kampff, noch aber keinen außgang“.<br />
8 Während die halleschen Lutheraner auf Wiederherstellung ihrer Amtsehre<br />
und einer Bestrafung Franckes bestanden, gelang es diesem, anlässlich<br />
eines Besuchs in Berlin Anfang September 1699, Unterstützung für seine Position<br />
zu gewinnen: Am 8. September erging eine kurfürstliche Anordnung an<br />
das Konsistorium, wonach der Streit zwischen den halleschen Stadtgeistlichen<br />
und Francke ohne eine weitere Untersuchung zu beenden sei; zudem wurde<br />
Gemeinde hinsichtlich der Kirchenzucht, welche Francke in diesem Zeitraum noch einmal deutlich<br />
verschärft hatte. Zum halleschen Kontext siehe Veronika Albrecht-Birkner, Udo Sträter: Lutherische<br />
Orthodoxie in Halle – theologische Profile, Frömmigkeit und die Auseinandersetzung mit den Pietisten.<br />
In: Geschichte der Stadt Halle. Bd.1: Halle im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Hg.<br />
v. Werner Freitag [u.a]. Halle/Saale 2006, 333–349.<br />
4 Der Text liegt ediert vor in August Hermann Francke: Predigten I. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin,<br />
New York 1987 (TGP II. 9), 400–437.<br />
5 Francke, Predigten [s. Anm.4], 438–484.<br />
6 Philipp Jakob Spener an August Hermann Francke, Berlin, 05.10.1698 (zit. nach Philipp Jakob<br />
Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo<br />
Sträter in Zs.arb. m. Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr.151, 560–563, hier 561,<br />
Z. 23).<br />
7 Abgedruckt in Gustav Kramer: Neue Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes.<br />
Halle 1875, 88–115.<br />
8 Francke an Spener, Halle, 25.04.1699 (zit. n. Spener-Francke-Briefwechsel [s. Anm.6], Brief<br />
Nr.161, 591f., hier 592, Z. 13f.) sowie Spener an Francke, Berlin, 29.04.1699 (zit. n. ebd., Brief<br />
Nr.162, 593f., hier 593, Z. 11–13).<br />
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Francke im Rahmen einer Audienz beim Kurfürsten tags darauf die Schulinspektion<br />
im Herzogtum Halberstadt versprochen. 9 Obwohl der Konflikt mit<br />
der Stadtgeistlichkeit noch nicht ausgestanden war, wurde doch besonders<br />
durch letztere kurfürstliche Gunstbezeugung die Stellung Franckes gestärkt. In<br />
dieser schwebenden Lage trat eine Person ins Geschehen, welche nun geschildert<br />
werden soll.<br />
Die Stellung Franckes als vermeintlich zukünftigem Inspektor der Kirchen<br />
des Herzogtums Magdeburg und des Fürstentums Halberstadt zeitigte erstaunliche<br />
Reaktionen: Nicht wenige frühere Gegner des Pietismus ergingen sich<br />
jetzt in Demutsgesten gegenüber dem neuen starken Mann. Francke ordnete<br />
diese plötzliche Hinwendung völlig nüchtern ein:<br />
Hier ist im gantzen Lande spagiret, daß mir generalis inspectio Ecclesiarum in Ductu<br />
Magdeb[urgensi] anvertrauet, daß auch einige Prediger anfangen gar bescheidentlich<br />
und behutsam von mir zu reden, und stehen in der Furcht ich würde mit nechsten<br />
eine general visitation anstellen. 10<br />
Unter diesen Personen befand sich auch ein gewisser Gottfried Heinrich, 11<br />
der Anfang April des Jahres von seinem Amte als Pfarrer an St. Andreas in<br />
Erfurt wegen eines „crimen adulterii“ zurückgetreten war. 12 In einem Brief<br />
vom 8. Oktober 1699 wandte er sich nun aus Merseburg mit der Bitte um<br />
Hilfe und Fürsprache an Francke, nicht ohne auf seine verzweifelte Lage und<br />
ein angebliches Bekehrungserlebnis hinzuweisen:<br />
9 Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.).<br />
Göttingen 1961, 124.<br />
10 Francke an Spener, Halle, 17.10.1699 (zit. n. Spener-Francke-Briefwechsel [s. Anm.6], Brief<br />
Nr.180, 645–647, hier 645, Z. 9–12).<br />
11 Gottfried Heinrich [Henrici, Heinrici] (1670–1732) war der Sohn des Berliner Ratsherrn<br />
Georg Heinrich und hatte 1688 in Leipzig studiert (Die Iüngere Matrikel der Universität Leipzig<br />
1559–1809. Bd. II: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester<br />
1709. Hg. v. Georg Erler. [Leipzig 1909]. ND 1976, 170). 1692 wurde er Pfarrer von Altenbeichlingen,<br />
das Jahr darauf Diakon und am 22.08.1694 schließlich Pfarrer an St. Andreas in Erfurt.<br />
1699 musste Heinrich aufgrund des Vorwurfs „crimen alduterii“ zurücktreten. Er starb als Vesperprediger<br />
der deutschen lutherischen Gemeinde in Den Haag (Martin Bauer: Evangelische Theologen<br />
in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens.<br />
Neustadt/Aisch 1992, 178).<br />
12 Kern der Vorwürfe gegen Henrici in Erfurt war dessen häufige Vorsprache „bey einer<br />
Wittwe […], die eine hübsche Tochter hatte. Da endlich der Ruff in der Stadt so starck gieng,<br />
ward er vom Seniore des Ministerii deßwegen zur Rede gestellet, welcher sich aber damit entschuldiget,<br />
die Wittwe habe, als eine alte Frau so vielen Kummer und Gewissens-Angst, die ihn öffters<br />
zu sich kommen liesse und sie trösten müsse. Endlich aber nahm es bey der Tochter einen schlimmen<br />
Ausbruch, und weilen dieser Heinrici eine Ehe-Frau hatte, gieng er Ao 1699 heimlich davon,<br />
ließ Frau und Kind sitzen“ (Johann Heinrich von Falckenstein: Civitas Erfurtensis Historia Critica et<br />
Diplomaca. Erfurt 1739/40, V. Buch, Cap. XII, § XXIII, 1078, hier zit. n. Wolfgang Billig: Oh<br />
Gott, Herr Pfarrer. In: Erfurter Heimatbrief 58, 1989, 59). Mit den Verfehlungen Henricis beschäftigt<br />
sich auch August Wahl: Statistische Nachrichten über die Andreas-Kirche in Erfurt. Erfurt<br />
1868, 19.<br />
22<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Ich wolte mich vor der glückseeligsten auff der welt halten, wenn Gott, nachdem ich<br />
nun bey 8 Monat her gar jämmerlich gelebet, von innen durch den stets nagenden<br />
Wurm meines Gewißens, von außen durch so elendes Leben, welches nicht elender<br />
seyn könte, zerplagt, daß ich mich über die güte Gottes wundern muß, daß ich noch<br />
lebe; Endlich mir seine Gnaden Sonne wolte scheinen laßen, und mich einer unter<br />
denen seyn laßen, so unter E. HochEhrw. Inspection Gotte in seiner Kirchen dienen<br />
sollen. 13<br />
Heinrich hatte sogar schon eine Position im Auge, nämlich die Pfarrstelle in<br />
Eisdorf nahe Halle, für die eigentlich der Alslebener Stiftsprediger Heinrich<br />
Julius Trost vorgesehen war. 14<br />
Sollte Francke nichts für ihn tun können, möchte er doch Heinrichs Anliegen<br />
an Spener in Berlin übermitteln. Antwortschreiben sollten an einen „Cammerdiener<br />
auff der Altenburgk abgehen, bey dem ich logire“. 15<br />
Nun war Heinrich für Francke kein Unbekannter; schon 1695 hatte er Spener<br />
vor selbigem gewarnt, wofür sich letzterer ausführlich bedankte. 16 Zum<br />
nun von Heinrich erhaltenen Brief schrieb Francke an Spener, „der böse Heinrich<br />
von Erffurt“ habe „jüngst um einen Dienst bey mir angehalten“. 17 Nichtsdestoweniger<br />
hat Francke Heinrich über einen Gewährsmann in Merseburg,<br />
den Tuchmacher Andreas Hartmann, eine Antwort zukommen lassen, wie dessen<br />
Brief vom 11. Oktober 1699 beweist:<br />
Die gegebene Commission habe mir bestens befohlen seyn laßen, und Schreiben H.<br />
Henrici gleich selber zugestellet. Wie ich nun gleich auf eine Antwort bey ihm<br />
gedrungen, so entschuldiget er sich doch, daß er dieses mahl wegen einiger unumgänglicher<br />
affairen die ihm vorgefallen wären, nicht antworten könne, werde aber<br />
nächstens antworten, läßet indeßen HochgeEhrten Herrn Gevatter freundlich grüssen.<br />
18<br />
13 Heinrich an Francke, Merseburg, 08.10.1699 (AFSt/H C 688 : 1 ).<br />
14 Heinrich Julius Trost (1655–1720), geboren in Greiz, studierte 1672 in Erfurt und 1677 in<br />
Jena, wo er im Jahr darauf den Magistertitel erwarb. 1684 war Trost Pestpfarrer in Halle sowie<br />
vom gleichen Jahr ab Domprediger in Alsleben/Saale. 1699 wurde er auf Betreiben des Alslebener<br />
Patrons nach Eisdorf bei Querfurt versetzt (Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd.9. Leipzig<br />
2009, 39).<br />
15 Heinrich an Francke, Merseburg, 08.10.1699 (AFSt/H C 688 : 1), Postscriptum.<br />
16 „Die warnung vor Herrn Henrichen ist zu rechter stunde gekommen: daß ich so viel vorsichtiger<br />
mit ihm reden können. Er sprach mich um eine predigt an, ich konte mich aber mit wahrheit<br />
entschuldigen, das zwahr wegen einer investitur vor mich predigen laßen müßte, aber Herrn Reinhold<br />
bereits auffgetragen hätte. Er wolte vor keinen widrigen angesehen werden, und entschuldigte<br />
alles, sonderlich das er nie wider nichts als das bekantlich böse und sich hervorgethane irrthumen<br />
geprediget.“ (Spener an Francke, Berlin, 19.10.1695 [zit. n. Spener-Francke-Briefwechsel [s.<br />
Anm.6], Nr.110, 402–412, hier 403, Z. 20–26]).<br />
17 Francke an Spener, Halle, 17.10.1699 (zit. n. Spener-Francke-Briefwechsel [s. Anm.6], Brief<br />
Nr.180, 645–647, hier 645f., Z. 12f.).<br />
18 Hartmann an Francke, Merseburg, 11.10.1699 (AFSt/H C 81 : 3). Der vorausgegangene<br />
Brief Franckes an Heinrich konnte nicht ermittelt werden.<br />
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Weitere Kontakte zwischen Francke und Heinrich lassen sich für die nächsten<br />
Monate nicht nachweisen; in den Akten findet sich lediglich ein Brief<br />
Heinrichs vom 28. Dezember 1699, in welchem er sich bitter über die Behandlung<br />
durch Francke und Spener beklagte und sich über die Hartherzigkeit und<br />
Heuchelei der Pietisten ausließ. 19 Was hier relativ unvermittelt daherkommt,<br />
hatte eine Vorgeschichte, auf die nun einzugehen sein wird.<br />
1. „Besser Kein Christ/ als Ein Pietist“<br />
Im Herbst jenes bewegten Jahres 1699 erschien Besser kein Christ/ als ein Pietist,<br />
allerdings ohne Nennung von Autor, Verlag und Druckort. Schon der<br />
Titel stellt selbige Schrift durchaus in die Tradition der antipietistischen Schriften<br />
Mitte der 1690er Jahre – von Inhalt und Ton ganz zu schweigen. Hier<br />
werden die Pietisten in eine Reihe jener „Rottirer/ Ketzer und Schwärmer“,<br />
wie sie in der Bibel beschrieben seien, gestellt und auch die bekannten Topoi<br />
bemüht, um selbige zu diskreditieren: Jene würden kleinen Füchsen gleich die<br />
Kirche unterwandern und diese „heimlich unter dem Deckmantel der falsch=vorgegebenen<br />
Fort=Pflanzung wahrer Gottseligkeit verderben“. 20 Gerade vornehme<br />
Leute seien aus dem Drange, sich in der Nachwelt einen Namen zu<br />
machen, unter den Pietisten, was gefährlich sei, denn ihr Ansehen „kan gar<br />
viele blenden/ und ihre gelehrte und beredte Zunge gar viele beschwatzen“. 21<br />
Zudem verfügten sie über die richtige Conduite, wüssten sich auch „fein prudent“,<br />
demütig, andächtig und fromm darzustellen, führten aber doch ein<br />
scheinheiliges Leben: „Da machen sie sich fein zuthätig/ besonders bey dem<br />
Weibes=Volck/ schleichen hin und her in die Häuser/ und führen die Weiblein<br />
gefangen/ 2.Tim.III, 6.“ 22<br />
Die an den Autor herangetragene Frage, ob ein lutherischer Prediger öffentlich<br />
auftreten und seine Gemeinde ermahnen solle, sich mit den Pietisten zu<br />
vergesellschaften und mit ihnen zusammenzutreten, wird klar verneint; vielmehr<br />
halte es der Autor mit dem Titel des Traktats, man sei besser kein Christ<br />
als ein Pietist, und appelliert an die Pfarrer:<br />
Vornehmlich müssen Lehrer und Prediger wacker seyn/ ihre Zuhörer/ sich wohl in<br />
Acht zu nehmen/ zu warnen. Solches ist itzo vornehmlich sehr noth/ da die Pietisterey<br />
allenthalben/ wie die Pest/ einschleichen will/ ja an vielen Orten schon eingeschlichen<br />
ist. Ist ein Ort noch davon rein/ hat lieber GOtt hertzlich zu dancken/ und ihn<br />
zu bitten/ daß er selben ferner vor solcher schädlichen Seuche behüten wolle! 23<br />
19 Heinrich an Francke, Merseburg, 28.12.1699 (AFSt/H D 90, 572–575).<br />
20 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl.2r. Die Schrift ist unpaginiert, Angaben folgen der Blattzählung<br />
ab Titelblatt.<br />
21 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 2r.<br />
22 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 3v-4r.<br />
23 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 4v.<br />
24<br />
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Udo Sträter, PIETISMUS UND NEUZEIT<br />
Um einer Ausbreitung dieser ketzerischen Umtriebe zu begegnen, empfiehlt<br />
der Verfasser den Predigern jener noch „reinen“ Gemeinden, die Pietisten<br />
strikt zu meiden. Jene seien „grobe Ketzer“, auch wenn sie nicht gänzlich vom<br />
Worte Gottes abweichen oder den Glauben auf kein anderes Fundament gründen<br />
wollten. Dennoch hafte ihnen der Ruf der Sektiererei an: „Sie trachten ja<br />
nach nichts anders/ als sich zu trennen von denen andern/ so sich zur Lutherischen<br />
Kirchen bekennen.“ 24 Damit jedoch nicht genug, denn die Pietisten<br />
griffen ihnen nicht genehme Prediger öffentlich an: „So liegt M. Franckens<br />
Schmäh= und Schand=Predigt von falschen Propheten am Tage; Man besuche<br />
nur ihre Predigten und Bet=Stunden/ und horche/ was sie darinn vorbringen.“<br />
25 Der Autor selbst gibt an, während eines Aufenthalts in Halle „vor<br />
wenigen Wochen“ eine solche Betstunde besucht zu haben, welche Herr „Frölichhausen“<br />
26 zu Glaucha gehalten habe. Darin habe er den Text, den er morgens<br />
in der Predigt gehalten hatte, so wiederholt, „dass ich mich ärgern muste/<br />
wie es über das Predigt-Amt in der Stadt hergieng/ was vor Stichel=Reden da<br />
gefielen“. 27 Dies alles seien Zeichen der Streitsucht und verdammlichen Hasses<br />
und die Träger selbiger seien nach Paulus „vor kein lebendiges Gliedmaaß der<br />
Kirchen Christi [zu] halten“. Auf diese Weise und durch das ganze pietistische<br />
Verhalten sei eben klar zu erkennen,<br />
wes Geistes Kinder sie sind/ denn/ andere Lehrer und Prediger durchzuhecheln und<br />
zu verachten/ ist ein rechter Kunst=Griff des Teuffels/ der weiß/ dass die Welt nichts<br />
liebers/ als dieses höre/ daher sucht er/ sich hierdurch ein groß Ansehen bey den Menschen<br />
zu machen/ wenn er andere Lehrer verachtet/ und seinen falschen unter den<br />
scheinbahren Deckel der Heiligkeit/ Frömmigkeit/ guten Gewissens/ unsträflichen<br />
Lebens und Wandels desto mehr forthilfft. 28<br />
Die Pietisten würden es auch unterlassen, dem Begräbnis verdienter Kirchenmänner<br />
beizuwohnen: Als Beispiel führt der Autor den Fall des jüngst<br />
verstorbenen Pfarrers Lucht 29 an der Hallenser St. Moritz Kirche an, zu dessen<br />
24 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 4v<br />
25 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 5r.<br />
26 Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739), gebürtig aus Gandersheim im Fürstentum<br />
Wolfenbüttel, Kirchenliederdichter und -sammler. 1689 Studium in Jena, bekehrte sich durch die<br />
Schriften von Arndt und Spener und reiste zu Ostern 1691 nach Erfurt, um A.H. Francke und J.J.<br />
Breithaupt persönlich kennen zu lernen. Fortsetzung des Studiums in Erfurt und ab 1692 in Halle,<br />
bevor er Ende 1693 nach Gandersheim zurückkehrte. Hier hatte Freylinghausen keine Chance auf<br />
eine Anstellung im Kirchendienst, da er sich weigerte, eine landesherrliche Verordnung gegen<br />
„pietistische Sektiererei“ zu unterschreiben. Anfang 1696 wurde er – gegen den erklärten Widerstand<br />
der Glauchaer Gemeinde – Adjunkt bei Francke in Halle und Mitarbeiter am Waisenhaus.<br />
Vgl. dazu Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692–1704).<br />
Tübingen 2004, v.a. 30–35.<br />
27 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 5r.<br />
28 Besser Kein Christ [s. Anm.2], Bl. 5v.<br />
29 Christoph Lucht II. (1671–1699), hatte sich im Sommer an der Universität Halle immatrikuliert,<br />
im Frühjahr 1696 den Magistergrad erworben und war im gleichen Jahr Adjunkt an St.<br />
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