die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
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EIN ANSTÄNDIGER MENSCH<br />
Natürlich, manchmal denkst du an das Leid <strong>der</strong> Armen – wenn du in<br />
deinem Bett liegst, hast du so etwas wie Mitleid, du murmelst ein paar Worte<br />
<strong>der</strong> Zuversicht in dein Kissen: Bald habt ihr alle Medikamente für eure Kin<strong>der</strong>,<br />
bald ein Zuhause. Die herzlose Welt, <strong>die</strong> herzlosen Menschen wie meine Nachbarin<br />
Jean werden bald nachgeben, und schrittweise Verän<strong>der</strong>ung wird eintreten,<br />
wie sie in Holland im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t eingetreten ist.<br />
Aber während <strong>die</strong>ser Periode des Wartens, Wartens, <strong>die</strong>ses endlosen Wartens<br />
auf schrittweise Verän<strong>der</strong>ung kommen sie einer nach dem an<strong>der</strong>en<br />
und klopfen bei dir an <strong>die</strong> Tür und sie schreien auf, sie flehen dich um<br />
Hilfe an. Und du sagst: Haltet sie mir vom Leib. Ich kann <strong>die</strong>s dauernde<br />
An-<strong>die</strong>-Tür-Klopfen nicht ertragen, <strong>die</strong>se Leute, <strong>die</strong> da mit ihren lächerlichen<br />
Geschichten ankommen, <strong>die</strong> behaupten, sie wären meine Schwester,<br />
<strong>die</strong> behaupten, sie wären mein Bru<strong>der</strong>, den ganzen Tag über, jeden Tag.<br />
Und darum schafft man <strong>die</strong>se Menschen alle weg, und man zwingt sie, an<br />
Orten zu leben, wo man sie reizt, sie zum Narren hält, sie heruntermacht,<br />
sie verhöhnt, bis ein paar von ihnen anfangen, ohne Sinn und Verstand zu<br />
rasen, und sogar gemein lachen, und dann jagen ihre gemeinen Untaten<br />
wirklich jedem Entsetzen ein. Und dann wird je<strong>der</strong> einzelne <strong>die</strong>ser gemeinen<br />
Menschen bei den Schultern gepackt und nie<strong>der</strong>gehalten, und <strong>der</strong> Kopf<br />
wird ihnen geschoren, und sie werden auf einen Stuhl geschnallt, und sie<br />
werden hingerichtet, und <strong>der</strong>, für den sie hingerichtet werden, das bist du,<br />
genau wie du es immer warst, den all <strong>die</strong>se Leute vor so vielen Jahren gemeint<br />
haben, wenn sie immer wie<strong>der</strong> gesagt haben: “Unseren Kin<strong>der</strong>n zuliebe<br />
müssen wir das tun, müssen wir <strong>die</strong>se Stadt in Brand stecken, <strong>die</strong>sen<br />
Stall, <strong>die</strong>se Klinik, <strong>die</strong>se Wäl<strong>der</strong>, <strong>die</strong>se Tiere, <strong>die</strong>sen Reis, <strong>die</strong>sen Honig”,<br />
genau wie du es immer noch bist, wegen deiner Vorliebe für <strong>die</strong>se sauberen<br />
weißen Laken und <strong>die</strong> Musik und <strong>die</strong> Tänzer und <strong>die</strong> Telefongespräche,<br />
für den all <strong>die</strong>se Menschen mit den leuchtenden Augen heute nacht gefoltert<br />
werden, heute nacht sterben.<br />
Weißt du noch, <strong>die</strong>ser Tag in <strong>der</strong> Schule, als du mit <strong>die</strong>sen drei an<strong>der</strong>en<br />
Kin<strong>der</strong>n gespielt hast und <strong>die</strong> Lehrerin mit vier kleinen Kuchen in <strong>der</strong><br />
Klasse auftauchte und alles, alle vier Kuchen, dem kleinen Jungen gab,<br />
<strong>der</strong> Arthur hieß, und keinen dir o<strong>der</strong> deinen beiden an<strong>der</strong>en Freunden?<br />
Na ja, zuerst wart ihr alle vier einfach verblüfft. In <strong>die</strong>sem ersten Augenblick<br />
war euch allen vieren klar, daß das ungerecht war, unsinnig. Aber<br />
dann hat deine Freundin Ella versucht, einen kleinen Scherz zu machen,<br />
und Arthur ist wütend geworden, und er hat Ella gehauen, und dann hat er<br />
sich in eine Ecke verzogen und den ganzen Kuchen aufgegessen. Das war<br />
ein Beispiel dafür, wie einer ungeschoren davonkommt.<br />
Und dein Leben ist noch ein Beispiel dafür. Es ist das Leben von einem,<br />
<strong>der</strong> ungeschoren davongekommen ist. Und doch geht dein Fanatismus so<br />
weit, daß du dir <strong>die</strong>sen Gedanken gar nicht erst in den Sinn kommen läßt.<br />
Gewisse Dinge dürfen nicht in Frage gestellt werden. Der Kaffee hat da auf<br />
dem Regal zu sein, und dir kommt kein Gedanke je in den Sinn, <strong>der</strong> sich<br />
nicht mit <strong>der</strong> Annahme verträgt, daß du – ja, du – ein anständiger Mensch<br />
bist. Also nur weiter, denk nach – denk ungehin<strong>der</strong>t nach – denk nach,<br />
über was du willst. Denk nach über deine Gesundheit, über an<strong>der</strong>e Leute,<br />
welche, <strong>die</strong> dich schlecht behandeln, denk über <strong>die</strong> komplizierten Methoden<br />
nach, mit denen du dich selber quälst, denk über <strong>die</strong> Kin<strong>der</strong> mit den<br />
unheilbaren Krankheiten nach, <strong>die</strong> in <strong>die</strong>ser Zeitschrift interviewt worden<br />
sind. Denk an alles, was beweist, daß du anständig bist, was beweist, daß<br />
<strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong> wie du sind, anständig sind – deine Freunde, deine Lieben,<br />
und all <strong>die</strong>se Menschen auf <strong>der</strong> ganzen Welt, in jedem Land, denen du<br />
dich ähnlich fühlst – Menschen mit den besten Absichten, <strong>die</strong> ein bißchen<br />
Geld haben, aber aufrichtig an ein besseres Leben für alle glauben. Denk<br />
an alles, was du Menschenfreundliches getan hast, denk an <strong>die</strong> Menschlichkeit<br />
von allem, was du vorhattest. Und wenn etwas, was du getan<br />
hast, schlimm ausgegangen ist, denk an <strong>die</strong> gute Absicht, <strong>die</strong> <strong>der</strong> Handlung<br />
zugrunde lag – lächle, nick mit dem Kopf, hab Verständnis, nimm es