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die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen

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WIR HABEN DIE NASE VOLL!<br />

Was ist geschehen? Zwanzig Jahre nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung ist<br />

Deutschland nicht <strong>die</strong> selbstversöhnte Nation, <strong>die</strong> es in extraordinärer<br />

Behaglichkeit gar nicht fassen kann, endlich wie<strong>der</strong> normal zu sein. Im<br />

Deutschland des Jahres 2010 gehen <strong>die</strong> Bürger auf <strong>die</strong> Straße, sie werden<br />

renitent und machen mobil. Politiker machen einen Plan, und ihre Wähler<br />

machen ihn wie<strong>der</strong> zunichte. Die Waldschlösschenbrücke in Dresden,<br />

<strong>die</strong> Bologna-Reform an den Universitäten, <strong>der</strong> Atomkompromiss <strong>der</strong> Regierung,<br />

<strong>die</strong> Schulreform in Hamburg und <strong>der</strong> Monsterbahnhof in Stuttgart –<br />

kaum eine Entscheidung amtieren<strong>der</strong> Volksvertreter lässt sich noch gegen<br />

das Volk durchsetzen.<br />

Der Protest ist bunt und frech und erfasst alle Milieus, es versammeln sich<br />

Linke und Rechte, Brave und Wi<strong>der</strong>borstige, Junge und Alte, es kommen <strong>die</strong><br />

Graumelierten und <strong>die</strong> gut Betuchten. Inzwischen geraten sogar <strong>die</strong> „Zukunftsprojekte“<br />

<strong>der</strong> BRD-Vergangenheit, <strong>die</strong> Kommunalreformen <strong>der</strong> siebziger<br />

Jahre, ins Visier. Die ersten Retrodemonstranten wollen <strong>die</strong> alten Autokennzeichen<br />

wie<strong>der</strong>haben, gern auch das schnuckelige Rathaus und <strong>die</strong><br />

duftenden Geranien im selbst bemalten Bottich gleich mit.<br />

„In <strong>der</strong> Gesellschaft brodelt es“, schreibt <strong>der</strong> Soziologe Oskar Negt in seinem<br />

neuen Buch „Der politische Mensch“, und er hat recht. Das Gemeinwesen<br />

ist aufgewühlt und trotzig, gespalten und rebellisch. Doch immer dann,<br />

wenn es gegen „<strong>die</strong> da oben“ geht, gegen <strong>die</strong> gewählten politischen Eliten,<br />

sind sich <strong>die</strong> Wähler einig, und dann redet das Volk über seine Volksvertreter,<br />

als handele es sich um eine Zusammenrottung von Rosstäuschern<br />

und Berufsversagern, <strong>die</strong> nichts Richtiges zustande bringen, und wenn ausnahmsweise<br />

doch, dann das Falsche.<br />

Man ahnt, so viele Fehler können Politiker gar nicht machen, als dass sich<br />

<strong>die</strong> neue „Barrikadenrepublik Deutschland“ (Spiegel) allein durch Politikerversagen<br />

erklären ließe. Tatsächlich gibt es eine Krise im System, und<br />

zumindest <strong>die</strong> Außenseite <strong>die</strong>ser Krise ist für jeden sichtbar: Was sich früher<br />

durch Regierungshandeln scheinbar leichthändig steuern ließ, das<br />

läuft heute aus dem Ru<strong>der</strong>. Politische Institutionen sind mit <strong>der</strong> Lösung<br />

von Problemen beschäftigt, <strong>die</strong> bei <strong>der</strong> Lösung älterer Probleme („Atommülllagerung“)<br />

entstanden waren. Ob Hartz IV o<strong>der</strong> das Gesundheitssystem<br />

– <strong>die</strong> Reibungshitze steigt, während <strong>die</strong> politische Wirkung sinkt. Was<br />

früher eine freie Entscheidung war, das scheint heute ein Sachzwang. Der<br />

Gordische Knoten ist das Wappenzeichen <strong>der</strong> Regierungskunst und <strong>die</strong><br />

fluchtartige Selbstentfernung aus dem Amt <strong>der</strong> neue Standardreflex des<br />

Politikers.<br />

Die Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> liberalen Gesellschaft hatten sich das alles ganz an<strong>der</strong>s<br />

vorgestellt. Noch in den achtziger Jahren lernten Studenten im Grundstudium,<br />

dass sie wie ein großes Mobile funktioniere: Die Einzelteile <strong>der</strong> liberalen<br />

Gesellschaft hängen säuberlich getrennt in einem kräftigen<br />

politischen Rahmen und arbeiten – streng nach Aufgabenbereichen geschieden<br />

– vernünftig vor sich hin. Hier gibt es <strong>die</strong> Wirtschaft, dort das<br />

Recht, daneben <strong>die</strong> Kultur mit ihren Theatern, ihren Opern und Museen.<br />

Nicht zu vergessen <strong>die</strong> Wissenschaften und <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n. Und obwohl <strong>die</strong><br />

einzelnen Teilsysteme ihren eigenen Gesetzen folgen, ihrer „Rationalität“,<br />

spielen sie im Großen und Ganzen zusammen. Durch Innovation und Reform<br />

mehren sie den Nutzen <strong>der</strong> Gesellschaft, sie för<strong>der</strong>n Wohlstand und<br />

Fortschritt. Protest ist überflüssig, denn in <strong>der</strong> liberalen Gesellschaft ist<br />

das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich.<br />

Dieses Modell klingt ausgesprochen putzig, es klingt wie ein politisches<br />

Märchen aus den alten Zeiten <strong>der</strong> Bundesrepublik. Wenn man im Bild bleiben<br />

will, müsste man sagen, dass sich das Gesellschafts-Mobile heute „verhakt“<br />

hat: Die gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugen Abwehr und Unmut,<br />

sie erzeugen Misstrauen und Wi<strong>der</strong>stand, wenig spielt noch zusammen.<br />

O<strong>der</strong> wie Soziologen sagen würden: Die Bürger zweifeln an <strong>der</strong> Rationalität<br />

<strong>der</strong> Funktionssysteme, <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungsfuror macht ihnen Angst, und<br />

sie empfinden den Fortschritt („Innovation, Reform“) als Eingriff in ihre<br />

Lebenswelt, als „Landnahme“. (…) Auch <strong>der</strong> Aufstand gegen <strong>die</strong> Untertunnelung<br />

des Stuttgarter Hauptbahnhofs gehört ins Bild. (…) Die Abwehrschlacht<br />

kreuzbraver schwäbischer Bürger entzündet sich nämlich nicht

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