Um wahrzunehmen, dass es in <strong>die</strong>ser Welt auch un- erträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. „Ohne mich“ ist das Schlimmste, was man sich und <strong>der</strong> Welt antun kann. Den „Ohne mich“-Typen ist eines <strong>der</strong> absolut konstitutiven Merk- male des Menschen abhanden gekommen: <strong>die</strong> Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement. Stéphane Hessel
WIR HABEN DIE NASE VOLL! Was ist geschehen? Zwanzig Jahre nach <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>vereinigung ist Deutschland nicht <strong>die</strong> selbstversöhnte Nation, <strong>die</strong> es in extraordinärer Behaglichkeit gar nicht fassen kann, endlich wie<strong>der</strong> normal zu sein. Im Deutschland des Jahres 2010 gehen <strong>die</strong> Bürger auf <strong>die</strong> Straße, sie werden renitent und machen mobil. Politiker machen einen Plan, und ihre Wähler machen ihn wie<strong>der</strong> zunichte. Die Waldschlösschenbrücke in Dresden, <strong>die</strong> Bologna-Reform an den Universitäten, <strong>der</strong> Atomkompromiss <strong>der</strong> Regierung, <strong>die</strong> Schulreform in Hamburg und <strong>der</strong> Monsterbahnhof in Stuttgart – kaum eine Entscheidung amtieren<strong>der</strong> Volksvertreter lässt sich noch gegen das Volk durchsetzen. Der Protest ist bunt und frech und erfasst alle Milieus, es versammeln sich Linke und Rechte, Brave und Wi<strong>der</strong>borstige, Junge und Alte, es kommen <strong>die</strong> Graumelierten und <strong>die</strong> gut Betuchten. Inzwischen geraten sogar <strong>die</strong> „Zukunftsprojekte“ <strong>der</strong> BRD-Vergangenheit, <strong>die</strong> Kommunalreformen <strong>der</strong> siebziger Jahre, ins Visier. Die ersten Retrodemonstranten wollen <strong>die</strong> alten Autokennzeichen wie<strong>der</strong>haben, gern auch das schnuckelige Rathaus und <strong>die</strong> duftenden Geranien im selbst bemalten Bottich gleich mit. „In <strong>der</strong> Gesellschaft brodelt es“, schreibt <strong>der</strong> Soziologe Oskar Negt in seinem neuen Buch „Der politische Mensch“, und er hat recht. Das Gemeinwesen ist aufgewühlt und trotzig, gespalten und rebellisch. Doch immer dann, wenn es gegen „<strong>die</strong> da oben“ geht, gegen <strong>die</strong> gewählten politischen Eliten, sind sich <strong>die</strong> Wähler einig, und dann redet das Volk über seine Volksvertreter, als handele es sich um eine Zusammenrottung von Rosstäuschern und Berufsversagern, <strong>die</strong> nichts Richtiges zustande bringen, und wenn ausnahmsweise doch, dann das Falsche. Man ahnt, so viele Fehler können Politiker gar nicht machen, als dass sich <strong>die</strong> neue „Barrikadenrepublik Deutschland“ (Spiegel) allein durch Politikerversagen erklären ließe. Tatsächlich gibt es eine Krise im System, und zumindest <strong>die</strong> Außenseite <strong>die</strong>ser Krise ist für jeden sichtbar: Was sich früher durch Regierungshandeln scheinbar leichthändig steuern ließ, das läuft heute aus dem Ru<strong>der</strong>. Politische Institutionen sind mit <strong>der</strong> Lösung von Problemen beschäftigt, <strong>die</strong> bei <strong>der</strong> Lösung älterer Probleme („Atommülllagerung“) entstanden waren. Ob Hartz IV o<strong>der</strong> das Gesundheitssystem – <strong>die</strong> Reibungshitze steigt, während <strong>die</strong> politische Wirkung sinkt. Was früher eine freie Entscheidung war, das scheint heute ein Sachzwang. Der Gordische Knoten ist das Wappenzeichen <strong>der</strong> Regierungskunst und <strong>die</strong> fluchtartige Selbstentfernung aus dem Amt <strong>der</strong> neue Standardreflex des Politikers. Die Erfin<strong>der</strong> <strong>der</strong> liberalen Gesellschaft hatten sich das alles ganz an<strong>der</strong>s vorgestellt. Noch in den achtziger Jahren lernten Studenten im Grundstudium, dass sie wie ein großes Mobile funktioniere: Die Einzelteile <strong>der</strong> liberalen Gesellschaft hängen säuberlich getrennt in einem kräftigen politischen Rahmen und arbeiten – streng nach Aufgabenbereichen geschieden – vernünftig vor sich hin. Hier gibt es <strong>die</strong> Wirtschaft, dort das Recht, daneben <strong>die</strong> Kultur mit ihren Theatern, ihren Opern und Museen. Nicht zu vergessen <strong>die</strong> Wissenschaften und <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n. Und obwohl <strong>die</strong> einzelnen Teilsysteme ihren eigenen Gesetzen folgen, ihrer „Rationalität“, spielen sie im Großen und Ganzen zusammen. Durch Innovation und Reform mehren sie den Nutzen <strong>der</strong> Gesellschaft, sie för<strong>der</strong>n Wohlstand und Fortschritt. Protest ist überflüssig, denn in <strong>der</strong> liberalen Gesellschaft ist das Wirkliche vernünftig und das Vernünftige wirklich. Dieses Modell klingt ausgesprochen putzig, es klingt wie ein politisches Märchen aus den alten Zeiten <strong>der</strong> Bundesrepublik. Wenn man im Bild bleiben will, müsste man sagen, dass sich das Gesellschafts-Mobile heute „verhakt“ hat: Die gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugen Abwehr und Unmut, sie erzeugen Misstrauen und Wi<strong>der</strong>stand, wenig spielt noch zusammen. O<strong>der</strong> wie Soziologen sagen würden: Die Bürger zweifeln an <strong>der</strong> Rationalität <strong>der</strong> Funktionssysteme, <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ungsfuror macht ihnen Angst, und sie empfinden den Fortschritt („Innovation, Reform“) als Eingriff in ihre Lebenswelt, als „Landnahme“. (…) Auch <strong>der</strong> Aufstand gegen <strong>die</strong> Untertunnelung des Stuttgarter Hauptbahnhofs gehört ins Bild. (…) Die Abwehrschlacht kreuzbraver schwäbischer Bürger entzündet sich nämlich nicht
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Quellenangaben: Bierbichler, Josef.