die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
möglichkeiten erhalten wir noch mehr Gelegenheit, unsere Autonomie auszuüben und damit unseren Charakter unter Beweis zu stellen. (…) Der Wert der Autonomie ist unauflöslich mit unserem Rechts- und Moralsystem verflochten. Auf die Autonomie gründet sich unser Anspruch, uns gegenseitig moralisch (und rechtlich) für unsere Handlungen verantwortlich zu machen. Das ist der Grund, warum wir den Einzelnen für seine Leistungen preisen und ihm seine Versäumnisse zum Vorwurf machen. Es gibt nicht einen einzigen Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens, der bliebe, was er ist, wenn wir in ihm unsere Verpflichtung zur Autonomie aufgäben. (…) Betrachten wir nun die Beziehung zwischen Hilflosigkeit und Wahlhandlung. Wenn wir in einer bestimmten Situation Wahlmöglichkeiten haben, sollten wir in der Lage sein, die Situation zu beeinflussen, und das sollte uns vor Hilflosigkeit schützen. Nur in einer Situation, die uns keine Wahl lässt, dürften wir anfällig für das Gefühl von Hilflosigkeit werden. Ganz abgesehen von den instrumentalen Vorteilen der Wahl – dass sie Menschen ermöglicht, das zu bekommen, was sie wünschen – und den expressiven Vorteilen der Wahl – dass sie Menschen ermöglicht zu dokumentieren, wer sie sind –, versetzt sie die Menschen auch in die Lage, aktiv und wirkungsvoll in der Welt zu handeln, was weit reichende psychologische Vorteile hat. Auf den ersten Blick scheint daraus zu folgen, dass wir die Optionsvielfalt erweitern müssen, wo immer es möglich ist. Da unsere Gesellschaft das in jüngster Zeit getan hat, müsste das Gefühl der Hilflosigkeit selten geworden sein. Doch der amerikanische Meinungsforscher Louis Harris hat in zwei Erhebungen – 1966 und 1986 – die Befragten aufgefordert anzugeben, ob sie mit einer Reihe von Aussagen übereinstimmten wie „Ich fühle mich von den Vorgängen um mich herum ausgeschlossen“ und „Was ich denke, spielt keine Rolle mehr“. 1966 fühlten sich neun Prozent von den Vorgängen um sie herum ausgeschlossen, 1986 waren es 37 Prozent. 1966 FREIHEIT UND AUTONOMIE 69 meinten 36 Prozent, was sie dächten, zähle überhaupt nicht, 1986 stimmten 60 Prozent dieser Aussage zu. Es gibt zwei mögliche Erklärungen für dieses scheinbare Paradox. Die erste: Wenn sich die Erfahrung von Wahlmöglichkeiten und Kontrolle ausweitet und vertieft, steigen möglicherweise auch die Erwartungen an Wahlmöglichkeiten und Kontrolle entsprechend. Wird ein Autonomiehindernis nach dem anderen eingerissen, stören vielleicht diejenigen, die bleiben, umso mehr. Wie das mechanische Kaninchen, das auf der Rennbahn unmittelbar vor den Hunden rast, egal, wie schnell diese laufen, so sind die Ansprüche und Erwartungen in Bezug auf Kontrolle ihrer Verwirklichung immer etwas voraus, egal, wie viel Befreiung diese Verwirklichung bringt. Die zweite Erklärung besagt einfach, dass mehr Wahlmöglichkeiten nicht unbedingt mehr Kontrolle bedeuten müssen. Vielleicht kommt ein Punkt, wo die Optionsvielfalt so groß wird, dass wir uns überwältigt fühlen. Statt des Empfindens, die Dinge im Griff zu haben, stellt sich das Gefühl ein, sie nicht mehr bewältigen zu können. Die Möglichkeit zu wählen ist kein Segen, wenn wir glauben, uns würden die Voraussetzungen für eine kluge Wahl fehlen. (…) Damit solche Belastungen nicht überhand nehmen, müssen wir lernen, unsere Wahlfreiheit selektiv auszuüben. Wir müssen im Einzelfall entscheiden, wann unsere Wahlhandlungen wirklich von Bedeutung sind, und unsere Energie darauf richten, selbst wenn es zur Folge hat, dass wir dann andere Möglichkeiten auslassen. Die Wahl, wann wir wählen wollen, ist möglicherweise die wichtigste Wahl, die wir treffen können. Barry Schwartz (Anleitung zur Unzufriedenheit. Warum weniger glücklicher macht, Berlin 2004)
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möglichkeiten erhalten wir noch mehr Gelegenheit, unsere Autonomie auszuüben<br />
und damit unseren Charakter unter Beweis zu stellen. (…)<br />
Der Wert <strong>der</strong> Autonomie ist unauflöslich mit unserem Rechts- und Moralsystem<br />
verflochten. Auf <strong>die</strong> Autonomie gründet sich unser Anspruch, uns<br />
gegenseitig moralisch (und rechtlich) für unsere Handlungen verantwortlich<br />
zu machen. Das ist <strong>der</strong> Grund, warum wir den Einzelnen für seine Leistungen<br />
preisen und ihm seine Versäumnisse zum Vorwurf machen. Es gibt nicht<br />
einen einzigen Bereich unseres gesellschaftlichen Lebens, <strong>der</strong> bliebe, was er<br />
ist, wenn wir in ihm unsere Verpflichtung zur Autonomie aufgäben. (…)<br />
Betrachten wir nun <strong>die</strong> Beziehung zwischen Hilflosigkeit und Wahlhandlung.<br />
Wenn wir in einer bestimmten Situation Wahlmöglichkeiten haben,<br />
sollten wir in <strong>der</strong> Lage sein, <strong>die</strong> Situation zu beeinflussen, und das sollte<br />
uns vor Hilflosigkeit schützen. Nur in einer Situation, <strong>die</strong> uns keine Wahl<br />
lässt, dürften wir anfällig für das Gefühl von Hilflosigkeit werden. Ganz<br />
abgesehen von den instrumentalen Vorteilen <strong>der</strong> Wahl – dass sie Menschen<br />
ermöglicht, das zu bekommen, was sie wünschen – und den expressiven<br />
Vorteilen <strong>der</strong> Wahl – dass sie Menschen ermöglicht zu dokumentieren, wer<br />
sie sind –, versetzt sie <strong>die</strong> Menschen auch in <strong>die</strong> Lage, aktiv und wirkungsvoll<br />
in <strong>der</strong> Welt zu handeln, was weit reichende psychologische Vorteile hat.<br />
Auf den ersten Blick scheint daraus zu folgen, dass wir <strong>die</strong> Optionsvielfalt<br />
erweitern müssen, wo immer es möglich ist. Da unsere Gesellschaft das in<br />
jüngster Zeit getan hat, müsste das Gefühl <strong>der</strong> Hilflosigkeit selten geworden<br />
sein. Doch <strong>der</strong> amerikanische Meinungsforscher Louis Harris hat in<br />
zwei Erhebungen – 1966 und 1986 – <strong>die</strong> Befragten aufgefor<strong>der</strong>t anzugeben,<br />
ob sie mit einer Reihe von Aussagen übereinstimmten wie „Ich fühle<br />
mich von den Vorgängen um mich herum ausgeschlossen“ und „Was ich<br />
denke, spielt keine Rolle mehr“. 1966 fühlten sich neun Prozent von den<br />
Vorgängen um sie herum ausgeschlossen, 1986 waren es 37 Prozent. 1966<br />
FREIHEIT UND AUTONOMIE 69<br />
meinten 36 Prozent, was sie dächten, zähle überhaupt nicht, 1986 stimmten<br />
60 Prozent <strong>die</strong>ser Aussage zu.<br />
Es gibt zwei mögliche Erklärungen für <strong>die</strong>ses scheinbare Paradox. Die<br />
erste: Wenn sich <strong>die</strong> Erfahrung von Wahlmöglichkeiten und Kontrolle ausweitet<br />
und vertieft, steigen möglicherweise auch <strong>die</strong> Erwartungen an Wahlmöglichkeiten<br />
und Kontrolle entsprechend. Wird ein Autonomiehin<strong>der</strong>nis<br />
nach dem an<strong>der</strong>en eingerissen, stören vielleicht <strong>die</strong>jenigen, <strong>die</strong> bleiben,<br />
umso mehr. Wie das mechanische Kaninchen, das auf <strong>der</strong> Rennbahn unmittelbar<br />
vor den Hunden rast, egal, wie schnell <strong>die</strong>se laufen, so sind <strong>die</strong><br />
Ansprüche und Erwartungen in Bezug auf Kontrolle ihrer Verwirklichung<br />
immer etwas voraus, egal, wie viel Befreiung <strong>die</strong>se Verwirklichung bringt.<br />
Die zweite Erklärung besagt einfach, dass mehr Wahlmöglichkeiten nicht<br />
unbedingt mehr Kontrolle bedeuten müssen. Vielleicht kommt ein Punkt,<br />
wo <strong>die</strong> Optionsvielfalt so groß wird, dass wir uns überwältigt fühlen. Statt<br />
des Empfindens, <strong>die</strong> Dinge im Griff zu haben, stellt sich das Gefühl ein,<br />
sie nicht mehr bewältigen zu können. Die Möglichkeit zu wählen ist kein<br />
Segen, wenn wir glauben, uns würden <strong>die</strong> Voraussetzungen für eine kluge<br />
Wahl fehlen. (…)<br />
Damit solche Belastungen nicht überhand nehmen, müssen wir lernen,<br />
unsere Wahlfreiheit selektiv auszuüben. Wir müssen im Einzelfall entscheiden,<br />
wann unsere Wahlhandlungen wirklich von Bedeutung sind,<br />
und unsere Energie darauf richten, selbst wenn es zur Folge hat, dass wir<br />
dann an<strong>der</strong>e Möglichkeiten auslassen. Die Wahl, wann wir wählen wollen,<br />
ist möglicherweise <strong>die</strong> wichtigste Wahl, <strong>die</strong> wir treffen können.<br />
Barry Schwartz (Anleitung zur Unzufriedenheit.<br />
Warum weniger glücklicher macht, Berlin 2004)