die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
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FREIHEIT UND AUTONOMIE<br />
Freiheit und Autonomie sind entscheidend für unser Wohlgefühl. Und<br />
Wahlmöglichkeiten sind entscheidend für Freiheit und Autonomie. Doch<br />
obwohl <strong>die</strong> Menschen in unserer Gesellschaft mehr Wahlmöglichkeiten<br />
haben als irgendeine Gruppe jemals zuvor – und damit vermutlich auch<br />
mehr Freiheit und Autonomie –, scheint uns das psychologisch keinen<br />
Gewinn zu bringen.<br />
Zu wählen hat einen eindeutigen und wichtigen instrumentalen Wert: Es<br />
versetzt Menschen in <strong>die</strong> Lage, das zu bekommen, was sie im Leben brauchen<br />
und wünschen. Während viele Bedürfnisse universell sind (Nahrung,<br />
Unterkunft, medizinische Versorgung, soziale Hilfe, Ausbildung und so<br />
fort), ist nicht wenig von dem, was wir brauchen, um uns zu entfalten,<br />
höchst individuell. Wir brauchen sicherlich Nahrung, aber nicht unbedingt<br />
chilenischen Seebarsch. Wir brauchen ein Dach über dem Kopf, aber<br />
nicht unbedingt einen Filmvorführraum, eine Basketballhalle und eine<br />
Garage mit sechs Stellplätzen. Solche Beverly-Hills-Extravaganzen dürften<br />
jemanden, <strong>der</strong> lieber am Holzofen seines Häuschens in Vermont liest,<br />
ziemlich kalt lassen. Zu wählen ermöglicht jedem Menschen, sich um genau<br />
<strong>die</strong> Dinge und Tätigkeiten zu bemühen, <strong>die</strong> seine Präferenzen im Rahmen<br />
seiner finanziellen Möglichkeiten am besten befriedigen. Sie können<br />
Vegetarier sein und ich Fleischesser. Sie können Hiphop hören und ich <strong>die</strong><br />
öffentlich-rechtlichen Nachrichtensen<strong>der</strong>. Sie können Single bleiben und<br />
ich heiraten. Immer ist <strong>die</strong> freie Entscheidung eingeschränkt: Irgendwo<br />
muss es jemanden geben, <strong>der</strong> nicht <strong>die</strong> Möglichkeit hat, das zu wählen,<br />
was für ihn persönlichen Wert besitzt. (…)<br />
So wichtig <strong>der</strong> instrumentale Wert <strong>der</strong> Wahl auch sein mag, es kommt noch<br />
ein an<strong>der</strong>er Wert in ihr zum Ausdruck. Der Wahlfreiheit ist auch etwas<br />
eigen, was man als expressiven Wert bezeichnen könnte. Durch unsere<br />
Wahlhandlungen können wir <strong>der</strong> Welt mitteilen, wer wir sind und worauf<br />
wir Wert legen. Das gilt selbst für so oberflächliche Dinge wie <strong>die</strong> Art, uns<br />
zu kleiden. Die Kleidung, <strong>die</strong> wir wählen, ist ein bewusster Ausdruck unseres<br />
Geschmacks, dazu bestimmt, eine Botschaft zu übermitteln. Um<br />
sich auszudrücken, brauchen Sie einen angemessenen Spielraum von<br />
Wahlmöglichkeiten.<br />
Das Gleiche gilt für fast jeden Lebensbereich, in dem wir wählen und entscheiden.<br />
Die Lebensmittel, <strong>die</strong> wir essen, <strong>die</strong> Autos, <strong>die</strong> wir fahren, <strong>die</strong><br />
Häuser, in denen wir leben, <strong>die</strong> Musik, <strong>die</strong> wir hören, <strong>die</strong> Bücher, <strong>die</strong> wir<br />
lesen, <strong>die</strong> Hobbys, <strong>die</strong> wir pflegen, <strong>die</strong> wohltätigen Zwecke, für <strong>die</strong> wir<br />
spenden, <strong>die</strong> Demonstrationen, an denen wir teilnehmen – alle <strong>die</strong>se Wahlhandlungen<br />
haben, unabhängig von ihrer praktischen Bedeutung, eine<br />
expressive Funktion. Und einige Wahlhandlungen haben ausschließlich<br />
expressive Funktion. Nehmen Sie beispielsweise <strong>die</strong> Präsidentschaftswahl.<br />
Viele Wähler glauben – ungeachtet <strong>der</strong> Wahl im Jahr 2000 –, dass eine einzige<br />
Stimme so gut wie nie von instrumentaler Bedeutung ist. Dass eine<br />
Stimme etwas ausmacht, ist so unwahrscheinlich, dass es kaum lohnt,<br />
deshalb den Weg zum Wahllokal auf sich zu nehmen. Trotzdem wählen <strong>die</strong><br />
Menschen, vermutlich nicht zuletzt, weil sie damit etwas über sich aussagen<br />
können. Wähler nehmen ihre staatsbürgerlichen Rechte wahr, sie<br />
tun ihre Pflicht und halten <strong>die</strong> politische Freiheit nicht für selbstverständlich.<br />
Ein Beispiel für <strong>die</strong> expressive Funktion <strong>der</strong> politischen Wahl ist <strong>die</strong><br />
Geschichte von den beiden amerikanischen Politikwissenschaftlern, <strong>die</strong><br />
am Tag <strong>der</strong> Präsidentschaftswahl in Europa weilten. Sie nahmen eine dreistündige<br />
Autofahrt in Kauf, um ihre Briefwahl abzugeben, obwohl sie wussten,<br />
dass sie für verschiedene Kandidaten stimmten und ihre Stimmen sich<br />
daher exakt aufhoben.<br />
Jede Wahl, <strong>die</strong> wir treffen, ist ein Zeugnis für unsere Autonomie, für unser<br />
Gefühl <strong>der</strong> Selbstbestimmung. Und mit je<strong>der</strong> neuen Ausweitung <strong>der</strong> Wahl-