die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen

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08.12.2012 Aufrufe

Wenn Bertolt Brecht – der große Sozio- biologe unter den Dichtern – Recht haben sollte, „kommt erst das Fressen und dann die Moral“. Folgerichtig müsste es in einem Land wie Deutschland, in dem es so viel Fressen im Überfluss gibt, auch sehr viel Moral geben. Tatsächlich leben wir in einem sehr liberalen Land, der wohl freiheitlichsten und tolerantesten Kultur der Geschichte. Doch dagegen steht die nicht ganz unberechtigte Klage über den Werteverlust. Tugenden und öffentliche Moral schmelzen derzeit dramatisch da- hin. Kirche, Vaterland, Heimatmilieu und Weltanschauung – die Altbauten aus der bürgerlichen Gründerzeit, in denen unsere Moral früher schlecht oder recht haus- te, bröckeln oder verfallen. Wer will sich darüber wundern? Ein außerirdischer Beobachter, der auch nur einen einzi- gen Tag lang die Werbung in Fernsehen, Radio, Zeitung und Internet studierte, würde wohl kaum ein Indiz dafür finden, dass wir in einer Demokratie leben; ei- ner Gesellschaftsordnung, die auf Ko- operation, Solidarität und Zusammenhalt beruht. Was er wahrnähme, wäre eine Pro- paganda, die mit finanziellem Milliarden- aufwand nichts anderes betreibt als die unausgesetzte Förderung des Egoismus. Richard David Precht

WIE STEHT ES UM DIE GERECHTIGKEIT? Wilhelm Heitmeyer, 63, Konfliktforscher an der Universität Bielefeld, führt seit 2002 die Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ durch, er kennt die Deutschen und ihre Gefühlslage wie kaum ein anderer, er wird weiterhelfen. (...) Er zeichnet das Bild eines verunsicherten, wütenden und enttäuschten Deutschen: Immer mehr Deutsche fühlen sich immer ungerechter behandelt, jeder zweite Deutsche denkt, er bekäme weniger als seinen gerechten Anteil, zwei Drittel der Deutschen glauben, Arme würden immer ärmer und Reiche immer reicher. Die Hälfte der Deutschen ist der Meinung, es würden in Deutschland immer mehr Leute an den Rand der Gesellschaft gedrängt. „Wir erleben eine Demokratieentleerung, eine wachsende Distanz der Menschen zum demokratischen System, die Menschen fühlen sich ohne Stimme, nicht mehr vertreten.“ In den Fragebögen, die Heitmeyer ausgibt, ist auch das Entsetzen über den plötzlichen Abstieg herauslesbar, der mit dem Jobverlust einsetzt und nach einem Jahr schon bei Hartz IV endet. „Ich bin in einer Kategorie mit den Pennern gelandet“, heißt es da zum Beispiel, und Heitmeyer sagt, dass diese Wut nicht selten ist: „Die Menschen nehmen die Entwicklung unserer Gesellschaft als ungerecht wahr, sie haben das Gefühl, in einem immer ungerechteren Land zu leben.“ Was besonders ins Gewicht fällt: Dieses Phänomen ist neu in Deutschland. Seit 1964 wird in Umfragen regelmäßig gefragt, ob die wirtschaftlichen Verhältnisse – was Menschen besitzen und was sie verdienen – im Großen und Ganzen gerecht oder ungerecht seien. Über die Jahrzehnte blieb das Ergebnis relativ konstant, fast gleich viele Befragte hielten das Land für gerecht beziehungsweise ungerecht. Erst ab der Jahrtausendwende wurde Deutschland als immer ungerechter empfunden, zuletzt standen 73 Prozent, die das Land als ungerecht ansahen, gegen nur mehr 13 Prozent, die die Lage als gerecht wahrnahmen. Aber warum? Wilhelm Heitmeyer sagt: „Weil das Land sichtbar ungleicher geworden ist.“ Hans-Olaf Henkel, Ex-Chef des Bundesverbands der Deutschen Industrie, meint: „Weil eine Armee von Meinungsführern den Deutschen seit Jahren einredet, unser Land wäre besonders ungerecht, dabei kann mir kaum jemand ein Land nennen, wo der Unterschied zwischen Arm und Reich so gering ist wie in Deutschland!“ Michael Hüther, Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, sagt: „Weil wir die meiste Zeit nicht von Fakten ausgehen, sondern von Gefühlen.“ Hüther hat darüber ein Buch geschrieben, der Titel „Die gefühlte Ungerechtigkeit“, er sagt, mit talkshowgestähltem Lächeln, alle Zahlen, die in das Bild des ungerechten Landes passen, würden sofort aufgebauscht, und alle gegenteiligen Entwicklungen weitgehend ignoriert. Was er nicht sagt: dass es gerade ziemlich wenige gegenteilige Entwicklungen gibt. (...) Die Ungleichheit in Deutschland wächst. Das sagen die Zahlen, das sagen die Umfragen und das sagen die Menschen, denen man im Lauf dieser Reise durch Deutschland die kurze Frage stellt, ob Deutschland sozial gerecht sei: Die Bedienung in einem Göttinger „McDonald’s“, der Rentner in der Bremer Innenstadt, die Frau an der Rezeption eines Dessauer Hotels, der Maurer im thüringischen Stadtroda. Sie alle antworten sofort mit „Nein“. Genauso der Theaterintendant und ausgewiesene Linke Claus Peymann in Berlin, der gleich noch den großen Knall prophezeit, den Aufstand: Es sei doch kein Zufall, dass Schriftsteller wie Elfriede Jelinek oder Peter Handke die ganze Zeit vom Untergang schrieben. „Niemand glaubt das“, ruft Peymann, „wir lachen darüber, aber ich sage Ihnen, das sind die Seher, die haben den klareren Blick!“ Auch Wachtmeister Heinz- Jürgen

Wenn Bertolt Brecht – <strong>der</strong> große Sozio-<br />

biologe unter den Dichtern – Recht haben<br />

sollte, „kommt erst das Fressen und<br />

dann <strong>die</strong> Moral“. Folgerichtig müsste es<br />

in einem Land wie Deutschland, in dem es<br />

so viel Fressen im Überfluss gibt, auch<br />

sehr viel Moral geben. Tatsächlich leben<br />

wir in einem sehr liberalen Land, <strong>der</strong> wohl<br />

freiheitlichsten und tolerantesten Kultur<br />

<strong>der</strong> Geschichte. Doch dagegen steht <strong>die</strong><br />

nicht ganz unberechtigte Klage über den<br />

Werteverlust. Tugenden und öffentliche<br />

Moral schmelzen <strong>der</strong>zeit dramatisch da-<br />

hin. Kirche, Vaterland, Heimatmilieu und<br />

Weltanschauung – <strong>die</strong> Altbauten aus <strong>der</strong><br />

bürgerlichen Grün<strong>der</strong>zeit, in denen unsere<br />

Moral früher schlecht o<strong>der</strong> recht haus-<br />

te, bröckeln o<strong>der</strong> verfallen. Wer will sich<br />

darüber wun<strong>der</strong>n? Ein außerirdischer<br />

Beobachter, <strong>der</strong> auch nur einen einzi-<br />

gen Tag lang <strong>die</strong> Werbung in Fernsehen,<br />

Radio, Zeitung und Internet stu<strong>die</strong>rte,<br />

würde wohl kaum ein Indiz dafür finden,<br />

dass wir in einer Demokratie leben; ei-<br />

ner Gesellschaftsordnung, <strong>die</strong> auf Ko-<br />

operation, Solidarität und Zusammenhalt<br />

beruht. Was er wahrnähme, wäre eine Pro-<br />

paganda, <strong>die</strong> mit finanziellem Milliarden-<br />

aufwand nichts an<strong>der</strong>es betreibt als <strong>die</strong><br />

unausgesetzte För<strong>der</strong>ung des Egoismus.<br />

Richard David Precht

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