die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
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(UN)WORT DES JAHRES –<br />
DER WUTBÜRGER, DER KEINER<br />
SEIN WILL<br />
Eine Welle <strong>der</strong> Wut erfasst das Land: Im Zuge eines beispiellosen Protests<br />
könnte das „Wort des Jahres“ nun auch zum „Unwort des Jahres“<br />
gewählt werden.<br />
Eine solche Konstellation gab es noch nie. Da hat <strong>die</strong> altehrwürdige Gesellschaft<br />
für deutsche Sprache (GfdS) gerade erst den „Wutbürger“ zum „Wort<br />
des Jahres“ gekürt. Keine zwei Wochen ist das her, nun zeichnet sich bei<br />
<strong>der</strong> Wahl zum „Unwort des Jahres“ ein womöglich folgenschweres Ergebnis<br />
ab: Der Begriff „Wutbürger“ habe Chancen auf den Sieg. Wie bitte? Die<br />
Wortkomposition könnte folglich „Un-/Wort des Jahres“ in Begriffsunion<br />
werden. Was hat das zu bedeuten?<br />
Es ist im Prinzip ganz einfach. Der Ausdruck „Wutbürger“ bezeichnet den<br />
Anhänger <strong>der</strong> wie<strong>der</strong> erwachten Protestkultur in Deutschland: Der gemeine<br />
Wutbürger ging 2010 in Stuttgart und an<strong>der</strong>norts auf <strong>die</strong> Straße, um zu<br />
demonstrieren. Er selbst empfindet es jedoch als diffamierend, wenn man<br />
ihn als Wutbürger bezeichnet: Der Begriff impliziert, dass <strong>die</strong> Triebfe<strong>der</strong><br />
seines Handelns nichts als Wut sei. Das wertet sein Engagement ab.<br />
Schließlich handelt er wohlüberlegt, wenn er für seine Rechte einsteht –<br />
nicht aus blin<strong>der</strong> Wut heraus. Merke: Erst <strong>die</strong> Unterstellung, er sei wütend,<br />
macht aus dem friedliebenden Wutbürger einen Bru<strong>der</strong> Grimm. Darüber,<br />
dass <strong>die</strong>ser Begriff zu allem Überfluss zum „Wort des Jahres“ geadelt<br />
wurde, ist er so erbost, dass er ihn nun wutschnaubend als „Unwort des<br />
Jahres“ vorschlägt.<br />
Welche Lehren ziehen wir daraus? Könnten <strong>die</strong> beiden bislang separat<br />
abgehaltenen Wahlen künftig vielleicht in einem Aufwasch durchgeführt<br />
werden? Das „Wort des Jahres“ könnte immer gleich zum „Unwort“ mitgekürt<br />
werden, entsprechende Siegerehrung inklusive. Man kann gleich mit<br />
dem Wutbürger anfangen: Ein Vertreter, etwa ein Castor-Gegner, könnte<br />
bei einer feierlichen Verleihungszeremonie auf <strong>die</strong> Bühne treten und sich<br />
vom Publikum schmähfeiern (Un-/Wort <strong>2011</strong>?), das heißt wechselweise mit<br />
faulen Eiern und roten Rosen bewerfen lassen.<br />
Es wäre schizophren – ein Begriff, <strong>der</strong> beliebteste wie meistgehasste <strong>der</strong><br />
Nation. Ein FC Bayern München <strong>der</strong> Linguistik, wenn man so will. Der<br />
aktuelle Favorit für den Negativtitel „Unwort des Jahres“, „Stuttgart 21“,<br />
belegte bei <strong>der</strong> Wahl zum „Wort des Jahres“ übrigens den zweiten Platz.<br />
Was immer das zu bedeuten hat.<br />
Jassien Kelm (www.sueddeutsche.de, 29.12.2010)<br />
„Unwort des Jahres 2010“ wurde „alternativlos“.<br />
(Anmerkung <strong>der</strong> Redaktion)