08.12.2012 Aufrufe

die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen

die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen

die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Kurz bevor in den frühen Morgenstunden des 1. Oktober 2010 in<br />

Stuttgart <strong>die</strong> ersten Bäume gefällt wurden, blühte sie wie<strong>der</strong> auf: eine seit<br />

den 80er Jahren fast in Vergessenheit geratene deutsche Protestkultur.<br />

Und vereinte Bürger aller Schichten und Generationen im gemeinsamen<br />

Engagement gegen <strong>die</strong> sachzwangdiktierten Beschlüsse „<strong>der</strong> da oben“.<br />

Nicht nur in Stuttgart, auch in Gorleben und Hamburg: Bewaffnet mit Trillerpfeifen,<br />

Topfdeckeln, Kochlöffeln und Protest-Accessoires aller Art ging<br />

man vielerorts auf <strong>die</strong> Straße. Deutschland positionierte sich. Und zwar<br />

dagegen. Es war kein Zufall, dass <strong>die</strong> Demonstrationen jener Tage durchaus<br />

theatralische Züge zeigten, hatte sich doch u. a. mit Regisseur Volker Lösch<br />

ein Spezialist für theatralen Ungehorsam in <strong>der</strong> Stuttgart 21- Debatte,<br />

aber auch in <strong>der</strong> um <strong>die</strong> skandalöse Hamburger Kulturpolitik, auf <strong>die</strong> Seite<br />

<strong>der</strong> Demonstranten gestellt. Viele Aktionen des zivilen Protests waren so<br />

geradezu zwangsläufig von einer ungeheuren Theatralität: „musikalisch<br />

und stimmungsvoll geradezu in ihren friedlichen Momenten, schäumend<br />

antikisch in ihren heftigsten Phasen“ (DIE ZEIT).<br />

Sollte <strong>der</strong> deutsche Wähler tatsächlich endlich seine Politikverdrossenheit<br />

abgelegt haben? Froh unterstellte man dem in politischen Belangen bis<br />

dato eher schläfrig wirkenden deutschen Wähler ein neues gesellschaftliches<br />

Sendungsbewusstsein. Der „Wutbürger“ war geboren. Doch am Image<br />

des neuen deutschen Protestwun<strong>der</strong>s wurde schon bald gekratzt, denn<br />

immer lauter stellte sich <strong>die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Nachhaltigkeit des bürgerlichen<br />

Engagements: Eigentlich, so kritisierten <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> den „Wutbürger“<br />

im Spätsommer noch wortreich unterstützt hatten, nur wenige Wochen<br />

später, als nicht nur <strong>die</strong> Blätter, son<strong>der</strong>n auch <strong>die</strong> (Stuttgarter) Bäume<br />

fielen, protestiere „<strong>die</strong> mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft gegen sich selbst“ (FAZ).<br />

In einer Demokratie wird das politische Geschehen idealerweise nun einmal<br />

nicht unmittelbar von Einzelinteressen und punktuellen Ausschlägen<br />

auf <strong>der</strong> bürgerlichen Erregungsskala bestimmt – auch wenn <strong>die</strong>se zweifelsohne<br />

<strong>die</strong> politische Ausrichtung einer Gesellschaft beeinflussen können.<br />

Im Kampf um tragfähige (Zukunfts-)Konzepte aber braucht es, allen Ängsten<br />

zum Trotz, den visionären Willen zur Verän<strong>der</strong>ung. Konstruktiverweise<br />

sollte <strong>die</strong> Stimme des Volkes daher vor allem bei den Wahlen laut werden.<br />

„Auch Bürger tragen in einer Demokratie Verantwortung“, kritisierte DIE<br />

ZEIT und ging über zum Generalangriff auf <strong>die</strong> Vertreter des deutschen<br />

Volkszorns: „Mit ihrem kurzatmigen Hin und Her, mit ihrer leichten Entflammbarkeit<br />

mal für <strong>die</strong>ses, mal für jenes entziehen <strong>die</strong> Bürger <strong>der</strong> Politik<br />

auf Dauer den Boden – nur um <strong>der</strong>en Haltlosigkeit anschließend umso lauter<br />

zu beklagen.“<br />

Sollten also im Zuge <strong>die</strong>ser „euphorischen Wutfestspiele“ (DIE ZEIT) nur<br />

„spießiger Anwohnerwi<strong>der</strong>stand und partikuläre Interessenvertretung mit<br />

<strong>der</strong> Sorge um das Gemeinwohl“ (Süddeutsche Zeitung) verwechselt worden<br />

sein? War das scheinbar so plötzlich aufgeflammte politische Engagement<br />

nur Hysterie und Lust am politischen (Party-)Event?<br />

Die vielleicht stärkste Antriebskraft in Sachen Protestkultur war wohl <strong>die</strong><br />

kollektiv empfundene soziale Ungerechtigkeit, <strong>die</strong> immer weiter auseinan<strong>der</strong>gehende<br />

Schere zwischen Arm und Reich und <strong>die</strong> damit verbundene<br />

Angst, irgendwann auf <strong>der</strong> Verliererseite zu stehen. „Das Zeitalter <strong>der</strong> Ichlinge<br />

geht zuende“, frohlockte nichtsdestotrotz im September 2010 <strong>die</strong><br />

Stiftung für Zukunftsfragen: „Die Krisenerfahrung verän<strong>der</strong>t <strong>die</strong> Werteskala<br />

<strong>der</strong> Menschen – das Ich braucht das Wir.“

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!