die stücke der spielzeit 2011/2012 - Schauspiel Essen
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(einschließlich <strong>die</strong>, gegen <strong>die</strong> protestiert wird), auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en. Und darin<br />
steckt schon das mit <strong>die</strong>ser Form nicht zu überwindende Problem: Die Protestbewegung<br />
ist nur ihre eigene Hälfte – und auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite befinden<br />
sich <strong>die</strong>, <strong>die</strong> anscheinend ungerührt o<strong>der</strong> allenfalls leicht irritiert<br />
das tun, was sie sowieso wollen. Der Protest negiert, schon strukturell, <strong>die</strong><br />
Gesamtverantwortung. Er muß an<strong>der</strong>e voraussetzen, <strong>die</strong> das, was verlangt<br />
wird, ausführen. Aber wieso wissen <strong>die</strong> an<strong>der</strong>en, daß sie sich auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />
Seite <strong>der</strong> Protestform befinden? Wie können sie dazu gebracht werden,<br />
<strong>die</strong>se Situationsdefinition zu akzeptieren, statt ihren eigenen Konstruktionen<br />
zu folgen? Offenbar nur durch drastische Mittel, durch alarmierende<br />
Kommunikation, auch durch den massenhaften Einsatz von Körpern,<br />
<strong>die</strong> sich selbst als Protest demonstrieren, vor allem aber durch ein heimliches<br />
Bündnis <strong>der</strong> Protestbewegungen mit den Massenme<strong>die</strong>n. Es fehlt,<br />
an<strong>der</strong>s gesagt, <strong>die</strong> Reflexion-in-sich, <strong>die</strong> für <strong>die</strong> Codes <strong>der</strong> Funktionssysteme<br />
typisch ist; und das wird zusammenhängen mit dem unstillbaren<br />
Motivationsbedarf <strong>der</strong> Protestbewegungen, <strong>der</strong> we<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> einen noch<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite ihrer Leitunterscheidung Protest ein re-entry <strong>der</strong><br />
Unterscheidung ins Unterschiedene vertragen könnte.<br />
Es fehlt auch eine Berücksichtigung <strong>der</strong> Selbstbeschreibungen <strong>der</strong>jenigen,<br />
gegen <strong>die</strong> man protestiert. Man versucht nicht: zu verstehen. Ansichten<br />
auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite werden allenfalls als taktische Momente des eigenen<br />
Vorgehens in Rechnung gestellt. Und deshalb ist <strong>die</strong> Versuchung stark, auf<br />
fremden Pferden moralisch zu voltigieren. Man kann von Protestbewegungen<br />
also keine Reflexion zweiter Stufe, keine Reflexion <strong>der</strong> Reflexion <strong>der</strong><br />
Funktionssysteme erwarten. Sie halten sich statt dessen an <strong>die</strong> Form des<br />
Protestes. (…)<br />
DIE GESELLSCHAFT DER GESELLSCHAFT<br />
Protest ist kein Selbstzweck – auch nicht für Protestbewegungen. Sie brauchen<br />
ein Thema, für das sie sich einsetzen. (…) Die Themen, <strong>die</strong> Anlaß<br />
zum Entstehen von Protestbewegungen geben, sind heterogen und bleiben<br />
auch dann heterogen, wenn man sie zu Großgruppen zusammenfaßt<br />
wie: Umwelt, Krieg, Lage <strong>der</strong> Frauen, regionale Eigenarten, dritte Welt,<br />
Überfremdung. Die Themen entsprechen <strong>der</strong> Form des Protestes wie Programme<br />
einem Code. Sie verdeutlichen, weshalb man sich als Protestieren<strong>der</strong><br />
auf <strong>der</strong> einen Seite <strong>der</strong> Form findet. Sie <strong>die</strong>nen <strong>der</strong> Selbstplacierung<br />
in <strong>der</strong> Form. Es muß sich deshalb um zwiespältige Themen handeln;<br />
um Themen, an denen mit hinreichen<strong>der</strong> Drastik deutlich gemacht werden<br />
kann, was an<strong>der</strong>s sein sollte und warum. Außerdem muß es sich um individuell<br />
aneignungsfähiges Wissen handeln, und damit ist analytische Tiefenschärfe<br />
ausgeschlossen. Von Protestbewegungen ist nicht zu erwarten, daß<br />
sie begreifen, weshalb etwas so ist, wie es ist; und auch nicht, daß sie sich<br />
klarmachen können, was <strong>die</strong> Folgen sein werden, wenn <strong>die</strong> Gesellschaft<br />
dem Protest nachgibt. (…) Protestbewegungen leben von <strong>der</strong> Spannung von<br />
Thema und Protest – und gehen an ihr zu Grunde. Erfolg und Erfolglosigkeit<br />
sind gleichermaßen fatal. Die erfolgreiche Umsetzung des Themas erfolgt<br />
außerhalb <strong>der</strong> Bewegung und kann ihr bestenfalls als „historisches<br />
Ver<strong>die</strong>nst“ zugerechnet werden. Erfolglosigkeit entmutigt <strong>die</strong> Teilnehmer.<br />
Vielleicht ist <strong>die</strong>ses Dilemma ein Grund dafür, daß neue soziale Bewegungen<br />
untereinan<strong>der</strong> Kontakte suchen und miteinan<strong>der</strong> sympathisieren, sofern<br />
nur <strong>die</strong> Mindestbedingung einer Alternativvorstellung, eines Protestes<br />
und <strong>der</strong> Nichtidentität mit den „herrschenden Kreisen“ gegeben ist. Aber<br />
auf <strong>die</strong>se Weise wird allenfalls erreicht, daß sich eine Kultur des Protestierens<br />
bildet mit <strong>der</strong> Möglichkeit, immer neue Themen aufzugreifen.<br />
Niklas Luhmann (Die Gesellschaft <strong>der</strong> Gesellschaft, Frankfurt am Main 1997)<br />
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