5_VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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J ohann H ellwegb<br />
Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 309<br />
auch heute noch <strong>und</strong> vielfach selbst in der Forschung als ausgemachte<br />
Sadie. Als Beleg verweist man auf die dodi offenk<strong>und</strong>ige starke Neigung<br />
I des Spaniers <strong>für</strong> den Anarchismus<br />
Erst neuerdings legt sidi die Forschung die Frage vor, ob denn die<br />
umgekehrte Beweisführung, den spanischen Anarchismus aus dem Individualismus<br />
der Spanier herzuleitcn, zulässig ist. Untersuchungen der<br />
Voraussetzungen, Ursachen, Anfänge <strong>und</strong> vor allem Besonderheiten des<br />
spanischen Anarchismus deuten darauf hin, daß es sich in sehr viel stärkerem<br />
Maße beim spanischen Anarchismus utnein gem eii^ftlid ies als<br />
um ein individuahstisdies Phänomen handeltTwie das Erscheinen des<br />
<strong>Sozial</strong>revolutionismus in Andalusien nicht ohne die ökonomische Revolution<br />
zu verstehen ist, die mit der Ablösung des Ancicn Regime durch<br />
die liberal-kapitalistischen Rechts- <strong>und</strong> <strong>Sozial</strong>verhältnisse verb<strong>und</strong>en war<br />
<strong>und</strong> gerade die Schichten, die sich in anarchistischen Ausbrüchen artikulierten,<br />
überging bzw. enttäuschte12, so zeigt auch eine Betrachtung der<br />
Vcrlaufsformen einzelner anarchistischer Rebellionen eine Vielzahl von<br />
Erscheinungen, die sie in die Nähe von millenaristischen oder auch chiliastisdicn<br />
Heilserwartungsbewegungen rücken13. Insbesondere scheinen<br />
sich genossenschaftliche Traditionen in den Anfängen des spanischen Anarchismus,<br />
che dieser auch auf dem Lande dann nach der Errichtung der<br />
n So heißt cs z. B. bei J oll, a. a. O., S. 247 f.: „Vielleicht auch waren der<br />
Individualismus, Stolz <strong>und</strong> Sclbstrcspekt, die dem Spanier nachgesagt werden,<br />
der beste Nährboden <strong>für</strong> eine Doktrin, die noch extremer als der Protestantismus<br />
jeden einzelnen <strong>für</strong> sein Tun verantwortlich macht“. Vgl. auch J. Bücarud<br />
<strong>und</strong> G. Lai-ouge, a. a. O., S. 10. Ein ähnlicher Zirkelschluß liegt vor, wenn der<br />
Lokalpatriotismus der Spanier mit ihrem Individualismus begründet wird. Vgl.<br />
z. B. Ramön Men£ndez P idal, Die Spanier in der Geschichte. München 1955,<br />
Kap.: „Unitarismus <strong>und</strong> Regionalismus“. Meines Erachtens geht Mcndndez Pidal<br />
entschieden zu weit, wenn er den Spaniern eine „offensichtlich schwach entwikkelte<br />
gesellige Gesinnung“ nachsagt. Vgl. dazu die Ausführungen über die Bruderschaften,<br />
S. 329 ff. Zum Wert solcher Völkerpsychologie vgl. J .C aroBaroja,<br />
|| Sobrc psicologla ctnica, in: Revista de Dialectologta y Tradiciones Populäres<br />
Bd. VII (1951), Heft 2, S. 254—265.<br />
ie Vgl. dazu den Absdinitt „La proletarizaciön del bajo pueblo“ in Jose Luis<br />
Comellas, Los Modcrados en el Poder, 1844—1854. Madrid 1970, S. 80—90.<br />
13 Vgl. die bereits genannten Arbeiten von Juan D(az del Moral <strong>und</strong> E. J.<br />
H obsbawm. Einen Überblidc über den Forschungsstand zu Fragen des modernen<br />
, Messianismus bzw. Millenarismus gibt Maria Isaura P ereira de Q ueiroz, Mille-<br />
| narismes et Messianismcs, in: Annales. Economies-Socihös-Civilisations Jg. 19,<br />
Nr. 2 (März—April 1964), S. 330—344. Eine Vielzahl von Anregungen gibt<br />
Wilhelm E. Mühlmann, Chiliasmus <strong>und</strong> Nativismus. Studien zur Psychologie,<br />
Soziologie <strong>und</strong> historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen. Berlin 1961,<br />
S. 357 ff.<br />
Confcdcraciön Nacional del Trabajo im Jahre 1910 von einer ursprünglich<br />
spontan-chiliastischcn Form zu einem mehr urbanen, nicht mehr jeglicher<br />
Organisation rigoros abgeneigten Revolutionskonzept hin tendiert<br />
<strong>und</strong> sich in einer ausgebildetcn Theorie seiner selbst bewußt zu<br />
werden beginnt, als derartig bedeutsam zu erweisen, daß die These vom<br />
Individualismus des Spaniers eine deutliche Einschränkung erfährt. Erscheinungen,<br />
die als Ergebnis anarchistischer Umwälzungen interpretiert<br />
wurden, erweisen sich häufig als zum Teil jahrh<strong>und</strong>ertealte genossenschaftliche<br />
Einrichtungen <strong>und</strong> Organisationsformen. Unter „Genossenschaft“<br />
ist hier freilich nicht nur an einen Zweckverband im modernen<br />
Sinne zu denken. Einerseits soll hier zwar „Genossenschaft“ durchaus<br />
als Gegenbegriff zu „Herrschaft“ verstanden werden, andererseits soll<br />
damit jedoch nicht der Herrschaftsbegriff denunziert werden, denn neuere<br />
verfassungsgeschichtliche Arbeiten haben gezeigt, „daß alle Genossenschaft<br />
<strong>und</strong> gesicherte Freiheit im Rahmen der Herrschaft erwuchs“ 14.<br />
Es ist nicht zulässig, den Herrschaftsbegriff zugunsten eines ihm entgegen<br />
stilisierten Genossenschaftsbegriffs abzuwerten, wie auch die „schroffe<br />
Entgegenstellung von .Recht' <strong>und</strong> .Macht' “, die „ganz wesentlich eine<br />
Problematik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts gewesen ist“, inzwischen als nicht berechtigt<br />
erkannt is t,s. Unter Genossenschaften sollen hier die alten Gesellungseinheiten<br />
<strong>und</strong> Gemeinschaftsformen verstanden werden, die —<br />
wie Martin Buber es ausgedrückt hat — „ein lebensmäßiges Zusammengetansein,<br />
ein weitgehend autonomes, sich von innen her ausformendes<br />
<strong>und</strong> umformendes Miteinander von Menschen“ 13 bedeuteten <strong>und</strong> ermöglichten,<br />
die den Menschen soziale Sicherheit <strong>und</strong> Würde gaben, die aber<br />
auch — das muß man sich vor Augen halten, wenn man den Verlust dieser<br />
Gemeinschaftsformen beklagt — das Individuum in der sozialen <strong>und</strong><br />
rechtlichen Ungleichheit des ständischen Privilegienstaates gefangen hielten.<br />
Diese Genossenschaften sind unter dem Zwang der kapitalistischen<br />
Wirtschaft <strong>und</strong> ihres Staates sowie durch den ungehemmten Liberalismus<br />
mit seinem seit dem Ausgang des Ancien Regime rasant fortschreitenden<br />
Individualisierungsprozeß ausgehöhlt <strong>und</strong> zum großen Teil zerstört<br />
worden.<br />
14 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955, S. 86 f.<br />
Vgl. auch W. E. Mühlmann, Herrschaft <strong>und</strong> Staat. Eine Untersuchung der Ober-<br />
»lagerungstheorie, in: Wilhelm M ühlmann, Rassen, Ethnien, Kulturen. Moderne<br />
' Ethnologie. Neuwied <strong>und</strong> Berlin 1964, S. 290 f.<br />
15 Otto Brunner, Land <strong>und</strong> Herrschaft. Gr<strong>und</strong>fragen der territorialen Verfassungsgeschichte<br />
Österreichs im Mittelalter. 6. Aufl. Wien 1970, S. 2.<br />
10 Martin Buber, Der Utopische <strong>Sozial</strong>ismus. Köln 1967, S. 30.