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5_VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

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J ohann H ellwege<br />

Genossenschaft). Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 349<br />

schaftsordnung in immer weitere Fernen gerückt worden, ein Prozeß, den<br />

der Anarchismus als umkehrbar begriff. Die Lehren Proudhons, Fouriers<br />

<strong>und</strong> vor allem Bakunins fielen auf einen durch jahrh<strong>und</strong>ertelange geschichtliche<br />

Erfahrung bereiteten Boden. Gerade die Verbindung von<br />

Utopie <strong>und</strong> Konservativismus, die <strong>für</strong> die bäuerliche Bevölkerung die Lehren<br />

des Anarchismus darstellen mußten, traf die Stimmung in der Kleinbauern-<br />

<strong>und</strong> Landarbeiterschaft genauer als jede andere moderne <strong>Sozial</strong>bewegung.<br />

Die anarchistische Agitation, die im wesentlichen erst nach<br />

1870 einsetzte, war in erster Linie wohl nur eine Artikulationshilfe <strong>für</strong><br />

die Bauern <strong>und</strong> Tagelöhner, um ihre Sehnsüchte in Worte fassen zu können.<br />

Eine aufgestaute kollektive Stimmung <strong>und</strong> erhöhte emotionelle<br />

Temperatur — man denke etwa an das Leben auf den Cortijos124 —<br />

konnte sich in den anarchistischen Lehren aussprechen <strong>und</strong> Erleichterung<br />

verschaffen. „Gerade weil die moderne soziale Agitation die andalusischen<br />

Bauern unter einer Form erreichte, die völlig außerstande war, sie<br />

die Notwendigkeit von Organisation, Strategie, Taktik <strong>und</strong> Geduld zu<br />

lehren, verschwendeten sie ihre revolutionäre Energie beinahe vollständig“<br />

Die noch im Einzelnen zu leistende Erforschung der genossenschaftlichen<br />

Tradition in Spanien, die in den Anfängen des Anarchismus weiterwirkte,<br />

scheint erheblich dazu beitragen zu können, die Vorstellung<br />

vom individualistischen, weil anarchistischen bzw. vom anarchistischen,<br />

weil individualistischen Spanier — den es als Typ natürlich nicht geben<br />

kann — in den Bereich der Vorurteile zu verweisen. Zugleich erscheint<br />

eine bestimmte Konzeption von der Erforschung der Anfänge des spanischen<br />

Anarchismus wenigstens sehr ergänzungsbedürftig. Gerade in einigen<br />

neueren Arbeiten zur Geschichte der spanischen Arbeiterschaft wird<br />

sie vertreten. Sie besteht darin, nach Art einer inzwischen weithin aufgegebenen<br />

Methode der Literaturgeschichte eine Geschichte der Wirkung<br />

einzelner Werke ausländischer Theoretiker in der spanischen Pamphletliteratur<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu erstellen <strong>und</strong> dabei feinste Verästelungen<br />

zu verfolgen, oft auch nur zu vermuten12B. Man kommt dem Phä­<br />

nomen des frühen Anarchismus <strong>und</strong> seinen Besonderheiten näher, wenn<br />

man sidi die Veränderungen im Leben der rebellierenden Bauern, Tagelöhner<br />

<strong>und</strong> Handwerker vergegenwärtigt, die von einem Geschick überwältigt,<br />

dessen Zwänge ihnen nicht einsichtig waren, sich nur in Gewalt<br />

artikulieren konnten. Auch die Geschichte der Theorien <strong>und</strong> Geistesströmungen<br />

sei hiermit dazu ermuntert, um der eigenen wissenschaftlichen<br />

Aussage willen sich mehr der äußerst mühsamen Erforschung der kleinen<br />

sozialen Gemeinschaften zu widmen. Der Wunsch nach einer stärkeren<br />

Sicht der Probleme aus mehr von unten nach oben zielender Perspektive,<br />

die sich durchaus mit einer Schau in umgekehrter Richtung vereinbaren<br />

läßt <strong>und</strong> ergänzt, bedeutet keineswegs, daß man als Historiker nur einer<br />

bestimmten Weltanschauung zu huldigen hätte.<br />

124 Das Leben in diesen Agrarkasernen, fern der Familie, bei ewig gleicher<br />

karger Kost <strong>und</strong> in einer scharf abgestuften Arbeiterhierarchie, ist beschrieben<br />

bei J. C aro Baroja, Remarques sur la vie agraire en Andalousie, in: Etudes<br />

Rurales. Nr. 10 (Juli—September 1963), S. 81—101.<br />

122 H obsbawm, <strong>Sozial</strong>rebellen, S. 124.<br />

118 Ein Beispiel ist meiner Ansicht nach Manuel N ünez de Arenas u. Manuel<br />

T unön de Lara, Historia del Movimiento Obrero Espanol (Collecciön „Trabajo<br />

y Sociedad* 11). Barcelona 1970.

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