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5_VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

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344<br />

J ohann H ellwege<br />

Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 345<br />

treffen 110. Joaqufn Costa hat vor allen anderen auf die erhaltenen Reste<br />

einer großen „agrarkollcktivistischcn“ Tradition in Spanien <strong>und</strong> auf die<br />

Bedeutung dieses Erbes <strong>für</strong> eine Lösung der Agrarfrage hingewiesen m .<br />

Das Munizipium, der spanische Pueblo als nahezu autarke, autonome<br />

Gesellungscinheit, in der es zu spontanen Schöpfungen von Einrichtungen<br />

<strong>und</strong> Mechanismen der Selbstverwaltung kommen konnte, war einmal<br />

Wirklichkeit gewesen, ehe mit der fortschreitenden Bürokratisierung der<br />

Welt der Staat mit seiner Allmacht <strong>und</strong> seinen Dienern in diese Idylle<br />

einbrach <strong>und</strong> sie zu überwältigen begann. In den fein <strong>und</strong> bis in letzte<br />

Details ausgearbeiteten Regeln, nadi denen etwa Streitigkeiten geschlichtet<br />

Ehrenämter in Bruderschaften besetzt wurden118 oder nach denen<br />

die Rodung, Bebauung <strong>und</strong> Bewachung eines Stückes aus den Gemeinschaftsländereien<br />

durch die Zusammenarbeit des Pueblo geschah <strong>und</strong> nach<br />

denen schließlich in öffentlicher Versammlung der gemeinsam erzielte<br />

Ertrag auf die Mitglieder der Gemeinschaft verteilt wurde n l, zeigte sich<br />

xio Es sei hier auf die bereits genannte Literatur verwiesen, die mehr oder<br />

weniger in der Nachfolge J. Costas entstanden ist. Es ist zu hoffen, daß mit<br />

einer in den letzten Jahren zu beobachtenden Costa-Rcnaissance auch die spanische<br />

Agrarverfassung wieder stärker in das Blickfeld der Historiker tritt. Eines<br />

der Hauptwerke Costas (Derccho consuetudinario y economla popular de Espana.<br />

2 Bde. Barcel. 1902) war mir leider ebenso wie die neuere Arbeit von Alejandro<br />

N ieto (Bienes Comunales. Madrid 1964) nicht zugänglich. Es sei hier<br />

noch auf eine vergleichende Studie aufmerksam gemacht, die im portugiesischspanischen<br />

Grenzgebiet entstanden ist. Jorge DIas, Rio de Onor. Comunitarismo<br />

agro-pastoril. Cancioneiro de Margot Dias. Porto 1953. In einer bereits seit<br />

langem in Angriff genommenen Untersuchung über die spanischen Bruderschaften<br />

werde ich den genossenschaftlichen Aspekt detaillierter behandeln.<br />

tu Dabei muß man sich jedoch darüber im klaren sein, wie Jackson richtig<br />

hervorhebt, daß Costas „choix de faits n’est pas le choix d’un historien tächant<br />

de donner un r£cit objectif et gdndral, mais bien un choix rdfldchi destine ä<br />

souligner les Elements „progressifs“ qu'il veut voir imit£es en son temps“.<br />

Gabriel Jackson, Costa et sa „revolution par le haut", in: Estudios de Historia<br />

Modema Bd. III (1953), S. 297.<br />

118 Vgl. die Rolle des „corredor“, des Vermittlers in Auseinandersetzungen,<br />

mit dessen Hilfe man das Gesicht wahren kann. Pitt-Rivers, a. a. O., S. 129 f.<br />

its Es sei hier verwiesen auf das Wahlverfahren des Vorstehers der Bruderschaft<br />

der „guisados a caballo“ aus Cuenca, einer Reiterbruderschaft aus Bürgerlichen,<br />

die erstaunliche Privilegien aus dem Spätmittelaltcr in die Neuzeit<br />

hatten herüberretten können. Das Verfahren ist derartig kompliziert, daß hier<br />

zuviel Raum aufgewendet werden müßte, wenn eine verständliche Darlegung<br />

gegeben würde. Vgl. Abschrift von 1566 der Satzungen der Bruderschaft in<br />

Archivo General de Simancas, Cdmara de Castilla Leg. 2278.<br />

1,4 Vgl. das Kapitel „Rozadas“ in Santiago M£ndez Plaza, Costumbres<br />

comunales de Aliste. Madrid 1900, S. 17—25.<br />

das Organisationstalent <strong>und</strong> die Eignung zur Selbstverwaltung der spanischen<br />

Bevölkerung. Gerade in solchen kollektivpsychischen Stimmungen<br />

<strong>und</strong> Erfahrungen, die unter Umständen wie z. B. vielerorts in Andalusien<br />

zeitlich schon länger zurückliegen können, wird man die Ursachen<br />

chiliastisch-anarchistischer Bewegungen zu suchen haben. Zwar mögen<br />

bei dem kurzen historischen Gedächtnis der Menschen die konkreten<br />

Umstände der „guten, alten Zeit“ längst der aktiven Erinnerung entfallen<br />

sein, jedoch bedeutet dies nicht, daß auch die im Gruppenkontakt<br />

erworbenen Erfahrungen verloren sein müssenl15. Als dann im Verlaufe<br />

der Durchsetzung der kapitalistischen <strong>Sozial</strong>- <strong>und</strong> Rechtsordnung durch<br />

den spanischen Liberalismus sich in Andalusien die Latif<strong>und</strong>ien neu entwickelten<br />

<strong>und</strong> zugleich die „Allmende“ aufgehoben wurde11«, lag der<br />

Gedanke der Bodenreform, der Redistribution bzw. des Reparto, „der<br />

wie alle Bewegungen anaklitischen Rückgängigmachens auf das Modell<br />

einer gemeinschaftlichen Urstiftung zurückgreift“117, nahe. Es ist<br />

verständlich, wenn das rebellierende agrarische Proletariat von der das<br />

Wesen des Institutioneilen nicht begreifenden Vorstellung ausging, daß<br />

man nur die Polizisten, die Steuerbeamten oder den neuen Großgr<strong>und</strong>besitzer<br />

vertreiben oder erschlagen müsse, damit mit einem Schlag die<br />

alten Zustände, die man als „den Tag“ in die Zukunft projizierte118,<br />

hergestellt würden. Es bedurfte keiner politischen Doktrin, wie Pitt-<br />

Rivers treffend beobachtet hat, damit die Pueblos in Andalusien rebellierten<br />

110. Mit dem Eindringen der kapitalistischen Wert: m idW irtschaftsordnung<br />

<strong>und</strong> deT I^ISH H a^E H uH SdungdH ltaate, nicht mehr<br />

3em~PuehIo^gegenüber loyaler Beamter war der spanische Pueblo als<br />

Inbegriff einer auf genossenschaftlichem Sinn beruhenden Gesellungseinheit<br />

<strong>für</strong> die bezeichnenderweise auch selbst als „el pueblo“ bezeichnete<br />

Gemeindebevölkerung in Frage gestellt.<br />

n« Auf das Fehlen einer historischen <strong>Sozial</strong>psychologie hat neuerlich Hans-<br />

Ulrich Wehler mit Nachdruck hingewiesen. Vgl. Zum Verhältnis von

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