18.05.2016 Aufrufe

5_VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

338<br />

J ohann H ellwege<br />

Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 339<br />

Anteilen der ncugcgründctcn Staatsbank begann noch unter Karl IV.<br />

der Sdiröpfungsprozcß dieser, meistens auf genossenschaftlicher Basis in<br />

den Gemeinden betriebenen Einrichtungen. In dem Absinken der Zahl<br />

der Getreidemagazine auf 3 407 im Jahre 1863 von ehemals mehr als<br />

8 000 solcher Hilfseinrichtungen, die gerade dem kleinen Bauern <strong>und</strong><br />

Tagelöhner die Existenz erleichterten, spiegelt sich die Verschlechterung<br />

wider, die die Situation der sozial Schwachen auf dem Lande in der<br />

Zwischenzeit erfahren hatte. In der Provinz Sevilla waren um 1840<br />

praktisch die Pdsitos bereits verschw<strong>und</strong>en, die gerade in Andalusien<br />

1793 über die bedeutendsten Rücklagen verfügt hatten. Ein Versuch,<br />

stattdessen Agrarbanken mit dem Restvermögen an Gr<strong>und</strong>besitz der<br />

Getreidemagazine zu begründen, scheiterte kläglich103. Mit der Überführung<br />

der sogenannten Bienes de Propios in Privatbesitz, derjenigen<br />

Teile der Gemcindeländereien <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>stücke, aus deren Verpachtung<br />

bzw. aus deren Nutzungsgebühren die Geldmittel im wesentlichen erwirtschaftet<br />

wurden, die zur Bestreitung von Gemeindeaufgaben erforderlich<br />

waren <strong>und</strong> mit denen auch vielfach die an den Staat abzuführenden<br />

Steuern der Gemeindemitglieder bezahlt wurden104, entfielen viele, im<br />

Verlaufe der Jahrh<strong>und</strong>erte durch das Munizipium spontan entwickelte<br />

Dienstleistungen <strong>und</strong> Annehmlichkeiten. Der aus solchen Mitteln besoldete<br />

Arzt, Apotheker, Barbier <strong>und</strong> Lehrer verließen das Dorf. Der Bürger,<br />

der gegen Entlohnung aus diesem Fond bereit gewesen war, neben<br />

seiner Landwirtschaft die Rolle des Gastwirts bzw. des Weinhändlers<br />

oder des Krämers zu übernehmen, da gewisse Konsumgüter, Werkzeuge<br />

<strong>und</strong> Waren in der Ortschaft nicht selbst hergestellt werden konnten, der<br />

Weg in die Städte aber oft sehr beschwerlich war, dieser Bürger gab seine<br />

Dienste auf. Man war wieder den wucherischen Wanderhändlern ausgeliefert<br />

I05. Es hat lange gedauert, bis in entlegenen Teilen Spaniens<br />

ein Grad der Alphabetisierung wieder erreicht wurde durch die Entsenvgl.<br />

ders., Las crisis agrarias en la Espana modema (Biblioteca Polltica Taurus<br />

Bd. 16). Madrid 1970.<br />

103 Vgl. Lazo DIaz, a. a. O., S. 25 ff.<br />

104 Vgl. Jesus MartIn N ino, La ley de Arbitrios Provinciales y Municipals<br />

de 1870. Un precedcnte del impuesto sobre la renta, in: Moneda y Cr^dito<br />

Nr. 96 (März 1966), S. 33—70. Erst um 1870 gelang es allmählich, das System<br />

der Gemeindefinanzen wieder zu konsolidieren.<br />

105 Als ein Beispiel <strong>für</strong> eine Ortschaft, bzw. Region, in der diese Einrichtungen<br />

verwirklicht waren, sei verwiesen auf Santiago M £ n d e z Plaza, Costumbres<br />

comunales de Aliste. Madrid 1900. Am Ende des Ancien Regime verfügten<br />

die meisten Ortschaften über derartige Einrichtungen. Es handelt sich um solche<br />

Überreste, die dann von nichtgcsdiulten Beobachtern gern als Errungenschaften<br />

des Anarchismus angesehen werden. Vgl. Langdon-Davies, a. a. O., S. 66—71.<br />

dung vom Staate besoldeter Lehrer, der sich mit dem Bildungsstand vor<br />

der Zerschlagung der Kommunen als <strong>für</strong> die Gr<strong>und</strong>schulausbildung verantwortliche<br />

Instanz vergleichen ließ 10°. Oftmals war in ländlichen, kleinen<br />

<strong>und</strong> abgelegenen Gemeinden ein fortgeschrittenes Stadium des Agrarkollektivismus<br />

— um den Ausdruck Joaquin Costas zu gebrauchen —<br />

erreicht. Selbst das Geld war nahezu nicht bekannt, weil es in dem fast<br />

auf die Ortschaft allein beschränkten Wirtschaftsraum überflüssig war.<br />

Tauschverkehr herrschte vor oder das Getreide war an die Stelle des<br />

Geldes getreten. Es gibt auch Beispiele da<strong>für</strong>, daß Ortschaften eigenes,<br />

nur in ihrem Bereich als Zahlungsmittel anerkanntes Geld hatten herstcllen<br />

lassen 107. In der Vollversammlung der gleichberechtigten <strong>und</strong><br />

vielfach auch sozial gleichgestellten Bürger, dem Concejo Abierto, konnten<br />

alle, diese kleine abgeschlossene Welt angehenden Angelegenheiten<br />

geregelt werden. Bis in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein hat diese Bürgerversammlung<br />

in der Montana von Le6n <strong>und</strong> Santander sowie in Asturien<br />

funktioniert108. Sitten, Gebräuche <strong>und</strong> das Gewohnheitsrecht regelten<br />

loo Vgl, Mendez Plaza, S. 48 ff. Zum Analphabetismus in Spanien vgl. Lorenzo<br />

Luzuriaga, El analfabetismo en Espana. Madrid 1926. L. liegen erst<br />

statistische Angaben ab 1860 vor. Besonders aufschlußreich sind die Angaben<br />

über regionale <strong>und</strong> interprovinziale Verteilung des Analphabetismus. Murcia<br />

<strong>und</strong> Andalusien liegen jeweils an der Spitze. Besonders bemerkenswert ist m. E.,<br />

daß Landkreise wie Riano, Murias de Paredes, Reinosa — stark genossenschaftlich<br />

geprägte, ländliche Gebiete —, nach Madrid <strong>und</strong> Santander die wenigsten<br />

Analphabeten aufwiesen (1920).<br />

107 Vgl. Jackson, Origins of Spanish Anarchism, S. 138; M£ndez Plaza,<br />

a. a. O., S. 41. Die Abschaffung des Geldes, ein Programmpunkt nahezu jeder<br />

anarchistischen Revolte, konnte bei Bauern, die wie in Spanien seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

an einen Wirtschaftszustand gewöhnt waren, in dem es mangels Zahlungsmitteln<br />

kaum zu Geldverkehr kommen konnte (vgl. G. Anes Alvarez,<br />

Las crisis agrarias en la Espana moderna (Biblioteca Polltica Taurus Bd. 16).<br />

Madrid 1970, S. 308), immer mit Einverständnis rechnen. Oftmals verkaufte<br />

man ein Stück Vieh in der Stadt erst dann, wenn eine Steuer zu bezahlen war,<br />

die in Geld erhoben wurde. Es liegt nahe, daß dann der Glaube aufkommen<br />

konnte, daß mit dem Geld auch die Steuern verschwinden würden. Über die<br />

Verbindung von Geld <strong>und</strong> Gerechtigkeit bzw. die Vorstellung, daß, wenn das<br />

Geld einmal abgeschafft sei, das Recht nicht mehr gekauft werden könne, der<br />

Reiche also nicht mehr im Vorteil sei, vgl. Pitt-Rivers, a. a. O., S. 144.<br />

los Vgl. Ncmesio MartInez Antuna, Supcrvivencia del Concejo medieval<br />

en Calao (Caso), in: Boletln del Instituto de Estudios Asturianos Jg. VII, Nr. 18<br />

(1953), S. 111—131, ders., El concejo abierto en Asturias, in: Boletln del Instituto<br />

de Estudios Asturianos Jg. V, Nr. 14 (1951), S. 259—275, <strong>und</strong> ders. Supervivencia<br />

del Concejo abierto de Arenas de Cabrales, in: Boletln del Instituto<br />

de Estudios Asturianos Jg. VIII, Nr. 22 (1954), S. 218—235.<br />

23*

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!