5_VSWG-Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte
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J ohann H ellwege<br />
Gcnosscnsdiaftl. Trad. u. d. Anfänge des Anarchismus i. Spanien 339<br />
Anteilen der ncugcgründctcn Staatsbank begann noch unter Karl IV.<br />
der Sdiröpfungsprozcß dieser, meistens auf genossenschaftlicher Basis in<br />
den Gemeinden betriebenen Einrichtungen. In dem Absinken der Zahl<br />
der Getreidemagazine auf 3 407 im Jahre 1863 von ehemals mehr als<br />
8 000 solcher Hilfseinrichtungen, die gerade dem kleinen Bauern <strong>und</strong><br />
Tagelöhner die Existenz erleichterten, spiegelt sich die Verschlechterung<br />
wider, die die Situation der sozial Schwachen auf dem Lande in der<br />
Zwischenzeit erfahren hatte. In der Provinz Sevilla waren um 1840<br />
praktisch die Pdsitos bereits verschw<strong>und</strong>en, die gerade in Andalusien<br />
1793 über die bedeutendsten Rücklagen verfügt hatten. Ein Versuch,<br />
stattdessen Agrarbanken mit dem Restvermögen an Gr<strong>und</strong>besitz der<br />
Getreidemagazine zu begründen, scheiterte kläglich103. Mit der Überführung<br />
der sogenannten Bienes de Propios in Privatbesitz, derjenigen<br />
Teile der Gemcindeländereien <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>stücke, aus deren Verpachtung<br />
bzw. aus deren Nutzungsgebühren die Geldmittel im wesentlichen erwirtschaftet<br />
wurden, die zur Bestreitung von Gemeindeaufgaben erforderlich<br />
waren <strong>und</strong> mit denen auch vielfach die an den Staat abzuführenden<br />
Steuern der Gemeindemitglieder bezahlt wurden104, entfielen viele, im<br />
Verlaufe der Jahrh<strong>und</strong>erte durch das Munizipium spontan entwickelte<br />
Dienstleistungen <strong>und</strong> Annehmlichkeiten. Der aus solchen Mitteln besoldete<br />
Arzt, Apotheker, Barbier <strong>und</strong> Lehrer verließen das Dorf. Der Bürger,<br />
der gegen Entlohnung aus diesem Fond bereit gewesen war, neben<br />
seiner Landwirtschaft die Rolle des Gastwirts bzw. des Weinhändlers<br />
oder des Krämers zu übernehmen, da gewisse Konsumgüter, Werkzeuge<br />
<strong>und</strong> Waren in der Ortschaft nicht selbst hergestellt werden konnten, der<br />
Weg in die Städte aber oft sehr beschwerlich war, dieser Bürger gab seine<br />
Dienste auf. Man war wieder den wucherischen Wanderhändlern ausgeliefert<br />
I05. Es hat lange gedauert, bis in entlegenen Teilen Spaniens<br />
ein Grad der Alphabetisierung wieder erreicht wurde durch die Entsenvgl.<br />
ders., Las crisis agrarias en la Espana modema (Biblioteca Polltica Taurus<br />
Bd. 16). Madrid 1970.<br />
103 Vgl. Lazo DIaz, a. a. O., S. 25 ff.<br />
104 Vgl. Jesus MartIn N ino, La ley de Arbitrios Provinciales y Municipals<br />
de 1870. Un precedcnte del impuesto sobre la renta, in: Moneda y Cr^dito<br />
Nr. 96 (März 1966), S. 33—70. Erst um 1870 gelang es allmählich, das System<br />
der Gemeindefinanzen wieder zu konsolidieren.<br />
105 Als ein Beispiel <strong>für</strong> eine Ortschaft, bzw. Region, in der diese Einrichtungen<br />
verwirklicht waren, sei verwiesen auf Santiago M £ n d e z Plaza, Costumbres<br />
comunales de Aliste. Madrid 1900. Am Ende des Ancien Regime verfügten<br />
die meisten Ortschaften über derartige Einrichtungen. Es handelt sich um solche<br />
Überreste, die dann von nichtgcsdiulten Beobachtern gern als Errungenschaften<br />
des Anarchismus angesehen werden. Vgl. Langdon-Davies, a. a. O., S. 66—71.<br />
dung vom Staate besoldeter Lehrer, der sich mit dem Bildungsstand vor<br />
der Zerschlagung der Kommunen als <strong>für</strong> die Gr<strong>und</strong>schulausbildung verantwortliche<br />
Instanz vergleichen ließ 10°. Oftmals war in ländlichen, kleinen<br />
<strong>und</strong> abgelegenen Gemeinden ein fortgeschrittenes Stadium des Agrarkollektivismus<br />
— um den Ausdruck Joaquin Costas zu gebrauchen —<br />
erreicht. Selbst das Geld war nahezu nicht bekannt, weil es in dem fast<br />
auf die Ortschaft allein beschränkten Wirtschaftsraum überflüssig war.<br />
Tauschverkehr herrschte vor oder das Getreide war an die Stelle des<br />
Geldes getreten. Es gibt auch Beispiele da<strong>für</strong>, daß Ortschaften eigenes,<br />
nur in ihrem Bereich als Zahlungsmittel anerkanntes Geld hatten herstcllen<br />
lassen 107. In der Vollversammlung der gleichberechtigten <strong>und</strong><br />
vielfach auch sozial gleichgestellten Bürger, dem Concejo Abierto, konnten<br />
alle, diese kleine abgeschlossene Welt angehenden Angelegenheiten<br />
geregelt werden. Bis in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hinein hat diese Bürgerversammlung<br />
in der Montana von Le6n <strong>und</strong> Santander sowie in Asturien<br />
funktioniert108. Sitten, Gebräuche <strong>und</strong> das Gewohnheitsrecht regelten<br />
loo Vgl, Mendez Plaza, S. 48 ff. Zum Analphabetismus in Spanien vgl. Lorenzo<br />
Luzuriaga, El analfabetismo en Espana. Madrid 1926. L. liegen erst<br />
statistische Angaben ab 1860 vor. Besonders aufschlußreich sind die Angaben<br />
über regionale <strong>und</strong> interprovinziale Verteilung des Analphabetismus. Murcia<br />
<strong>und</strong> Andalusien liegen jeweils an der Spitze. Besonders bemerkenswert ist m. E.,<br />
daß Landkreise wie Riano, Murias de Paredes, Reinosa — stark genossenschaftlich<br />
geprägte, ländliche Gebiete —, nach Madrid <strong>und</strong> Santander die wenigsten<br />
Analphabeten aufwiesen (1920).<br />
107 Vgl. Jackson, Origins of Spanish Anarchism, S. 138; M£ndez Plaza,<br />
a. a. O., S. 41. Die Abschaffung des Geldes, ein Programmpunkt nahezu jeder<br />
anarchistischen Revolte, konnte bei Bauern, die wie in Spanien seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />
an einen Wirtschaftszustand gewöhnt waren, in dem es mangels Zahlungsmitteln<br />
kaum zu Geldverkehr kommen konnte (vgl. G. Anes Alvarez,<br />
Las crisis agrarias en la Espana moderna (Biblioteca Polltica Taurus Bd. 16).<br />
Madrid 1970, S. 308), immer mit Einverständnis rechnen. Oftmals verkaufte<br />
man ein Stück Vieh in der Stadt erst dann, wenn eine Steuer zu bezahlen war,<br />
die in Geld erhoben wurde. Es liegt nahe, daß dann der Glaube aufkommen<br />
konnte, daß mit dem Geld auch die Steuern verschwinden würden. Über die<br />
Verbindung von Geld <strong>und</strong> Gerechtigkeit bzw. die Vorstellung, daß, wenn das<br />
Geld einmal abgeschafft sei, das Recht nicht mehr gekauft werden könne, der<br />
Reiche also nicht mehr im Vorteil sei, vgl. Pitt-Rivers, a. a. O., S. 144.<br />
los Vgl. Ncmesio MartInez Antuna, Supcrvivencia del Concejo medieval<br />
en Calao (Caso), in: Boletln del Instituto de Estudios Asturianos Jg. VII, Nr. 18<br />
(1953), S. 111—131, ders., El concejo abierto en Asturias, in: Boletln del Instituto<br />
de Estudios Asturianos Jg. V, Nr. 14 (1951), S. 259—275, <strong>und</strong> ders. Supervivencia<br />
del Concejo abierto de Arenas de Cabrales, in: Boletln del Instituto<br />
de Estudios Asturianos Jg. VIII, Nr. 22 (1954), S. 218—235.<br />
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