08.12.2012 Aufrufe

Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Dann ging die Fahne vom Grabe fort, und die Leute zerstreuten sich langsam.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Sonne</strong> war jetzt ganz untergegangen, und der Grabhügel blieb einsam und verlassen.<br />

Takae kniete vor dem Grabe. Sie fühlte die kalte Erde, unter der ihre Schwester schlief, ihr<br />

erstarrtes Herz wurde weicher. "Kayo-tjan. . ." Der Wind trug den Ruf fort. "Kayo-tjan,<br />

antwortest du nicht mehr - - ?"<br />

Plötzlich überfiel sie der Schmerz, und ihr Rücken zuckte, von einem heftigen Weinkrampf<br />

erschüttert. "Mein Kind, mein liebes, das ist dein Vater. "<br />

Sie nahm ein Photo Miatjis aus der Tasche und legte es auf den Hügel . Hagimura stand hinter<br />

ihr und wagte nicht, sich zu bewegen. Er war tief erschüttert. <strong>Die</strong> Nacht senkte sich über den<br />

Friedhof, auf dem außer ihnen kein Mensch mehr war, und in der Tiefe der Dunkelheit<br />

verschwand der Grabhügel. "Okayo, Okayo. .. "<br />

Takae drückte ihren Kopf auf die Erde, weinte und schrie und tobte verzweifelt. <strong>Die</strong> fernen<br />

Büsche verloren in der Dunkelheit ihre Umrisse, der Wind wühlte in ihnen und wirbelte um<br />

den Grabhügel, unter dem Okayo mit ihrem toten Kind schlief.<br />

II. Das geheimnisvolle Feuer<br />

Noch einige Tage nach dem Tode Okayos lebte Takae ganz mit dem alten Vater zu Hause,<br />

sprach kein Wort und schien völlig erschöpft wie . eine kranke Katze.<br />

Sie fühlte immerfort Schwindel, als ob sie von einem hohen Felsen herabstürzte. Kimi-tjan<br />

und Fusa-tjan kamen täglich auf dem Rückweg von der Versammlung zu ihr. Auch die<br />

freundlichen Nachbarn kamen öfter herein, um sie zu trösten. Aber selbst wenn sie die<br />

tröstenden Worte an Okayo erinnerten, konnte sie nicht mehr weinen, sie konnte sich nicht<br />

vorstellen, wie die allzu stark schmerzende Wunde heilen sollte.<br />

Eines Abends, als sie nachdenklich am kalten Ofen saß, schrie Fusatjan mit der ihr<br />

eigentümlichen schrillen Stimme herein: "Taka-tjan, weißt du, diese Rothaarige ist in die<br />

Fabrik zur Arbeit gegangen. Sie hat immer nur ein großes Maul gehabt, und jetzt verrät sie<br />

uns!"<br />

Der schwarze Schal ließ nur ihre Augen sehen, wie sie durch die Türspalte diese Neuigkeit<br />

rief: die Rothaarige hatte am lautesten auf seiten Ojas gebrüllt.<br />

" So" antwortete Takae mechanisch. Sie zeigte kaum Interesse. Fusa-tjan sah sie enttäuscht an<br />

und schob den Kopf ganz durch die Türspalte: "<strong>Die</strong>se Damen verraten uns, wenn es uns<br />

Arbeitern am schlechtesten geht, verdammt das ist doch kaum zu glauben!"<br />

Aber Fusa-tjan bekam keine Antwort, schloß schließlich wieder die Tür und ging fort; laut<br />

klapperten ihre Schritte auf den Brettern des <strong>Straße</strong>ngrabens (Anm.: <strong>Die</strong> "Rinnsteine" in den<br />

japanischen Armenvierteln sind aus Holz.). Takae blieb in ausdruckslosem Schweigen zurück.<br />

Auch im Hause konnte sie an dem Gasolingeruch, den der Wind bis hierher trug, spüren, daß<br />

die Kraft der Streikenden Tag für Tag schwächer wurde.<br />

Aber sie war für diesen Geruch schon fast unempfindlich geworden. Je mehr sie von einem<br />

Tag zum andern das quälende Schwindelgefühl niederdrückte, desto gefühlloser wurde sie.<br />

Sie blieb fast gleichgültig, wenn die Frage nach Sieg oder Niederlage des Streiks an sie<br />

gestellt wurde. Das alles war jetzt unwichtig für sie, die nicht mehr glauben wollte, daß es in<br />

ihrem künftigen Leben noch Licht geben würde. "Den Feind schlagen, oder sich schlagen<br />

lassen, einen anderen Weg gibt es nicht mehr. "<br />

Es war ihr nur zu klar, wer sie vom Felsen herabgestoßen hatte. Sie brauchte sich nicht erst<br />

umzudrehen. Sie fühlte die Augen des Feindes im Rücken - die todglühenden Augen -<br />

88

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!