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Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

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ganze Schule. Auf dem kleinen Schreibtisch, der zugleich als Eßtisch diente, lag eine<br />

aufgeschlagene Broschüre "Organisatorische Fragen" von Lenin, in der er bis zu seiner<br />

Verwundung gelesen hatte. Sie nahm das Heft und blätterte darin, aber sie war viel zu müde<br />

und legte das Heft wieder auf den Tisch. Dann hockte sie sich wieder auf. ''Fräulein Takae,<br />

die Milch! "hörte sie die Stimme der Wirtin von unten. Sie holte die Milch herauf und wärmte<br />

sie im Wasser. Das Fieber schien zu sinken. Von seinem Gesicht verschwand die Röte, und<br />

der keuchende Atem ging ruhiger.<br />

Sie fühlte, wie das Leben wieder in seinen Körper strömte und durch alle Adern rann. Sie war<br />

sehr froh.<br />

Sie goß die warme Milch in eine Tasse, hielt sie ihm an den Mund und stützte ihn im Rücken.<br />

"Hagimura - -. "<br />

Sie mußte ihn erst ein paarmal anrufen, bis er die Augen öff<strong>net</strong>e und sie ansah.<br />

" Milch. - Willst du nicht - - ?"<br />

Er trank mit hastigen und mühsamen Schlucken ein wenig. "Du mußt bald gesund werden - -<br />

"<br />

Der Kranke trank <strong>ohne</strong> Lust etwa einen Viertelliter, dann holte er tief Atem.<br />

" Bald ist alles wieder gut."<br />

Sie wischte ihm den Mund, und als sie die Decke glatt legen wollte, faßten seine immer noch<br />

kräftigen Hände ihren Arm.<br />

" Ah, oh - -!" machte sie erstaunt. Seine Augen waren geschlossen, seine Lippen bewegten<br />

sich kraftlos, es blieb nur eine Bewegung, aber in der Wärme seiner Hand fühlte sie, was er<br />

sagen wollte. "Hab keine Angst, schlaf ruhig, ich bleibe immer bei dir. " Sie hatte ihr Gesicht<br />

dicht neben seines gelegt und konnte nur halb ausdrücken, was sie fühlte; sie wurde rot dabei.<br />

Verschämt sah sie auf die geschlossenen Augen des Mannes, dann küßte sie seine Stirn.<br />

II. Streikbrecher<br />

Stürmische Nächte wechselten mit eiskalten, regnerischen Tagen; das Jahresende rückte<br />

näher. Okayo kam zurück.<br />

Blaß, mit trüben Augen, aus denen alles Leben geflohen schien; das aufgedunsene Gesicht<br />

und die geschwollenen Glieder hatten sie gegen früher so verändert, daß ihr Vater, der aus<br />

seinem Bett herauskroch, zu weinen begann, als sie, von Takae gestützt , über die Schwelle<br />

des Hauses trat.<br />

Zwei Bettmatten wurden nebeneinandergelegt. Okayo konnte nicht mehr aufrecht sitzen. Ihre<br />

Lippen waren schwarz und zitterten unaufhörlich wie vor Frost. Sie war im Gefängnis krank<br />

geworden - Beri-Beri (Anm.: Beri-Beri, japanisch Kak-ke, eine im ganzen Osten<br />

weitverbreitete Krankheit, die durch vitaminarme Ernährung entsteht. Infolge vollständigen<br />

Versagens aller Organe des Körpers tritt in den meisten Fällen der Tod ein.). Trotzdem waren<br />

ihre Sinne immer noch wach. Ihr bleiches Gesicht hob sich von der Bettdecke ab, während sie<br />

alle Dinge berichtete, die Takae zum Weinen brachten.<br />

" Ich werde sterben und mein Kind wird auch nicht am Leben bleiben. " Sie lächelte traurig<br />

und weh unter ihrer Frisur, die Takae eben in Ordnung gebracht hatte.<br />

" Ach, er ist auch so geworden, sie haben ihn genau so zugerichtet, noch schlimmer - und<br />

wenn ich selbst wieder gesund würde - ihn werde ich nie wiedersehen. "<br />

Sie ahnte, daß sie ihren Freund nicht mehr sehen würde. Das Bild Miatjis, den sie seit der<br />

Begegnung im Gang der Polizeiwache nicht mehr gesehen hatte, war in ihr eingebrannt.<br />

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