Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net
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kitzelte in den Schenkeln.<br />
Am nächsten Morgen öff<strong>net</strong>e ein Wärter die Türen der Zellen und führte die Leute einzeln auf<br />
den Abort. Okayo hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert. Ihr blasses geschwollenes<br />
Gesicht, ihre blutunterlaufenen Augen, ihre unordentliche Kleidung, alles erzählte von den<br />
Mißhandlungen der vergangenen Stunden.<br />
Sie trat mit zusammengebissenen Zähnen auf den Gang, wie eine Seekranke schwankte sie<br />
durch die Gänge, sich mit einer Hand an der eiskalten Wand stützend. Der Säbel des Wärters<br />
trieb sie vorwärts. Als sie durch den zweiten Gang, tief wie ein Tunnel, ging, sah sie<br />
unerwartet Menschen vor sich.<br />
" Oh!" Okayo blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen, - da stand Miatji die Hände mit<br />
Ketten gefesselt; er sah zehn Jahre älter aus. Sie konnte nicht einmal den Mund öffnen.<br />
Miatji bewegte seine Lippen, aber es wurde kein Wort; auf seinen geschwollenen<br />
Backenknochen waren dunkelblaue Flecken wie Schorf. "Was machen Sie!" Der Wärter, der<br />
hinter Miatji stand, stieß ihn in den Rücken. Miatji verlor jeden Halt, fiel gegen die Wand und<br />
wankte einige Schritte vor. Das Ganze dauerte nur drei oder vier kurze Minuten - länger<br />
konnte sie ihm auch nicht nachsehen. <strong>Die</strong> starke Erregung ließ ihr Herz erstarren.<br />
Sie wußte, wo ihre Schwester saß, aber sie weinte schon nicht mehr. Sie saß in der Ecke der<br />
Zelle und tat hier und da einen tiefen Atemzug. Ihr Frühstück wurde durch das Gitter<br />
geschoben wie Vogelfutter, aber das Essen in dem viereckigen Kasten machte ihr keinen<br />
Appetit. Okayo starrte den viereckigen Kasten an und schob ihn wieder durch das Gitter<br />
zurück.<br />
" Ach, ich glaube, ich werde hier sterben." Tag und Nacht - sie trank nicht mehr, nicht einmal<br />
Wasser. Am nächsten Morgen wurden Oja und Takae herausgelassen; man hatte sie kaum<br />
vernommen; die Polizei fand keinen Grund, sie in Untersuchungshaft zu behalten. Als sie ins<br />
Freie traten, blendete das helle <strong>Sonne</strong>nlicht ihre Augen; am Hintertor des Polizeiamtes sah<br />
Takae den Beamten, der Okayo verhaftet hatte.<br />
" Hallo, verzeihen Sie, ich möchte gerne wissen, ob man Okayo Haruki schon herausgelassen<br />
hat?" fragte Takae höflich, ihren Haß verbergend. "Ich weiß nicht", sagte der Beamte<br />
gleichgültig, " das ist nicht mein Ressort."<br />
Takae war verzweifelt, doch sie zögerte noch, ihm von der Schwangerschaft der Schwester zu<br />
erzählen - sie konnte nicht bitten; außerdem mußte sie erst Gelegenheit haben, diese Sache<br />
mit Miatji zu erklären. Der Beamte sagte, um weiteren Fragen auszuweichen: "Vielleicht ist<br />
sie schon zu Haus, das kann man nicht wissen, vielleicht ist sie schon vor Ihnen gegangen,<br />
gehen Sie nur schnell nach Hause. " Sie wußte natürlich, daß diese Worte sie nur ablenken<br />
sollten und sie hatte keinen Grund, weiter zu fragen. Aber sie klammerte sich doch an diese<br />
einzige kleine Hoffnung und folgte Oja.<br />
Draußen wurden sie von Fusa-tjan und Ogin-tjan und einigen anderen Kolleginnen<br />
empfangen. Takae verabschiedete sich kurz und ging eilends ihrem Hause zu. Okayo war<br />
nicht da.<br />
Sie hatte keinen Mut, etwas anzufangen; sie stand in dem lange nicht aufgeräumten Hause<br />
herum und sah gedankenlos ins Leere. "Was macht Okayo?" fragte der alte Kranke als erstes.<br />
Ohne ihm zu antworten und <strong>ohne</strong> sich erst auszuruhen, ging sie wieder von Hause fort.<br />
Sie sah ein, daß es zwecklos sei, noch einmal auf der Polizeiwache nachzufragen, auch durch<br />
den Vertreter der Streikleitung bei der Polizei etwas unternehmen zu lassen, würde in dieser<br />
Zeit, in der immer 20 bis 30 Genossen in Haft waren, viel zu lange dauern. Dort waren alle<br />
mehr als reichlich beschäftigt.<br />
Takae ging über die Senkawa-Brücke; einige <strong>Straße</strong>n weiter, kam an den Fuß des<br />
Haksuanabhanges; sie wußte, in einem zweistöckigen Haus am Abhang wohnte Hagimura in<br />
einer kleinen Kammer. Rechts an der Tür ging eine steile Treppe hinauf, oben war eine<br />
Papiertür. Sie rief: "Genosse Hagimura!"<br />
Nach einer Weile antwortete eine tiefe heisere Stimme. Sie öff<strong>net</strong>e die Tür und trat ein.<br />
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