Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net
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Lumpen umwickelte Stange, und ein Knabe, der einem Lumpenknäuel glich.<br />
Der Alte schien sich nie mehr bewegen zu wollen, er krächzte nur immerfort und hatte wohl<br />
nicht mehr lange zu leben. <strong>Die</strong> Dirne, eine Gewohnheitsverbrecherin sagte, daß sie alle zwei<br />
bis drei Monate auf 29 Tage hierher müsse. "Aber da kam man nichts machen, das ist mein<br />
Beruf." Sie schien fest daran zu glauben.<br />
" Na, die Polizei kann auch nicht dagegen an, und wenn sie noch so feierliche Gesichter<br />
machen -", sie grinste gemein und machte eine unanständige Geste, auf die sie scheinbar stolz<br />
war, so daß Takae von diesem Abhub ihres Geschlechts die Augen wenden mußte. Vielleicht<br />
war jetzt draußen Nacht. <strong>Die</strong> Schritte der Gefängniswärter hallten auf dem Betonboden in den<br />
eiskalten Korridoren wider. <strong>Die</strong> Gefangenen hatten nur dünne, schmutzige Decken gegen die<br />
Kälte. <strong>Die</strong> Dirne fragte etwas unbestimmt, wobei sie ihre gelben, fauligen Zähne zeigte:<br />
" Wo is'n dein Strich?"<br />
Sie meinte natürlich, Takae müßte denselben Beruf haben wie sie. Als Takae den Kopf<br />
schüttelte, wollte sie es nicht glauben. "Aber du kannst wirklich noch arbeiten, bist doch noch<br />
jung. " Dann wurde die alte Dirne sentimental.<br />
" Ich will doch aber nicht so sterben wie diese Alte da, aber-----"<br />
<strong>Die</strong> Alte, die auf die Dirne wies, hatte die Knie angezogen und das Gesicht zum Schutz gegen<br />
die Kälte in die Hände gelegt. <strong>Die</strong>se Alte war die "schwerste Verbrecherin" unter ihnen. Sie<br />
hatte das Haus eines Arztes angesteckt. Sie wollte sich an dem Arzt für den Tod ihres Enkels<br />
rächen, der nur deshalb gestorben war, weil sie kein Geld hatte, um dem Arzt die Medizin zu<br />
bezahlen.<br />
<strong>Die</strong> Alte stand auf und ging, schwankend zwischen Ohnmacht, verzweifelter Qual und<br />
Schmerzen, hin und her. Sie wimmerte und griff sich mit den Händen an den grauhaarigen<br />
Kopf. <strong>Die</strong> Dirne sah sie mit offenem Munde an.<br />
<strong>Die</strong> Alte glaubte noch an das Bild von "Himmel und Hölle", das ihr von Kindheit an<br />
eingeprägt war. Sie beichtete ihre Sünden.<br />
Das Bild von "Himmel und Hölle", das in ihr Herz eingegraben war, bewies ihr, daß der Arzt<br />
recht hatte, ihren Enkel, den einzigen Lichtblick auf dieser Welt sterben zu lassen, weil sie<br />
ihm die Medizin nicht bezahlt hatte. Das Bild verurteilte sie auch, weil sie sich gerächt und<br />
das Haus des Arztes in Brand gesteckt hatte. Als nun auch noch schlecht von ihr gesprochen<br />
wurde, zerschnitt ein neuer Schmerz ihren Körper. "Heule nicht so, immer fängt sie wieder<br />
an", schrie der Junge; er stieß an Takaes Knie und richtete sich auf. <strong>Die</strong>ser vierzehnjährige<br />
Junge hatte das Bild von "Himmel und Hölle" nicht gesehen, dieses Lumpenknäuel kannte<br />
nur das Leben, das in der Nacht in den Röhren beim <strong>Straße</strong>nbau, auf leeren Hausböden oder<br />
in der Polizeizelle schläft und am Tage überall herumstreift, wo es nach Essen riecht.<br />
" Ach, ich kann dabei nicht schlafen." Murrend schlief der Junge wieder ein. Er hatte an<br />
diesem schon gewohnten Ort keinen Grund traurig zu sein.<br />
Plötzlich hörte man über den Köpfen Tritte von harten Schuhen. Takae trat an das Gitter und<br />
preßte ihr Gesicht an die metallnen Stäbe. Eine vertraute Frauenstimme schrie: "Ich weiß<br />
nicht, ich weiß davon gar nichts."<br />
Ohne Zweifel war es Okayo, die da oben schrie. Takaes Körper zog sich vor ohnmächtiger<br />
Wut und Schmerz krampfhaft zusammen. Der schwarze Schatten eines Kriminalbeamten ging<br />
an dem Fenster auf dem Gang vorbei. Jetzt hörte es sich an, als ob man eindringlich etwas<br />
frage. Aber Okayos Stimme wiederholte hartnäckig, daß sie nichts wisse. "O weh, o weh",<br />
schrie Okayo in wildem Schmerz. Der Beamte schien ihr die Arme ausgedreht zu haben.<br />
Aufgescheucht schlug Takae mit den Fäusten gegen das Gitter und schrie: "Teufel! Schweine!<br />
Bestien!"<br />
Aber nur harte Sohlen trampelten als Antwort darauf gegen das Gitter. Dann hörte sie die<br />
Stimme Okayos nicht mehr. <strong>Die</strong> harten Schritte des Kriminalbeamten hatten sich gleichfalls<br />
entfernt. Takae konnte keine Ruhe finden. -<br />
<strong>Die</strong> Kälte der Dämmerung kroch ihr unter die Fußnägel, drang in ihre Kniegelenke und<br />
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