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Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

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kindlich gewesen war, wurde immer selbständiger und setzte ihren Kopf gegen den Vater<br />

durch.<br />

" Hat den Teufel im Leib, dieses wahnsinnige Weib. " Wäre er gesund und hätte noch seine<br />

rechte Hand, wollte er sie schon schlagen und zurichten, bis sie wieder zur Vernunft käme.<br />

Der Kranke sah auf die alten Bücherregale, die am Fenster neben dem Tisch standen - da<br />

lagen ungefähr zehn Bücher, dünne Broschüren mit rotem Deckel und dicke Bücher mit<br />

Goldaufschrift, die eigentlich nur Gelehrte lesen sollten. Der Alte erinnerte sich, in diesen<br />

Büchern las Takae immer, wenn sie von der Nachtarbeit zurückkam; dann saß sie im Bett und<br />

las.<br />

" Sie haben schuld, diese Bücher - diese verdammten Dinger haben Takae verrückt gemacht!"<br />

Der Kranke stand auf, stützte seinen Körper an der Wand und kroch zum Bücherbrett, alle<br />

Kraft sammelte er in dem wankenden Fuß. Durch das geöff<strong>net</strong>e Fenster zog der Wind und riß<br />

in den Knochen des Alten. Der Kranke schob das Fenster hoch und griff mit der noch nicht<br />

ganz gelähmten Linken nach den Büchern. "Verschwindet, ihr Teufel!"<br />

<strong>Die</strong> Bücher flatterten lautlos in das schwarze Wasser des Kanals und tauchten unter. In der<br />

kalten, allmählich heller werdenden Luft sah er die weißen Blätter versinken.<br />

" Sei doch nicht so unduldsam, Vater" schrie die Nachbarin, als sie die wilden Augen und den<br />

pfeifenden Atem des Alten sah, den jedes Buch, das er fortwarf, mit neuem Haß erfüllte.<br />

"Nein, nein, ich werde all diese Teufel ersäufen." Er schlug nach ihrer Hand, die sich ihm<br />

entgegenstreckte. Ein paar Bücher waren auf den Grund gesunken, andere schwammen, vom<br />

Wasser, das durch die Eisspalten hochquoll, fortgerissen weiter. Über der kalten Wasserfläche<br />

lag dünner Nebel.<br />

Wie der Staub und die Lumpen auf dem Senkawa-Kanal waren auch die Waren in den<br />

Lebensmittel- und Weinhandlungen, in den Küchen- und Grünkramgeschäften weniger<br />

geworden. Jetzt, wo sich keine Gemüsereste und Lumpen mehr in den Netzen fingen, blieben<br />

auch keine Waren bei den Händlern. Seit die Fabriksirene nicht mehr im Bezirk Kotshikawa<br />

heulte, war die Schlagader der <strong>Straße</strong> im Tal durchschnitten worden. Und die großen<br />

Fabrikanlagen lagen in der kalten Luft wie riesige Kadaver von Wasserpferden.<br />

<strong>Die</strong> Kleinhändler waren in großer Verlegenheit. Sie wählten ihre Vertreter und setzten ein<br />

Komitee ein, in dem es viel Arbeit und lächerliche Diskussionen gab, sie baten jeden, der<br />

irgendwelchen Einfluß besaß, in diesem Streik zu vermitteln.<br />

Ihre Diskussionen waren deshalb so komisch, weil sie sich selbst traurigerweise für neutral<br />

hielten. Sie gingen zu den großen Herren des Bezirks und klagten den ehrenamtlichen<br />

Stadträten ihre Not. Immerfort jammerten sie, sie seien gezwungen, zusammen mit den<br />

Streikenden zu sterben. Aber diese Ehrenleute an die sich die Kleinhändler Wandten, waren<br />

letzten Endes auch nur indirekte Angestellte der Gesellschaft. Und während die guten<br />

Kleinhändler glaubten, in diesem Streik neutral bleiben zu können, erwachte in den<br />

gestrengen Kritikern, den großen Leuten des Bezirks und den Ehrenmännern im Magistrat das<br />

Klassenbewußtsein, und sie wußten ganz genau, was sie zu tun hatten. Immer mehr Läden<br />

standen in der Hauptstraße leer, immer weniger elektrische Lampen brannten, und die<br />

Dunkelheit eroberte die <strong>Straße</strong>n. <strong>Die</strong> Zahl der Mädchen, die abends in verdächtige Kaffees<br />

und Weinhandlungen gingen, um am Morgen mit blassem Gesicht zurückzukommen, wuchs<br />

von Tag zu Tag.<br />

" Sei doch nicht so eigensinnig, Vater, morgen oder übermorgen kommen sie bestimmt<br />

wieder, sie sind doch keine <strong>Die</strong>be oder Brandstifter", sagte die Nachbarin tröstend in ihrem<br />

nordjapanischen Dialekt und brachte den Kranken ins Bett. Sie hatte alle zwei Jahre ein Kind<br />

geboren, der letzte Säugling lag unterernährt mit glänzenden Augen an ihrer nackten Brust, er<br />

konnte nicht mehr weinen.<br />

" Aber es ist wirklich schlimm, wenn der Streik noch lange dauert, Vater, es ist Zeit, daß die<br />

Fabrik nachgibt."<br />

Der Kranke biß seine zitternden Zähne zusammen und vergrub sich in<br />

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