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Sunao Tokunaga – Die Straße ohne Sonne (1931) - linke-buecher.net

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wäre Takae am liebsten der Schwester um den Hals gefallen.<br />

" Hast du heute die Zeitung "Nichi Nichi" gelesen, Schwester? Da stand was von einem<br />

Arbeiter, der sich von seiner Frau getrennt hat, um so besser für den Streik arbeiten zu<br />

können, weil sich die Streiklage bei den Daido-Druckern so verschärft hat, - wer kann das<br />

sein?" Takae wußte es nicht, aber bestimmt war unter den vielen Streikenden so etwas<br />

möglich. Nein, sicher viel häufiger als in der Zeitung stand. "Kimi-tjan tut mir wirklich leid. ..<br />

ihr kleiner Bruder ist blind, hast du das nicht gewußt?"<br />

Okayo arbeitete in derselben Abteilung neben Okimi. Okimi war wohl zwei oder drei Jahre<br />

älter, aber noch genau so schüchtern wie Takaes Schwester. Am Himmel blinzelten Sterne,<br />

und die Sichel des zunehmenden Mondes stand einsam wie vom Wind blank geweht über<br />

dem Haksuan-Wald. In der öffentlichen Badeanstalt drängten sich die Menschen, besonders in<br />

der Frauenabteilung schrien die Säuglinge und Kinder im dichten Dampf. Okayo wusch<br />

Takae den Rücken, dann nahm Takae den Kübel mit heißem Wasser und bearbeitete Okayos<br />

Rückseite. "Schwester, aber warum bekommt denn Kimi-tjan kein Kind?" fragte Okayo, sich<br />

leicht herumwendend. Wie kindlich war sie, und sie hatte doch schon einen Freund!<br />

" Ja... man macht das natürlich so, daß man keine Kinder bekommt", antwortete die Schwester<br />

lächelnd.<br />

<strong>Die</strong> Junge schwieg nachdenklich. Mit dem ausgedrückten Waschlappen rieb Takae derb der<br />

Schwester den Rücken, der schon weiblicher geworden war. Sie hatte bereits Fleisch<br />

angesetzt. "O weh, was tust du denn?" rief Okayo verwundert und sah, sich umwendend, in<br />

das vergnügt lachende Gesicht der Schwester. "Weil du immer an ihn denkst, ich wollte dich<br />

bloß wecken. " Ihr Lachen war froh und stark, aber die kleine Okayo, die mit in das Lachen<br />

einstimmte, lachte nur kraftlos und matt.<br />

" Los wir wollen uns noch etwas in der Wanne wärmen, dann gehen wir. " In dem schon trüb<br />

gewordenen Wasser des Bassins sank Takae bis an den Hals ein und atmete tief, als wollte sie<br />

alle Müdigkeit von sich fortblasen. Sie sah im Bassin viele bekannte Gesichter, war aber viel<br />

zu müde, um ihre Grüße zu erwidern. Okayo kam auch ins Wasser, nachdem sie ihren<br />

Seifenkasten gewaschen hatte - in diesem Augenblick bemerkte Takae mit dem Scharfsinn<br />

der Frau eine neue Wölbung am Körper der Schwester. <strong>Die</strong>se Entdeckung drückte sie nieder<br />

und machte sie verschlossen und zurückhaltend. "Sie ist schwanger..."<br />

Als sie nach einer Weile im stürmischen kalten Nachtwind heimgingen, bedrückte sie schwere<br />

Angst, sie konnte die trüben Bilder, die vor ihr auftauchten, nicht verjagen...<br />

" Ich muß sie selber fragen und ihr einen Rat geben." Es war nur natürlich, daß sie ihrer<br />

Schwester mit Rat und Tat helfen wollte, aber sie wußte nicht, wie sie es anfangen sollte, weil<br />

Okayo ihr noch nichts darüber gesagt hatte. Es war schon Mitternacht.<br />

Takae legte sich gleich auf ihre armselige Wattedecke neben den alten Vater und wollte wie<br />

gewöhnlich noch in einem geborgten Buch blättern, aber es war ihr heute unmöglich, der<br />

Schrift aufmerksam zu folgen, zu viele Sachen gingen ihr durch den Kopf.<br />

Sie hörte noch eine Weile auf die kleinen leisen Geräusche Okayos in der Küche, dann schlief<br />

sie, müde von den Anstrengungen des Tages<br />

ein.<br />

Spät in der Nacht wachte Takae aus dem Durcheinander der Träume auf.<br />

Sie hörte ganz deutlich ein Geräusch, wie wenn dünne Bambusrohre aneinandergeschlagen<br />

wurden... Es war noch lange bis zur Dämmerung.<br />

" Was kann das sein?"<br />

Erschrocken sah sie auf das Bett der Schwester neben sich, aber das war leer. Sie setzte sich<br />

auf, auch im Zimmer war Okayo nicht. Das Lager war schon kalt, sie war also schon länger<br />

fort. Takae wollte schon den Vater wecken, als sie vor dem Fenster ein Geräusch hörte. In<br />

Erinnerung an die gestrigen Ereignisse ergriff sie Angst. Vor dem Fenster floß der Senkawa-<br />

Kanal, zwischen den leisen Geräuschen der Nacht hörte sie Menschenstimmen - das war<br />

bestimmt auf der Brücke. Sie stand ganz leise auf und trat an die Tür, die sich geräuschlos<br />

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