Dialog Heft 2 Steinbrück 2012
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Veranstaltungen des Sächsischen Landtags <strong>Heft</strong> 2<br />
DIALOG<br />
Sächsischer Landtag<br />
Der Präsident<br />
Dresdner Gesprächskreise<br />
im Ständehaus<br />
Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus<br />
»Parteiendemokratie in Deutschland – Gesicht<br />
und Substanz des politischen Personals«<br />
am 19. Juni <strong>2012</strong>
DIALOG<br />
Sächsischer Landtag<br />
Der Präsident<br />
Dresdner Gesprächskreise<br />
im Ständehaus<br />
Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus<br />
»Parteiendemokratie in Deutschland – Gesicht<br />
und Substanz des politischen Personals«<br />
am 19. Juni <strong>2012</strong><br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong><br />
Auf dem Podium (Titel v.l.n.r.):<br />
Dr. Martin Doerry,<br />
Dr. Matthias Rößler,<br />
Petra Köpping,<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>,<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach (Moderation)<br />
Herausgegeben vom Sächsischen Landtag
Inhalt<br />
Eröffnung des Forums<br />
»Parteiendemokratie in Deutschland –<br />
Gesicht und Substanz des politischen<br />
Personals« durch<br />
Dr. Matthias Rößler, Präsident<br />
des Sächsischen Landtags . . . . . . . . . . 6<br />
Impulsreferat<br />
von Peer <strong>Steinbrück</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
Vorstellung der Teilnehmer<br />
an der Podiumsdiskussion . . . . . . . . . 22<br />
Podiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . 24<br />
Impressum:<br />
Herausgeber: Sächsischer Landtag,<br />
Bernhard-von-Lindenau-Platz 1, 01067 Dresden<br />
V. i. S. d. P.: Hans-Peter Maier, Sächsischer Landtag<br />
Redaktion: Falk Hentschel, Sächsischer Landtag<br />
Fotos: S. Floss, S. Giersch (58, U4)<br />
Gestaltung, Satz: www.oe-grafik.de<br />
Druck: Druckfabrik Dresden GmbH<br />
Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rahmen<br />
der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Abgabe<br />
erfolgt kostenfrei. Eine Verwendung für die eigene Öffentlichkeitsarbeit<br />
von Parteien, Fraktionen, Mandatsträgern<br />
oder Wahlbewerbern – insbesondere zum Zwecke der<br />
Wahlwerbung – ist unzulässig. Ebenso die entgeltliche<br />
Weitergabe der Publikation.<br />
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Eröffnung des Forums »Parteiendemokratie in Deutschland –<br />
Gesicht und Substanz des politischen Personals«<br />
durch Dr. Matthias Rößler, Präsident des Sächsischen Landtags<br />
Sehr geehrter Herr <strong>Steinbrück</strong>,<br />
sehr geehrter Herr Staatsminister,<br />
liebe Kolleginnen und<br />
Kollegen Abgeordnete des<br />
Sächsischen Landtags,<br />
sehr geehrte Mitglieder des<br />
Verfassungsgerichtshofes,<br />
sehr geehrter Herr Budewig,<br />
Herr Landrat,<br />
Herr Bürgermeister,<br />
jetzt schaue ich, Magnifizenz, Herr Prof.<br />
Müller-Steinhagen – ich sehe ihn nicht,<br />
sonst hätte ich ihm gleich zur Exzellenz-<br />
Universität gratuliert –, verehrte Gäste,<br />
ich begrüße Sie ganz, ganz herzlich hier<br />
zum Dresdner Gesprächskreis in unserem<br />
Ständehaus.<br />
Der große Architekt Wallot, der Er -<br />
bauer des Berliner Reichstags, hat dieses<br />
Gebäude Anfang des 20. Jahrhunderts<br />
für unser sächsisches Parlament<br />
errichtet.<br />
Mit Friedrich Merz fand im Januar 2011<br />
die erste Veranstaltung in diesem Festsaal<br />
zum Thema »Amerika und Europa –<br />
Folgt der Finanzkrise die Staatskrise?«<br />
statt. Wir waren damals leider der Realität<br />
ein ganzes Stück voraus, wie wir inzwischen<br />
nicht nur in Griechenland sehen.<br />
Mit Udo Di Fabio haben wir vor zwei<br />
Wochen den Dresdner Gesprächskreis<br />
im Plenarsaal des Sächsischen Landtags<br />
anlässlich des 20-jährigen Jubiläums<br />
unserer Landesverfassung fortgesetzt.<br />
Das Thema seiner Festrede, »Identität<br />
und Föderalität: Europas Wege aus der<br />
Krise«, sprach gerade uns Sachsen aus<br />
dem Herzen. Wir haben uns unsere Freiheit,<br />
unseren Freistaat Sachsen und die<br />
Wiedervereinigung Deutschlands selber<br />
erkämpft.<br />
Die historische Erfahrung einer erfolgreichen,<br />
friedlichen und demokratischen<br />
Revolution verbindet uns übrigens mit<br />
unseren mitteleuropäischen Nachbarn.<br />
Wir wollen unser politisches Schicksal<br />
in eigenen Händen haben. Deshalb halten<br />
wir nicht nur unverrückbar an der<br />
Eigenstaatlichkeit der Länder und dem<br />
föderalen Bundesstaat in Deutschland<br />
fest. Wir möchten das zusammenwachsende<br />
Europa weiter als Staatenbund<br />
gestalten und nicht als Bundesstaat.<br />
Heute Abend hören wir im Ständehaus<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>.<br />
»Das Schlimme sind Politiker, die<br />
nicht tun, was sie wissen.«<br />
Mit diesem Satz, in seiner unnachahmlichen<br />
norddeutschen Art auf einer<br />
Buchvorstellung im Februar 2011 in der<br />
Dresdner Messe ausgesprochen, hat er<br />
viele Zuhörer und mich nicht nur tief<br />
beeindruckt. Er hat eigentlich auch das<br />
Motto für unsere heutige Diskussion<br />
vorgegeben.<br />
Ich war von seinem damaligen Dresd -<br />
ner Auftritt und seinen Argumenten<br />
genauso beeindruckt wie von unserer<br />
gemeinsamen Arbeit in der Föderalismuskommission<br />
zur Neuregelung der<br />
Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Dass<br />
diese Kommission das Verschuldungsverbot<br />
ins Grundgesetz gebracht hat,<br />
wird ihm sicher als historisches Verdienst<br />
angerechnet.<br />
Vor genau einer Woche hat die Landtagspräsidentenkonferenz<br />
in diesem<br />
Festsaal getagt und eine neue Föderalismuskommission<br />
gefordert: Diesmal mit<br />
Stimmrecht für die Landesparlamente<br />
| 6 | Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten
mit allen Konsequenzen, da es natürlich<br />
um ihr, der Parlamente, Königsrecht in<br />
Sachen Haushalt und Finanzen geht.<br />
Meine Damen und Herren! Der Diplom -<br />
volkswirt und Bundestagsabgeordnete,<br />
Ministerpräsident und Bundesfinanzminister<br />
a. D. Peer <strong>Steinbrück</strong> bringt die<br />
Dinge, um die es in Deutschland und<br />
Europa wirklich geht, mit hanseatischer<br />
Kürze auf den Punkt.<br />
Er liefert mit Informationen, Fakten<br />
und profunder Kenntnis der komplexen<br />
politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge<br />
eine fundierte Analyse des<br />
Zustandes unseres Gemeinwesens.<br />
Was mich beeindruckt: Er behält diese<br />
Analyse nicht für sich und opfert sie nicht<br />
einer wählerschonenden politischen<br />
Korrektheit. Er spricht sie aus und bietet<br />
auch Lösungen an, ohne die Zwänge zu<br />
verschweigen, in denen wir Politiker, die<br />
an der Macht sind, wirklich stehen.<br />
In seinem letzten Buch »Unterm Strich«<br />
beispielsweise – das ich Ihnen allen aus<br />
gegebenem Anlass recht warm und nach -<br />
drücklich empfehlen kann – be schränkt<br />
er sich eben nicht auf die Finanzkrise.<br />
Er analysiert deren Einfluss auf die<br />
Gesellschaft und beschreibt die sozialen<br />
Fliehkräfte, denen unser Gemeinwesen<br />
unterworfen ist, ebenso wie unsere<br />
Parteiendemokratie in Deutschland.<br />
Insbesondere befasst er sich dort mit<br />
Gesicht und Substanz des politischen<br />
Personals als einer Elite, die durch einen<br />
eigenartigen Ausleseprozess – die Ochsentour<br />
durch die Parteigremien – am<br />
Ende oftmals an die Schalthebel der<br />
Macht gelangt.<br />
Als echter Sozialdemokrat beschreibt<br />
er realistisch, in welchem Schraubstock<br />
unser Sozialstaat steckt und in welches<br />
Korsett die etablierte Politik eingezwängt<br />
wird.<br />
Die delikate Beziehung zwischen Politik<br />
und Medien kennt er aus eigener<br />
Erfahrung.<br />
Er stellt wie viele von uns fest, dass<br />
das Modell der Marktwirtschaft nicht<br />
automatisch und überall auf der Welt<br />
mit einem demokratischen Überbau verbunden<br />
sein muss. Die alte marxistische<br />
Dialektik von Basis und Überbau scheint<br />
auch mit einer staatskapitalistischen<br />
Basis und einer autoritären Ein-Parteien-<br />
Struktur im gesellschaftlichen Überbau zu<br />
funktionieren. Nach Beispielen braucht<br />
man nicht lange zu suchen. Man findet<br />
sie in China, Vietnam und anderen asiatischen<br />
Entwicklungsdiktaturen.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong> – und das ist das Be -<br />
sondere – weist auch auf die eigenartige<br />
Symbiose der Turbokapitalisten in China<br />
und Amerika hin. Er stellt die Fragen, ob<br />
China auf Dauer die Staatsdefizite der<br />
letzten Supermacht decken und damit<br />
finanziell für Kriege und Konsum der<br />
Amerikaner aufkommen wird, ob das<br />
alternde und schrumpfende Europa in<br />
dieser dynamischen Welt bald abgehängt<br />
wird.<br />
Aber er lässt keine Zweifel daran,<br />
dass Deutschland nur mit Europa in der<br />
Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten | 7|
Champions League einer multipolaren<br />
Welt spielen kann. Das vereinigte Europa<br />
war und ist für ihn die Antwort auf die<br />
endlosen Kriege unserer Geschichte, in<br />
denen unsere Großväter und Väter verheizt<br />
worden sind.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong> hält unverrückbar<br />
an seinen Grundsätzen von Freiheit,<br />
Solidarität und Gerechtigkeit fest. Ihm<br />
liegt an einer Neuvermessung der Politik.<br />
Wenn er heute zum Thema »Parteiendemokratie<br />
in Deutschland – Gesicht und<br />
Substanz des politischen Personals« zu<br />
uns spricht, dann wird er sicher nicht<br />
nur mir, sondern hoffentlich vielen in<br />
diesem Raum aus dem Herzen sprechen.<br />
Als solide ausgebildeter Volkswirt –<br />
der auch als Kanzlerkandidat der<br />
SPD genannt wird – kann er natürlich<br />
fundierte Kritik an den Karrierepfaden<br />
vieler Politiker in Deutschland üben,<br />
obwohl er sich damit nicht immer<br />
Freunde in der sogenannten politischen<br />
Klasse macht.<br />
Aber unsere Demokratie in Deutschland<br />
funktioniert nur mit Parteien und<br />
Politikern, die um Zustimmung, Ver -<br />
trauen und Mehrheiten und natürlich<br />
auch um Macht ringen. Wir sind nach<br />
unserem Grundgesetz eben eine<br />
| 8 | Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten
»Parteiendemokratie«, ob das jedem<br />
gefällt oder nicht. Deshalb gehören Politiker,<br />
Journalisten und Wissenschaftler<br />
an einen Tisch oder, wie am heutigen<br />
Abend, auf ein Podium.<br />
Ich begrüße an dieser Stelle ganz<br />
besonders herzlich Petra Köpping,<br />
Mitglied des Sächsischen Landtags und<br />
vorher auch schon Bürgermeisterin und<br />
Landrätin, Dr. Martin Doerry, stellvertretender<br />
Chefredakteur des »SPIEGEL«,<br />
sowie Prof. Dr. Wolfgang Donsbach.<br />
Er ist Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft<br />
an der Philosophischen<br />
Fakultät der Exzellenz-Universität<br />
TU Dresden.<br />
Sie werden sich im Anschluss an<br />
den Vortrag in unserer Podiumsdiskussion<br />
mit uns allen gemeinsam darum<br />
bemühen, offene Antworten auf offene<br />
Fragen zu finden.<br />
Damit erteile ich Ihnen, verehrter<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, das Wort und bedanke<br />
mich bei Ihnen allen, dass Sie gekommen<br />
sind.<br />
Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten | 9|
»Parteiendemokratie in Deutschland –<br />
Gesicht und Substanz des politischen Personals«<br />
Referat von Peer <strong>Steinbrück</strong><br />
Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,<br />
lieber Herr Rößler,<br />
meine sehr geehrten<br />
Damen und Herren,<br />
ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Präsident,<br />
sehr herzlich für den langen Werbeblock<br />
zu meinem Buch. Es ist mir an<br />
manchen Stellen sogar ein bisschen<br />
peinlich gewesen. Das Motto dieses<br />
Buches war in der Tat der Umkehrung<br />
eines amerikanischen Filmtitels entnommen.<br />
Dieser Filmtitel hieß: »Denn sie<br />
wissen nicht, was sie tun« – nach meiner<br />
Erinnerung mit dem sehr jungen und<br />
ausstrahlungskräftigen Schauspieler<br />
James Dean. Ich habe es umgedreht und<br />
gesagt: »Sie tun nicht, was sie wissen.«<br />
Das ist meine Erfahrung aus vielen<br />
politischen Debatten nicht nur in meiner<br />
eigenen Partei, sondern auch mit kollegial<br />
verbundenen Partnern in anderen<br />
demokratischen Parteien.<br />
Nun soll ich Ihnen – ich glaube in<br />
40 Minuten – etwas über die Parteiendemokratie<br />
erzählen mit einem deutlichen<br />
Schwerpunkt auf der Qualität des politischen<br />
Personals. Das ist hochgefährlich,<br />
denn wenn Politiker erst einmal im<br />
Besitz des Mikrofons sind, dann überdehnen<br />
sie ihre Redezeit immer.<br />
Ich kenne einen Politiker, der sich wie<br />
viele andere nicht an die verabredete<br />
Redezeit gehalten hat, bis er merkte,<br />
dass erst die Gäste aus den hinteren<br />
Reihen aus dem Saal gingen, dann<br />
gingen die aus den mittleren Reihen aus<br />
dem Saal und zum Schluss blieb, um<br />
die Geschichte abzukürzen, ein einziger<br />
Mensch – dort, wo Herr Doerry gerade<br />
sitzt – sitzen. Erst dann unterbrach dieser<br />
Redner leicht irritiert seine Rede und<br />
fragte den Mann: »Sagen Sie mal,<br />
warum sitzen Sie noch hier?« Darauf<br />
sagte der Mann: »Ich bin derjenige,<br />
der nach Ihnen reden soll.«<br />
Ich werde also versuchen, mich an<br />
die Spielregeln zu halten, um dann das<br />
Podium zu eröffnen, auch mit Blick auf<br />
die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen,<br />
wie Frau Köpping, die gegebenenfalls<br />
anderer Auffassung sind als<br />
ich und ein belebendes Element hinzu -<br />
fügen können.<br />
Die Ausgangsfeststellung ist nicht so<br />
kompliziert und entspricht ihrer Wahrnehmung:<br />
Die etablierte Politik ist in<br />
den letzten Jahren einem erheblichen<br />
Vertrauens- und Zutrauensverlust ausgesetzt<br />
. Es gibt so etwas wie Parteienverdrossenheit.<br />
Diese gibt es noch nicht<br />
in einer Form, wie wir sie in der deutschen<br />
Demokratiegeschichte schon<br />
einmal erleben mussten, als diese Verdrossenheit<br />
– diese Distanzierung –<br />
gegenüber Parteien übergesprungen<br />
ist in eine Parteienverachtung.<br />
Das war am Ende der Weimarer Republik<br />
mit dem Ergebnis, dass die Katas -<br />
trophe des Zweiten Weltkrieges über<br />
Deutschland und Europa gekommen ist.<br />
Aber es ist derzeit spürbar, dass die<br />
etablierten demokratischen Parteien<br />
an Zuspruch verlieren und ihre Lösungskompetenz<br />
nicht gerade hoch gehandelt<br />
wird. Dies drückt sich auch an einer<br />
weiteren Ausdifferenzierung des<br />
Parteiensystems in Deutschland aus.<br />
Die Piraten sind bis zu einem gewissen<br />
Ausmaß die Projektionsfläche für diese<br />
Unzufriedenheit mit den demokratischen<br />
| 10 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
Parteien, angefangen von CDU/CSU,<br />
über SPD, FDP bis hin zu den Grünen.<br />
Selbst die Grünen werden inzwischen<br />
als eine republikanische oder altbundesrepublikanische<br />
Partei wahrge -<br />
nommen. Insgesamt ist eine solche<br />
Entwicklung der grundsätzlichen Dis -<br />
tanzierung gegenüber Parteien durchaus<br />
gefährlich.<br />
Der Grund für diese Distanzierung<br />
ist zunächst sicher bei den Parteien zu<br />
suchen. Damit fange ich an. Aber der<br />
späte Nachmittag oder frühe Abend<br />
wird für Sie als Anwesende vielleicht<br />
auch noch etwas anstrengend, weil ich<br />
dafür sorgen werde, dass sowohl Sie als<br />
Staatsbürger als auch die Medien Ihr<br />
Fett wegbekommen. Die Art und Weise,<br />
wie Kritik ausschließlich gegenüber<br />
Parteien geübt wird, geht mir nämlich<br />
gelegentlich etwas gegen den Strich.<br />
Aber damit ich nicht missverstanden<br />
werde, nach dem Motto: Ich zeige nur<br />
mit dem Finger auf andere, wohl wissend,<br />
dass Gustav Heinemann mal<br />
gesagt hat: »Drei Finger weisen dann<br />
auf einen zurück«, fange ich mit den<br />
Parteien an, auch mit der Schwerpunktsetzung<br />
auf der Qualität des Personals.<br />
Richtig ist, dass die Parteien in der<br />
Wahrnehmung der Bevölkerung zu -<br />
nehmend eher Ritualen folgen. Das<br />
kann man auf Parteitagen beobachten:<br />
Musik, Einmarsch, Klatschmarsch,<br />
Frontalunterricht, keine Diskussion,<br />
Ausmarsch, wieder Klatschmarsch,<br />
Musik – und fertig ist der Lack!<br />
So ähnlich sind auch die politischen Veranstaltungen:<br />
Frontalunterricht, möglichst<br />
mit einigen Promis besetzt, aber<br />
einladende Bewegung an einen auch<br />
kontroversen Diskurs – gegebenenfalls<br />
einladende Bewegung an Menschen,<br />
die gar nicht parteipolitisch gebunden<br />
sind, die nicht einmal einseitige parteipolitische<br />
Präferenzen haben –, die<br />
Erschließung auch ganz neuer Kommunikationsplattformen,<br />
ganz anderer<br />
Veranstaltungsformate, das ist jedenfalls<br />
nicht die erkennbar große Qualität<br />
der etablierten Parteien. Hinzu kommt,<br />
dass ihre Sprache als langweilig wahr -<br />
genommen wird, teilweise als völlig<br />
inhaltsleer, inhaltsleer auch deshalb,<br />
weil man damit nicht aneckt.<br />
Mein viel zitierter und häufig verwen -<br />
deter Lieblingssatz lautet: »Eine gute<br />
Grundlage ist die beste Voraussetzung<br />
für eine solide Basis«. Damit machen<br />
Sie sich in Ihren eigenen Reihen keine<br />
Feinde und andere können Ihnen nicht<br />
gegen das Schienbein treten. Aber er<br />
ist völlig aussagelos. Das heißt, die Art<br />
und Weise, wie wir inzwischen auch<br />
folgenlose Inszenierungen organisieren,<br />
unsere Sprache, die Art und Weise,<br />
wie wir einen Gipfel nach dem anderen<br />
inszenieren, die aber weitestgehend<br />
ergebnislos bleiben, wird zunehmend<br />
demaskiert und kritisch wahrgenommen.<br />
Man kann sagen, das ist noch das<br />
Geringste, womit es die etablierten<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 11 |
Parteien zu tun haben und womit sie<br />
sich kritisch beschäftigen müssen. Sehr<br />
viel kritischer ist, dass diese Parteien<br />
inzwischen als – etwas kompliziert ausgedrückt<br />
– selbstreferenzielle Systeme<br />
wahrgenommen werden, als sehr stark<br />
auf sich selbst bezogene Gebilde. Der<br />
Ernstfall der Politik innerhalb vieler<br />
Parteien ist inzwischen nicht mehr die<br />
Begegnung mit den Bürgerinnen und<br />
Bürgern, sondern die Delegiertenkonferenz<br />
und der Parteitag.<br />
Die Selbstbestätigung dessen, was<br />
man als einen parteiverträglichen Kodex<br />
definiert, ist von größerer Bedeutung,<br />
als die Fähigkeit und Neugier, sich ver -<br />
änderten Realitäten und einem sehr<br />
tief greifenden strukturellen Wandel<br />
in Wirtschaft, Gesellschaft und Technologieentwicklung<br />
zu stellen. Der Grund<br />
ist, dass viele Parteien gelegentlich<br />
der Logik folgen, nicht das Programm<br />
muss sich der Realität anpassen,<br />
sondern die Realität muss sich dem<br />
Programm anpassen. Dies macht sich<br />
auch bei der Auswahl des Personals<br />
bemerkbar, weshalb in der Wahrnehmung<br />
von vielen Bürgerinnen und<br />
Bürgern der klassische Funktionärstyp<br />
eher unattraktiv ist.<br />
| 12 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
Ich füge hinzu, auch wenn ich diesen<br />
Begriff selber nutze, keine Partei, kein<br />
Parteiapparat kann per se ohne Funktionäre<br />
auskommen; denn es muss Leute<br />
geben, die den Laden zusammenhalten<br />
und organisieren. Die Aversion des<br />
Publikums richtet sich jedoch gegen<br />
Parteigänger, gegen einen undurchsichtigen<br />
Parteiapparat, unabhängig von<br />
dem Wissen, dass Parteien einen Apparat<br />
benötigen, um arbeitsfähig zu sein.<br />
Was ich kritisch beleuchten möchte, ist,<br />
dass die Personalauswahl auf Delegiertenkonferenzen<br />
und Parteitagen – wo<br />
sich die Frau oder der Mann durchsetzt,<br />
die dies am ehesten bedienen können –<br />
bestimmt wird von dem, was ich den<br />
parteiverträglichen Kodex nenne.<br />
Für einige Politiker ist es viel wichtiger,<br />
auf einem Parteitag 75 % zu bekommen<br />
als bei einer Kommunal-, Landtagsoder<br />
Bundestagswahl die Mehrheit bei<br />
den Bürgerinnen und Bürgern. Davon<br />
ist ihre Karriere und die Wahrnehmung<br />
eines Mandats nicht abhängig, sondern<br />
sie ist abhängig davon, dass sie sich auf<br />
einer Delegiertenkonferenz oder einem<br />
Parteitag durchsetzen, nicht unbedingt<br />
bei einer Wahl.<br />
Es gibt gelegentlich Mandatsträger,<br />
die teilweise um mehrere Punkte mit<br />
ihrem Erststimmenergebnis hinter dem<br />
Zweitstimmenergebnis der Partei liegen.<br />
Für diese Politiker ist die Bedrohung,<br />
mit Liebesentzug bestraft zu werden<br />
und von der eigenen Partei nicht wieder<br />
aufgestellt zu werden, von einer existenzielleren<br />
Bedeutung als die eigentliche<br />
Vorstellung und Bewerbung gegenüber<br />
den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei<br />
kommt ein Politikertypus heraus, der in<br />
seiner Realitätswahrnehmung von der<br />
der Wählerinnen und Wähler abweicht,<br />
weil er seine Sicht der Dinge anpasst<br />
und auf den parteiverträglichen Kodex<br />
ausrichtet. Dieser beschreibt das, was<br />
innerparteipolitisch gerade noch inhaltlich<br />
vertreten werden kann.<br />
Die zweite große Gefahr entlehne<br />
ich in längeren Beobachtungen keinem<br />
Geringeren als Peter Glotz, der einmal<br />
Bundesgeschäftsführer der SPD war.<br />
Er war wahrscheinlich einer der intellektuell<br />
interessantesten Leute, die diese<br />
SPD in den Achtzigerjahren aufzubieten<br />
hatte. Glotz hat eine Unterscheidung<br />
zwischen den sogenannten Zeitarmen<br />
und Zeitreichen vorgenommen.<br />
Die Zeitreichen sind diejenigen, die –<br />
ich gebe zu, auch vornehmlich im öffentlichen<br />
Dienst beschäftigt – die Möglichkeit<br />
haben, die Ochsentour in einer Partei<br />
zu absolvieren, Präsenz zu zeigen,<br />
beteiligt zu werden, bei Abstimmungen<br />
gegenwärtig zu sein. Es sind jene, die<br />
bei den Vernetzungstreffen die Zeit<br />
haben, sich eine Basis zu schaffen, eine<br />
Hausmacht zu erarbeiten. Es sind jene,<br />
die lange bei Parteitagen oder Ortsvereinssitzungen<br />
bis 23 Uhr oder Mitternacht<br />
dabei sein können. Aber diese<br />
Zeitreichen haben oft die geringste Nähe<br />
zu den gesellschaftlichen Veränderungen.<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 13 |
Die Zeitarmen hingegen stehen mitten in<br />
einem beruflichen Leben, unabhängig<br />
davon, ob sie nun abhängig Beschäftigte<br />
oder unternehmerisch tätig sind, ob<br />
sie im wissenschaftlichen Bereich arbeiten<br />
oder ein Ehrenamt wahrnehmen.<br />
Sie sind konfrontiert mit den Veränderungen<br />
in dieser Gesellschaft. Sie haben<br />
ein Fieberthermometer für das, was in<br />
dieser Gesellschaft passiert.<br />
Sie haben aber nicht die Zeit, an den<br />
Ritualen, Aufstellungsverfahren und<br />
Beteiligungsformen innerhalb einer<br />
Partei zu partizipieren. Also setzen sie<br />
sich in einer Partei auch nicht durch. Das<br />
bedeutet, dass etablierte Parteien somit<br />
– wie ich glaube – einen gewissen Realitätsverlust<br />
erleiden könnten. Dieser<br />
Realitätsverlust ist mit einer Distanzierung<br />
gegenüber – wie ich vorhin gesagt<br />
habe – der Realitätswahrnehmung derjenigen<br />
verbunden, die zur Wahl gehen<br />
sollen und einfach den Eindruck haben,<br />
Parteien seien völlig abgehoben und<br />
haben mit der realen Welt nichts mehr<br />
zu tun.<br />
Natürlich kommt hinzu, dass Parteien<br />
objektiven Prozessen ausgesetzt sind,<br />
die zu einer Veränderung nicht nur des<br />
Parteienspektrums, sondern gegebenenfalls<br />
auch zu einer Änderung der<br />
Voraussetzung, unter denen heute<br />
Parteien antreten, führen. Das ist das,<br />
was ich zweitens als externe Einflüsse<br />
bezeichnen will.<br />
Festzustellen ist, dass sich diese<br />
Gesellschaft über einen Schub der<br />
Individualisierung und Pluralisierung<br />
deutlich ausdifferenziert hat. Sie ist vielfältiger<br />
geworden, sie ist bunter geworden.<br />
Das heißt, verglichen mit den 50erund<br />
60er-Jahren gibt es die klassischen<br />
Wählermilieus der alten Bundesrepublik<br />
nicht mehr, die parteipolitisch eindeutig<br />
zuzuordnen gewesen sind.<br />
Ob das eher ein katholisch, agrarisch,<br />
mittelständisch, handwerklich geprägtes<br />
Milieu war, das eher die CDU/CSU<br />
gewählt hat, oder ob das eine städtisch<br />
geprägte organisierte Arbeitnehmerschaft,<br />
mit sehr vielen Angestellten war,<br />
die eine sehr stark in einer Aufstiegsmentalität<br />
verhaftete Wählerschaft ge -<br />
wesen ist, die eher die Sozialdemokratie<br />
gewählt hat – diese Milieus haben sich<br />
aufgelöst.<br />
Sozialwissenschaftler sprechen inzwischen<br />
von ungefähr zehn unterschiedlichen<br />
sozialen Milieus, die sich teilweise<br />
überlappen. Sie kommen zu dem Ergebnis,<br />
dass das keineswegs schon das<br />
Ende dieses Prozesses einer Fragmentierung<br />
dieser Gesellschaft sein muss.<br />
Über diesen gesellschaftlichen Wandel<br />
lösen sich also die klassischen Wählermilieus<br />
auf und es wird der Wählertypus<br />
zunehmen, der nach Lage der Dinge in<br />
seinem Leben mehrfach sehr unterschiedliche<br />
Parteien, eventuell sogar<br />
alle demokratischen Parteien, wählt.<br />
Dies geschieht auf der horizontalen<br />
Ebene – von Bundestagswahl zu Bundestagswahl<br />
– genauso wie auf der vertikalen<br />
Ebene – von einer Europawahl<br />
über eine Bundestagswahl, Landtagswahl<br />
und Kommunalwahl, möglich -<br />
weiser auch oft nach anderen Kriterien,<br />
wo gegebenenfalls der personale<br />
Faktor an Bedeutung gewinnt. Dieser<br />
Wählertypus könnte eher einem angloamerikanischen<br />
Muster folgen, in dem<br />
der parteipolitisch programmatische<br />
und ideologische Hintergrund eher<br />
an Bedeutung verliert und damit Kom -<br />
petenzprofile wichtiger werden als<br />
Wertesysteme.<br />
Das würde ich an sich bedauern, weil<br />
ich zu denjenigen gehöre, die keineswegs<br />
einen nackten Pragmatismus vertreten.<br />
In der Definition von Helmut Schmidt<br />
heißt es: »Pragmatismus in sittlicher<br />
Verantwortung«. Und das ist etwas<br />
grundsätzlich anderes.<br />
Bei der geschilderten Entwicklung<br />
könnte verstärkt ein Politikertypus zum<br />
Zug kommen, der aus der Sicht der Wählerinnen<br />
und Wähler – und da trete ich<br />
das erste Mal in die Beete Ihrer Empfindlichkeiten<br />
– mehr Unterhaltungswert hat<br />
als Substanz. Einige von ihnen möchten<br />
ganz gerne so eine Mischung aus George<br />
Clooney, Einstein und Inge Meisel<br />
ha ben. Einige von Ihnen sind auch auf<br />
diesen Politikertypus sehr abgefahren.<br />
Der Glamour des Herrn zu Guttenberg<br />
hat Sie ja teilweise doch sehr fasziniert.<br />
Das heißt, es steht das im Vordergrund,<br />
was die Amerikaner Face nennen. Dies<br />
wird auch befördert durch eine mediale<br />
Vermarktung, die von diesen Politikern<br />
wiederum bedient wird.<br />
| 14 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
Das finden Sie gar nicht so schlecht, denn<br />
gegebenenfalls richten Sie Ihre Sympathie<br />
für Politik auch danach aus, was Sie<br />
in der »Gala« oder in der »Bunten« lesen<br />
und nicht unbedingt danach, was sie in<br />
dem deutschen Qualitätsjournalismus<br />
von Woche zu Woche oder von Tageszeitung<br />
zu Tageszeitung lesen oder in den<br />
elektronischen Medien mitbekommen.<br />
Das heißt, Ihre Erwartung an den Politikertypus<br />
ist schon eine Mischung nach<br />
dem Motto: Natürlich soll er was in der<br />
Birne haben, aber er muss sich auf dem<br />
gesellschaftlichen Parkett ganz gut be -<br />
wegen können, er muss einen gewissen<br />
Unterhaltungswert haben und dabei verwechseln<br />
Sie, dass Politik eben nicht<br />
Unterhaltung ist.<br />
Politik muss nicht humorlos sein, aber<br />
eine Unterhaltungsveranstaltung ist<br />
Politik garantiert nicht, sondern sie ist<br />
ein sehr ernsthaftes Geschäft.<br />
Das heißt, es ist in Ihrer Verantwortung<br />
als Staatsbürger, welcher Politikertypus<br />
zum Zug kommt. Tatsächlich richten sich<br />
Ihre meisten Sympathien im Augenblick<br />
auf Politiker, die entweder nicht mehr im<br />
Amt sind oder inzwischen den Nimbus<br />
der Überparteilichkeit ha ben, was etwas<br />
damit zu tun hat, was ich am Anfang<br />
schon sagte: dass Sie den klassischen<br />
Parteipolitiker gar nicht so sehr mögen.<br />
Einer der Politiker, der in Deutschland<br />
den Nimbus der Überparteilichkeit er -<br />
reicht hat, aber meistens erst nachdem<br />
er nicht mehr im Amt war, ist Helmut<br />
Schmidt. Richard von Weizsäcker gehört<br />
auch dazu und Gerhard Schröder bis zu<br />
einem gewissen Grad ebenfalls. Joschka<br />
Fischer hat diesen Status ebenso fast<br />
erreicht. Die sind Ihnen inzwischen eher<br />
geheuer als diejenigen, die nach wie vor<br />
Parteien repräsentieren.<br />
Ich ende in wenigen Minuten mit<br />
einem übrigens deutlichen Plädoyer<br />
für Parteiendemokratie – nicht, dass<br />
Sie mich missverstehen. Aber meine<br />
Wahrnehmung ist, dass diese Politiker<br />
seitdem sie nicht mehr im Office sitzen<br />
und nicht mehr klar einer bestimmten<br />
Partei zuzuordnen sind, in Deutschland<br />
ein sehr hohes Ansehen genießen.<br />
Ich habe davon gesprochen, dass<br />
sich Politik in einem sehr komplizierten<br />
Verhältnis zum Trend ihrer Vermarktung<br />
befindet bzw. zur Sehnsucht einiger,<br />
sie vermarkten zu wollen. Damit bin ich<br />
durchaus bei dem Mitwirken von Medien<br />
im Hinblick auf die Wahrnehmung von<br />
Parteiendemokratie und von Politikern<br />
in Deutschland. Die Selbstkritik soll bei<br />
mir nicht zurückstehen, aber ich mache<br />
zunehmend die Erfahrung, dass die<br />
Medien einem stärker werdenden ökonomischen<br />
Druck ausgesetzt sind.<br />
Ich selber habe von der Ökonomisierung<br />
der Medien gesprochen und diese<br />
lässt sich am besten ausdrücken in einer<br />
Begrifflichkeit. Bis weit in die Siebzigerund<br />
Achtzigerjahre sprach man mit Blick<br />
auf die Medien von Verlagshäusern und<br />
heute redet man von Medienunternehmen<br />
– und darin finden sie den Wandel<br />
symbolisiert.<br />
Die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten<br />
schlagen bisweilen so weit<br />
durch, dass Medien in einem zunehmenden<br />
Konkurrenzkampf auf allen<br />
Ebenen – elektronisch genauso wie<br />
Print – einem Wettbewerbsdruck aus -<br />
gesetzt sind, in der sie Quote und Auf -<br />
lage machen müssen, indem sie auf<br />
sich aufmerksam machen. Sie müssen<br />
schlicht und einfach Käufer und Quote<br />
finden, und das tun sie am ehesten,<br />
indem sie der Sensation, teilweise<br />
dem Krawall, oftmals jedenfalls einem<br />
Trend folgen, der auf Banalisierung,<br />
Skandalisierung und scharfe Persona -<br />
lisierung zielt.<br />
Personalisierung macht sich sehr gut.<br />
Deshalb machen sich auch alle Personalspekulationen<br />
sehr gut, selbst in<br />
einem so seriösen Magazin wie dem<br />
»SPIEGEL«. Was ich da allein im Überblick<br />
der letzten zwei Jahre an Personalspekulationen<br />
erlebt habe, haut jedem<br />
Fass den Boden aus. Es ist aber selbst<br />
für ein solches Qualitätsmagazin völlig<br />
ungefährlich, denn keiner fragt nach vier<br />
oder fünf Wochen, ob diese Personalspekulationen<br />
eingetreten sind. Keiner<br />
misst die Medien danach, was sie vorher<br />
ge liefert haben, während die Aussagen<br />
der Politiker alle auf Wiedervorlage<br />
liegen, alle im Internet gespeichert<br />
sind und ihnen auch nach zwei Jahren<br />
noch um die Ohren gehauen werden<br />
können nach dem Motto »Was hat<br />
<strong>Steinbrück</strong> am 28. Februar um 17:35 Uhr<br />
zum Thema ›A‹ gesagt?«<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 15 |
Die umgekehrte Überprüfung dessen,<br />
was Medien berichten, findet nicht statt.<br />
Am meisten ist dieser Prozess, Aufmerksamkeit<br />
zu finden, inzwischen in den<br />
Online-Diensten. Denn diese Online-<br />
Dienste, die den Klick brauchen, leben<br />
davon, dass sie in einem vier- bis fünfstündigen<br />
Abstand schlicht und einfach<br />
etwas so Neues und Aufregendes bringen<br />
müssen, damit der nächste Klick<br />
erfolgt. Und dieser erfolgt wiederum am<br />
ehesten, wenn es um Personen geht.<br />
Bei einer Rede, die jemand gehalten<br />
hat, ist es erforderlich, dass Online-<br />
Dienste möglichst innerhalb von 60 Mi -<br />
nuten reagieren, und ich mache die Feststellung,<br />
dass auf diese Rede inhaltlich<br />
gar nicht mehr eingegangen wird, sondern<br />
nur mit Blick darauf, wie adrenalingesteuert<br />
derjenige gewesen ist, der sie<br />
vorgetragen hat, und wie das dazu passt,<br />
was er vorher gesagt hat. Das heißt, in<br />
der Sache wird sehr viel weniger berichtet.<br />
Diese Online-Dienste können auch<br />
spielend etwas völlig Falsches berichten.<br />
Ich habe selten erlebt, dass sie eine<br />
Korrektur nachgeschoben haben, sondern<br />
im günstigsten Fall nehmen sie<br />
ihre Meldung heraus. Aber keineswegs<br />
unterliegen sie einem Druck zu sagen,<br />
wir haben uns dort geirrt und der richtige<br />
Sachverhalt ist ein anderer und das<br />
richtige Zitat ist jenes.<br />
Es gibt eine derart große mediale Aufmerksamkeit,<br />
die einen Strahl auf Politiker<br />
legt, der tendenziell dazu führt, dass<br />
Vorurteile, die es gegenüber Politikern<br />
gibt, eher bestätigt werden. Dafür geben<br />
Politiker genügend Anlass, weil wir<br />
moralisch nicht besser sind als andere<br />
Menschen, weil es in der Tat Einzelfälle<br />
gibt, wo Politiker korrupt sind, versagt<br />
haben, schwere Fehlurteile – sogar Fehlentscheidungen<br />
– getroffen haben.<br />
Es gibt Politiker, die sich bereichert<br />
haben, Vorteilsnahme gewährt haben<br />
oder einer unterlegen sind. Das ist alles<br />
richtig. Der Punkt ist nur, dass angesichts<br />
der Häufigkeit und in den immer<br />
kürzeren Abständen, in der dies medial<br />
zur Geltung gebracht wird, die politische<br />
Klasse inzwischen im Ansehen der<br />
Bevölkerung kurz hinter Wegelagerern<br />
liegt. Es ist kein Trost, dass Journalisten<br />
nur eine Stufe darüber sind.<br />
Wenn ich so etwas sage, erfahre ich<br />
sehr schnell eine Reaktion von Journalisten<br />
nach dem Motto: Das sehen Sie völlig<br />
schief und das folge einer Tendenz,<br />
uns Vorschriften machen zu wollen, und<br />
dann sei gleich Pressefreiheit in Gefahr.<br />
Darum geht es nicht. Es geht darum, dass<br />
dieser Bereich der Gesellschaft sich sehr<br />
selbstkritisch darüber klar werden muss,<br />
inwieweit er an einem Prozess beteiligt<br />
ist, an dessen Ende in dieser Bundesrepublik<br />
Deutschland weder auf kommunaler<br />
Basis noch auf Landes- oder Bundesebene<br />
Frauen und Männer bereit<br />
sind, sich um ein politisches Mandat zu<br />
bewerben.<br />
Sie sagen sich: »Warum soll ich mir<br />
das denn antun? Bin ich da im Ansehen<br />
der Bevölkerung auf der Ebene von<br />
Wegelagerern, von Hausierern? Ich<br />
werde angemacht bei jeder Gelegenheit,<br />
insbesondere, wenn ich Kommunal -<br />
politiker bin. Für jede ausgefallene<br />
Straßenlaterne werde ich verantwortlich<br />
gemacht, für jeden Kernstein, wenn<br />
mein Auto nicht hoch kommt, und meine<br />
Kinder werden in der Schule angegangen.<br />
Ich sitze fest in abendlichen Sitzungen<br />
bis 24 Uhr, während die anderen die<br />
Sportschau bei einem Glas Pils oder<br />
Pinot Grigio sehen können.«<br />
Meine ganze Verwandtschaft sagt:<br />
»Du bist doch wohl bescheuert, dich<br />
da irgendwo zu engagieren. Komm<br />
doch lieber zum Fußball- oder zum<br />
Tennisspiel!« Die Ehefrau oder der<br />
Ehemann sagen: »Du warst schon<br />
wieder nicht beim Elternabend der<br />
Kinder, weil du mit deiner blöden Partei<br />
irgendwo herumgehockt hast!«<br />
Das kann das Ergebnis sein. Das<br />
Ergebnis kann sein, dass sie bei einer<br />
Landtagswahl oder bei einer Kommunalwahl<br />
in Nordrhein-Westfalen, was ich<br />
am besten übersehe, für 10.000 Mandate<br />
keine Frauen und Männer mehr<br />
finden, die sich bewerben.<br />
Was heißt das für die demokratische<br />
Substanz einer Gesellschaft?<br />
In der Darstellung von Politik überwiegen<br />
einige Wahrnehmungen, auf die<br />
ich in einer vorletzten Bemerkung gern<br />
eingehen will. Die erste Wahrnehmung<br />
ist, dass Parteien als Ort monolithischer<br />
Geschlossenheit dargestellt werden.<br />
Die gegenläufige Kritik lautet: Wo findet<br />
| 16 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
dort der kritische und teilweise kontroverse<br />
Diskurs statt? Wenn er dort aber<br />
stattfindet, dann werden diese Parteien<br />
als völlig zerstritten – als ein wilder<br />
Haufen – dargestellt.<br />
Man müsse sich endlich mal einigen,<br />
was man denn will. Anders ausgedrückt:<br />
Ein Parteitag der SPD, der alles durchwinkt,<br />
der völlig geschlossen auftritt, wo<br />
sich alle einheitlich verhalten, würde in<br />
der Berichterstattung einen Kommentar<br />
bekommen à la: »Langweiliger Parteitag<br />
der SPD«. Wenn sich da oben aber<br />
gefetzt und über die wirklichen Themen<br />
gerungen wird, kontrovers, rhetorisch<br />
gut, von mir aus auch angriffslustig,<br />
dann wird die Kommentarlage lauten:<br />
»Eine völlig verstrittene SPD ist garantiert<br />
nicht kompetent und geeignet,<br />
irgendwo Regierungsverantwortung zu<br />
übernehmen.«<br />
Das heißt, die Kommentarlage unterliegt<br />
einer gewissen Beliebigkeit. In<br />
Wirklichkeit müssten Parteitage natürlich<br />
in der Tat davon geprägt sein, dass<br />
gerungen und kontrovers debattiert<br />
wird. Weil aber alle befürchten, dass<br />
dies eine negative öffentliche Wahrnehmung<br />
und mediale Berichterstattung<br />
hat, verhalten sich alle viel disziplinierter,<br />
als es bestimmte Themen eigentlich<br />
verdienen.<br />
Die zweite Wahrnehmung ist die nega tive<br />
Besetzung des Begriffes »Kompromiss«<br />
bei Ihnen als Bürgerinnen und Bürger. Es<br />
gibt immer Sieger und Besiegte, es gibt<br />
Gewinner und Verlierer. Es dauert nicht<br />
mehr lange, dann ist die Politik nicht<br />
mehr auf Seite 1, sondern taucht in<br />
der Sportberichterstattung auf. Es gibt<br />
inzwischen alle zwei bis drei Wochen<br />
Wertschätzungskurven für Politiker.<br />
Wer ist oben, wer ist unten, wer hat<br />
0,5 dazugewonnen, wer ist bei 1,7, wer<br />
ist bei 1,8? Das heißt, wir haben längst<br />
eine Bundesligatabelle von Politikern.<br />
Was heißt das? Diejenigen, die sagen:<br />
Oh, ich muss ja da langsam heraus aus<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 17 |
dem Abstiegsloch, verhalten sich einem<br />
Mainstream entsprechend. Sie versuchen,<br />
Liebesbeweise zu organisieren –<br />
so nach dem Motto: Ich werde nicht<br />
abgestraft. Die verhalten sich angepasst.<br />
Aber wollen wir durchweg an -<br />
gepasste Politiker haben?<br />
Diejenigen allerdings, die das wichtigste,<br />
in meinen Augen konstitutive<br />
Element einer Demokratie verkörpern,<br />
nämlich zwischen widerstreitenden<br />
Kräften irgendwann zu einem Kompromiss<br />
zu kommen, das sind die Kompromissler,<br />
und in Deutschland ist der Kompromissler<br />
seit jeher negativ konnotiert.<br />
Wir Deutschen treten ja immer sehr<br />
grundsätzlich an: Hier stehe ich, ich<br />
kann nicht anders.<br />
In Wirklichkeit ist der Kompromiss –<br />
wie man in alteingeübten Demokratien<br />
feststellen kann – genau der Kick, den<br />
wir brauchen, um diese Gesellschaft<br />
zusammenzuhalten.<br />
Die dritte Wahrnehmung ist, dass es<br />
inzwischen in der Vermittlung von Politik<br />
eine Art Ereignis- und Ergebnisfixierung<br />
gibt. Das Ereignis an sich ist dasjenige,<br />
was in Ihren Köpfen ist, der Auftritt bei<br />
internationalen Konferenzen oder dergleichen.<br />
Dabei fehlt das Verständnis<br />
dafür, dass Politik ein ewiger Prozess ist,<br />
der nie zu einem Ende kommt.<br />
Schauen Sie sich die Debatten zur<br />
Alters versorgung oder zu einer Ge -<br />
sundheits reform der Bundesrepublik<br />
Deutschland an. Das sind Prozesse! Das<br />
Verständnis zu wecken, dass Politik und<br />
Demokratie Prozesse sind, in denen es<br />
immer ein stufenweises Voranschreiten<br />
– gelegentlich sind es auch zwei Schritte<br />
an die Seite, manchmal sogar ein Schritt<br />
zu rück – gibt und die nicht allein davon<br />
leben, dass irgendwann ein geheiligtes,<br />
auf Ewigkeit in Stein gemeißeltes Ergebnis<br />
vorliegt, muss sehr viel stärker ge -<br />
weckt werden.<br />
Der Herr Landtagspräsident hat gerade<br />
ein sehr aktuelles Beispiel gegeben, in -<br />
dem er von der Konferenz der Präsidenten<br />
der deutschen Landtage berichtet<br />
hat nach dem Motto: Wir wollen eine<br />
weitere Föderalismusreform, wir wollen<br />
einen neuen Länderfinanzausgleich.<br />
Glauben Sie mir, das ist das komplexeste<br />
Thema der Innenpolitik, das es gibt. Ich<br />
weiß, wovon ich rede, denn ich habe das<br />
letzte Mal über drei Jahre an den Verhandlungen<br />
teilgenommen. Jetzt wollen<br />
die Landtagspräsidenten auch noch<br />
ein Stimmrecht haben. Wo kommen wir<br />
da hin? Dann wollen die kommunalen<br />
Spitzenverbände ein Stimmrecht haben.<br />
Diese bunten Länderfinanzbeziehungen<br />
oder Länderländerfinanzbeziehungen –<br />
davon, Herr Rößler, verstehen in Deutsch -<br />
land nur noch drei Leute etwas, nicht<br />
mehr. Der eine ist tot, der zweite ist in<br />
der Psychiatrie und der dritte bin ich –<br />
und ich habe alles vergessen.<br />
Worauf ich hinaus will, ist das Prozess -<br />
hafte in der Politik. Dieses Thema ist<br />
ein klassisches Beispiel und natürlich<br />
kommt es auf die Tagesordnung. Wer<br />
nach der letzten Föderalismusreform II<br />
geglaubt hat, die Regelungen seien nun<br />
für dreißig oder vierzig Jahre in Stein<br />
gemeißelt, hat natürlich schon deshalb<br />
einen Irrtum begangen, weil wir alle<br />
wissen: 2019 ist mit dem Auslaufen des<br />
Solidarpaktes II ein Datum, an dem<br />
dieses Thema spätestens auf die Tagesordnung<br />
kommt. Aber Sie können es<br />
ja vorher betreiben, das Prozesshafte.<br />
Es ist erstaunlich, welche Bringschuld<br />
Politikern in Deutschland abverlangt wird.<br />
Das ist fast eine Überforderung. Wenn<br />
etwas kommunikativ nicht funktioniert,<br />
ist es das Versagen in der Kommunika -<br />
tion der Politiker.<br />
Ich gebe zu, in vielen Fällen ist das der<br />
Fall, aber die Überforderung der Politik<br />
| 18 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
ezüglich ihrer Bringschuld ist unge -<br />
heuerlich und steht in einem Missverständnis<br />
zu der Unterforderung der<br />
Holschuld von Staatsbürgerinnen und<br />
Staatsbürgern. Da werde ich garstig.<br />
Wie kommen Sie eigentlich immer<br />
auf die Idee, dass die Politik in der Vermittlung<br />
versagt hat? Vielleicht haben<br />
Sie versagt, mal abzurufen, was die Politik<br />
Ihnen bietet und was Ihnen übrigens<br />
in vielerlei Informationskanälen auch<br />
geboten wird. Nein, Sie sitzen da sehr<br />
gern in Ihrem bequemen Stuhl und<br />
sagen: Jetzt komm mal mit der Gabel<br />
und das möchte ich sehr konsumfreundlich<br />
von dir haben. Gelegentlich müssen<br />
Sie sich anstrengen. Stellen Sie sich mal<br />
vor, Demokratie ist anstrengend!<br />
So leicht lasse ich Sie da nicht aus<br />
der Klammer. Sie haben eine Holschuld<br />
als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger<br />
und wir als Politiker haben nicht nur<br />
eine Bringschuld. Ein bisschen mehr<br />
Aktivität, statt nur zu sagen: Diese Idioten<br />
da oben, die haben mir das ja nicht<br />
richtig erklärt. Vielleicht waren Sie auch<br />
gar nicht in der Lage oder willens, die<br />
Erklärung abzuholen, wenn die Sachverhalte<br />
immer komplexer und schwieriger<br />
werden. Ich komme in einem 90-Sekunden-Statement<br />
bei privaten Fernsehsendern<br />
gar nicht mehr dazu, Ihnen eine<br />
komplizierte Steuerreform zu erklären,<br />
zumal ich am besten ein Opening Shot<br />
bringen muss und eine gute Schlussapotheke,<br />
dann habe ich nur noch<br />
60 Sekunden.<br />
Sie wollen von mir in 60 Sekunden die<br />
Finanzmarktkrise in Europa erklärt haben.<br />
So läuft das nicht. Das heißt, wir haben<br />
es auch auf der Rezipientenseite mit<br />
Erscheinungsformen zu tun, die zu einer<br />
gewissen selbstkritischen Betrachtung<br />
einladen.<br />
Letzte Bemerkung: Ich bin ein deutlicher<br />
Verfechter der Parteiendemokratie,<br />
mache allerdings alle Parteienvertreter<br />
und mich selbst darauf aufmerksam, dass<br />
in – ich glaube – Artikel 21 Abs. 1 des<br />
Grundgesetzes steht: Die Parteien wirken<br />
bei der politischen Willensbildung mit.<br />
Das ist ganz wichtig. Dies führt nämlich<br />
dazu, dass sich die Parteien stärker<br />
selbst beschränken werden müssen.<br />
Sie wirken nur an der Willensbildung<br />
mit. Das eigentliche Zentrum der Willens -<br />
bildung sind nicht die Parteien, nicht<br />
ihre Parteitage, sondern die Parlamente.<br />
Dort findet die Willensbildung durch<br />
demokratisch legitimierte Abgeordnete<br />
statt. Deshalb ist mein erster Rat mit<br />
Blick auf die – wie ich glaube – strukturellen<br />
und kulturellen Anforderungen<br />
an Parteien im 21. Jahrhundert, dass sie<br />
diesen Bestimmungen des Grundgesetzes<br />
Artikel 21 Abs. 1 folgen und sich sehr<br />
viel stärker selbst beschränken, übrigens<br />
auch mit Blick auf die Einflussnahme<br />
von öffentlichen Institutionen.<br />
Parteien werden sich, zweitens, öffnen<br />
müssen, thematisch, kommunikativ und<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 19 |
auch personell. Es kann in dem einen<br />
oder anderen Fall auch sinnvoll sein,<br />
dass Parteien sich verständigen – zum<br />
Beispiel auf parteilose Kandidaten, auf<br />
einen bestimmten fachlichen Sachverstand,<br />
auf einen bestimmten sozialen<br />
oder beruflichen Hintergrund. Dass sie<br />
quasi die Plattform der Flugzeugträger<br />
sind, mit deren Hilfe politisch Interessierte,<br />
aber gegebenenfalls nicht par -<br />
teipolitisch Gebundene, durchaus in<br />
die Lage versetzt werden, sich im parlamentarischen<br />
Raum zu artikulieren.<br />
Wir wären gut beraten, Menschen ein -<br />
zuladen, an Informationen teilhaben zu<br />
lassen, übrigens auch über die digitalen<br />
Möglichkeiten, ohne sie gleich zu instrumentalisieren<br />
und in Anspruch<br />
zu nehmen.<br />
Die Neugier mitzumachen gibt es<br />
übrigens bei jüngeren Leuten, bezogen<br />
auf ein Projekt, aber nicht mit Bezug<br />
darauf, sich lebenslang in einer Partei<br />
verhaften zu lassen. Darauf sind wir<br />
bisher nicht eingestellt. Das gilt auch<br />
für Kommunikations- und Veranstaltungsplattformen.<br />
Vielleicht ist es wichtiger,<br />
zunehmend Veranstaltungsformen<br />
zu finden, wo von 100 Teilnehmern im<br />
Saal nicht 99 Sozialdemokraten sind.<br />
Ich hätte ein Interesse daran, dass es<br />
Veranstaltungen sind, in die Menschen<br />
eingeladen und neugierig gemacht<br />
werden, die noch nie einen Sozialdemokraten<br />
oder umgekehrt einen Christdemokraten<br />
erlebt haben. Sie kommen<br />
dann vielleicht zu dem Ergebnis,<br />
dass die Sozis doch mit Geld umgehen<br />
können.<br />
Das heißt, es wird Veränderungen<br />
geben müssen mit Blick auf die – wie<br />
ich sie genannt habe – thematisch<br />
organisatorische und kommunikative<br />
Öffnung. Aber ich war stehengeblieben,<br />
dass ich Anhänger dieser Parteiendemokratie<br />
bin.<br />
Eine ganz einfache Frage an Sie:<br />
Wer anstelle demokratisch verfasster<br />
Parteien soll denn in Deutschland demokratisch<br />
legitimierte Mehrheitsentscheidungen<br />
unter Wahrung eines Minder-<br />
| 20 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>
heitsschutzes organisieren? Solange<br />
Sie mir diese Frage nicht beantworten<br />
können, bekommen Sie mich an den<br />
Hals mit Blick auf ein Überkippen Ihrer<br />
verständlichen Kritik an den Parteien<br />
in eine Art Verachtung. Sie können mir<br />
diese Frage nicht beantworten. Sollen<br />
es Bürgerinitiativen sein, hoch volatil,<br />
sehr stark auf ein spezifisches Thema<br />
fokussiert? Sollen es Meinungsumfragen<br />
mit Ergebnissen sein, deren Ergebnisse<br />
davon abhängig sind? Soll es ein Ältestenrat<br />
sein, natürlich nur bestehend aus<br />
alten Männern? Soll es eines Tages vielleicht<br />
Ihre Fernsehbedienung machen,<br />
wo Ihnen gesagt wird, für die Lösung A<br />
drücken Sie bitte die Taste 1 und auf die<br />
Lösung B drücken Sie bitte die Taste 8?<br />
Solange Sie mir nicht sagen können,<br />
wer demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen<br />
in einer offen und<br />
hoch ausdifferenzierten Gesellschaft mit<br />
80 Millionen Einwohnern herbeiführen<br />
kann, sodass wir uns nicht die innere<br />
Friedfertigkeit dabei beschädigen, bitte<br />
ich Ihre Distanz und Kritik gegenüber<br />
diesem Parteienwesen in Grenzen zu<br />
halten.<br />
Ich glaube, dass Parteien sich werden<br />
ändern müssen, aber dass die demo -<br />
kratische Substanz dieser Gesellschaft<br />
maßgeblich beschädigt würde, wenn<br />
eine Distanzierung gegenüber Parteien<br />
in Verachtung umschlagen würde,<br />
so wie ich es eingangs skizziert habe.<br />
In dem Zusammenhang bin ich ein<br />
deutlicher Anhänger des repräsentativen<br />
Systems und teile nicht die Auffassung,<br />
die im Augenblick von den Piraten am<br />
deutlichsten mit Blick auf eine sogenannte<br />
Liquid Democracy vertreten wird.<br />
Das Ergebnis einer solchen Liquid<br />
Democracy ist, dass die Zeitreichen die<br />
Entscheidung treffen. Das sind nämlich<br />
diejenigen, die computer- oder internet -<br />
affin sechs Stunden lang am Tag am<br />
Computer sitzen, während all die Zeit -<br />
armen, auch der arme Malocher, der<br />
irgendwo im Stahlwerk den Stahlabguss<br />
sticht, nicht in der Lage sind, sich daran<br />
zu beteiligen. Es würde eine elitäre<br />
Herausbildung von Leuten geben,<br />
die über dies, was Liquid Democracy<br />
genannt wird, die Entscheidungen<br />
prägen würden.<br />
Ich glaube, dass die Fehlerorientierung<br />
eines solchen Musters viel größer<br />
ist als die Fehlerorientierung einer<br />
repräsentativ parlamentarisch verfassten<br />
Demokratie. Deshalb sage ich:<br />
Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das,<br />
was Ihnen dort als Partizipation, als<br />
Beteiligung »vorgegaukelt« wird, reduziert<br />
sich nachher auf einige Wenige, die<br />
einen unverhältnismäßig hohen Einfluss<br />
ausüben können, insbesondere, wenn<br />
die Abstimmungsrechte, die Sie bekommen<br />
haben, auch noch von anderen an<br />
Sie adressiert werden. Das bitte ich ge -<br />
legentlich sehr kritisch zu hinterfragen.<br />
Dieses parlamentarische, von Parteien<br />
geprägte System hat über die letzten<br />
sechzig Jahre in der Bundesrepublik und<br />
seit zwanzig Jahren auch hier in Dresden<br />
ein enormes Ausmaß an Frieden, Freiheit,<br />
unternehmerischen Möglichkeiten,<br />
sozialem Ausgleich gebracht, sodass<br />
ich derselben Auffassung bin, die sinngemäß<br />
– glaube ich – Churchill mal<br />
artikuliert hat: »Die Demokratie ist das<br />
zweitbeste System, das ich kenne.<br />
Das Beste habe ich nie kennengelernt.«<br />
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />
Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 21 |
Vorstellung der Teilnehmer<br />
an der Podiumsdiskussion<br />
Dr. Martin Doerry,<br />
stellv. Chefredakteur »DER SPIEGEL«<br />
Dr. Martin Doerry wurde am 21. Juni 1955 in<br />
Veerßen bei Uelzen geboren. Im Anschluss an das<br />
Abitur studierte er Germanistik und Geschichte in<br />
Tübingen. Nach einem Aufenthalt als Stipendiat<br />
an der Universität Zürich im Jahre 1978 und dem<br />
Ersten Staatsexamen erhielt er 1983 ein Promotionsstipendium<br />
der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />
1985 promovierte er in Geschichte.<br />
Von 1985 bis 1987 arbeitete Doerry als Reporter<br />
im SDR-Studio Karlsruhe und wechselte Ende 1987<br />
zum SPIEGEL-Verlag als Redakteur im Ressort<br />
Deutschland II, Bereich Bildungspolitik. Im Oktober<br />
1991 übernahm er zusammen mit Dr. Mathias<br />
Schreiber die Leitung des Ressorts Kultur II (Feuilleton).<br />
Seit November 1996 leitete er zusammen<br />
mit Dr. Gerhard Spörl das Ressort Deutsche Politik.<br />
Am 1. August 1998 wurde Martin Doerry zum<br />
stellvertretenden Chefredakteur der Zeitschrift<br />
DER SPIEGEL ernannt.<br />
Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident<br />
Geboren am 14. Januar 1955 in Dresden.<br />
Matthias Rößler ist promovierter Ingenieur und<br />
kam durch die Friedliche Revolution in die Politik.<br />
Als Mitglied der Partei »Demokratischer Aufbruch«<br />
wirkte er 1989/90 am Runden Tisch und im Koordinierungsausschuss<br />
zur Wiedererrichtung des<br />
Freistaates Sachsen mit. Er gehört seit 1990 für die<br />
CDU dem Sächsischen Landtag an und war von<br />
1994 bis 2002 Kultusminister und anschließend<br />
von 2002 bis 2004 Staatsminister für Wissenschaft<br />
und Kunst. Seit 2009 ist er Präsident des Sächsischen<br />
Landtags.<br />
Er ist Herausgeber des Sammelbandes »Einigkeit<br />
und Recht und Freiheit – Deutscher Patriotismus<br />
in Europa« und einer Reihe von Veröffentlichungen<br />
insbesondere zur Friedlichen Revolution<br />
und zur Bilanz der Deutschen Einheit.<br />
| 22 | Podiumsteilnehmer
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB<br />
Petra Köpping, MdL<br />
Wolfgang Donsbach ist Professor für Kommuni -<br />
kationswissenschaft an der TU Dresden, Gründungsdirektor<br />
sowie amtierender Direktor des<br />
dortigen Instituts.<br />
Geboren wurde er am 9. November 1949 in<br />
Bad Kreuznach. Nach dem Abitur 1968 in Bad<br />
Kreuznach folgte ein Studium an der Johannes-<br />
Gutenberg-Universität Mainz. Promotion (1981)<br />
und Habilitation (1989) erfolgten ebenso an der<br />
Universität Mainz.<br />
Nach Dresden führten ihn berufliche Stationen<br />
an den Universitäten Dortmund, Mainz und FU<br />
Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Journalismus,<br />
öffentliche Meinung, politische Kommunikation<br />
und Rezeptionsforschung. Er ist dauer -<br />
hafter Gastprofessor an der Universidad de<br />
Navarra in Pamplona, Spanien.<br />
Wolfgang Donsbach ist außerdem Kultursenator<br />
des Freistaats Sachsen. Er hat neun Monographien<br />
verfasst und fünf Buchpublikationen herausgegeben.<br />
Daneben zeichnet er als Autor von rund<br />
150 Beiträgen in Fachzeitschriften und Büchern.<br />
Geboren am 10. Januar 1947 in Hamburg. Von 1970<br />
bis 1974 Studium der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft<br />
in Kiel; Abschluss als Diplom-Volkswirt.<br />
Von 1974 bis 1982 war Peer <strong>Steinbrück</strong> in verschiedenen<br />
Funktionen für das Bundesbauministerium,<br />
Bundesministerium für Forschung und Technologie,<br />
Bundeskanzleramt und die Ständige<br />
Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in<br />
Ost-Berlin tätig.<br />
Für die SPD-Bundestagsfraktion war er von 1983<br />
bis 1985 tätig, ehe er 1985 in das Ministerium für<br />
Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft nach<br />
Nordrhein-Westfalen wechselte und dort schließlich<br />
von 1986 bis 1990 Leiter des Büros des Ministerpräsidenten<br />
Johannes Rau war.<br />
Zunächst als Staatssekretär und ab Mai 1993 als<br />
Minister war Peer Steinbück von 1990 bis 1998 in<br />
Schleswig-Holstein. Er kehrte zurück nach Nordrhein-Westfalen<br />
und wurde Minister für Wirtschaft<br />
und Mittelstand, Technologie und Verkehr und ab<br />
2000 Finanzminister. Das Amt des Ministerpräsidenten<br />
des Landes Nordrhein-Westfalen bekleitete<br />
er von 2002 bis 2005. Dem Landtag gehörte er von<br />
2000 bis 2005 an.<br />
Von 2005 bis 2009 war er stellvertretender<br />
Vorsitzender der SPD und Bundesminister der<br />
Finanzen. Er ist seit Oktober 2009 Mitglied des<br />
Deutschen Bundestages.<br />
Geboren am 12. Juni 1958 in Nordhausen. Nach<br />
ihrem Abitur 1977 in Grimma begann sie ein<br />
Studium der Staats- und Rechtswissenschaften,<br />
das sie 1985 mit dem Diplom abschloss.<br />
Von 1989 bis 1990 war Petra Köpping Bürgermeisterin<br />
der Gemeinde Großpösna. Darauf folgte<br />
eine vierjährige Tätigkeit als Außendienstmitarbeiterin<br />
der Deutschen Angestellten-Krankenkasse.<br />
Von 1994 bis 2001 bekleidete sie erneut das Amt<br />
der Bürgermeisterin der Gemeinde Großpösna<br />
und war danach von 2001 bis 2008 Landrätin des<br />
Landkreises Leipziger Land. Im Jahr 2009 war die<br />
Markkleebergerin bis zum 30. August 2009 als<br />
Kommunalberaterin der Sächsischen Aufbaubank<br />
in Dresden tätig.<br />
Zur Landtagswahl 2009 zog sie über die Landesliste<br />
für die SPD in den Sächsischen Landtag ein<br />
und gehört diesem in der 5. Legislaturperiode<br />
zum ersten Mal an. Seit 2006 ist sie Mitglied der<br />
SPD und derzeit stellvertretende Landesvorsitzende<br />
der SPD Sachsen.<br />
Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />
und Sprecherin für Wirtschaft, Kommunalpolitik<br />
sowie für Wohnungsbau und Stadtentwicklung<br />
der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag sowie<br />
Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und<br />
Verkehr und im Innenausschuss.<br />
Podiumsteilnehmer | 23 |
Podiumsdiskussion<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Vielen Dank. Ich glaube, bei einem kann<br />
ich Sie beruhigen. Wir haben einen guten<br />
Start gemacht. 99 % SPD-Mitglieder<br />
haben Sie in diesem Saal nicht. Das liegt<br />
auch ein bisschen an Sachsen. Also, Sie<br />
haben einen ersten Aufschlag gemacht,<br />
um sozusagen Politik zu verändern.<br />
Ein paar Worte noch zu Herrn <strong>Steinbrück</strong>.<br />
Die werde ich dann auch noch zu den<br />
anderen Diskutanten machen. Er hat ja<br />
angefangen in der Politik als Referent<br />
für verschiedene Bundesministerien, hat<br />
das Büro von Ministerpräsident Johannes<br />
Rau in Nordrhein-Westfalen geleitet,<br />
war dann in Schleswig-Holstein als<br />
Staatssekretär, als Minister und kam<br />
zurück nach Nordrhein-Westfalen und<br />
war dort zunächst Finanzminister und<br />
dann Ministerpräsident.<br />
Als er die Wahl verloren hatte, nämlich<br />
2005, ging er dann in den Bund als<br />
Bundesminister der Finanzen. Das ist<br />
ja auch gar nicht so ein untypischer<br />
Karriereweg, wenn man eine Wahl in<br />
einem Land verliert, dass man dann<br />
zum Bundesminister avanciert.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: War da eine<br />
gewisse Ironie zu spüren?<br />
Prof: Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Nein, gar nicht. Das ist eine gewisse<br />
Anerkennung. Sie sind stellvertretender<br />
Vorsitzender der SPD gewesen und sind<br />
seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages.<br />
Das Buch wurde erwähnt.<br />
»Unterm Strich« heißt es. Es ist sehr<br />
lesenswert – und wie ich im Vorwort<br />
gelesen habe, ist jedes Wort selbst<br />
geschrieben. Darauf legen Sie Wert.<br />
Darauf muss man ja heute Wert legen,<br />
wenn Politiker …<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich wusste nicht,<br />
wie aktuell das werden könnte.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Genau. Das war noch vor dem Herrn, bei<br />
dem das nicht so der Fall war.<br />
Ich darf Frau Petra Köpping nach vorn<br />
bitten. Sie ist ja auch schon angesprochen<br />
worden. Sie war 7 Jahre Bürgermeisterin<br />
in Großpösna – das liegt so südöstlich von<br />
Leipzig – und 7 Jahre Landrätin im Landkreis<br />
Leipziger Land und sitzt seit 2009<br />
für die SPD im Sächsischen Landtag.<br />
Sie ist Mitglied des Innenausschusses<br />
und des Ausschusses für Wirtschaft,<br />
Arbeit und Verkehr. Sie schreibt auf ihrer<br />
Homepage: »Ich stehe für soziale Ge -<br />
rechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen,<br />
für eine tatkräftige Unterstützung<br />
der Entwicklung der mittelständischen<br />
Wirtschaft, für die Stärkung der ländlichen<br />
Räume und dafür, dass der Lohn<br />
für den Lebensunterhalt ausreicht.«<br />
Das sind also relativ konkrete Aussagen,<br />
die nicht dem entsprechen, was Sie<br />
gesagt haben über die Grundlagen,<br />
die Basis usw., sondern die konkrete<br />
politische Ziele vorgeben.<br />
Unser Nächster in der Runde ist Dr.<br />
Martin Doerry. Er ist einer von zwei<br />
| 24 | Podiumsdiskussion
stellvertretenden Chefredakteuren<br />
des »SPIEGEL«. Dessen früherer Herausgeber<br />
Augstein hat ihn einmal »das<br />
Sturm geschütz der Demokratie«<br />
genannt. Dr. Doerry ist promovierter<br />
Historiker, war zunächst beim Süddeutschen<br />
Rundfunk und wechselte bereits<br />
1987 zum »SPIEGEL«. Er war zunächst<br />
für Bildungspolitik zuständig, dann<br />
Leiter des Feuilletons, Ressortleiter<br />
für deutsche Politik und ist bereits<br />
seit 14 Jahren stellvertretender Chef -<br />
redakteur.<br />
Einige von Ihnen werden ihn vielleicht<br />
auch kennen. Er hat ein Buch herausgegeben<br />
und das heißt »Mein verwundetes<br />
Herz. Das Leben der Lilli Jahn«. Das<br />
sind 250 Briefe aus dem Briefwechsel<br />
zwischen der jüdischen Großmutter Lilli<br />
Jahn und ihren Kindern. Diese Briefe<br />
stammen aus dem Nachlass von Gerhard<br />
Jahn. Gerhard Jahn ist der ehemalige<br />
Justizminister in der Regierung Brandt-<br />
Scheel und das ist sein Onkel, wenn ich<br />
das richtig gelesen habe. 2006 erschien<br />
ein weiteres Buch »Nirgendwo und überall<br />
zu Hause. Gespräche mit Überlebenden<br />
des Holocaust«.<br />
Der Hausherr, Dr. Matthias Rößler – es<br />
wurde schon erwähnt, dass er an einer<br />
Universität studiert hat, welche damals<br />
noch nicht, aber heute Exzellenzuniversität<br />
ist – wurde promoviert zum Dr. Ing.<br />
an der Hochschule für Verkehrswesen.<br />
Er war Mitglied des Demokratischen Aufbruchs<br />
und seit 1990 hat er ein Direktmandat<br />
im Landtag. So viel zu Mehrheiten,<br />
die Politiker haben können.<br />
Er war Kultusminister und danach<br />
Minister für Wissenschaft und Kunst<br />
und damit eine Zeit lang auch mein<br />
Vorgesetzter, mein Dienstherr als<br />
Universitätsprofessor. Seit 2004 ist<br />
er finanzpolitischer Sprecher der CDU<br />
und Mitglied der Grundsatzkommission<br />
der CDU Deutschland, Vertreter der<br />
deutschen Landtage in der Föderalismuskommission<br />
und seit 2009 ist er<br />
Präsident des Sächsischen Landtags,<br />
und das kann man ja eine Zeit lang<br />
sein, wie man an dem Vorgänger<br />
gesehen hat.<br />
Es haben alle ihr Fett wegbekommen!<br />
Den Vortrag von Herrn <strong>Steinbrück</strong> fand<br />
ich übrigens beeindruckend. Er hat nicht<br />
einmal auf sein Blatt schauen müssen.<br />
Ich mache das ständig. Das zeigt vielleicht<br />
schon gewisse Unterschiede. Sie<br />
haben gesagt, Sie haben alles vergessen.<br />
Ihre Reden gehören offensichtlich<br />
nicht dazu, sondern das, was Sie in<br />
bestimmten Sachbereichen der Politik<br />
vergessen wollen. Alle haben ihr Fett<br />
wegbekommen. Eine Kollegin von mir,<br />
eine amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin,<br />
hat einmal gesagt:<br />
Die drei Hauptelemente der Demokratie,<br />
die schaffen es jeweils, das Schlechteste<br />
herauszuholen.<br />
Die Bürger, die Parteien und die Medien<br />
treiben sich sozusagen zu negativen<br />
Höchstleistungen nach vorn. Ich möchte<br />
mal anfangen mit der Politik, Frau<br />
Podiumsdiskussion | 25 |
Köpping. Sie haben mir vorhin schon<br />
mehr so zugeraunt, dazu möchten Sie<br />
etwas sagen, und das betraf – glaube<br />
ich – das Innerparteiliche.<br />
Was Herr <strong>Steinbrück</strong> über die Vorgänge<br />
innerhalb der Parteien gesagt hat, über<br />
die Fehler, die Sie machen – ich denke,<br />
wir sollten vor allem über die Fehler, die<br />
alle drei Hauptbeteiligten machen,<br />
reden, um dann nach Lösungen zu<br />
suchen. Sie haben ja einige angedeutet.<br />
Stimmt das? Ist das das Bild, welches<br />
Sie auch haben, als jemand, der in der<br />
Landes politik aktiv ist?<br />
Petra Köpping, MdL: Das würde ich auf<br />
jeden Fall unterschreiben und bestätigen,<br />
zumal ich jemand bin, der nicht über die<br />
Parteischiene zu dieser Landtagsabge -<br />
ordnetentätigkeit gekommen ist, sondern<br />
eben ganz klassisch außerhalb der Partei.<br />
Ich war viele Jahre parteilos als Bürgermeisterin<br />
und Landrätin tätig. Ich war<br />
schon sehr verwundert. Ich stand in dem<br />
Parteikram und erlebte die Mechanismen.<br />
Ich wurde das erste Mal stellvertretende<br />
Landesvorsitzende und als diese Wahlveranstaltung<br />
war, da wurde ich vorher<br />
gefragt: Hast du denn mit allen mal<br />
gesprochen? Ich sagte: Nein. Ich stelle<br />
mich doch vor. Ich stelle mich doch da<br />
vorn hin und erzähle den Leuten, was<br />
ich gerne möchte – und dann können sie<br />
mich wählen oder eben nicht. Also diese<br />
Mechanismen, dass man in der Partei<br />
Karriere macht, über eine Partei Karriere<br />
macht, kannte ich nicht und das war<br />
eine neue Erfahrung, die ich auch nicht<br />
für sonderlich gut halte.<br />
Weshalb ich mich ein bisschen gemeldet<br />
habe, war diese Art der Kommunalpolitik,<br />
die Herr <strong>Steinbrück</strong> angesprochen<br />
hat. Ich glaube, da fehlt ein großer Fakt,<br />
warum das Interesse auf kommu naler<br />
Ebene nicht mehr vorhanden ist. Dass<br />
man sich in Gemeinderäten, in Stadt -<br />
räten, auch Kreistagen engagiert, das<br />
ist für mich eine ganz klassische Aus -<br />
sage, die Leute haben aber nichts<br />
mehr zu entscheiden. Die Städte und<br />
Gemeinden haben ihre Pflichtaufgaben,<br />
die sie entscheiden. Da muss ich die<br />
Hand heben. Wenn ich es nicht tue –<br />
hier sitzt ja auch ein Landrat –, da muss<br />
ich als Landrat in den Widerspruch<br />
gehen und die Freiwilligkeitsleistungen,<br />
– ich kenne das aus meinem alten<br />
Landkreis, dem Leipziger Landkreis –<br />
liegen bei 0,2 %. Das ist eine Entscheidungshoheit,<br />
wo einfach nichts mehr<br />
zu entscheiden ist. Wohin soll ich da<br />
setzen?<br />
All die Nachteile, die Sie gut beschrieben<br />
haben, Familie, berufliche Karriere,<br />
andere Dinge, wie soll ich diese denn<br />
eigentlich verteidigen, wenn ich sowieso<br />
nichts zu entscheiden habe und mir ein<br />
Stück vorkomme – bitte entschuldigen<br />
Sie das Wort – wie ein Stimmvieh?<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ist das denn dann auf den darüber liegenden<br />
Ebenen anders, Herr <strong>Steinbrück</strong>,<br />
also im Land, im Bund?<br />
| 26 | Podiumsdiskussion
Frau Köpping hat von der Fast-Unmöglichkeit<br />
gesprochen, politischen Nachwuchs<br />
überhaupt zu rekrutieren, weil<br />
viele sich das nicht mehr antun wollen.<br />
Hat man dort noch den Nachwuchs, der<br />
sozusagen mit den Hufen scharrt und<br />
in die Politik will, weil es dort ja noch<br />
etwas zu entscheiden gibt, anders, als<br />
Frau Köpping das für die Gemeinden<br />
beschreibt?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Das ist abhän gig<br />
von der Finanzausstattung. Ich gebe<br />
Frau Köpping recht. Die Finanzausstattung<br />
der Kommunen überall in Deutschland<br />
– Ost, West, Nord, Süd, große<br />
Länder, kleine Länder – ist so angespannt,<br />
dass es kaum noch Entscheidungs-<br />
und Gestaltungsmöglichkeiten<br />
gibt. Die Gestaltungsmöglichkeiten<br />
sind auf der Landtags- und Bundestagsebene<br />
sicher größer. Wahrscheinlich<br />
sind sie auf Bundesebene noch etwas<br />
größer, weil die Haushalte der Länder<br />
stärker verkarstet sind als der Bundesetat.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Kommen wir mal zu den anderen, den<br />
Bürgern und den Medien. Ich fange mal<br />
mit den Medien an. Diese haben ja das<br />
meiste Fett abbekommen. Es gibt ja ein<br />
eigenes Kapitel über die Medien in dem<br />
Buch. Man merkt auch in der Verve, mit<br />
der Herr <strong>Steinbrück</strong> über die Medien<br />
spricht, dass da wohl auch einiges hängengeblieben<br />
ist in der Auseinandersetzung<br />
in vielen, vielen Jahren.<br />
Ziehen Sie sich den Schuh an zu dem,<br />
was er gesagt hat, oder wo würden Sie<br />
Abstriche machen?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das waren ziemlich viele<br />
Schuhe. Ich weiß gar nicht, welchen<br />
ich nehmen soll.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Wir kommen ja auch bei diesem Thema<br />
noch auf die Details zu sprechen. Ich<br />
meine jetzt im Hinblick darauf, dass die<br />
Medien mit dazu beigetragen haben, wo<br />
wir heute stehen, zusammengefasst –<br />
ich sage mal – mit relativ hohem<br />
Desinteresse und Politikverdrossenheit.<br />
Haben die Medien dazu beigetragen?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das kann man gar nicht<br />
so einfach beantworten, denn ich komme<br />
mit einer ganz anderen Analyse als<br />
Herr <strong>Steinbrück</strong>. Ich sehe die Welt nicht<br />
so finster und auch unsere politische<br />
Verfassung nicht so düster. Ich fange<br />
mal bei den Medien an. Wir haben die<br />
beste und vielfältigste Medienlandschaft,<br />
die wir je in Deutschland hatten.<br />
Wir haben eine Vielfalt von Meinungen<br />
und auch von Meinungen, die unab -<br />
hängig sind von Verlegern und ihren<br />
Positionen, in deutschen Zeitungen,<br />
Magazinen und in den Medien, die so<br />
groß noch nie war.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Darf ich gleich mal dazwischen etwas<br />
dazu sagen: Er hat ja gesagt, früher<br />
waren es Verlagshäuser, und da meinte<br />
Podiumsdiskussion | 27 |
er wahrscheinlich: Dahinter standen<br />
auch die Verlegerpersönlichkeiten. Diese<br />
standen für eine redaktionelle Tendenz.<br />
Sie halten das für einen Fortschritt.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich halte das für einen<br />
großen Fortschritt, dass sich die Redaktionen<br />
heute weitgehend emanzipieren<br />
von Verlegern, die Kurse vorgeben. Es<br />
gibt Chefredakteure, die bestimmte<br />
Kampagnen fahren. Das will ich gar<br />
nicht bestreiten. Aber Chefredakteure<br />
wechseln viel häufiger als Verleger. Ich<br />
glaube, das hat auch mit zu einer Vielfalt<br />
unseres Pressewesens beigetragen.<br />
Die Zeitungen, insbesondere die Tagesund<br />
Regionalzeitung, die überregionalen<br />
und regionalen haben einen Qualitätsschub<br />
erlebt in den letzten Jahrzehnten,<br />
der gewaltig ist. Wenn Sie sich mal eine<br />
»FAZ« aus den Fünfzigerjahren anschauen,<br />
das war Verlautbarungsjournalismus<br />
und äußerst langweilig. Heute ist das<br />
eine lebendige, aggressive Zeitung,<br />
die ständig Meinungen und Analysen<br />
produziert, die es so früher nicht ge -<br />
geben hat. Dasselbe gilt für die Süddeutsche<br />
Zeitung und für viele andere<br />
Zeitungen. Das gilt auch für die Regionalzeitungen.<br />
Ich spreche jetzt nicht nur von den<br />
Zeitungen im Osten, die sich in den<br />
letzten zwanzig Jahren natürlich enorm<br />
verbessert haben. Das ist ein riesiger<br />
Qualitätssprung. Ich spreche auch von<br />
den Zeitungen im Westen. Also, ich bin<br />
gar nicht so pessimistisch. Ich glaube,<br />
die Zeitungen, die Medien – ich spreche<br />
jetzt vor allem von Printmedien – haben<br />
erheblich dazu beigetragen, dass wir<br />
eine lebendige Demokratie sind.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Darauf kommen wir auch noch mal<br />
zurück. Der Landtagspräsident als Vertreter<br />
des dritten Bereiches der Bürger,<br />
das passt ja sozusagen. Die Abgeordneten<br />
vertreten uns Bürger und Sie sitzen<br />
dem Landtag vor als Präsident. Beobach -<br />
ten Sie eine Veränderung im Interesse<br />
für Politik? Beobachten Sie, dass es<br />
weniger Interesse gibt, dass sich die<br />
Menschen über Politik weniger informieren?<br />
Wie ist Ihre Erfahrung? Auch das<br />
spielte hier eine Rolle in dem Vortrag.<br />
Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />
Es ist ja so gewesen, dass wir in der Zeit<br />
des großen Aufbruchs nach 1990 auf<br />
jeden Fall mehr Interesse an Politik<br />
hatten. Es gab mehr Leute, die sich auf<br />
kommunaler Ebene engagiert haben.<br />
Das Interesse an Landespolitik war<br />
eindeutig größer.<br />
Jetzt kann man sagen, es hat sich vielleicht<br />
nach der letzten Legislaturperiode<br />
etwas normalisiert und es ist schon so,<br />
dass das Interesse nach dieser Normalisierung<br />
nicht gestiegen ist. Ich denke,<br />
das liegt vor allem daran, dass es<br />
schwierig ist, den Unterhaltungswert –<br />
das hat Herr <strong>Steinbrück</strong> richtig gesagt –<br />
von Politik so zu gestalten, dass die Leute<br />
sagen: Das ist interessant, was die im<br />
Landtag machen. Das sind die Themen,<br />
| 28 | Podiumsdiskussion
die uns bewegen. Das sind Leute, die<br />
das auch sehr überzeugend darstellen<br />
können.<br />
Wir bemühen uns da auch sehr. Wir be -<br />
mühen uns sehr um die freie Rede in den<br />
aktuellen Debatten. Ich denke, da gibt<br />
es durchaus einen Fortschritt. Das ist<br />
für uns eben sehr wichtig. Wir brauchen<br />
einfach das unmittelbare Sich-Kümmern<br />
vor Ort. Da bin ich eigentlich beim Thema.<br />
Was muss ein Abgeordneter tun? Er muss<br />
sich klassisch kümmern um die Probleme<br />
der Leute vor Ort und natürlich damit<br />
auch um seine Wiederwahl. Ich bin im -<br />
mer – das ist ja sehr richtig gesagt worden<br />
– als direkt gewählter Abgeordneter<br />
in den Landtag eingezogen. Ich bin<br />
schon fünfmal nominiert worden. Was<br />
muss ich dafür tun? Ich muss mich zum<br />
Beispiel um jedes einzelne Parteimitglied<br />
in meinem Wahlkreis kümmern,<br />
damit möglichst viele merken, er engagiert<br />
sich. Die Leute kommen dann auch<br />
zu meiner Nominierungsveranstaltung.<br />
Damit ich aber auch mit Mehrheit im<br />
Wahlkreis gewählt werde, muss man<br />
überall sein, muss sich kümmern, muss<br />
sich vor allem mit den Leuten unterhalten<br />
und wenn es auf Volksfesten ist.<br />
Manche reden ja sogar von einer Kultur<br />
des Kümmerns, und diese brauchen<br />
wir. Ich denke, dann wird Landespolitik,<br />
Kommunalpolitik auch greifbar und<br />
die Leute sagen: Okay, die machen ihren<br />
Job gut.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Jetzt sehe ich aber einen Widerspruch<br />
zu dem, was Herr <strong>Steinbrück</strong> gesagt hat.<br />
Er hat ja von diesem Gegensatz gesprochen.<br />
Die Politiker kümmern sich vielmehr<br />
um ihre Ortsvereine und um ihre<br />
Mehrheiten in der Partei, in den Parteiversammlungen<br />
und kümmern sich nicht<br />
so sehr um das, was die Bevölkerung will.<br />
Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />
Ich habe immer direkt kandidiert und<br />
brauchte die Mehrheit erst bei der<br />
Nominierungsveranstaltung und dann<br />
die Mehrheit in meinem Wahlkreis,<br />
jedenfalls die letzten fünf Mal.<br />
Da muss man sich auch um jedes Ein -<br />
zelmitglied kümmern, das ist klar. Wir<br />
haben zum Beispiel das Basisprinzip,<br />
alle Parteimitglieder im Wahlkreis<br />
nominieren und dann müssen sie sich<br />
auch um diese kümmern.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Kommen wir noch einmal zurück in den<br />
politischen Bereich. Die Möglichkeiten,<br />
die Parteien, die Politiker haben, um<br />
sich anders darzustellen – was machen<br />
Sie konkret als eine Abgeordnete,<br />
die auch früher politische Ämter hatte,<br />
jetzt Abgeordnete ist, um Ihre Politik<br />
besser an Mann und Frau zu bringen?<br />
Werden Sie geschult, leben Sie von<br />
Vorschlägen, wie sie Herr <strong>Steinbrück</strong><br />
in seinem Buch entwickelt hat, um das<br />
voranzubringen?<br />
Podiumsdiskussion | 29 |
| 30 |
| 31 |
Petra Köpping, MdL: Also, erst einmal<br />
ist man ja selber politisch interessiert<br />
und sucht natürlich nach Themen, bei<br />
denen man sagt, da kann man sich weiterbilden<br />
und schulen. Vielleicht würde<br />
ich zwei Themen noch einmal aufgreifen.<br />
Das eine, was Herr Rößler sagt, ist das<br />
Sich-Kümmern des Abgeordneten vor Ort.<br />
Ich glaube nicht, dass das das einzig<br />
ausschlaggebende Kriterium ist. Da<br />
wären ja alle SPD-Abgeordneten, die<br />
nicht direkt gewählt werden, nicht vor<br />
Ort und würden sich nicht kümmern.<br />
Vielleicht anhand meines Beispiels: Ich<br />
habe die Landratswahl – in meinem<br />
Landkreis gab es eine Fusion – aber in<br />
meinem Landkreis, wo ich tätig war, mit<br />
75 % gewonnen. Ein Jahr später war die<br />
Landtagswahl. Dort bekam ich 23 %.<br />
Das war auch das zweitbeste Ergebnis<br />
der SPD. Da sieht man den Unterschied,<br />
dass es also nicht nur darum geht, dass<br />
man sich kümmert. Es gibt auch eine<br />
politische Kultur in Sachsen, die eben<br />
sehr CDU-geprägt ist. Die SPD hat einen<br />
schweren Nachholbedarf und das, was<br />
Herr Rößler in seinem Wahlkreis tut,<br />
muss ich fast sachsenweit machen.<br />
Damit ist natürlich der Wirkungsgrad<br />
auch wesentlich geringer.<br />
Als Landtagsabgeordneter wird man<br />
wesentlich besser geschult als als<br />
Bürgermeister oder Landrat. Das muss<br />
man auch klar sagen. Als Bürgermeister<br />
ist man Einzelkämpfer. Da steht man<br />
irgendwo und muss ein Problem lösen,<br />
egal, ob das der Rechtsextremismus<br />
oder eine Straße ist, die plötzlich<br />
lauter Umweltgegner hat oder eine<br />
Bürgerinitiative, die sich um ein einziges<br />
Themenfeld kümmert. Dort ist eine politische<br />
Bildung weitaus mehr vonnöten.<br />
Dort hat man mehr Unterstützungsmöglichkeiten<br />
als zum Beispiel als Landtagsabgeordneter.<br />
Das, was mir auffällt,<br />
ist Folgendes:<br />
Ich bekomme immer dann eine Presse<br />
in meinem Wahlkreis – das ist mein<br />
Hauptthema, dass ich öffentlich werben<br />
kann, weil ich eben nicht so präsent sein<br />
kann wie vielleicht andere –, wenn alle<br />
Themen, die im Land besprochen werden,<br />
auf die kommunale Ebene herunterzubrechen<br />
sind. Ich versuche eine<br />
Sprache zu finden, die die Bürger vor<br />
Ort verstehen. Wenn ich über den Fiskalpakt<br />
spreche, versteht den da unten<br />
kein Mensch. Ich kann den Bürgern nur<br />
sagen, was für ihn unmittelbar passiert,<br />
wenn wir in Dresden speziell etwas<br />
beschließen, um dann zu mobilisieren.<br />
Entweder ist es falsch oder auch<br />
richtig.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Herr <strong>Steinbrück</strong>, wie ist das auf der Bundesebene?<br />
Sie haben sehr viel über<br />
Sprache gesprochen und auch in dem<br />
Buch ge schrieben, die Sprache der Politiker.<br />
Wie bringt man die Politiker dazu,<br />
so zu sprechen, dass sie verstanden<br />
werden? Ist das Programm oder überlässt<br />
man das dem einzelnen Naturtalent,<br />
dass das so kommt?<br />
| 32 | Podiumsdiskussion
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sind offensichtlich<br />
ein Naturtalent. Das haben<br />
wir ja gemerkt. Aber das ist nicht jedem<br />
ge geben.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Das wäre etwas, wo man zunächst einmal<br />
ansetzen müsste, um Politik besser<br />
zu verkaufen – und das nicht nur gegenüber<br />
den Medien. Das können inzwischen<br />
viele, aber eben auch gegenüber der<br />
Bevölkerung.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Jeder muss<br />
selbst merken, wenn er nicht ankommt<br />
und durchdringt, wenn er feststellt,<br />
dass er mit all diesen geschwurbelten<br />
Fremdwörtern, mit vielen Anglizismen<br />
schlicht und einfach nicht mehr das<br />
Gehör der Menschen erreicht. Dann<br />
wird er oder sie sich selbstkritisch mit<br />
der Frage beschäftigen müssen: Wie<br />
breche ich das herunter auf Normal -<br />
sprache. Dazu sind manchmal auch<br />
Bilder ganz dienlich, selbst wenn sie<br />
überzeichnet sind.<br />
Nie hatte ich ein besseres Bild als<br />
das mit der Kavallerie gegenüber der<br />
Schweiz im Zuge der Auseinandersetzung<br />
um eine bessere Bekämpfung von<br />
Steuerbetrug. Dieses Bild hat gesessen.<br />
Das meine ich nicht kokett, sondern<br />
möchte darauf hinweisen, dass ein<br />
Sprachmodus mit Beispielen, Bildern,<br />
von mir aus gelegentlich auch in einem<br />
humorvollen Ton deutlicher machen<br />
kann, worum es geht.<br />
Aber das können Sie sich und anderen<br />
nicht verordnen, das können Sie auch<br />
nicht durch einen Parteitagsbeschluss<br />
herbeiführen, sondern es wird jeder<br />
individuell selber für sich lösen müssen.<br />
Erlauben Sie mir zwei oder drei Sätze<br />
zu dem, was Herr Doerry gesagt hat.<br />
Nicht nur aus Höflichkeit bestätige ich,<br />
dass ich mich darüber freue, dass es in<br />
Deutschland nach wie vor einen fantastischen<br />
Qualitätsjournalismus gibt. Von<br />
jeder Auslandsreise komme ich begeistert<br />
wieder zurück und sage: Mensch,<br />
wir haben es besser. Aber der Tendenz,<br />
die Sie so beschrieben haben, würde ich<br />
gern drei oder vier Entwicklungen entgegensetzen.<br />
Viele Redaktionen bauen ihre Redak -<br />
tionen ab, und zwar dramatisch. Viele<br />
gehen dazu über, 20- bis 25-jährige<br />
Praktikantinnen und Praktikanten zu<br />
beschäftigen, die zunächst gar kein Geld<br />
für ihre Arbeit bekommen.<br />
Ich kann Ihnen Beispiele aus der Berliner<br />
Käseglocke, insbesondere von privaten<br />
Sendern oder elektronischen Medien,<br />
auflisten, die kabarettreif sind. Viele<br />
Redaktionen sind inzwischen unter dem<br />
ökonomischen Druck, den ich vorhin<br />
beschrieben habe, dazu übergegangen,<br />
sich nicht mehr der Agenturen zu be -<br />
dienen. Dies führt dazu, dass viele Journalisten<br />
gar nicht mehr die Zeit haben<br />
zu recherchieren. Insbesondere stehen<br />
sie auch unter dem Druck einer wahnsinnigen<br />
Beschleunigung, die zulasten<br />
der Qualität der Recherche geht.<br />
Podiumsdiskussion | 33 |
Damit will ich nicht völlig quer zu dem<br />
liegen, was Herr Doerry sagte. Ich will<br />
nur darauf hinweisen, dass mein Bild<br />
von Medienunternehmen, die mehr<br />
denn je auf Betriebswirtschaft zu achten<br />
haben im Vergleich zu denjenigen, die<br />
sich als Verlagshäuser in den 60er-,<br />
70er- und 80er-Jahren definiert haben,<br />
in meinen Augen nicht ganz falsch ist.<br />
Unter dem Druck der Klicks, der Quote<br />
und der Auflage findet etwas im deutschen<br />
Journalismus statt, was ich nicht<br />
so positiv sehe wie vielleicht einige<br />
andere. Was meine kritische Haltung<br />
betrifft, ist diese bitte nicht misszuverstehen.<br />
Ich bin froh darüber, dass es<br />
einen solchen Journalismus gibt, der<br />
Politik hinterfragt. Gelegentlich beklage<br />
ich ein bisschen: Wenn Politiker an dem<br />
Journalismus Kritik üben, dann haben<br />
die sehr schnell ein Glaskinn. Wenn ich<br />
umgekehrt so ein Glaskinn – bezogen<br />
auf die journalistische Charakterisierung<br />
von mir – hätte, dann müsste ich morgens<br />
im Bett bleiben.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ich will nur auf diese Auseinandersetzung<br />
über die politischen Tendenzen<br />
kommen. Ich glaube, das ist etwas Zentrales,<br />
das etwas über das Verhältnis<br />
zwischen Medien und Politik aussagt.<br />
Da haben wir immer noch beide Positionen.<br />
Herr Doerry sagt: Das ist doch toll,<br />
dass wir heute keine vorgefertigten<br />
redaktionellen Tendenzen mehr haben<br />
und dass es dann vielleicht eine »FAZ«<br />
ist und eine »Welt«, die letztlich konservative<br />
Politiker zu Fall bringen. Das wäre<br />
früher nicht passiert, weil dann der Verleger<br />
sozusagen die Richtung vorgegeben<br />
hat. Nun, die »FAZ« hat keine Verleger<br />
– das ist ein schlechtes Beispiel –,<br />
aber sie hatte eine sehr viel ausgeprägtere<br />
Tendenz als heute.<br />
Sie bedauern das. Ist Ihnen eine<br />
Medien landschaft lieber, bei der Sie<br />
genau wissen, wo sie auch partei -<br />
politisch steht?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich weiß schon, was<br />
er meint. Natürlich ist es so, dass in<br />
vielen Redaktionen Personal abgebaut<br />
wird, dass in den elektronischen Medien<br />
nicht immer die Qualität gebracht<br />
wird, die man sich als journalistischer<br />
Kolle -ge wünscht; das ist ganz klar.<br />
Auch die Arbeitsverhältnisse sind bei<br />
vielen Redaktionen im Journalismus<br />
prekärer.<br />
Darin gebe ich Ihnen völlig recht, das ist<br />
beklagenswert. Ich glaube nur, wenn<br />
man da einen Strich darunter setzt, ar -<br />
beiten – so glaube ich – in der Bundeshauptstadt<br />
so viele Journalisten, wie sie<br />
noch nie in einer deutschen Hauptstadt<br />
gearbeitet haben. Die pure Kopfzahl ist<br />
immer noch gewaltig, zumindest noch<br />
viel größer als früher. Es gibt schon ein<br />
journalistisches Bemühen, das zu schildern<br />
und zu beschreiben, was da in Berlin<br />
passiert, und das gelingt mal besser<br />
und mal schlechter. Es gibt gute und<br />
schlechte Politiker und es gibt eine<br />
| 34 | Podiumsdiskussion
Menge schlechte Journalisten und gute,<br />
die gibt es auch. Also so ist die Welt.<br />
Ich glaube nicht, dass wir da sehr viel<br />
weiter kommen, wenn wir unsere Be -<br />
rufsgruppen so gegeneinander aufrechnen.<br />
Natürlich wird Politikern von Journalisten<br />
übel mitgespielt und Politiker<br />
spielen dem Publikum und ihren Wählern<br />
übel mit. Das ist eine Geschichte,<br />
die – so glaube ich – menschlich ist und<br />
über die wir nicht lange klagen sollten.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Da gibt es das schöne Bild in dem Buch<br />
von Braut und Bräutigam – das haben<br />
Sie, glaube ich, geschrieben, – also Me -<br />
dien und Politiker. Sie verhalten sich so<br />
wie Braut und Bräutigam, die versuchen<br />
immer das Niederträchtige herauszu -<br />
bekommen. Das Bild habe ich nicht<br />
verstanden. Ich dachte, Sie meinten<br />
vielleicht ein altes Ehepaar statt Braut<br />
und Bräutigam, denn am Anfang ist ja<br />
noch der Honeymoon, da geht ja alles<br />
wunderbar.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Braut und Bräutigam,<br />
ich weiß nicht, ob ich das erwähnt<br />
habe, aber ich wollte Herrn Doerry nicht<br />
unterbrechen.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ich habe ja Herrn Doerry unterbrochen.<br />
Die Frage ist ja, hat sich das Verhältnis<br />
zwischen Journalisten und den Medien<br />
verbessert, nämlich dadurch, dass die<br />
Medien in der Tat bei uns neutraler<br />
geworden sind.<br />
Wir versuchen das ja auch mit unseren<br />
Inhaltsanalysen. Wir finden, dass sie<br />
dieses klassische politisch-publizistische<br />
Spektrum nicht mehr haben, sondern<br />
die sind alle etwas in die Mitte gerückt,<br />
und ich beobachte es auch nicht wie Sie,<br />
was Sie jetzt geschildert haben, dass es<br />
mehr von Kommentaren und Meinungen<br />
gibt, sondern das ist eher weniger der<br />
Fall als früher.<br />
Gleichwohl, die Boulevardisierungstendenzen<br />
sind ja da und man kann jetzt<br />
wahrscheinlich nicht den »SPIEGEL« und<br />
die »FAZ« als Beispiel nehmen, sondern<br />
man muss sich mit dem auseinandersetzen,<br />
was die breite Bevölkerung nutzt –<br />
und da sieht es anders aus.<br />
Da komme ich noch einmal zurück auf<br />
die Frage der politischen Bildung. Das war<br />
ja auch mal, als Sie noch Kultusminister<br />
waren, Ihr Thema. Müssen wir da mehr<br />
tun? Müssen wir die Menschen mehr für<br />
die Politik interessieren? Läuft da vielleicht<br />
auch in den Schulen etwas schief?<br />
Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />
Vielleicht noch mal zu den Medien. Die<br />
Medien stehen ja auch unter einem ge -<br />
wissen Druck. Warum bauen die Medien<br />
Personal ab, warum kommt es zur Prekarisierung<br />
der Beschäftigungsverhältnisse?<br />
Denen gehen die Abonnenten<br />
aus. Hier in Sachsen haben nur noch ein<br />
Drittel der Haushalte eine Zeitung abonniert.<br />
Die meisten haben diese kosten -<br />
losen Wochenblätter. Das haben wir bei<br />
Untersuchungen festgestellt.<br />
Podiumsdiskussion | 35 |
Zu 96 % lesen die Leute sie auch wirklich<br />
durch. Sie sind auf die elektronischen<br />
Medien festgelegt. Das bedeutet eigentlich<br />
– eine Feststellung, die muss ich<br />
hier bringen – immer weniger Abonnenten<br />
für Zeitungen. Wenn sich Qualitätsjournalismus<br />
vom Konsumenten her<br />
immer weniger lohnt, dann stellen sie<br />
sich natürlich entsprechend darauf ein.<br />
Dann bricht ihnen noch das Anzeigengeschäft<br />
zusammen. Da gab es Zeitungen<br />
– das habe ich mir erzählen lassen –, bei<br />
denen die Anzeigen 2008 um 40 % bis<br />
50 % und mehr zu rückgegangen sind.<br />
Der »SPIEGEL« – das ist klar – der kann<br />
sich den Qualitätsjournalismus nach wie<br />
vor leisten, aber andere kämpfen hier<br />
um ihre Existenz. Ich will jetzt überhaupt<br />
keine sächsischen Zeitungen nennen,<br />
die das ganz konkret betrifft, aber das<br />
wissen wir ja alle.<br />
Woran liegt das, warum abonnieren junge<br />
Menschen keine Zeitungen mehr,<br />
warum ist jeder froh, auch jeder Verlag,<br />
wenn Studentenschnupper-Abos möglichst<br />
lange laufen? Die Studenten sind<br />
schon 32 und keine Studenten mehr,<br />
aber das Schnupper-Abo läuft immer<br />
noch. Ich will nur deutlich machen: Das<br />
Kon su mentenverhalten, zumindest im<br />
Medienbereich, verändert sich.<br />
Jetzt müssen wir überlegen, was wir<br />
da tun können. Da rufen alle nach poli -<br />
tischer Bildung. Die große Frage ist:<br />
Informieren sich politisch gebildete<br />
junge Menschen dann aus der Zeitung,<br />
nehmen diese dann ein Abo oder schauen<br />
sie in irgendwelche Internetangebote?<br />
Da bleibt irgendwann nur, dass<br />
na türlich dann die Information im Internet<br />
– »Washington Post« nimmt ja jetzt<br />
auch schon Geld – gebührenpflichtig<br />
wird. Das ist die logische Konsequenz.<br />
Ich könnte jetzt sagen, wir müssen<br />
mehr in der politischen Bildung machen,<br />
wir müssen noch mehr Schulklassen<br />
durch den Landtag schleusen. Wir müssen<br />
an die nachwachsende Generation<br />
heran.<br />
Übrigens, hier in Sachsen wird jede<br />
Wahl über 50 entschieden. Das muss<br />
man mal so deutlich sagen. Das Reden<br />
von den Jungen bringt uns Politiker nicht<br />
weiter. Wir müssen an alle Generationen<br />
heran und müssen denen natürlich ein<br />
Angebot unterbreiten.<br />
Politische Bildung läuft bei uns über die<br />
Landeszentrale für politische Bildung,<br />
über die Schulen. Sie bemühen sich ja<br />
auch, aber natürlich die Breite, die sie<br />
erreichen, ist nicht so, wie wir uns das<br />
vorstellen.<br />
Wir Politiker leben in einer Symbiose,<br />
in einer Lebensgemeinschaft zum<br />
gegenseitigen Vorteil, mit den Medien.<br />
Am Schluss wird es so sein: Der eine<br />
braucht den anderen. Das Verhältnis<br />
muss kritisch sein, aber es muss immer<br />
konstruktiv sein. Ich sehe das genauso<br />
wie Kollege <strong>Steinbrück</strong>. Am Schluss<br />
funktioniert unser Staatswesen als<br />
Parteiendemokratie. Was sind denn die<br />
Alternativmodelle zu unserem System?<br />
| 36 | Podiumsdiskussion
Da sehe ich zwei. Das sind die asiatischen<br />
Entwicklungsdiktaturen, die ich<br />
so schön mit der Dialektik von Basis und<br />
Überbau beschrieben habe. Die kennen<br />
wir hier schon, haben wir alles schon<br />
gehabt. Das kann für uns kein Modell<br />
sein. Das andere ist der islamistische<br />
Gottesstaat. Ein weiteres Staatsmodell<br />
sehe ich nicht.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Außerdem müsste man erst einmal das<br />
Grundgesetz ändern, denn dort steht ja<br />
drin, wie man in den Bundestag kommt.<br />
Das geht nur, indem man sich zunächst<br />
einmal als Partei aufstellt und dann wäh -<br />
len lässt. Das sorgt ja dafür, dass wir von<br />
der Parteiendemokratie noch einiges<br />
haben. Es will ja auch – glaube ich –<br />
niemand die Parteiendemokratie ab -<br />
schaffen. Die Frage ist nur: Welche<br />
Parteien kommen in das politische<br />
Geschäft hinein? Sie haben über die<br />
Piraten gesprochen, Liquid Democracy<br />
als eine Alternative.<br />
Wir müssen also mehr in diese Richtung<br />
gehen, müssen also die Bedürfnisse<br />
der nachwachsenden Generation stärker<br />
ansprechen. Die Parteien müssen das<br />
sozusagen mitmachen, sie müssen<br />
sich darauf einlassen, sie müssen<br />
stärker interaktiv werden. Ist das eine<br />
Lösung?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Eindeutig ja.<br />
Wenn die Piraten eine Funktion erfüllen,<br />
dann ist es jene, den etablierten Parteien<br />
kritisch vorzuhalten, dass sie sich<br />
verändern müssen. Das erstreckt sich<br />
auf eine größere Interaktivität. Das<br />
erstreckt sich darauf, im Internet in der<br />
Tat zu anderen Kommunikationsformen<br />
zu gelangen. Da geht es um den vorhin<br />
erwähnten Frontalunterricht. Zu einem<br />
Wandel gehört es, Angebote zu machen,<br />
aber die Menschen nicht gleich zu<br />
instrumentalisieren, zu verhaften.<br />
Das ist es, was die Piraten uns kritisch<br />
und sehr deutlich unter die Nase reiben,<br />
und darauf wird man eingehen müssen.<br />
Das Anliegen nach Partizipation, nach<br />
Teilhabe ist ja nicht falsch. Das will<br />
ich nicht diskreditiert sehen mit meiner<br />
kritischen Haltung zu Liquid Democracy,<br />
sondern die Parteien werden Angebote<br />
auf allen Ebenen machen müssen,<br />
stärker plebiszitäre Elemente einzu -<br />
führen.<br />
In vielen Landesverfassungen haben<br />
wir inzwischen starke plebiszitäre<br />
Elemente. Auf der Bundesebene ist es<br />
etwas schwieriger. Ich behaupte, es<br />
wird auf die Bundesebene irgendwann<br />
eine große plebiszitäre Herausforderung<br />
zukommen, nämlich die Frage über<br />
die weitere Integration Europas, die<br />
verbunden sein könnte mit einer Änderung<br />
des Grundge setzes. Das wird an -<br />
gesichts der Verfassungsgerichtsurteile<br />
und lesens werter Einlassungen des<br />
Bundesverfassungsgerichtspräsidenten<br />
Voß kuhle virulent. Zum ersten Mal könnte<br />
sich in Deutschland den Menschen<br />
die Frage stellen, wie die weitere Wegstrecke<br />
Europas aussehen soll.<br />
Podiumsdiskussion | 37 |
Ich glaube, plebiszitäre Elemente wird<br />
es vor allem auf kommunaler Ebene sehr<br />
viel stärker geben müssen, ohne damit<br />
den Entscheidungs prozess demokratisch<br />
mandatierter Volksvertreter aus -<br />
zuhebeln.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das geringe Interesse –<br />
wenn ich das noch mal hinzufügen<br />
darf – der Medien oder der Wähler –<br />
damit fange ich mal an – an diesen<br />
existenziellen Fragen, dafür sind<br />
Politiker und Medien verantwortlich,<br />
aber natürlich auch die Wähler selbst.<br />
Da bin ich auch bei Ihnen.<br />
Die Wähler bekunden wenig Interesse<br />
und denken, Politik würde ihnen gewissermaßen<br />
in den Schoß fallen. Aber<br />
nein, das ist mit Interesse und Arbeit<br />
verbunden. Darin sehe ich das große<br />
Problem unserer Zeit, dass wir es alle<br />
zu sammen – Politiker wie Medien – nicht<br />
schaffen, diese furchtbar komplexen<br />
Dinge, die heute Politik ausmachen, den<br />
Menschen zu vermitteln, die nachher<br />
zur Wahlurne gehen und sich politisch<br />
engagieren sollen. Das ist eine Überforderung<br />
der Politik und der Medien,<br />
die so groß ist, wie sie vielleicht in<br />
der Geschichte der letzten 100 Jahre<br />
noch nicht war.<br />
Es ist so kompliziert. Ich meine, wenn<br />
Sie da draußen auf die Straße gehen<br />
und die Leute fragen, was ist denn das<br />
mit diesem Rettungsschirm usw., dann<br />
die heben alle sofort die Hände und<br />
sagen: Das weiß ich nicht, um Himmels<br />
willen. Aber gut, dass Angela den Griechen<br />
nichts geben will. Also auf dem<br />
Niveau wird das doch diskutiert.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Die Frage ist doch: Machen es die Me -<br />
dien und auch die Politiker noch nicht<br />
gut genug? Aber man kann es machen,<br />
oder kann man es grundsätzlich nicht<br />
machen bei der Komplexität der Themen,<br />
mit denen sich Politik heute in unserer<br />
Gesellschaft beschäftigen muss?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sind doch der<br />
Kommunikationswissenschaftler!<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Da ist meine Antwort eher pessimistisch,<br />
Herr <strong>Steinbrück</strong>.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Wir versuchen es mal<br />
mehr, mal weniger erfolgreich, wenn<br />
wir Titelgeschichten machen über europäische<br />
Probleme, über den Euro, dann<br />
wis sen wir genau, die verkaufen sich<br />
nicht so gut wie andere, weil die Leute<br />
denken, ach nicht schon wieder, um<br />
Himmels Willen, dieses dröge Zeug. Da<br />
muss schon jemand wie Herr <strong>Steinbrück</strong><br />
kommen, der das Ganze sehr lebendig<br />
und eloquent vorträgt, dass die Leute<br />
überhaupt zu hö ren. Wenn es ein normal<br />
sterblicher Politiker macht, da hört<br />
kaum noch jemand zu.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Das war ein<br />
Kompliment, glaube ich.<br />
| 38 | Podiumsdiskussion
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Absolut. Die meisten besitzen einfach<br />
nicht dieses rhetorische Temperament<br />
und das ist etwas, das hilft.<br />
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />
Wobei es Züge von Vergöttlichung von<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong> (lautes Lachen), von<br />
Kaiserkult gibt.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Also, die Frage ist: Lassen sich denn<br />
die komplexen Phänomene – Sie haben<br />
den Rettungsschirm genannt, Sie könnten<br />
auch außenpolitische Phänomene<br />
nehmen – herunterbrechen auf einfache<br />
Sprachbilder, die eher, wie wir gemerkt<br />
haben, in der Lage sind, sie zu vermitteln?<br />
Aber selbst beim Rettungsschirm –<br />
glaube ich – hätten Sie Schwierigkeiten,<br />
in fünf Minuten das so darzulegen,<br />
was denn die Alternativen und was<br />
die damit verbundenen Konsequenzen<br />
sind, weil es einfach zu komplex ist<br />
und weil selbst die Experten sich nicht<br />
einig sind und sie sozusagen für jede<br />
Option mindestens 200 verschiedene<br />
Experten heranziehen könnten. Also<br />
liegt es doch mehr an der Natur der<br />
Dinge, mit denen sich Politik heute<br />
beschäftigen muss, dass das so schwer<br />
zu vermitteln ist?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Es ändert nichts<br />
daran, dass Politik sich der Aufgabe an -<br />
nehmen muss, Komplexität zu reduzieren.<br />
Das ist ihre originäre Aufgabe, und zwar<br />
in einer Sprache, die verständlich ist.<br />
Das ist die Verantwortung und Verpflichtung,<br />
die Politik erfüllen muss.<br />
Wenn uns noch etwas Zeit bleibt, dann<br />
erzähle ich Ihnen eine Anekdote, wie man<br />
am besten die Finanzkrise in Europa<br />
erklären kann.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Das sollten wir uns dann gönnen angesichts<br />
dessen, was ansteht. Das, was<br />
Sie gesagt haben, erinnert mich an – ich<br />
weiß nicht, war es gestern oder vorgestern<br />
– das »Heute-Journal«. Ich nenne<br />
jetzt einmal den Sender, der also die<br />
Sendung aufmachte.<br />
Es war gerade Halbzeit eines Fußballspiels,<br />
wo die Fußballeuropameisterschaft<br />
und die Rolle Griechenlands<br />
und die Tatsache, dass Griechenland<br />
gegen Deutschland spielt, in dem Ein -<br />
leitungssatz vermischt worden sind<br />
mit der Eurokrise und mit der Griechenlandkrise.<br />
Das heißt also, man hat das,<br />
was sie die Unterhaltungsdarstellung,<br />
die Entertainisierung der Politik nannten,<br />
überhaupt im öffentlich-rechtlichen<br />
Fern sehen mal gleich am Anfang be -<br />
trieben.<br />
Meine These ist nun – je nachdem, ob<br />
Sie das auch so sehen –, dass durch<br />
solche Darstellungen, die Art und Weise,<br />
wie Politik präsentiert wird, natürlich<br />
genau das geschieht. Sie wird banalisiert,<br />
und es ist dann sozusagen auf<br />
der gleichen Ebene, auf der gleichen<br />
Dringlichkeits- und Ernsthaftigkeits -<br />
ebene wie Fußball.<br />
Podiumsdiskussion | 39 |
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ja, schlimmer<br />
noch. Sie wird nicht nur banalisiert,<br />
sondern dieses Fußballspiel bekommt<br />
plötzlich einen Symbolwert, über den<br />
Vorteilstrukturen aufbrechen so nach<br />
dem Motto: Jetzt zeigen wir mal den<br />
Griechen, was eine Harke ist. Die hätten<br />
sowieso schon vorher ihre Inseln verkaufen<br />
müssen, die Akropolis hätten<br />
wir nicht genommen, weil sie kaputt ist,<br />
und jetzt machen wir sie auf dem Fußballplatz<br />
fertig. Bei den Griechen werden<br />
alte Ressentiments geweckt, nach<br />
dem Motto: Jetzt zeigen wir mal diesen<br />
arroganten Deutschen, diesen Schulmeistern<br />
Europas, was eine Harke ist.<br />
Das heißt, es wird etwas in dieses Spiel<br />
hineingemischt, das zu einem sehr<br />
giftigen Cocktail führen könnte.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Aber es ist jetzt hier<br />
die Frage, wie das medial dargestellt<br />
wird. Also wenn es nur so dargestellt<br />
wird, wie Sie es jetzt getan haben,<br />
dann kann man nichts dagegen haben.<br />
So ist es nämlich. So wird es auch<br />
von vielen Menschen empfunden.<br />
Wenn es jetzt geschürt wird, so eine<br />
Emotion, dann würde ich das natürlich<br />
auch kritisieren. Aber den Eindruck<br />
habe ich im »Heute-Journal« nicht<br />
gehabt.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Jetzt haben wir Vertreter des öffentlichrechtlichen<br />
Rundfunks hier, die das gut<br />
finden, was Sie sagen; unsere Studien<br />
zeigen aber doch auch wieder eine ge -<br />
wisse Konvergenz. Und das war ja hier<br />
auch nur ein Einzelbeispiel – und meine<br />
persönliche Wahrnehmung ist alles<br />
andere als eine wissenschaftliche<br />
systematische Betrachtung. Aber es<br />
gibt eben auch die, und die zeigt, dass<br />
Verflachung der Politik auch dort stattfindet,<br />
wo man sie eigentlich noch am<br />
ehesten vermeiden sollte und wo man<br />
eben nicht abhängig ist von der Kommerzialisierung,<br />
die Matthias Rößler<br />
angesprochen hat.<br />
Da würde ich gern noch einmal ein Wort<br />
aus Ihrem Munde hören, jetzt mal un -<br />
abhängig vom »SPIEGEL«. Das ist ja<br />
vielleicht in der Tat untypisch von der<br />
Marktposition her, wenngleich Sie auch<br />
wirtschaftlich zu kämpfen haben. Aber<br />
stimmt es, dass die Journalisten weniger<br />
Möglichkeiten haben, ihren Job zu<br />
machen, weil der wirtschaftliche Druck<br />
einfach stärker ist, dass man sie nicht<br />
das machen lässt, was sie eigentlich<br />
gern machen würden, es in der Qualität<br />
abzuliefern?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Also das stimmt sicherlich<br />
für große Teile des Journalismus, nur<br />
nicht für alle. Den sogenannten Qualitätsmedien<br />
geht es noch relativ gut,<br />
obwohl die auch schon sparen müssen<br />
und Personal eingespart haben. Ich nenne<br />
als Beispiel mal die »Süddeutsche Zeitung«.<br />
Aber ich finde, das Ergebnis, welches<br />
Sie jeden Morgen gedruckt sehen,<br />
kann sich immer noch sehen lassen.<br />
Es ist höchste Qualität. Auch dem<br />
| 40 | Podiumsdiskussion
»SPIEGEL« geht es noch relativ gut.<br />
Wir müssen nicht klagen, aber ich weiß,<br />
dass andere klagen müssen, und das<br />
heißt natürlich auch, dass die Redak -<br />
tionen kleiner werden.<br />
Andererseits werden neue Redaktionen<br />
aufgebaut, die nach anderen Spielregeln<br />
funktionieren, die wir nicht so schön<br />
finden. Das gebe ich zu. Die neuen<br />
Online-Redaktionen stehen unter<br />
einem erheblichen Druck; das haben<br />
Sie richtig beschrieben, das sehe ich<br />
genauso. Da geht es wirklich um Quote<br />
und da wird die Qualität dann schnell<br />
einmal fallen gelassen, aber das wird<br />
sich ändern.<br />
Wir erleben gerade die Geburtsstunde<br />
eines ganz neuen Mediums, das<br />
heißt, dieser Online-Journalismus<br />
wird der Zukunfts-Journalismus werden.<br />
Die Auflagen der Zeitung werden zu -<br />
rückgehen, sie werden weiter zurück -<br />
gehen. Wir und unsere Kinder und Enkel<br />
werden in Zukunft immer mehr online<br />
informiert werden. Das möchte ich<br />
noch hinzufügen: Dieses wird hoffentlich<br />
dazu führen – da bin ich ganz bei<br />
Matthias Rößler –, dass für die Infor -<br />
mationen im Internet irgendwann auch<br />
Geld bezahlt werden muss, denn nur<br />
dann können wir alle die Hoffnung<br />
haben, dass es auch guten Journalismus<br />
im Internet gibt.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Das war meine Frage. Machen Sie<br />
denn einen Unterschied oder haben<br />
Sie eine klare Definition, was Journalismus<br />
ist? Journalismus ist ja zunächst<br />
mal unabhängig von der Plattform,<br />
ob ich das gedruckt in einer Zeitung<br />
finde oder im Internet. Die Frage ist<br />
doch, welche Qualität das hat, was<br />
dort ist, und mit welcher Intention es<br />
dem Kunden, dem Leser, angeboten<br />
wird.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Die finanzielle Aus -<br />
stattung, die ein Journalist hat oder<br />
sein Verlag oder sein Medium, ist na -<br />
türlich ganz wesentlich entscheidend<br />
dafür, ob es sich am Ende um Qualitätsjournalismus<br />
handelt. Wenn ich keine<br />
Zeit und kein Geld habe, dann mache<br />
ich nicht unbedingt das, was ich als<br />
Journalist tun sollte. Wenn ich aber<br />
etwas mehr Zeit und Möglichkeiten<br />
habe zu recherchieren, wenn ich reisen<br />
kann, wenn ich nach Berlin, nach<br />
München oder Dresden fahren kann,<br />
dann kann ich mir natürlich ein viel<br />
besseres Bild von den Dingen machen,<br />
als wenn ich nur an meinem Schreibtisch<br />
vor meinem Computer sitze und<br />
Agenturen abpinsle. Das heißt, die<br />
finanzielle Ausstattung der Medien<br />
und insbe sondere der Online-Medien<br />
wird am Ende dafür verantwortlich<br />
sein, ob wir in Zukunft Qualitätsjour -<br />
nalismus haben oder nicht.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Also ein klares Bild. Ein Blogger ist<br />
dann für Sie kein Journalist, es sei<br />
denn, hinter ihm oder ihr steht sozu -<br />
Podiumsdiskussion | 41 |
sagen die Ressource, die man braucht,<br />
um eine Story ordentlich zu recher -<br />
chieren.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich will mich nicht<br />
von Bloggern distanzieren. Das ist eine<br />
neue Welt. Das ist aber eine andere<br />
Form der Meinungsvervielfältigung –<br />
kein Journalismus.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Kommen wir noch einmal auf die Politik<br />
zurück. Herr <strong>Steinbrück</strong> hat von der<br />
ereignisorientierten statt von der prozessorientierten<br />
Politik gesprochen.<br />
Politik ist ein Prozess, der nie zu Ende<br />
ist. Die Themen werden ja nie oder<br />
in den seltensten Fällen endgültig einer<br />
Lösung zugeführt. Vielleicht ist die<br />
Kernenergie bei uns so ein Thema.<br />
Sie ist jetzt endgültig einer Lösung<br />
zugeführt, weil wir ausgestiegen<br />
sind. Aber auch das kann sich wieder<br />
ändern. Das haben die Schweden<br />
vorgemacht.<br />
Haben Sie die Möglichkeit, politische<br />
Themen auf Dauer in die Öffentlichkeit<br />
zu vermitteln oder können Sie es nur<br />
dann, wenn irgendetwas passiert ist?<br />
Sie haben gewonnen oder verloren. Sie<br />
haben es erreicht oder nicht erreicht.<br />
Wie können Sie das an Medien und<br />
Ihren Wahlkreis vermitteln?<br />
Petra Köpping, MdL: Also oftmals ist es<br />
tatsächlich an ein bestimmtes Ereignis<br />
gekoppelt, wo man sagt, das ist gerade<br />
für die Medien interessant. Das nehmen<br />
sie gerne. Wir arbeiten natürlich auch<br />
im Landtag danach. Was interessiert die<br />
Medien im Moment, was kommt nach<br />
vorn, obwohl manchmal ganz andere<br />
Dinge, die diskutiert werden, für die<br />
Entwicklung bestimmter Regionen oder<br />
des Freistaates oder des Bundes oder<br />
auch Europas viel wichtiger sind?<br />
Das ist eine ganz klare Sache, aber<br />
ich würde gern noch einmal zurückkommen<br />
auf die politische Bildung. Was<br />
mir auffällt: Ich betreibe nach wie vor<br />
sehr viel Schulunterricht, und da ist<br />
es einfach so, dass Schulklassen –<br />
zehnte Klassen, manchmal auch Abiturienten<br />
– nicht mal vor Ort ihren Bürgermeister<br />
kennen. Das heißt also, die<br />
politische Kultur ist teilweise wirklich<br />
sehr weit unten. Das ist schulmäßig<br />
sehr unterschiedlich. Es gibt Schulen,<br />
die sind sehr aktiv und machen sehr<br />
viel. Da ist das einfach vorhanden.<br />
Wenn ich in der Kommune noch nicht<br />
einmal Bescheid weiß, was für ge -<br />
sell schaftliche Spielregeln, für demo -<br />
kratische Möglichkeiten für junge<br />
Menschen da sind, da bekomme ich<br />
die auch mit 50, weil das ja das wahl -<br />
entschei dende Alter vielleicht für<br />
uns ist, nicht mehr zu politischen<br />
Interessen ten vermittelt.<br />
Wir haben eine sehr günstige Situation<br />
in Sachsen, dass wir sieben Jahre Zeit<br />
haben für ein politisches Amt als Bürgermeister<br />
oder als Landrat. Im Landtag<br />
sind das fünf Jahre. Das ist eine relativ<br />
lange Zeit.<br />
| 42 | Podiumsdiskussion
Ich sage es immer so herum: Wenn wir<br />
einen schlechten Bürgermeister haben,<br />
da hat man Pech gehabt, da kann man<br />
viel verpassen, aber wenn man einen<br />
guten Bürgermeister hat, da kann man<br />
richtig etwas entwickeln, Strategien entwickeln,<br />
umsetzen – und nicht nur auf<br />
dem Papier, sondern man kann sie dann<br />
am Ende auch umsetzen. Das ist eine<br />
tolle Ge schichte. Das ist so ein Thema,<br />
das mir hier so bei allen schwarz gekleideten<br />
Herren auffiel.<br />
Politik macht Spaß. Das ist einfach ein<br />
Thema, wo ich unheimlich viele Menschen,<br />
wenn ich es gut aufziehe, begeistern<br />
kann. Ich habe immer gesagt: Wenn<br />
ich eine Entscheidung nicht durchbekommen<br />
habe, dann war ich schlecht<br />
und nicht der, der da vorn gesessen hat<br />
und mit entscheiden musste.<br />
Das ist eine Geschichte, welche man<br />
sehr positiv vermitteln kann. Wenn<br />
jetzt wieder vielleicht auch bei Bürgermeistern<br />
und Landräten die politische<br />
Bildung ein Stück weiter angesetzt<br />
werden könnte, können die unheimlich<br />
viel vermitteln, was eben jemand, der<br />
im Bundestag oder Landtag sitzt,<br />
manchmal nicht mehr kann.<br />
Ich habe es ja eingangs gesagt: Ich<br />
versuche immer, Landtagsthemen auf<br />
die Kommune, auf die Region herunterzubrechen,<br />
um immer klar zu sagen:<br />
Dort ist das entschieden worden und<br />
hier passiert die und das damit.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Was macht man so als Landtagspräsident,<br />
um zu zeigen, dass Politik Spaß<br />
machen kann?<br />
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />
Man macht zum Beispiel solche Veranstaltungen<br />
wie hier.<br />
Ich denke, man muss jede Gelegenheit<br />
nutzen. Das ist nur ein Beispiel: Der<br />
»Tag der Sachsen«. Da haben wir dann<br />
wenigstens 400.000 Besucher, wo wir<br />
beispielsweise auch Politik in einer<br />
lockeren Form erlebbar machen können,<br />
und da sage ich dann immer: Die Parteien,<br />
die Fraktionen im Landtag müssen<br />
sich dort präsentieren. Ich würde auch<br />
gern noch etwas zur direkten Demo -<br />
kratie sagen. Darüber sollte man nachdenken.<br />
Wir haben hier in Dresden viel Erfahrung<br />
mit direkter Demokratie. Heinrich Heine<br />
hat mal in seinem Wintermärchen ge sagt:<br />
Wenn das Volk »der große Lümmel«<br />
spricht, kann man nie vorher sicher sein,<br />
was für ein Ergebnis kommt.<br />
Da gab es die Diskussion um eine Brücke<br />
in Dresden. Ich war damals Staatsminister<br />
für Wissenschaft und Kunst.<br />
Dann hat man wirklich das Volk befragt<br />
und jetzt kommt es. Die wollten ihre<br />
Brücke. Die wollten nicht mehr im Stau<br />
stehen. Gerade die meinungsbildenden<br />
Eliten oben im Goldstaubviertel hatten<br />
das ganz anders erwartet. Auf einmal<br />
war der Weltkultur erbe-Titel weg.<br />
Podiumsdiskussion | 43 |
Vielleicht haben die das gar nicht überblickt.<br />
Vielleicht hätte man die gar nicht<br />
befragen dürfen. Vielleicht mangelte es<br />
an politischer Bildung. Ich sage nur eines:<br />
Wer das Volk befragt, der muss dann<br />
auch das Votum des Volkes akzeptieren,<br />
auch wenn es einem nicht passt. Das ist<br />
die Kehrseite von direkter Demokratie.<br />
Das ist – so denke ich – ein Problem,<br />
welches gerade für die sogenannten<br />
Eliten steht. Sie müssen das Ergebnis<br />
von direkter Demokratie auch akzeptieren<br />
können. Das fällt ihnen – das haben<br />
wir damals in Dresden gesehen – ziemlich<br />
schwer.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Das haben sie im Endeffekt deshalb<br />
ge macht, weil die von ihnen so gescholtene<br />
Demoskopie – das haben wir<br />
gemacht – regelmäßig Zahlen geliefert<br />
hat, dass die Dresdner trotz allem immer<br />
noch zu zwei Drittel hinter der Brücke<br />
stehen. Dann war irgendwann – glaube<br />
ich – bei den Gegnern ein wenig der<br />
Ofen aus.<br />
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />
Das habe ich jetzt einfach nur festgestellt.<br />
Das ist die direkte Demokratie.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Nur vier kon -<br />
krete Beispiele: Stuttgart 21. Dann<br />
haben wir gerade in München die<br />
Debatte um die dritte Startbahn beim<br />
Flughafen, in Hamburg geht es um<br />
eine Bildungs reform, bei der viele von<br />
einem anderen Ergebnis ausgegangen<br />
sind. Und bei Ihnen in Dresden geht<br />
es um die Waldschlößchen-Brücke.<br />
Ich habe das überregional alles mit -<br />
bekommen.<br />
Ich finde, dass sich Herr Kretschmann<br />
in Baden-Württemberg diesbezüglich<br />
vorbildlich verhalten hat. Er hat gesagt:<br />
Ich bin Demokrat, ich muss anerkennen,<br />
was nach einer gemeinsamen Initiative<br />
als Ergebnis zustande gekommen ist.<br />
Damit hat er dieser plebiszitären Befragung<br />
– wie ich glaube – durchaus den<br />
richtigen demokratischen Rückenwind<br />
gegeben.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das zeigt, dass es<br />
durchaus ein politisches Interesse<br />
gibt. Unser Lamento – sage ich jetzt mal<br />
etwas abwertend –, dass die Menschen<br />
sich nicht mehr für Politik interessieren,<br />
stimmt dann nicht mehr, wenn es<br />
bestimmte Themen gibt, die die Leute<br />
aufregen. Ich bin zwar häufig mit diesen<br />
Bewegungen nicht einverstanden, also<br />
mit den Zielen, die diese Bewegungen<br />
verfolgen, aber ich habe großen Respekt<br />
dafür, dass sich Menschen dann so<br />
engagieren, jeden Montag zu irgendeiner<br />
Demonstration marschieren und einfach<br />
Politik von unten machen. Parteien<br />
tun sich damit ein bisschen schwer.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ist es Politik, wenn man sich für<br />
einen »single issue«, sagen wir mal,<br />
interessiert?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Warum nicht? Warum<br />
muss Politik immer das Ganze machen?<br />
| 44 | Podiumsdiskussion
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Darf ich ein<br />
anderes Beispiel geben? Wir haben es<br />
nach demoskopischen Befragungen<br />
mit einer breiten Ablehnung der Kernenergie<br />
in Deutschland zu tun. Trotzdem<br />
organisieren wir gerade den Ausstieg<br />
aus dem Ausstieg des Ausstiegs. Das<br />
heißt, wir werden regenerative Energiequellen<br />
in Zukunft stärker nutzen müssen,<br />
und jetzt ist die Frage: Ist denn<br />
das breite Publikum auch bereit, die<br />
dafür notwendige Infrastruktur in Form<br />
von Leitungsnetzen zu akzeptieren<br />
oder gerät das in einen massiven Widerspruch<br />
zu ihrer ablehnenden Haltung<br />
gegenüber der Kernenergie?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: So ist der Mensch.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ja, das mag<br />
sein. Nur, bei der Beantwortung der<br />
konkreten Frage kommen wir natürlich<br />
irgendwann an die weitere Handlungsund<br />
Zukunftsfähigkeit eines Industriestandortes<br />
Bundesrepublik Deutschland,<br />
der weiter in der Champions<br />
League spielen will.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich weiß, das ist ein<br />
Problem, aber so ist der Mensch.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Aha. Sie können<br />
das Problem beschreiben, ich muss es<br />
gegebenenfalls mit anderen lösen.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Bei uns gibt es natürlich<br />
immer wieder Anlass für viele Ge schich -<br />
ten, die tatsächlich diesen Widerspruch<br />
ausarbeiten. Und ich glaube, das ist tatsächlich<br />
unsere Aufgabe. Wir müssen<br />
diese Widersprüche aufzeigen und damit<br />
auch unseren Lesern oder Fernsehzuschauern<br />
oder Radiohörern oder Internet-<br />
Usern deutlich machen: Ihr müsst noch<br />
einmal darüber nach denken, so geht es<br />
nicht weiter mit dieser Kirchturmpolitik.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Gelegentlich<br />
habe ich auch im öffentlich-rechtlichen<br />
Fernsehen merkwürdige Berichterstattungen<br />
über Demonstrationen erlebt.<br />
Manchmal gab es maximal 200 Demonstrantinnen<br />
und Demonstranten vor dem<br />
Kanzleramt und es wurde trotzdem der<br />
Eindruck erweckt, als würde eine überwiegende<br />
Mehrheit gegen das ein oder<br />
andere demonstrieren. Es wurde also<br />
über mediale Aufmerksamkeit ein Eindruck<br />
vermittelt, der mit den wahren<br />
Mehrheitsverhältnissen in einer breiten<br />
Bevölkerung rein gar nichts zu tun hat.<br />
Oft handelt es sich um reine Single-<br />
Issue-Bewegungen, die sich auf ein<br />
Thema konzentrieren, und wenn die<br />
eine Vetoposition erreichen können,<br />
dann stellt sich allerdings die Frage:<br />
Was hat das mit Demokratie zu tun?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das hat eine ganze<br />
Menge mit Demokratie zu tun, aber<br />
auch mit den Problemen der Demokratie.<br />
Ich finde es jedenfalls wunderbar,<br />
dass es diese Initiativen gibt. Es wäre<br />
Podiumsdiskussion | 45 |
ganz schrecklich, wenn die Leute alles<br />
hinnehmen und gegen nichts protestieren<br />
würden, was ihnen missfällt. Es<br />
ist sicherlich sehr schlicht und sehr<br />
einfach, aber es ist immer noch besser<br />
als einfach nur Desinteresse.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ich glaube, es ging ja auch nicht darum,<br />
ob es diese Initiative nicht geben sollte.<br />
Das ist ja ein lebendiger Teil der Demokratie<br />
oder – besser gesagt – ein Teil<br />
der lebendigen Demokratie. Die Frage<br />
ist nur, ob es hinreichend ist, wenn<br />
sich Menschen eben für solche einzelnen<br />
Themen einsetzen, die vielleicht<br />
noch vor ihrer Haustür passieren, ob -<br />
wohl es ja auch diesen Tourismus<br />
der jenigen gibt, die dann vor den<br />
Zäunen stehen, aber sonst eben nicht<br />
kontinuierlich am politischen Prozess<br />
teilnehmen.<br />
Wir haben eine große Studie gemacht.<br />
Da haben wir über einen Monat lang<br />
immer danach gefragt, ob man die beiden<br />
wichtigsten Themen des Vortages<br />
mitbekommen hat.<br />
Welche sind das, hat übrigens eine<br />
Gruppe von Chefredakteuren und Wissenschaftlern<br />
entschieden. Da kommen<br />
sie im Durchschnitt der Bevölkerung auf<br />
18 %, die sich über diese beiden Themen<br />
informiert haben. Mitbekommen haben<br />
es so um die 50 %. Das sind Themen,<br />
die mit der Griechenlandkrise zu tun<br />
haben, der Rücktritt des Bundespräsidenten<br />
usw.<br />
Das, was an Plafonds da ist, an dauerhafter<br />
und kontinuierlicher Informiertheit<br />
und Information über den politischen<br />
Prozess, ist wahrscheinlich<br />
sehr viel weniger, als wir uns immer<br />
vorgestellt haben, und es wird auch<br />
weniger, denn es gibt da eine deutliche<br />
Alterskurve.<br />
Da sind wir wieder bei der politischen<br />
Bildung, von der ich nach wie vor der<br />
Ansicht bin, Matthias Rößler, dass das<br />
stärker als nur über eine Landeszentrale<br />
für politische Bildung geht, die sicherlich<br />
eine hervorragende Arbeit macht<br />
und einen tollen Direktor hat, aber eben<br />
gar nicht so ausgestattet ist, um in der<br />
Breite sozusagen von unten heraus ein<br />
Interesse für den politischen Prozess zu<br />
wecken und auch das Spannende am<br />
Prozess – wie Sie, Frau Köpping, es<br />
beschrieben haben – deutlich zu<br />
machen. Müssen wir da nicht mehr<br />
investieren?<br />
Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />
Klar müssen wir mehr investieren, vor<br />
allem müssen das die Schulen voran -<br />
treiben. Es gibt ja auch eine gewisse<br />
Distanz bei vielen Lehrern gegenüber<br />
politischer Bildung. Ich habe früher<br />
immer gedacht, es wäre ein Ostphänomen,<br />
aber jetzt, nach 20 Jahren, kann<br />
das ja nicht mehr ganz so sein. Ich<br />
bekomme natürlich mit, dass das in<br />
Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg<br />
nicht viel anders ist. Dort weiß<br />
man ähnlich wenig über Kommunalpoli-<br />
| 46 | Podiumsdiskussion
tik, ähnlich wenig über Landespolitik.<br />
Ich denke, es liegt auch daran, wie wir<br />
das verpacken.<br />
Wir haben Gemeinschaftskundeunterricht<br />
und vieles andere mehr. Vielleicht<br />
muss man es noch spannender gestalten,<br />
vielleicht liegt es an den Lehrplänen<br />
oder auch daran, dass viele Lehrerinnen<br />
und Lehrer gerade sagen – wir haben es<br />
ja vorhin diskutiert –: »Lasst mich mit<br />
diesen Sachen in Ruhe!« Dass es auch<br />
dort eine gewisse Distanz wie beim<br />
Großteil der Bevölkerung gibt. Da müssen<br />
wir dicke Bretter bohren. Dafür habe<br />
ich jetzt kein Patentrezept. Ich glaube<br />
nicht, dass es bloß am Geld liegt. Da<br />
wird viel eingesetzt, wir setzen ja<br />
unglaublich viel Geld in unser Bildungssystem,<br />
überall in Deutschland.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Gemessen am<br />
Durchschnitt der OECD-Länder gibt<br />
Deutschland 1 % seines Bruttoinlandsproduktes<br />
zu wenig für Bildung aus. 1 %<br />
sind 25 Milliarden. Gemessen am skandi -<br />
navischen Bildungssystem geben wir 2 %<br />
zu wenig aus, und ich meine es von der<br />
Kinderbetreuung über die schulische Bildung,<br />
berufliche Bildung, akademische bis<br />
hin zur Qualifizierung für Erwachsene. Wir<br />
sind unterfinanziert im Bereich Bildung.<br />
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />
Aber wenn wir das eine Prozent mehr<br />
einsetzen, können wir nicht die 25 Milliarden<br />
komplett für politische Bildung<br />
ausgeben. Darüber sind wir uns einig.<br />
Wir müssen das, so denke ich, auf<br />
andere Weise transportieren.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich würde die<br />
sonst für Parteiagitationen ausgeben!<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Ich würde gern mal beim Bürger bleiben.<br />
Das ist jetzt meine subjektive Meinung,<br />
die ich hier eigentlich als Moderator gar<br />
nicht haben sollte, aber ich glaube, dass<br />
da der Kern des Problems liegt: dass es<br />
da ein Nachfrageproblem viel mehr gibt<br />
als ein Angebotsproblem. Sie haben in<br />
Ihrem Buch geschrieben: Es gibt heute<br />
weniger Idealismus als früher. Das ist<br />
natürlich auf die Gesellschaft und nicht<br />
auf die Politiker bezogen.<br />
Beobachten Sie so etwas wie einen<br />
Wertewandel? Ein Mainzer Kollege hat<br />
mal von der Privatisierung der Demo -<br />
kratie ge sprochen. Die Menschen<br />
ziehen sich mehr zurück in ihren eigenen<br />
Lebensraum. Es ist ihnen wichtig,<br />
dass es ihnen selbst ganz toll geht,<br />
aber das, was im anonymen, im öffentlichen<br />
Bereich spielt, ist weniger wichtig.<br />
Beobachten Sie so etwas?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich sehe einen<br />
Rückzug ins Private, ich sehe auch einen<br />
Rückzug in Parallelgesellschaften, die<br />
sich längst abgekoppelt haben vom<br />
öffentlichen Raum. Ich sehe aber gleichzeitig<br />
ganz merkwürdigerweise eine<br />
Sehnsucht nach Werten.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Irgendwelche oder bestimmte Werte?<br />
Podiumsdiskussion | 47 |
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Schon sehr<br />
bestimmte. Es geht um die Einhaltung<br />
von Fairness, von Spielregeln. Man kann<br />
durchaus von einem moralischen Verhalten<br />
sprechen, von der Wahrnehmung<br />
einer Vorbildfunktion von Eliten. Es geht<br />
in der Tat um eine stärkere Gemeinwohlorientierung<br />
derjenigen, die die Eliten<br />
in Deutschland darstellen.<br />
Das Gebot zur Einhaltung von Fairness<br />
spielt – wie ich glaube – zunehmend<br />
eine Rolle, auch für Menschen, die sagen:<br />
Ich bin bereit, Belastungen auf mich zu<br />
nehmen, meinen Beitrag zu leisten dafür,<br />
dass wir uns anstrengen müssen, aber<br />
ich möchte, dass die damit verbundenen<br />
Lasten fair verteilt werden und ich nicht<br />
der Dumme bin. Das spielt eine enorme<br />
Rolle in der Beurteilung von Politik.<br />
Ich habe noch einen weiteren Aspekt,<br />
bezogen auf Demokratie, wenn ich den<br />
kurz darstellen darf. Unter dem Druck der<br />
Demografie stellen wir fest, dass meine<br />
Alterskohorte der über 60-Jährigen deutlich<br />
zunimmt, während die Alterskohorte<br />
der unter 30-Jährigen, meiner Kinder und<br />
eines Tages hoffentlich meiner Enkelkinder,<br />
deutlich abnimmt. Dies bedeutet,<br />
dass ich mit einer Mehrheit meine Ge gen -<br />
wartsinteressen durchsetzen kann und<br />
dass diejenigen, die Zukunftsinteressen<br />
vertreten, immer größere Schwierigkeiten<br />
haben, sich durchzusetzen.<br />
Das wird zu einem Demokratieproblem,<br />
das man übrigens bei Abstimmungen<br />
über bestimmte Infrastrukturvorhaben<br />
schon bemerken kann. Das Politikfeld,<br />
bei dem das Problem besonders gut zu<br />
beobachten ist, ist die Debatte um die<br />
Zukunft der Altersversorgung in der<br />
Bundesrepublik Deutschland. Da werden<br />
sie diese Auseinandersetzung in<br />
den nächsten Jahren bemerken, bei<br />
der meine Generation mit Mehrheiten<br />
Einfluss nimmt auf die Organisation<br />
der Altersversorgung, die eines Tages<br />
zu mehr Belastungen meiner Kinder<br />
und Enkelkinder führt, wenn die in<br />
ein Pensionsalter kommen.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Wir haben hier drei Mikrofone im Saal<br />
und ich würde gern jetzt zum Ende auch<br />
Ihnen die Möglichkeit geben, dass Sie<br />
sich mit Fragen oder Kommentaren zu<br />
Wort melden. Die Mikrofone sind auch<br />
schon freigeschaltet. Da gibt es rote<br />
Lichtlein. Wenn es Sie danach gelüstet,<br />
es sollte ja Spaß machen, dann bitte<br />
melden Sie sich.<br />
Wir kommen noch einmal zurück auf die<br />
Frage der drei Gruppen, die sozusagen<br />
das Schlechte aus sich herausholen. Wir<br />
haben jetzt sehr viel über die Medien<br />
und die Bürger gesprochen. Wir haben<br />
eigentlich am wenigsten über die Parteien<br />
gesprochen, obwohl das eigentlich<br />
Ihr Thema war.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Da habe ich ja<br />
systematisch ablenken können.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Sie haben das eigentlich alles schon ab -<br />
gehandelt. In Ihrem Vortrag haben Sie<br />
| 48 | Podiumsdiskussion
es schon getan. Herr <strong>Steinbrück</strong>, ist es<br />
so, dass heutzutage andere Typen von<br />
Politikern in die Politik – andere Typen<br />
von Menschen sollte ich sagen, andere<br />
Persönlichkeiten – drängen? Mir hatte<br />
ein Kollege mal gesagt – das hat er, so<br />
glaube ich, auch veröffentlicht –, dass es<br />
heute ein narzisstischerer Typ sei, weil<br />
eben diese Mediengesellschaft, diese<br />
ständige Aufmerksamkeit von Kameras<br />
und Mikro fonen, eine gewisse Selbstverliebtheit<br />
braucht. Ist das eine Typveränderung?<br />
Hätte – mal anders gesagt – ein<br />
Adenauer heute noch eine Chance?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Eindeutig ja.<br />
Heute hätte, wie ich glaube, eine ganze<br />
Nachkriegsgeneration von Politikern<br />
eine glänzende Chance. Das liegt aber<br />
daran, dass sie oftmals gebrochene und<br />
damit interessante Biografien hatten.<br />
Entweder, weil sie Mitläufer gewesen<br />
sind und mitbekommen haben, was sie<br />
da getan haben, oder weil sie im Exil<br />
oder im Widerstand gewesen sind und<br />
teilweise in Gefängnissen saßen.<br />
Das heißt, diese Nachkriegsgeneration,<br />
die übrigens mit dem wahnsinnigen<br />
Impetus angetreten ist, dieses Deutschland<br />
wieder aufzubauen, hat eine Vielfalt<br />
von Persönlichkeiten in allen Parteien<br />
hervorgebracht, die heute vermisst<br />
wird. Demgegenüber wird die heutige<br />
Politikergeneration als sehr angepasst,<br />
eher fade, wahrgenommen.<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Das ist unfair, weil sie<br />
diese Biografien gar nicht haben können.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sagen es.<br />
Und trotzdem ist diese Nachkriegsgeneration<br />
von Politikern zeitgeschichtlich<br />
einfach vielfältiger geprägt gewesen.<br />
Einen gewissen Narzissmus – um darauf<br />
zurückzukommen –, ein etwas hypertrophes<br />
Selbstbewusstsein müssen die<br />
schon mitbringen, sonst gehen sie unter.<br />
Am gefährlichsten ist die Vorstellung,<br />
ich werde Berufspolitiker, und zwar bei<br />
jungen Leuten, die schon mit 20 in die<br />
Junge Union, bei den Jusos, bei den<br />
Jungen Liberalen oder bei der Grünen<br />
Jugend aktiv sind und die Vorstellung<br />
haben, diese Politik sei ihr Leben. Deshalb<br />
haben sie die Vorstellung, sich in<br />
ihren Jugendorganisationen durchsetzen<br />
zu müssen. Da passen sie sich immer<br />
etwas an, sodass ihre Karriere nicht<br />
unterbrochen wird. Und sie sind immer<br />
beim Mainstream, obwohl der Mainstream<br />
nicht immer richtig liegen muss.<br />
Am Ende machen sie sich gut Kind,<br />
um das Mandat zu bekommen.<br />
Oft fehlt ein beruflicher Erfahrungshintergrund.<br />
Berufspolitiker müssen alles<br />
tun, um im Boot zu bleiben. Das heißt,<br />
sie werden nie gegen den Strich bürsten,<br />
sie werden nie etwas tun, was ihnen<br />
diese Karriere als Berufspolitiker kaputt<br />
machen kann – und darin liegt die<br />
eigentliche Gefahr. Ich komme inzwischen<br />
fast zu dem Ergebnis, dass man<br />
durchsetzen sollte, dass keiner länger<br />
als zwei Legislaturperioden in einem<br />
Parlament sitzen sollte.<br />
Podiumsdiskussion | 49 |
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Kann man sich die Kompetenz denn in<br />
einer so kurzen Zeit aneignen, also führt<br />
nicht die Diskussion wieder bei<br />
der Komplexität, über die wir vorhin<br />
gesprochen haben, dazu, dass man<br />
zwangsläufig zum Experten werden<br />
muss und man nicht nebenbei noch ein<br />
Unternehmen oder eine Anwaltskanzlei<br />
führen kann?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Es hat einen<br />
Grund, weshalb viele Politikerinnen und<br />
Politiker aus dem öffentlichen Dienst<br />
kommen. Das ist ein kleiner, etwas<br />
frecher, Seitenausschnitt.<br />
Ich glaube, Sie müssen von den Politikern<br />
sehr viel mehr einen methodischen<br />
Zugang zu Themen erwarten, als nur<br />
unbedingt ein Fachpolitiker zu sein. Es<br />
gibt ja die Kritik nach dem Motto: Wie<br />
kann es sein, dass er erst das Ressort A,<br />
dann das Ressort B und dann das Ressort<br />
C führt? Ich sage: Selbstverständlich,<br />
das kann sogar sehr gut sein, weil<br />
er in diesen Ministerien einer geballten,<br />
sachfixierten Ministerialbürokratie<br />
gegenübersteht, die sich gelegentlich<br />
sogar einbildet, das Primat zu haben<br />
gegenüber dem gewählten Politiker.<br />
Diese Apparate entwickeln ein erstaun -<br />
liches Eigenleben.<br />
Als ich 1974 oder 1975 das erste Mal in<br />
ein Ministerium kam, sagte mir ein Referent:<br />
»Das ist der fünfte Minister, der<br />
unter mir dient.« Das war eine verbreitete<br />
Einstellung – und dann als Minister zu<br />
sagen: »Wissen Sie, was Sie in den letzten<br />
zehn Jahren alles vorgelegt haben,<br />
das ist etwas, was ich nicht akzeptiere.<br />
Wir denken jetzt mal neu oder wir denken<br />
mal von der Ecke des Raumes, und<br />
das kann zu anderen Ergebnisen führen<br />
als die bisherigen Überlegungen.«<br />
Aber dafür benötigen Sie natürlich das<br />
methodische Rüstzeug.<br />
Das erhalten Sie, wenn Sie kommunalpolitisch<br />
als Bürgermeister oder Landrat<br />
tätig waren oder wenn Sie mal Parlamentarischer<br />
Staatssekretär gewesen<br />
sind, also langsam an solche Funktionen<br />
auch herangeführt worden sind. Dies<br />
führt allerdings bei mir zur Ansicht,<br />
dass ein 32-jähriger Mann oder eine<br />
32-jährige Frau definitiv nicht geeignet<br />
ist, ein Bundesministerium zu führen.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Es fällt mir jetzt niemand ein. Frau<br />
Köpping, haben Sie manchmal das Ge -<br />
fühl – verstehen Sie mich nicht falsch –<br />
der Überforderung? Sie sind in den<br />
beiden Ausschüssen Wirtschaft, Arbeit<br />
und Verkehr sowie im Innenausschuss –<br />
also ganz unterschiedliche Dinge, wahr -<br />
schein lich auch auf der Landesebene<br />
sehr kom plexe Dinge. Haben Sie die<br />
Zeit, sich da immer reinzufuchsen?<br />
Petra Köpping, MdL: Also erst einmal<br />
fühle ich mich nicht überfordert, sondern<br />
eher unterfordert. Da war eine<br />
Aufgabe als Bürgermeisterin oder als<br />
Landrat wesentlich anspruchsvoller –<br />
und ich würde es gern noch einmal<br />
| 50 | Podiumsdiskussion
von dieser Seite her beleuchten. Ich<br />
finde das ganz gut. Bei Bürgermeistern,<br />
Landräten, Ministern ist keine berufliche<br />
Qualifikation erforderlich. Das<br />
kann jeder werden. Das ist ein Vorteil<br />
und das ist ein Nachteil. Ich habe ja vorhin<br />
gesagt, wenn man sieben Jahre lang<br />
eine Plinse als Bürgermeister da sitzen<br />
hat, kann das schon eine lange Zeit sein,<br />
die die Ge meinde sehr nach hinten wirft.<br />
Aber auf der anderen Seite finde ich es<br />
gerade in solchen Positionen sehr gut,<br />
seinen ge sunden Menschenverstand zu<br />
be nutzen.<br />
Ich habe eine Verwaltung, die eben ar bei -<br />
tet, die die Rechte und Grundlagen dafür<br />
legt, insofern dort Entscheidungen mit<br />
den Gremien zu fassen, die wirklich<br />
auch den Menschen entsprechen und die<br />
das auch wollen. Das halte ich für eine<br />
wichtige Geschichte, und ich kann nur<br />
be grüßen, dass man solche Amts zeiten<br />
vielleicht auf zwei nacheinander begrenzt.<br />
Wenn man vierzehn Jahre – das sind<br />
zwei Amtszeiten – Bürgermeister war,<br />
dann ist man einfach ausgelaugt und<br />
man hat keine neuen Ideen. Die Freude<br />
geht vielleicht auch ein Stück ver loren.<br />
Insofern kann ich das nur be grüßen,<br />
politische Ein stiege nicht als berufliche<br />
Karriere fürs Leben zu betrachten.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Die Frage stellt sich auch bei Journalisten.<br />
Mir hat ein befreundeter Journalist<br />
von der »FAZ« einmal gesagt, als es um<br />
die Rentenreform vor ein paar Jahren<br />
ging: Diese Rentenreform verstehen in<br />
Deutschland noch drei Journalisten. Er<br />
sei einer davon, okay. Das ist eine ge -<br />
wisse Selbstüberschätzung, sie passte<br />
auch zur Zeitung. Ist das so? Sind das so<br />
komplexe Dinge, zum Beispiel mit der<br />
Wirtschafts-, mit der Finanzkrise? Ist das<br />
denn noch etwas, worüber die Leute<br />
dann schreiben? Ich meine jetzt nicht<br />
beim Privatradio, die anderthalb Minuten<br />
Nachrichten machen, sondern auch bei<br />
einer seriösen, sagen wir mal bei einer<br />
regionalen Abonnementzeitung. Wissen<br />
die noch, um was es geht?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich glaube, es gibt eine<br />
Reihe von Journalisten in den überregionalen<br />
Zeitungen und Fernsehen, die wissen,<br />
worum es geht, die eine Menge<br />
davon verstehen. Es gibt aber noch<br />
mehr Journalisten, die darüber berichten<br />
müssen und davon vielleicht nicht ganz<br />
so viel verstehen. So ist das. Es gibt<br />
Politiker, die im Bundestag mitentscheiden<br />
müssen über die nächsten Kredite<br />
und auch nicht so viel davon verstehen.<br />
Es hat mal einen sehr denkwürdigen<br />
ARD-Bericht gegeben. Das war, glaube<br />
ich, kurz vor einer Griechenlandabstimmung.<br />
Da wurden die Einzelnen gefragt,<br />
um welche Summe es sich handelt. Also<br />
das war eine Kapitulation.<br />
Das heißt, wir haben ein Problem auf<br />
beiden Seiten, nämlich bei den Politikern<br />
wie auch bei den Journalisten, dass nicht<br />
immer die Kompetenz da ist, die vorhanden<br />
sein müsste.<br />
Podiumsdiskussion | 51 |
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Es meldet sich ein kompetenter Journalist<br />
zu Wort. Wenn Sie bitte ein Mikrofon<br />
nehmen, weil es aufgezeichnet wird.<br />
Fragesteller: Schönen Dank. Ich habe<br />
gerade noch im Ohr, dass Herr <strong>Steinbrück</strong><br />
uns herausgefordert hat, einen Dreiminutenvortrag<br />
zu halten, um uns das Problem<br />
der europäischen Schuldenkrise zu<br />
erklären. Da das sonst in Vergessenheit<br />
geraten würde und jetzt genau das Thema<br />
»Komplexität« an stand, meine ich,<br />
wäre das genau der richtige Zeitpunkt.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Okay. Wir haben jetzt noch zwei Wortmeldungen.<br />
Dann würde ich sagen, dass<br />
die beiden hintereinanderweg sprechen<br />
und dann machen wir hier vorn die<br />
Schlussrunde.<br />
Fragesteller (Nr. 1): Einen schönen<br />
guten Tag. Mein Name ist Mirtschink,<br />
Obermeister, Dresden. Das letzte Mal<br />
durfte ich Herrn <strong>Steinbrück</strong> noch mit<br />
Minister ansprechen. Vielleicht klappt<br />
es 2013 wieder.<br />
Die erste Frage lautet: Wieso spricht<br />
man bei der Politik von handwerklichen<br />
Fehlern?<br />
Die zweite Frage lautet: Die Vereinigten<br />
Staaten von Europa – ist das ein Hirngespinst,<br />
eine Vision oder ist das eine notwendige<br />
Realität? Das waren meine zwei<br />
Fragen. Vielen Dank.<br />
Fragesteller (Nr. 2): Mein Name ist<br />
Harald Köpping und meine Frage geht<br />
natürlich auch an Sie, Herr <strong>Steinbrück</strong>.<br />
Die erste Frage bezieht sich auf Ihren<br />
Vortrag, und zwar hat es mich ein bisschen<br />
gestört, dass Sie nicht erwähnt<br />
haben, dass die Ideologie der Partei<br />
eigentlich keine Rolle mehr spielt, und<br />
ich denke, dass besonders junge Leute<br />
das eben auch in den Parteien vermissen.<br />
Die Ideologie der Sozialdemokratie<br />
spielt bei der SPD keine so große Rolle<br />
mehr. Ich denke, bei den anderen Parteien<br />
ist das ähnlich. Das ist auch ein größeres<br />
Problem, das die Parteien haben.<br />
Die zweite Frage geht natürlich auch in<br />
die Richtung der Schuldenkrise. Das be -<br />
zieht sich auch auf Sie, Herr Rößler. Ich<br />
denke schon, wir bauen im Moment ein<br />
anderes Staatskonzept auf, und zwar<br />
das der Supranationalität und was Europäische<br />
Union überhaupt heißt. Kann das<br />
aber funktionieren, wenn Institutionen<br />
nicht gewählt sind, wenn die nicht<br />
demokratisch sind, wenn wir eine politische<br />
Kultur haben, die eigentlich nicht<br />
europäisch ist, wenn bei Europawahlen<br />
eigentlich nur nationale Themen eine<br />
Rolle spielen? Wenn europäische Integration<br />
nicht demokratisch wird, wie<br />
können wir dann über die Zukunft – und<br />
das sind ja meine Themen, die Zukunftsthemen<br />
– nachdenken?<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich versuche eine<br />
Antwort im Telegrammstil. Das nehmen<br />
Sie bitte nicht als Diskreditierung des<br />
| 52 | Podiumsdiskussion
goldenen Handwerks, dass wir von<br />
handwerklichen Fehlern der Politik<br />
reden. Politik ist teilweise Handwerk.<br />
Da machen wir uns nichts vor.<br />
Politik ist eine Methode. Und zu dieser<br />
Methode gehört eine Art Rüstzeug,<br />
welches man bedienen können muss.<br />
Gelegentlich ist die Beherrschung dieses<br />
Werkzeugs nicht gut ausgeprägt und<br />
deshalb gibt es handwerkliche Fehler.<br />
Die Vereinigten Staaten von Europa sind<br />
eine Anlehnung an die Vereinigten Staaten<br />
von Amerika und da sollte man vorsichtig<br />
sein. Die USA haben eine andere Historie,<br />
eine andere Tradition, eine andere<br />
Verfassungsgeschichte. Wir haben es<br />
in Europa nach wie vor mit National -<br />
staaten mit eigenen Sprachen, eigenen<br />
Territorien, einer eigenen Gesetzgebung<br />
und eigenen kulturellen Hintergründen<br />
zu tun.<br />
Deshalb glaube ich nicht, dass wir eines<br />
Tages in einem Bundesstaat Europa landen.<br />
Dies ist kein Plädoyer gegen eine<br />
weitere Integration. Eine weitergehende<br />
europäische Integration halte ich für<br />
möglich, aber ich glaube nicht, dass wir<br />
in einem europäischen Bundesstaat landen,<br />
jedenfalls nicht in überschaubaren<br />
Jahrzehnten.<br />
Was die Demokratisierung betrifft, teile<br />
ich voll und ganz Ihre Kritik. Jede weitere<br />
europäische Integration wird sich nur<br />
mit einer stärkeren Demokratisierung<br />
vollziehen können, in der das Europäische<br />
Parlament mehr Rechte bekommt.<br />
Vielleicht wird sogar eine zweite Kammer<br />
eingeführt, ähnlich dem amerikanischen<br />
Kongress mit einem Repräsentantenhaus<br />
und einem Senat, wo im Senat die einzelnen<br />
Nationalstaaten eine Rolle spielen.<br />
Die Europäische Kommission wird<br />
eines Tages vielleicht eine Art europäische<br />
Regierung, die gewählt wird, mit<br />
einem Spitzenkandidaten, der sich zur<br />
Wahl direkt stellen muss. Das wäre die<br />
Auflösung der aktuellen Situation, dass<br />
die Kommission etwas ist, was in der<br />
Montesquienschen Gewaltenteilung<br />
gar nicht vorkommt. Sie ist nämlich<br />
Legislative und Exekutive zur gleichen<br />
Zeit. Es bedarf einer deutlichen Korrektur<br />
des jetzigen Fehlers, der Europa in<br />
seinen Institutionen reduziert auf eine<br />
intergouvernementale Veranstaltung<br />
von 25 Männern und zwei Frauen. Das<br />
ist der Europäische Rat.<br />
Das heißt, wenn über die europäische<br />
Integration geredet wird, muss dies<br />
zwingend verbunden sein mit einem<br />
Demokratisierungsprozess, der dann<br />
vielleicht auch jüngere Menschen wieder<br />
faszinieren kann.<br />
Letzter Punkt: Wir haben es mit einer<br />
klaren Entideologisierung der Parteiensysteme<br />
in Europa zu tun – mit Aus -<br />
nahme einiger sehr rechtsorientierter<br />
Parteien und nur noch einiger weniger<br />
linker Parteien. Das spiegelt sich auch<br />
in Deutschland wider, weil die Wahlen<br />
in der Mitte der Gesellschaft entschieden<br />
werden. Ich weiß, dass die Mitte<br />
Podiumsdiskussion | 53 |
kein fester Ort ist. Die Mitte ist sehr<br />
volatil. Sie unterliegt auch einer gewissen<br />
Deutungshoheit, aber Wahlen werden<br />
in Deutschland nach wie vor in der<br />
großen, breiten politischen Mitte entschieden.<br />
Das bedeutet, dass Sie mit stramm<br />
ideologischen Vorstellungen nicht an -<br />
treten brauchen. Das bedeutet jedoch<br />
nicht, dass Sie grundsatzlos sein dürfen.<br />
Sie dürfen allerdings schon auf Unterscheidung<br />
Wert legen, aber die Vorstellung,<br />
dass die SPD in eine ideologische<br />
Phase zurückfällt, geht mir nicht durch<br />
den Kopf.<br />
Sie erleben gerade in einem anderen<br />
Teil der Welt eine Reideologisierung<br />
mindestens einer Partei, mit fatalen<br />
Konsequenzen. Das ist die Republikanische<br />
Partei in den USA. Diese Reideologisierung<br />
führt zu einer Disfunktionalität<br />
des Verfassungsprinzips der USA von<br />
Thomas Jefferson, weil sie sich sehr<br />
massiv der Kompromissfindung, der<br />
Orientierung auf eine Gemeinsamkeit<br />
entzieht. Das wird inzwischen von<br />
Politikwissenschaftlern und von Be -<br />
obachtern in den USA in der Tat als eine<br />
Infragestellung des Systems angesehen.<br />
Übrigens, ich fand dies sehr gut be -<br />
schrieben in einer glänzenden Titelgeschichte<br />
des »SPIEGEL«, in der es um<br />
Präsident Obama geht und die genau<br />
diesen Punkt aufgreift. Die Darstellung<br />
entspricht vollständig den Erfahrungen,<br />
die ich bei einem längeren USA-Besuch<br />
Ende Februar gemacht habe.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Lösen Sie das Versprechen noch ein, uns<br />
in drei Minuten …<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Also, das ist eine<br />
Anekdote, nicht, dass Sie sie total ernst<br />
nehmen. Das ist die Erklärung der<br />
Finanzkrise in Europa: Ein russischer<br />
Oligarch besucht ein kleines schnuck -<br />
liges Hotel an der Côte d’Azur. Er sieht<br />
es an und sagt zu dem Hotelbesitzer:<br />
Wissen Sie, das gefällt mir ganz gut.<br />
Er legt 500 Euro auf den Tisch und sagt:<br />
Bevor ich das Hotel aber mit meiner Frau<br />
miete, möchte ich mir die Räume oben<br />
noch einmal anschauen. Der Hotelbesitzer<br />
hat wiederum exakt 500 Euro Schulden<br />
bei einem Caterer.<br />
Er geht zu dem Caterer und sagt: Hier<br />
sind die 500 Euro, die ich dir schulde.<br />
Der Caterer hat 500 Euro Schulden bei<br />
einem Lebens mittelhändler und rast mit<br />
den 500 Euro zu dem Lebensmittelhändler<br />
und sagt: Hier sind die 500 Euro, die<br />
ich dir schulde. Der Lebensmittelhändler<br />
rast mit den 500 Euro zu einem Fleischer<br />
und sagt: Hier sind die 500 Euro, die ich<br />
dir schulde und sagt: Jetzt bin ich frei<br />
von den Schulden.<br />
Der Fleischer rast zu einer Dame, die<br />
sehr einseitige Dienstleistungen anbietet,<br />
der er auch 500 Euro schuldet und<br />
sagt: Hier sind die Schulden, die ich<br />
dir seit zwei Monaten eigentlich zurückzahlen<br />
müsste. Sie ist froh und sagt: Die<br />
| 54 | Podiumsdiskussion
500 Euro kann ich sehr gut gebrauchen.<br />
Sie rast mit den 500 Euro zu dem Hotelbesitzer<br />
und sagt: Hier sind die 500 Euro,<br />
die ich dir noch schulde wegen der Miete<br />
des Zimmers, welches ich gelegentlich<br />
bei dir im Hotel brauche.<br />
In dem Augenblick kommt der russische<br />
Oligarch die Treppe herunter, nimmt die<br />
500 Euro vom Tisch und sagt: Mir gefallen<br />
diese Zimmer dann doch nicht und<br />
haut ab.<br />
Alle sind entschuldet, alle sind froh. Die<br />
ganze Gemeinde lacht. Es ist wunderbar,<br />
nur einer unter uns ist der Gelackmeierte,<br />
und Sie müssen herausfinden, wer es ist.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Vielleicht kann man das noch kurz mit<br />
auf den Weg geben nach Mexiko, wo die<br />
Verhandlungen gerade stattfinden.<br />
Jetzt die Schlussrunde. Vielleicht möchte<br />
jeder noch mal einen Satz sagen. Was ist<br />
die Lösung? In welche Richtung sollten<br />
wir in unserem Gemeinwesen gehen,<br />
wenn wir es ein wenig besser haben<br />
wollen, als es ist. Es ist ja schon – das<br />
haben wir ja auch schon gesagt – viel<br />
besser als in den meisten anderen<br />
Ländern. Wenn wir uns noch mehr in<br />
die Richtung des Ideals entwickeln<br />
wollen, wo sollten wir anfangen?<br />
Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />
»DER SPIEGEL«: Ich bin nicht ganz so<br />
pessimistisch. Ich habe den Eindruck,<br />
dass diese Gesellschaft immer dann,<br />
wenn es wirklich um die Wurst geht,<br />
wenn entscheidende Fragen anstehen,<br />
auch wieder den Grad an Politisierung<br />
an nimmt, der notwendig ist, um diese<br />
Entscheidung dann voranzutreiben. Es<br />
gibt allerdings die Schwierigkeit, dass<br />
es manchmal Probleme gibt – und das<br />
haben wir gerade mit der Finanzkrise –,<br />
die so kompliziert sind, dass Medien<br />
und Politiker besondere Höchstleistungen<br />
vollbringen müssen. Dass sie das<br />
zurzeit nicht tun, glaube ich, das gilt für<br />
beide Seiten.<br />
Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />
Wir hatten ja 2002 ein großes Hochwasser.<br />
Ich habe die gesamte Gesellschaft<br />
noch nie so engagiert und solidarisch<br />
erlebt. Da habe ich mir gesagt: Es gibt<br />
kein Land – denke ich –, wo man noch<br />
solidarischer hätte sein können, und alle<br />
haben gemeinsam an der Lösung gearbeitet<br />
und es hat auch funktioniert. Nun<br />
wünsche ich mir kein neues Hochwasser,<br />
aber ich bin mir ganz sicher, wenn große<br />
Herausforderungen vor diesem Land<br />
stehen, dann werden wir diese meistern.<br />
Die Leute treibt es dann aus ihrer Sattheit<br />
heraus. Sie müssen sich engagieren.<br />
Die Politiker müssen bei Strafe ihres<br />
Untergangs natürlich Problemlösungen<br />
anbieten und die anderen müssen einfach<br />
mitmachen, sie müssen sich wieder<br />
auf Politik und auf das Gemeinwesen<br />
konzentrieren, und ich denke, wir schaffen<br />
das. Wir haben auch die letzten zehn<br />
Jahre – das muss ich sagen, Herr <strong>Steinbrück</strong><br />
– keine schlechte Politik in Deutsch -<br />
land gemacht, ganz im Gegenteil.<br />
Podiumsdiskussion | 55 |
Petra Köpping, MdL: Ich wünsche mir,<br />
dass Wissen und Kompetenz parteienübergreifend<br />
eingesetzt werden. Ich<br />
denke, dass es die Menschen sehr nervt,<br />
wenn man sich streitet, wenn man die<br />
Meinung des anderen nicht akzeptiert.<br />
Das gehört auch zur Demokratie, dass<br />
man einfach alles kluge Wissen, das<br />
man in dem Land hat, bündelt und in<br />
die Entscheidungsfindung einbindet.<br />
Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich würde mir<br />
größere Anstrengungen für eine Art<br />
Renaissance der sozialen Marktwirtschaft<br />
wünschen, in der es etwas mehr<br />
Balance gibt als heute. Ich wünschte mir<br />
einen sehr viel breiteren Diskurs über<br />
Gemeinwohlorientierung und über den<br />
Wert des öffentlichen Wohls, dem sich<br />
Staatsbürger aus unterschiedlicher persönlicher<br />
Interessenlage stärker widmen<br />
sollten.<br />
Der Politik wünsche ich – jedenfalls den<br />
Parteien – dass sie in der Tat sehr neue<br />
Wege gehen und sich kulturell und<br />
strukturell reorganisieren, um wieder<br />
interessanter zu werden für Menschen,<br />
die entweder zeitweise mitmachen wollen<br />
oder sogar sagen: Ich engagiere<br />
mich politisch. Dafür haben wir bisher<br />
zu wenige Angebote.<br />
Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />
Wir brauchen noch mehr Menschen, die<br />
sich nicht nur einbringen, weil es ein<br />
Thema ist, das sie vielleicht selbst gerade<br />
interessiert, weil es vor ihrer Haustür<br />
passiert, sondern weil es alle angeht.<br />
Wir brauchen also die Öffentlichkeit und<br />
natürlich Bürger und Medien, die das<br />
bewerkstelligen.<br />
Insofern, glaube ich, sind wir uns in<br />
dieser Hinsicht alle einig – und wir<br />
wollten ja auch keine Talkshow machen,<br />
bei der wir die Konflikte schüren, die<br />
gar nicht vorhanden sind, sondern ich<br />
finde das auch manchmal gut, wenn<br />
man eine gemeinsame Perspektive<br />
hat und von gemeinsamen Grundlagen<br />
ausgeht.<br />
Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen<br />
fürs Zuhören bedanken, insbesondere<br />
bei Ihnen, Herr <strong>Steinbrück</strong>, für den Vortrag.<br />
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