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Dialog Heft 2 Steinbrück 2012

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Veranstaltungen des Sächsischen Landtags <strong>Heft</strong> 2<br />

DIALOG<br />

Sächsischer Landtag<br />

Der Präsident<br />

Dresdner Gesprächskreise<br />

im Ständehaus<br />

Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus<br />

»Parteiendemokratie in Deutschland – Gesicht<br />

und Substanz des politischen Personals«<br />

am 19. Juni <strong>2012</strong>


DIALOG<br />

Sächsischer Landtag<br />

Der Präsident<br />

Dresdner Gesprächskreise<br />

im Ständehaus<br />

Dresdner Gesprächskreise im Ständehaus<br />

»Parteiendemokratie in Deutschland – Gesicht<br />

und Substanz des politischen Personals«<br />

am 19. Juni <strong>2012</strong><br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong><br />

Auf dem Podium (Titel v.l.n.r.):<br />

Dr. Martin Doerry,<br />

Dr. Matthias Rößler,<br />

Petra Köpping,<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>,<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach (Moderation)<br />

Herausgegeben vom Sächsischen Landtag


Inhalt<br />

Eröffnung des Forums<br />

»Parteiendemokratie in Deutschland –<br />

Gesicht und Substanz des politischen<br />

Personals« durch<br />

Dr. Matthias Rößler, Präsident<br />

des Sächsischen Landtags . . . . . . . . . . 6<br />

Impulsreferat<br />

von Peer <strong>Steinbrück</strong> . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

Vorstellung der Teilnehmer<br />

an der Podiumsdiskussion . . . . . . . . . 22<br />

Podiumsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . 24<br />

Impressum:<br />

Herausgeber: Sächsischer Landtag,<br />

Bernhard-von-Lindenau-Platz 1, 01067 Dresden<br />

V. i. S. d. P.: Hans-Peter Maier, Sächsischer Landtag<br />

Redaktion: Falk Hentschel, Sächsischer Landtag<br />

Fotos: S. Floss, S. Giersch (58, U4)<br />

Gestaltung, Satz: www.oe-grafik.de<br />

Druck: Druckfabrik Dresden GmbH<br />

Diese Publikation wird vom Sächsischen Landtag im Rahmen<br />

der Öffentlichkeitsarbeit herausgegeben. Die Abgabe<br />

erfolgt kostenfrei. Eine Verwendung für die eigene Öffentlichkeitsarbeit<br />

von Parteien, Fraktionen, Mandatsträgern<br />

oder Wahlbewerbern – insbesondere zum Zwecke der<br />

Wahlwerbung – ist unzulässig. Ebenso die entgeltliche<br />

Weitergabe der Publikation.<br />

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Eröffnung des Forums »Parteiendemokratie in Deutschland –<br />

Gesicht und Substanz des politischen Personals«<br />

durch Dr. Matthias Rößler, Präsident des Sächsischen Landtags<br />

Sehr geehrter Herr <strong>Steinbrück</strong>,<br />

sehr geehrter Herr Staatsminister,<br />

liebe Kolleginnen und<br />

Kollegen Abgeordnete des<br />

Sächsischen Landtags,<br />

sehr geehrte Mitglieder des<br />

Verfassungsgerichtshofes,<br />

sehr geehrter Herr Budewig,<br />

Herr Landrat,<br />

Herr Bürgermeister,<br />

jetzt schaue ich, Magnifizenz, Herr Prof.<br />

Müller-Steinhagen – ich sehe ihn nicht,<br />

sonst hätte ich ihm gleich zur Exzellenz-<br />

Universität gratuliert –, verehrte Gäste,<br />

ich begrüße Sie ganz, ganz herzlich hier<br />

zum Dresdner Gesprächskreis in unserem<br />

Ständehaus.<br />

Der große Architekt Wallot, der Er -<br />

bauer des Berliner Reichstags, hat dieses<br />

Gebäude Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

für unser sächsisches Parlament<br />

errichtet.<br />

Mit Friedrich Merz fand im Januar 2011<br />

die erste Veranstaltung in diesem Festsaal<br />

zum Thema »Amerika und Europa –<br />

Folgt der Finanzkrise die Staatskrise?«<br />

statt. Wir waren damals leider der Realität<br />

ein ganzes Stück voraus, wie wir inzwischen<br />

nicht nur in Griechenland sehen.<br />

Mit Udo Di Fabio haben wir vor zwei<br />

Wochen den Dresdner Gesprächskreis<br />

im Plenarsaal des Sächsischen Landtags<br />

anlässlich des 20-jährigen Jubiläums<br />

unserer Landesverfassung fortgesetzt.<br />

Das Thema seiner Festrede, »Identität<br />

und Föderalität: Europas Wege aus der<br />

Krise«, sprach gerade uns Sachsen aus<br />

dem Herzen. Wir haben uns unsere Freiheit,<br />

unseren Freistaat Sachsen und die<br />

Wiedervereinigung Deutschlands selber<br />

erkämpft.<br />

Die historische Erfahrung einer erfolgreichen,<br />

friedlichen und demokratischen<br />

Revolution verbindet uns übrigens mit<br />

unseren mitteleuropäischen Nachbarn.<br />

Wir wollen unser politisches Schicksal<br />

in eigenen Händen haben. Deshalb halten<br />

wir nicht nur unverrückbar an der<br />

Eigenstaatlichkeit der Länder und dem<br />

föderalen Bundesstaat in Deutschland<br />

fest. Wir möchten das zusammenwachsende<br />

Europa weiter als Staatenbund<br />

gestalten und nicht als Bundesstaat.<br />

Heute Abend hören wir im Ständehaus<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>.<br />

»Das Schlimme sind Politiker, die<br />

nicht tun, was sie wissen.«<br />

Mit diesem Satz, in seiner unnachahmlichen<br />

norddeutschen Art auf einer<br />

Buchvorstellung im Februar 2011 in der<br />

Dresdner Messe ausgesprochen, hat er<br />

viele Zuhörer und mich nicht nur tief<br />

beeindruckt. Er hat eigentlich auch das<br />

Motto für unsere heutige Diskussion<br />

vorgegeben.<br />

Ich war von seinem damaligen Dresd -<br />

ner Auftritt und seinen Argumenten<br />

genauso beeindruckt wie von unserer<br />

gemeinsamen Arbeit in der Föderalismuskommission<br />

zur Neuregelung der<br />

Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Dass<br />

diese Kommission das Verschuldungsverbot<br />

ins Grundgesetz gebracht hat,<br />

wird ihm sicher als historisches Verdienst<br />

angerechnet.<br />

Vor genau einer Woche hat die Landtagspräsidentenkonferenz<br />

in diesem<br />

Festsaal getagt und eine neue Föderalismuskommission<br />

gefordert: Diesmal mit<br />

Stimmrecht für die Landesparlamente<br />

| 6 | Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten


mit allen Konsequenzen, da es natürlich<br />

um ihr, der Parlamente, Königsrecht in<br />

Sachen Haushalt und Finanzen geht.<br />

Meine Damen und Herren! Der Diplom -<br />

volkswirt und Bundestagsabgeordnete,<br />

Ministerpräsident und Bundesfinanzminister<br />

a. D. Peer <strong>Steinbrück</strong> bringt die<br />

Dinge, um die es in Deutschland und<br />

Europa wirklich geht, mit hanseatischer<br />

Kürze auf den Punkt.<br />

Er liefert mit Informationen, Fakten<br />

und profunder Kenntnis der komplexen<br />

politischen und wirtschaftlichen Zusammenhänge<br />

eine fundierte Analyse des<br />

Zustandes unseres Gemeinwesens.<br />

Was mich beeindruckt: Er behält diese<br />

Analyse nicht für sich und opfert sie nicht<br />

einer wählerschonenden politischen<br />

Korrektheit. Er spricht sie aus und bietet<br />

auch Lösungen an, ohne die Zwänge zu<br />

verschweigen, in denen wir Politiker, die<br />

an der Macht sind, wirklich stehen.<br />

In seinem letzten Buch »Unterm Strich«<br />

beispielsweise – das ich Ihnen allen aus<br />

gegebenem Anlass recht warm und nach -<br />

drücklich empfehlen kann – be schränkt<br />

er sich eben nicht auf die Finanzkrise.<br />

Er analysiert deren Einfluss auf die<br />

Gesellschaft und beschreibt die sozialen<br />

Fliehkräfte, denen unser Gemeinwesen<br />

unterworfen ist, ebenso wie unsere<br />

Parteiendemokratie in Deutschland.<br />

Insbesondere befasst er sich dort mit<br />

Gesicht und Substanz des politischen<br />

Personals als einer Elite, die durch einen<br />

eigenartigen Ausleseprozess – die Ochsentour<br />

durch die Parteigremien – am<br />

Ende oftmals an die Schalthebel der<br />

Macht gelangt.<br />

Als echter Sozialdemokrat beschreibt<br />

er realistisch, in welchem Schraubstock<br />

unser Sozialstaat steckt und in welches<br />

Korsett die etablierte Politik eingezwängt<br />

wird.<br />

Die delikate Beziehung zwischen Politik<br />

und Medien kennt er aus eigener<br />

Erfahrung.<br />

Er stellt wie viele von uns fest, dass<br />

das Modell der Marktwirtschaft nicht<br />

automatisch und überall auf der Welt<br />

mit einem demokratischen Überbau verbunden<br />

sein muss. Die alte marxistische<br />

Dialektik von Basis und Überbau scheint<br />

auch mit einer staatskapitalistischen<br />

Basis und einer autoritären Ein-Parteien-<br />

Struktur im gesellschaftlichen Überbau zu<br />

funktionieren. Nach Beispielen braucht<br />

man nicht lange zu suchen. Man findet<br />

sie in China, Vietnam und anderen asiatischen<br />

Entwicklungsdiktaturen.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong> – und das ist das Be -<br />

sondere – weist auch auf die eigenartige<br />

Symbiose der Turbokapitalisten in China<br />

und Amerika hin. Er stellt die Fragen, ob<br />

China auf Dauer die Staatsdefizite der<br />

letzten Supermacht decken und damit<br />

finanziell für Kriege und Konsum der<br />

Amerikaner aufkommen wird, ob das<br />

alternde und schrumpfende Europa in<br />

dieser dynamischen Welt bald abgehängt<br />

wird.<br />

Aber er lässt keine Zweifel daran,<br />

dass Deutschland nur mit Europa in der<br />

Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten | 7|


Champions League einer multipolaren<br />

Welt spielen kann. Das vereinigte Europa<br />

war und ist für ihn die Antwort auf die<br />

endlosen Kriege unserer Geschichte, in<br />

denen unsere Großväter und Väter verheizt<br />

worden sind.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong> hält unverrückbar<br />

an seinen Grundsätzen von Freiheit,<br />

Solidarität und Gerechtigkeit fest. Ihm<br />

liegt an einer Neuvermessung der Politik.<br />

Wenn er heute zum Thema »Parteiendemokratie<br />

in Deutschland – Gesicht und<br />

Substanz des politischen Personals« zu<br />

uns spricht, dann wird er sicher nicht<br />

nur mir, sondern hoffentlich vielen in<br />

diesem Raum aus dem Herzen sprechen.<br />

Als solide ausgebildeter Volkswirt –<br />

der auch als Kanzlerkandidat der<br />

SPD genannt wird – kann er natürlich<br />

fundierte Kritik an den Karrierepfaden<br />

vieler Politiker in Deutschland üben,<br />

obwohl er sich damit nicht immer<br />

Freunde in der sogenannten politischen<br />

Klasse macht.<br />

Aber unsere Demokratie in Deutschland<br />

funktioniert nur mit Parteien und<br />

Politikern, die um Zustimmung, Ver -<br />

trauen und Mehrheiten und natürlich<br />

auch um Macht ringen. Wir sind nach<br />

unserem Grundgesetz eben eine<br />

| 8 | Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten


»Parteiendemokratie«, ob das jedem<br />

gefällt oder nicht. Deshalb gehören Politiker,<br />

Journalisten und Wissenschaftler<br />

an einen Tisch oder, wie am heutigen<br />

Abend, auf ein Podium.<br />

Ich begrüße an dieser Stelle ganz<br />

besonders herzlich Petra Köpping,<br />

Mitglied des Sächsischen Landtags und<br />

vorher auch schon Bürgermeisterin und<br />

Landrätin, Dr. Martin Doerry, stellvertretender<br />

Chefredakteur des »SPIEGEL«,<br />

sowie Prof. Dr. Wolfgang Donsbach.<br />

Er ist Direktor des Instituts für Kommunikationswissenschaft<br />

an der Philosophischen<br />

Fakultät der Exzellenz-Universität<br />

TU Dresden.<br />

Sie werden sich im Anschluss an<br />

den Vortrag in unserer Podiumsdiskussion<br />

mit uns allen gemeinsam darum<br />

bemühen, offene Antworten auf offene<br />

Fragen zu finden.<br />

Damit erteile ich Ihnen, verehrter<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, das Wort und bedanke<br />

mich bei Ihnen allen, dass Sie gekommen<br />

sind.<br />

Eröffnung des Forums durch den Landtagspräsidenten | 9|


»Parteiendemokratie in Deutschland –<br />

Gesicht und Substanz des politischen Personals«<br />

Referat von Peer <strong>Steinbrück</strong><br />

Sehr geehrter Herr Landtagspräsident,<br />

lieber Herr Rößler,<br />

meine sehr geehrten<br />

Damen und Herren,<br />

ich bedanke mich bei Ihnen, Herr Präsident,<br />

sehr herzlich für den langen Werbeblock<br />

zu meinem Buch. Es ist mir an<br />

manchen Stellen sogar ein bisschen<br />

peinlich gewesen. Das Motto dieses<br />

Buches war in der Tat der Umkehrung<br />

eines amerikanischen Filmtitels entnommen.<br />

Dieser Filmtitel hieß: »Denn sie<br />

wissen nicht, was sie tun« – nach meiner<br />

Erinnerung mit dem sehr jungen und<br />

ausstrahlungskräftigen Schauspieler<br />

James Dean. Ich habe es umgedreht und<br />

gesagt: »Sie tun nicht, was sie wissen.«<br />

Das ist meine Erfahrung aus vielen<br />

politischen Debatten nicht nur in meiner<br />

eigenen Partei, sondern auch mit kollegial<br />

verbundenen Partnern in anderen<br />

demokratischen Parteien.<br />

Nun soll ich Ihnen – ich glaube in<br />

40 Minuten – etwas über die Parteiendemokratie<br />

erzählen mit einem deutlichen<br />

Schwerpunkt auf der Qualität des politischen<br />

Personals. Das ist hochgefährlich,<br />

denn wenn Politiker erst einmal im<br />

Besitz des Mikrofons sind, dann überdehnen<br />

sie ihre Redezeit immer.<br />

Ich kenne einen Politiker, der sich wie<br />

viele andere nicht an die verabredete<br />

Redezeit gehalten hat, bis er merkte,<br />

dass erst die Gäste aus den hinteren<br />

Reihen aus dem Saal gingen, dann<br />

gingen die aus den mittleren Reihen aus<br />

dem Saal und zum Schluss blieb, um<br />

die Geschichte abzukürzen, ein einziger<br />

Mensch – dort, wo Herr Doerry gerade<br />

sitzt – sitzen. Erst dann unterbrach dieser<br />

Redner leicht irritiert seine Rede und<br />

fragte den Mann: »Sagen Sie mal,<br />

warum sitzen Sie noch hier?« Darauf<br />

sagte der Mann: »Ich bin derjenige,<br />

der nach Ihnen reden soll.«<br />

Ich werde also versuchen, mich an<br />

die Spielregeln zu halten, um dann das<br />

Podium zu eröffnen, auch mit Blick auf<br />

die anderen Teilnehmer und Teilnehmerinnen,<br />

wie Frau Köpping, die gegebenenfalls<br />

anderer Auffassung sind als<br />

ich und ein belebendes Element hinzu -<br />

fügen können.<br />

Die Ausgangsfeststellung ist nicht so<br />

kompliziert und entspricht ihrer Wahrnehmung:<br />

Die etablierte Politik ist in<br />

den letzten Jahren einem erheblichen<br />

Vertrauens- und Zutrauensverlust ausgesetzt<br />

. Es gibt so etwas wie Parteienverdrossenheit.<br />

Diese gibt es noch nicht<br />

in einer Form, wie wir sie in der deutschen<br />

Demokratiegeschichte schon<br />

einmal erleben mussten, als diese Verdrossenheit<br />

– diese Distanzierung –<br />

gegenüber Parteien übergesprungen<br />

ist in eine Parteienverachtung.<br />

Das war am Ende der Weimarer Republik<br />

mit dem Ergebnis, dass die Katas -<br />

trophe des Zweiten Weltkrieges über<br />

Deutschland und Europa gekommen ist.<br />

Aber es ist derzeit spürbar, dass die<br />

etablierten demokratischen Parteien<br />

an Zuspruch verlieren und ihre Lösungskompetenz<br />

nicht gerade hoch gehandelt<br />

wird. Dies drückt sich auch an einer<br />

weiteren Ausdifferenzierung des<br />

Parteiensystems in Deutschland aus.<br />

Die Piraten sind bis zu einem gewissen<br />

Ausmaß die Projektionsfläche für diese<br />

Unzufriedenheit mit den demokratischen<br />

| 10 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


Parteien, angefangen von CDU/CSU,<br />

über SPD, FDP bis hin zu den Grünen.<br />

Selbst die Grünen werden inzwischen<br />

als eine republikanische oder altbundesrepublikanische<br />

Partei wahrge -<br />

nommen. Insgesamt ist eine solche<br />

Entwicklung der grundsätzlichen Dis -<br />

tanzierung gegenüber Parteien durchaus<br />

gefährlich.<br />

Der Grund für diese Distanzierung<br />

ist zunächst sicher bei den Parteien zu<br />

suchen. Damit fange ich an. Aber der<br />

späte Nachmittag oder frühe Abend<br />

wird für Sie als Anwesende vielleicht<br />

auch noch etwas anstrengend, weil ich<br />

dafür sorgen werde, dass sowohl Sie als<br />

Staatsbürger als auch die Medien Ihr<br />

Fett wegbekommen. Die Art und Weise,<br />

wie Kritik ausschließlich gegenüber<br />

Parteien geübt wird, geht mir nämlich<br />

gelegentlich etwas gegen den Strich.<br />

Aber damit ich nicht missverstanden<br />

werde, nach dem Motto: Ich zeige nur<br />

mit dem Finger auf andere, wohl wissend,<br />

dass Gustav Heinemann mal<br />

gesagt hat: »Drei Finger weisen dann<br />

auf einen zurück«, fange ich mit den<br />

Parteien an, auch mit der Schwerpunktsetzung<br />

auf der Qualität des Personals.<br />

Richtig ist, dass die Parteien in der<br />

Wahrnehmung der Bevölkerung zu -<br />

nehmend eher Ritualen folgen. Das<br />

kann man auf Parteitagen beobachten:<br />

Musik, Einmarsch, Klatschmarsch,<br />

Frontalunterricht, keine Diskussion,<br />

Ausmarsch, wieder Klatschmarsch,<br />

Musik – und fertig ist der Lack!<br />

So ähnlich sind auch die politischen Veranstaltungen:<br />

Frontalunterricht, möglichst<br />

mit einigen Promis besetzt, aber<br />

einladende Bewegung an einen auch<br />

kontroversen Diskurs – gegebenenfalls<br />

einladende Bewegung an Menschen,<br />

die gar nicht parteipolitisch gebunden<br />

sind, die nicht einmal einseitige parteipolitische<br />

Präferenzen haben –, die<br />

Erschließung auch ganz neuer Kommunikationsplattformen,<br />

ganz anderer<br />

Veranstaltungsformate, das ist jedenfalls<br />

nicht die erkennbar große Qualität<br />

der etablierten Parteien. Hinzu kommt,<br />

dass ihre Sprache als langweilig wahr -<br />

genommen wird, teilweise als völlig<br />

inhaltsleer, inhaltsleer auch deshalb,<br />

weil man damit nicht aneckt.<br />

Mein viel zitierter und häufig verwen -<br />

deter Lieblingssatz lautet: »Eine gute<br />

Grundlage ist die beste Voraussetzung<br />

für eine solide Basis«. Damit machen<br />

Sie sich in Ihren eigenen Reihen keine<br />

Feinde und andere können Ihnen nicht<br />

gegen das Schienbein treten. Aber er<br />

ist völlig aussagelos. Das heißt, die Art<br />

und Weise, wie wir inzwischen auch<br />

folgenlose Inszenierungen organisieren,<br />

unsere Sprache, die Art und Weise,<br />

wie wir einen Gipfel nach dem anderen<br />

inszenieren, die aber weitestgehend<br />

ergebnislos bleiben, wird zunehmend<br />

demaskiert und kritisch wahrgenommen.<br />

Man kann sagen, das ist noch das<br />

Geringste, womit es die etablierten<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 11 |


Parteien zu tun haben und womit sie<br />

sich kritisch beschäftigen müssen. Sehr<br />

viel kritischer ist, dass diese Parteien<br />

inzwischen als – etwas kompliziert ausgedrückt<br />

– selbstreferenzielle Systeme<br />

wahrgenommen werden, als sehr stark<br />

auf sich selbst bezogene Gebilde. Der<br />

Ernstfall der Politik innerhalb vieler<br />

Parteien ist inzwischen nicht mehr die<br />

Begegnung mit den Bürgerinnen und<br />

Bürgern, sondern die Delegiertenkonferenz<br />

und der Parteitag.<br />

Die Selbstbestätigung dessen, was<br />

man als einen parteiverträglichen Kodex<br />

definiert, ist von größerer Bedeutung,<br />

als die Fähigkeit und Neugier, sich ver -<br />

änderten Realitäten und einem sehr<br />

tief greifenden strukturellen Wandel<br />

in Wirtschaft, Gesellschaft und Technologieentwicklung<br />

zu stellen. Der Grund<br />

ist, dass viele Parteien gelegentlich<br />

der Logik folgen, nicht das Programm<br />

muss sich der Realität anpassen,<br />

sondern die Realität muss sich dem<br />

Programm anpassen. Dies macht sich<br />

auch bei der Auswahl des Personals<br />

bemerkbar, weshalb in der Wahrnehmung<br />

von vielen Bürgerinnen und<br />

Bürgern der klassische Funktionärstyp<br />

eher unattraktiv ist.<br />

| 12 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


Ich füge hinzu, auch wenn ich diesen<br />

Begriff selber nutze, keine Partei, kein<br />

Parteiapparat kann per se ohne Funktionäre<br />

auskommen; denn es muss Leute<br />

geben, die den Laden zusammenhalten<br />

und organisieren. Die Aversion des<br />

Publikums richtet sich jedoch gegen<br />

Parteigänger, gegen einen undurchsichtigen<br />

Parteiapparat, unabhängig von<br />

dem Wissen, dass Parteien einen Apparat<br />

benötigen, um arbeitsfähig zu sein.<br />

Was ich kritisch beleuchten möchte, ist,<br />

dass die Personalauswahl auf Delegiertenkonferenzen<br />

und Parteitagen – wo<br />

sich die Frau oder der Mann durchsetzt,<br />

die dies am ehesten bedienen können –<br />

bestimmt wird von dem, was ich den<br />

parteiverträglichen Kodex nenne.<br />

Für einige Politiker ist es viel wichtiger,<br />

auf einem Parteitag 75 % zu bekommen<br />

als bei einer Kommunal-, Landtagsoder<br />

Bundestagswahl die Mehrheit bei<br />

den Bürgerinnen und Bürgern. Davon<br />

ist ihre Karriere und die Wahrnehmung<br />

eines Mandats nicht abhängig, sondern<br />

sie ist abhängig davon, dass sie sich auf<br />

einer Delegiertenkonferenz oder einem<br />

Parteitag durchsetzen, nicht unbedingt<br />

bei einer Wahl.<br />

Es gibt gelegentlich Mandatsträger,<br />

die teilweise um mehrere Punkte mit<br />

ihrem Erststimmenergebnis hinter dem<br />

Zweitstimmenergebnis der Partei liegen.<br />

Für diese Politiker ist die Bedrohung,<br />

mit Liebesentzug bestraft zu werden<br />

und von der eigenen Partei nicht wieder<br />

aufgestellt zu werden, von einer existenzielleren<br />

Bedeutung als die eigentliche<br />

Vorstellung und Bewerbung gegenüber<br />

den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei<br />

kommt ein Politikertypus heraus, der in<br />

seiner Realitätswahrnehmung von der<br />

der Wählerinnen und Wähler abweicht,<br />

weil er seine Sicht der Dinge anpasst<br />

und auf den parteiverträglichen Kodex<br />

ausrichtet. Dieser beschreibt das, was<br />

innerparteipolitisch gerade noch inhaltlich<br />

vertreten werden kann.<br />

Die zweite große Gefahr entlehne<br />

ich in längeren Beobachtungen keinem<br />

Geringeren als Peter Glotz, der einmal<br />

Bundesgeschäftsführer der SPD war.<br />

Er war wahrscheinlich einer der intellektuell<br />

interessantesten Leute, die diese<br />

SPD in den Achtzigerjahren aufzubieten<br />

hatte. Glotz hat eine Unterscheidung<br />

zwischen den sogenannten Zeitarmen<br />

und Zeitreichen vorgenommen.<br />

Die Zeitreichen sind diejenigen, die –<br />

ich gebe zu, auch vornehmlich im öffentlichen<br />

Dienst beschäftigt – die Möglichkeit<br />

haben, die Ochsentour in einer Partei<br />

zu absolvieren, Präsenz zu zeigen,<br />

beteiligt zu werden, bei Abstimmungen<br />

gegenwärtig zu sein. Es sind jene, die<br />

bei den Vernetzungstreffen die Zeit<br />

haben, sich eine Basis zu schaffen, eine<br />

Hausmacht zu erarbeiten. Es sind jene,<br />

die lange bei Parteitagen oder Ortsvereinssitzungen<br />

bis 23 Uhr oder Mitternacht<br />

dabei sein können. Aber diese<br />

Zeitreichen haben oft die geringste Nähe<br />

zu den gesellschaftlichen Veränderungen.<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 13 |


Die Zeitarmen hingegen stehen mitten in<br />

einem beruflichen Leben, unabhängig<br />

davon, ob sie nun abhängig Beschäftigte<br />

oder unternehmerisch tätig sind, ob<br />

sie im wissenschaftlichen Bereich arbeiten<br />

oder ein Ehrenamt wahrnehmen.<br />

Sie sind konfrontiert mit den Veränderungen<br />

in dieser Gesellschaft. Sie haben<br />

ein Fieberthermometer für das, was in<br />

dieser Gesellschaft passiert.<br />

Sie haben aber nicht die Zeit, an den<br />

Ritualen, Aufstellungsverfahren und<br />

Beteiligungsformen innerhalb einer<br />

Partei zu partizipieren. Also setzen sie<br />

sich in einer Partei auch nicht durch. Das<br />

bedeutet, dass etablierte Parteien somit<br />

– wie ich glaube – einen gewissen Realitätsverlust<br />

erleiden könnten. Dieser<br />

Realitätsverlust ist mit einer Distanzierung<br />

gegenüber – wie ich vorhin gesagt<br />

habe – der Realitätswahrnehmung derjenigen<br />

verbunden, die zur Wahl gehen<br />

sollen und einfach den Eindruck haben,<br />

Parteien seien völlig abgehoben und<br />

haben mit der realen Welt nichts mehr<br />

zu tun.<br />

Natürlich kommt hinzu, dass Parteien<br />

objektiven Prozessen ausgesetzt sind,<br />

die zu einer Veränderung nicht nur des<br />

Parteienspektrums, sondern gegebenenfalls<br />

auch zu einer Änderung der<br />

Voraussetzung, unter denen heute<br />

Parteien antreten, führen. Das ist das,<br />

was ich zweitens als externe Einflüsse<br />

bezeichnen will.<br />

Festzustellen ist, dass sich diese<br />

Gesellschaft über einen Schub der<br />

Individualisierung und Pluralisierung<br />

deutlich ausdifferenziert hat. Sie ist vielfältiger<br />

geworden, sie ist bunter geworden.<br />

Das heißt, verglichen mit den 50erund<br />

60er-Jahren gibt es die klassischen<br />

Wählermilieus der alten Bundesrepublik<br />

nicht mehr, die parteipolitisch eindeutig<br />

zuzuordnen gewesen sind.<br />

Ob das eher ein katholisch, agrarisch,<br />

mittelständisch, handwerklich geprägtes<br />

Milieu war, das eher die CDU/CSU<br />

gewählt hat, oder ob das eine städtisch<br />

geprägte organisierte Arbeitnehmerschaft,<br />

mit sehr vielen Angestellten war,<br />

die eine sehr stark in einer Aufstiegsmentalität<br />

verhaftete Wählerschaft ge -<br />

wesen ist, die eher die Sozialdemokratie<br />

gewählt hat – diese Milieus haben sich<br />

aufgelöst.<br />

Sozialwissenschaftler sprechen inzwischen<br />

von ungefähr zehn unterschiedlichen<br />

sozialen Milieus, die sich teilweise<br />

überlappen. Sie kommen zu dem Ergebnis,<br />

dass das keineswegs schon das<br />

Ende dieses Prozesses einer Fragmentierung<br />

dieser Gesellschaft sein muss.<br />

Über diesen gesellschaftlichen Wandel<br />

lösen sich also die klassischen Wählermilieus<br />

auf und es wird der Wählertypus<br />

zunehmen, der nach Lage der Dinge in<br />

seinem Leben mehrfach sehr unterschiedliche<br />

Parteien, eventuell sogar<br />

alle demokratischen Parteien, wählt.<br />

Dies geschieht auf der horizontalen<br />

Ebene – von Bundestagswahl zu Bundestagswahl<br />

– genauso wie auf der vertikalen<br />

Ebene – von einer Europawahl<br />

über eine Bundestagswahl, Landtagswahl<br />

und Kommunalwahl, möglich -<br />

weiser auch oft nach anderen Kriterien,<br />

wo gegebenenfalls der personale<br />

Faktor an Bedeutung gewinnt. Dieser<br />

Wählertypus könnte eher einem angloamerikanischen<br />

Muster folgen, in dem<br />

der parteipolitisch programmatische<br />

und ideologische Hintergrund eher<br />

an Bedeutung verliert und damit Kom -<br />

petenzprofile wichtiger werden als<br />

Wertesysteme.<br />

Das würde ich an sich bedauern, weil<br />

ich zu denjenigen gehöre, die keineswegs<br />

einen nackten Pragmatismus vertreten.<br />

In der Definition von Helmut Schmidt<br />

heißt es: »Pragmatismus in sittlicher<br />

Verantwortung«. Und das ist etwas<br />

grundsätzlich anderes.<br />

Bei der geschilderten Entwicklung<br />

könnte verstärkt ein Politikertypus zum<br />

Zug kommen, der aus der Sicht der Wählerinnen<br />

und Wähler – und da trete ich<br />

das erste Mal in die Beete Ihrer Empfindlichkeiten<br />

– mehr Unterhaltungswert hat<br />

als Substanz. Einige von ihnen möchten<br />

ganz gerne so eine Mischung aus George<br />

Clooney, Einstein und Inge Meisel<br />

ha ben. Einige von Ihnen sind auch auf<br />

diesen Politikertypus sehr abgefahren.<br />

Der Glamour des Herrn zu Guttenberg<br />

hat Sie ja teilweise doch sehr fasziniert.<br />

Das heißt, es steht das im Vordergrund,<br />

was die Amerikaner Face nennen. Dies<br />

wird auch befördert durch eine mediale<br />

Vermarktung, die von diesen Politikern<br />

wiederum bedient wird.<br />

| 14 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


Das finden Sie gar nicht so schlecht, denn<br />

gegebenenfalls richten Sie Ihre Sympathie<br />

für Politik auch danach aus, was Sie<br />

in der »Gala« oder in der »Bunten« lesen<br />

und nicht unbedingt danach, was sie in<br />

dem deutschen Qualitätsjournalismus<br />

von Woche zu Woche oder von Tageszeitung<br />

zu Tageszeitung lesen oder in den<br />

elektronischen Medien mitbekommen.<br />

Das heißt, Ihre Erwartung an den Politikertypus<br />

ist schon eine Mischung nach<br />

dem Motto: Natürlich soll er was in der<br />

Birne haben, aber er muss sich auf dem<br />

gesellschaftlichen Parkett ganz gut be -<br />

wegen können, er muss einen gewissen<br />

Unterhaltungswert haben und dabei verwechseln<br />

Sie, dass Politik eben nicht<br />

Unterhaltung ist.<br />

Politik muss nicht humorlos sein, aber<br />

eine Unterhaltungsveranstaltung ist<br />

Politik garantiert nicht, sondern sie ist<br />

ein sehr ernsthaftes Geschäft.<br />

Das heißt, es ist in Ihrer Verantwortung<br />

als Staatsbürger, welcher Politikertypus<br />

zum Zug kommt. Tatsächlich richten sich<br />

Ihre meisten Sympathien im Augenblick<br />

auf Politiker, die entweder nicht mehr im<br />

Amt sind oder inzwischen den Nimbus<br />

der Überparteilichkeit ha ben, was etwas<br />

damit zu tun hat, was ich am Anfang<br />

schon sagte: dass Sie den klassischen<br />

Parteipolitiker gar nicht so sehr mögen.<br />

Einer der Politiker, der in Deutschland<br />

den Nimbus der Überparteilichkeit er -<br />

reicht hat, aber meistens erst nachdem<br />

er nicht mehr im Amt war, ist Helmut<br />

Schmidt. Richard von Weizsäcker gehört<br />

auch dazu und Gerhard Schröder bis zu<br />

einem gewissen Grad ebenfalls. Joschka<br />

Fischer hat diesen Status ebenso fast<br />

erreicht. Die sind Ihnen inzwischen eher<br />

geheuer als diejenigen, die nach wie vor<br />

Parteien repräsentieren.<br />

Ich ende in wenigen Minuten mit<br />

einem übrigens deutlichen Plädoyer<br />

für Parteiendemokratie – nicht, dass<br />

Sie mich missverstehen. Aber meine<br />

Wahrnehmung ist, dass diese Politiker<br />

seitdem sie nicht mehr im Office sitzen<br />

und nicht mehr klar einer bestimmten<br />

Partei zuzuordnen sind, in Deutschland<br />

ein sehr hohes Ansehen genießen.<br />

Ich habe davon gesprochen, dass<br />

sich Politik in einem sehr komplizierten<br />

Verhältnis zum Trend ihrer Vermarktung<br />

befindet bzw. zur Sehnsucht einiger,<br />

sie vermarkten zu wollen. Damit bin ich<br />

durchaus bei dem Mitwirken von Medien<br />

im Hinblick auf die Wahrnehmung von<br />

Parteiendemokratie und von Politikern<br />

in Deutschland. Die Selbstkritik soll bei<br />

mir nicht zurückstehen, aber ich mache<br />

zunehmend die Erfahrung, dass die<br />

Medien einem stärker werdenden ökonomischen<br />

Druck ausgesetzt sind.<br />

Ich selber habe von der Ökonomisierung<br />

der Medien gesprochen und diese<br />

lässt sich am besten ausdrücken in einer<br />

Begrifflichkeit. Bis weit in die Siebzigerund<br />

Achtzigerjahre sprach man mit Blick<br />

auf die Medien von Verlagshäusern und<br />

heute redet man von Medienunternehmen<br />

– und darin finden sie den Wandel<br />

symbolisiert.<br />

Die betriebswirtschaftlichen Notwendigkeiten<br />

schlagen bisweilen so weit<br />

durch, dass Medien in einem zunehmenden<br />

Konkurrenzkampf auf allen<br />

Ebenen – elektronisch genauso wie<br />

Print – einem Wettbewerbsdruck aus -<br />

gesetzt sind, in der sie Quote und Auf -<br />

lage machen müssen, indem sie auf<br />

sich aufmerksam machen. Sie müssen<br />

schlicht und einfach Käufer und Quote<br />

finden, und das tun sie am ehesten,<br />

indem sie der Sensation, teilweise<br />

dem Krawall, oftmals jedenfalls einem<br />

Trend folgen, der auf Banalisierung,<br />

Skandalisierung und scharfe Persona -<br />

lisierung zielt.<br />

Personalisierung macht sich sehr gut.<br />

Deshalb machen sich auch alle Personalspekulationen<br />

sehr gut, selbst in<br />

einem so seriösen Magazin wie dem<br />

»SPIEGEL«. Was ich da allein im Überblick<br />

der letzten zwei Jahre an Personalspekulationen<br />

erlebt habe, haut jedem<br />

Fass den Boden aus. Es ist aber selbst<br />

für ein solches Qualitätsmagazin völlig<br />

ungefährlich, denn keiner fragt nach vier<br />

oder fünf Wochen, ob diese Personalspekulationen<br />

eingetreten sind. Keiner<br />

misst die Medien danach, was sie vorher<br />

ge liefert haben, während die Aussagen<br />

der Politiker alle auf Wiedervorlage<br />

liegen, alle im Internet gespeichert<br />

sind und ihnen auch nach zwei Jahren<br />

noch um die Ohren gehauen werden<br />

können nach dem Motto »Was hat<br />

<strong>Steinbrück</strong> am 28. Februar um 17:35 Uhr<br />

zum Thema ›A‹ gesagt?«<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 15 |


Die umgekehrte Überprüfung dessen,<br />

was Medien berichten, findet nicht statt.<br />

Am meisten ist dieser Prozess, Aufmerksamkeit<br />

zu finden, inzwischen in den<br />

Online-Diensten. Denn diese Online-<br />

Dienste, die den Klick brauchen, leben<br />

davon, dass sie in einem vier- bis fünfstündigen<br />

Abstand schlicht und einfach<br />

etwas so Neues und Aufregendes bringen<br />

müssen, damit der nächste Klick<br />

erfolgt. Und dieser erfolgt wiederum am<br />

ehesten, wenn es um Personen geht.<br />

Bei einer Rede, die jemand gehalten<br />

hat, ist es erforderlich, dass Online-<br />

Dienste möglichst innerhalb von 60 Mi -<br />

nuten reagieren, und ich mache die Feststellung,<br />

dass auf diese Rede inhaltlich<br />

gar nicht mehr eingegangen wird, sondern<br />

nur mit Blick darauf, wie adrenalingesteuert<br />

derjenige gewesen ist, der sie<br />

vorgetragen hat, und wie das dazu passt,<br />

was er vorher gesagt hat. Das heißt, in<br />

der Sache wird sehr viel weniger berichtet.<br />

Diese Online-Dienste können auch<br />

spielend etwas völlig Falsches berichten.<br />

Ich habe selten erlebt, dass sie eine<br />

Korrektur nachgeschoben haben, sondern<br />

im günstigsten Fall nehmen sie<br />

ihre Meldung heraus. Aber keineswegs<br />

unterliegen sie einem Druck zu sagen,<br />

wir haben uns dort geirrt und der richtige<br />

Sachverhalt ist ein anderer und das<br />

richtige Zitat ist jenes.<br />

Es gibt eine derart große mediale Aufmerksamkeit,<br />

die einen Strahl auf Politiker<br />

legt, der tendenziell dazu führt, dass<br />

Vorurteile, die es gegenüber Politikern<br />

gibt, eher bestätigt werden. Dafür geben<br />

Politiker genügend Anlass, weil wir<br />

moralisch nicht besser sind als andere<br />

Menschen, weil es in der Tat Einzelfälle<br />

gibt, wo Politiker korrupt sind, versagt<br />

haben, schwere Fehlurteile – sogar Fehlentscheidungen<br />

– getroffen haben.<br />

Es gibt Politiker, die sich bereichert<br />

haben, Vorteilsnahme gewährt haben<br />

oder einer unterlegen sind. Das ist alles<br />

richtig. Der Punkt ist nur, dass angesichts<br />

der Häufigkeit und in den immer<br />

kürzeren Abständen, in der dies medial<br />

zur Geltung gebracht wird, die politische<br />

Klasse inzwischen im Ansehen der<br />

Bevölkerung kurz hinter Wegelagerern<br />

liegt. Es ist kein Trost, dass Journalisten<br />

nur eine Stufe darüber sind.<br />

Wenn ich so etwas sage, erfahre ich<br />

sehr schnell eine Reaktion von Journalisten<br />

nach dem Motto: Das sehen Sie völlig<br />

schief und das folge einer Tendenz,<br />

uns Vorschriften machen zu wollen, und<br />

dann sei gleich Pressefreiheit in Gefahr.<br />

Darum geht es nicht. Es geht darum, dass<br />

dieser Bereich der Gesellschaft sich sehr<br />

selbstkritisch darüber klar werden muss,<br />

inwieweit er an einem Prozess beteiligt<br />

ist, an dessen Ende in dieser Bundesrepublik<br />

Deutschland weder auf kommunaler<br />

Basis noch auf Landes- oder Bundesebene<br />

Frauen und Männer bereit<br />

sind, sich um ein politisches Mandat zu<br />

bewerben.<br />

Sie sagen sich: »Warum soll ich mir<br />

das denn antun? Bin ich da im Ansehen<br />

der Bevölkerung auf der Ebene von<br />

Wegelagerern, von Hausierern? Ich<br />

werde angemacht bei jeder Gelegenheit,<br />

insbesondere, wenn ich Kommunal -<br />

politiker bin. Für jede ausgefallene<br />

Straßenlaterne werde ich verantwortlich<br />

gemacht, für jeden Kernstein, wenn<br />

mein Auto nicht hoch kommt, und meine<br />

Kinder werden in der Schule angegangen.<br />

Ich sitze fest in abendlichen Sitzungen<br />

bis 24 Uhr, während die anderen die<br />

Sportschau bei einem Glas Pils oder<br />

Pinot Grigio sehen können.«<br />

Meine ganze Verwandtschaft sagt:<br />

»Du bist doch wohl bescheuert, dich<br />

da irgendwo zu engagieren. Komm<br />

doch lieber zum Fußball- oder zum<br />

Tennisspiel!« Die Ehefrau oder der<br />

Ehemann sagen: »Du warst schon<br />

wieder nicht beim Elternabend der<br />

Kinder, weil du mit deiner blöden Partei<br />

irgendwo herumgehockt hast!«<br />

Das kann das Ergebnis sein. Das<br />

Ergebnis kann sein, dass sie bei einer<br />

Landtagswahl oder bei einer Kommunalwahl<br />

in Nordrhein-Westfalen, was ich<br />

am besten übersehe, für 10.000 Mandate<br />

keine Frauen und Männer mehr<br />

finden, die sich bewerben.<br />

Was heißt das für die demokratische<br />

Substanz einer Gesellschaft?<br />

In der Darstellung von Politik überwiegen<br />

einige Wahrnehmungen, auf die<br />

ich in einer vorletzten Bemerkung gern<br />

eingehen will. Die erste Wahrnehmung<br />

ist, dass Parteien als Ort monolithischer<br />

Geschlossenheit dargestellt werden.<br />

Die gegenläufige Kritik lautet: Wo findet<br />

| 16 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


dort der kritische und teilweise kontroverse<br />

Diskurs statt? Wenn er dort aber<br />

stattfindet, dann werden diese Parteien<br />

als völlig zerstritten – als ein wilder<br />

Haufen – dargestellt.<br />

Man müsse sich endlich mal einigen,<br />

was man denn will. Anders ausgedrückt:<br />

Ein Parteitag der SPD, der alles durchwinkt,<br />

der völlig geschlossen auftritt, wo<br />

sich alle einheitlich verhalten, würde in<br />

der Berichterstattung einen Kommentar<br />

bekommen à la: »Langweiliger Parteitag<br />

der SPD«. Wenn sich da oben aber<br />

gefetzt und über die wirklichen Themen<br />

gerungen wird, kontrovers, rhetorisch<br />

gut, von mir aus auch angriffslustig,<br />

dann wird die Kommentarlage lauten:<br />

»Eine völlig verstrittene SPD ist garantiert<br />

nicht kompetent und geeignet,<br />

irgendwo Regierungsverantwortung zu<br />

übernehmen.«<br />

Das heißt, die Kommentarlage unterliegt<br />

einer gewissen Beliebigkeit. In<br />

Wirklichkeit müssten Parteitage natürlich<br />

in der Tat davon geprägt sein, dass<br />

gerungen und kontrovers debattiert<br />

wird. Weil aber alle befürchten, dass<br />

dies eine negative öffentliche Wahrnehmung<br />

und mediale Berichterstattung<br />

hat, verhalten sich alle viel disziplinierter,<br />

als es bestimmte Themen eigentlich<br />

verdienen.<br />

Die zweite Wahrnehmung ist die nega tive<br />

Besetzung des Begriffes »Kompromiss«<br />

bei Ihnen als Bürgerinnen und Bürger. Es<br />

gibt immer Sieger und Besiegte, es gibt<br />

Gewinner und Verlierer. Es dauert nicht<br />

mehr lange, dann ist die Politik nicht<br />

mehr auf Seite 1, sondern taucht in<br />

der Sportberichterstattung auf. Es gibt<br />

inzwischen alle zwei bis drei Wochen<br />

Wertschätzungskurven für Politiker.<br />

Wer ist oben, wer ist unten, wer hat<br />

0,5 dazugewonnen, wer ist bei 1,7, wer<br />

ist bei 1,8? Das heißt, wir haben längst<br />

eine Bundesligatabelle von Politikern.<br />

Was heißt das? Diejenigen, die sagen:<br />

Oh, ich muss ja da langsam heraus aus<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 17 |


dem Abstiegsloch, verhalten sich einem<br />

Mainstream entsprechend. Sie versuchen,<br />

Liebesbeweise zu organisieren –<br />

so nach dem Motto: Ich werde nicht<br />

abgestraft. Die verhalten sich angepasst.<br />

Aber wollen wir durchweg an -<br />

gepasste Politiker haben?<br />

Diejenigen allerdings, die das wichtigste,<br />

in meinen Augen konstitutive<br />

Element einer Demokratie verkörpern,<br />

nämlich zwischen widerstreitenden<br />

Kräften irgendwann zu einem Kompromiss<br />

zu kommen, das sind die Kompromissler,<br />

und in Deutschland ist der Kompromissler<br />

seit jeher negativ konnotiert.<br />

Wir Deutschen treten ja immer sehr<br />

grundsätzlich an: Hier stehe ich, ich<br />

kann nicht anders.<br />

In Wirklichkeit ist der Kompromiss –<br />

wie man in alteingeübten Demokratien<br />

feststellen kann – genau der Kick, den<br />

wir brauchen, um diese Gesellschaft<br />

zusammenzuhalten.<br />

Die dritte Wahrnehmung ist, dass es<br />

inzwischen in der Vermittlung von Politik<br />

eine Art Ereignis- und Ergebnisfixierung<br />

gibt. Das Ereignis an sich ist dasjenige,<br />

was in Ihren Köpfen ist, der Auftritt bei<br />

internationalen Konferenzen oder dergleichen.<br />

Dabei fehlt das Verständnis<br />

dafür, dass Politik ein ewiger Prozess ist,<br />

der nie zu einem Ende kommt.<br />

Schauen Sie sich die Debatten zur<br />

Alters versorgung oder zu einer Ge -<br />

sundheits reform der Bundesrepublik<br />

Deutschland an. Das sind Prozesse! Das<br />

Verständnis zu wecken, dass Politik und<br />

Demokratie Prozesse sind, in denen es<br />

immer ein stufenweises Voranschreiten<br />

– gelegentlich sind es auch zwei Schritte<br />

an die Seite, manchmal sogar ein Schritt<br />

zu rück – gibt und die nicht allein davon<br />

leben, dass irgendwann ein geheiligtes,<br />

auf Ewigkeit in Stein gemeißeltes Ergebnis<br />

vorliegt, muss sehr viel stärker ge -<br />

weckt werden.<br />

Der Herr Landtagspräsident hat gerade<br />

ein sehr aktuelles Beispiel gegeben, in -<br />

dem er von der Konferenz der Präsidenten<br />

der deutschen Landtage berichtet<br />

hat nach dem Motto: Wir wollen eine<br />

weitere Föderalismusreform, wir wollen<br />

einen neuen Länderfinanzausgleich.<br />

Glauben Sie mir, das ist das komplexeste<br />

Thema der Innenpolitik, das es gibt. Ich<br />

weiß, wovon ich rede, denn ich habe das<br />

letzte Mal über drei Jahre an den Verhandlungen<br />

teilgenommen. Jetzt wollen<br />

die Landtagspräsidenten auch noch<br />

ein Stimmrecht haben. Wo kommen wir<br />

da hin? Dann wollen die kommunalen<br />

Spitzenverbände ein Stimmrecht haben.<br />

Diese bunten Länderfinanzbeziehungen<br />

oder Länderländerfinanzbeziehungen –<br />

davon, Herr Rößler, verstehen in Deutsch -<br />

land nur noch drei Leute etwas, nicht<br />

mehr. Der eine ist tot, der zweite ist in<br />

der Psychiatrie und der dritte bin ich –<br />

und ich habe alles vergessen.<br />

Worauf ich hinaus will, ist das Prozess -<br />

hafte in der Politik. Dieses Thema ist<br />

ein klassisches Beispiel und natürlich<br />

kommt es auf die Tagesordnung. Wer<br />

nach der letzten Föderalismusreform II<br />

geglaubt hat, die Regelungen seien nun<br />

für dreißig oder vierzig Jahre in Stein<br />

gemeißelt, hat natürlich schon deshalb<br />

einen Irrtum begangen, weil wir alle<br />

wissen: 2019 ist mit dem Auslaufen des<br />

Solidarpaktes II ein Datum, an dem<br />

dieses Thema spätestens auf die Tagesordnung<br />

kommt. Aber Sie können es<br />

ja vorher betreiben, das Prozesshafte.<br />

Es ist erstaunlich, welche Bringschuld<br />

Politikern in Deutschland abverlangt wird.<br />

Das ist fast eine Überforderung. Wenn<br />

etwas kommunikativ nicht funktioniert,<br />

ist es das Versagen in der Kommunika -<br />

tion der Politiker.<br />

Ich gebe zu, in vielen Fällen ist das der<br />

Fall, aber die Überforderung der Politik<br />

| 18 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


ezüglich ihrer Bringschuld ist unge -<br />

heuerlich und steht in einem Missverständnis<br />

zu der Unterforderung der<br />

Holschuld von Staatsbürgerinnen und<br />

Staatsbürgern. Da werde ich garstig.<br />

Wie kommen Sie eigentlich immer<br />

auf die Idee, dass die Politik in der Vermittlung<br />

versagt hat? Vielleicht haben<br />

Sie versagt, mal abzurufen, was die Politik<br />

Ihnen bietet und was Ihnen übrigens<br />

in vielerlei Informationskanälen auch<br />

geboten wird. Nein, Sie sitzen da sehr<br />

gern in Ihrem bequemen Stuhl und<br />

sagen: Jetzt komm mal mit der Gabel<br />

und das möchte ich sehr konsumfreundlich<br />

von dir haben. Gelegentlich müssen<br />

Sie sich anstrengen. Stellen Sie sich mal<br />

vor, Demokratie ist anstrengend!<br />

So leicht lasse ich Sie da nicht aus<br />

der Klammer. Sie haben eine Holschuld<br />

als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger<br />

und wir als Politiker haben nicht nur<br />

eine Bringschuld. Ein bisschen mehr<br />

Aktivität, statt nur zu sagen: Diese Idioten<br />

da oben, die haben mir das ja nicht<br />

richtig erklärt. Vielleicht waren Sie auch<br />

gar nicht in der Lage oder willens, die<br />

Erklärung abzuholen, wenn die Sachverhalte<br />

immer komplexer und schwieriger<br />

werden. Ich komme in einem 90-Sekunden-Statement<br />

bei privaten Fernsehsendern<br />

gar nicht mehr dazu, Ihnen eine<br />

komplizierte Steuerreform zu erklären,<br />

zumal ich am besten ein Opening Shot<br />

bringen muss und eine gute Schlussapotheke,<br />

dann habe ich nur noch<br />

60 Sekunden.<br />

Sie wollen von mir in 60 Sekunden die<br />

Finanzmarktkrise in Europa erklärt haben.<br />

So läuft das nicht. Das heißt, wir haben<br />

es auch auf der Rezipientenseite mit<br />

Erscheinungsformen zu tun, die zu einer<br />

gewissen selbstkritischen Betrachtung<br />

einladen.<br />

Letzte Bemerkung: Ich bin ein deutlicher<br />

Verfechter der Parteiendemokratie,<br />

mache allerdings alle Parteienvertreter<br />

und mich selbst darauf aufmerksam, dass<br />

in – ich glaube – Artikel 21 Abs. 1 des<br />

Grundgesetzes steht: Die Parteien wirken<br />

bei der politischen Willensbildung mit.<br />

Das ist ganz wichtig. Dies führt nämlich<br />

dazu, dass sich die Parteien stärker<br />

selbst beschränken werden müssen.<br />

Sie wirken nur an der Willensbildung<br />

mit. Das eigentliche Zentrum der Willens -<br />

bildung sind nicht die Parteien, nicht<br />

ihre Parteitage, sondern die Parlamente.<br />

Dort findet die Willensbildung durch<br />

demokratisch legitimierte Abgeordnete<br />

statt. Deshalb ist mein erster Rat mit<br />

Blick auf die – wie ich glaube – strukturellen<br />

und kulturellen Anforderungen<br />

an Parteien im 21. Jahrhundert, dass sie<br />

diesen Bestimmungen des Grundgesetzes<br />

Artikel 21 Abs. 1 folgen und sich sehr<br />

viel stärker selbst beschränken, übrigens<br />

auch mit Blick auf die Einflussnahme<br />

von öffentlichen Institutionen.<br />

Parteien werden sich, zweitens, öffnen<br />

müssen, thematisch, kommunikativ und<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 19 |


auch personell. Es kann in dem einen<br />

oder anderen Fall auch sinnvoll sein,<br />

dass Parteien sich verständigen – zum<br />

Beispiel auf parteilose Kandidaten, auf<br />

einen bestimmten fachlichen Sachverstand,<br />

auf einen bestimmten sozialen<br />

oder beruflichen Hintergrund. Dass sie<br />

quasi die Plattform der Flugzeugträger<br />

sind, mit deren Hilfe politisch Interessierte,<br />

aber gegebenenfalls nicht par -<br />

teipolitisch Gebundene, durchaus in<br />

die Lage versetzt werden, sich im parlamentarischen<br />

Raum zu artikulieren.<br />

Wir wären gut beraten, Menschen ein -<br />

zuladen, an Informationen teilhaben zu<br />

lassen, übrigens auch über die digitalen<br />

Möglichkeiten, ohne sie gleich zu instrumentalisieren<br />

und in Anspruch<br />

zu nehmen.<br />

Die Neugier mitzumachen gibt es<br />

übrigens bei jüngeren Leuten, bezogen<br />

auf ein Projekt, aber nicht mit Bezug<br />

darauf, sich lebenslang in einer Partei<br />

verhaften zu lassen. Darauf sind wir<br />

bisher nicht eingestellt. Das gilt auch<br />

für Kommunikations- und Veranstaltungsplattformen.<br />

Vielleicht ist es wichtiger,<br />

zunehmend Veranstaltungsformen<br />

zu finden, wo von 100 Teilnehmern im<br />

Saal nicht 99 Sozialdemokraten sind.<br />

Ich hätte ein Interesse daran, dass es<br />

Veranstaltungen sind, in die Menschen<br />

eingeladen und neugierig gemacht<br />

werden, die noch nie einen Sozialdemokraten<br />

oder umgekehrt einen Christdemokraten<br />

erlebt haben. Sie kommen<br />

dann vielleicht zu dem Ergebnis,<br />

dass die Sozis doch mit Geld umgehen<br />

können.<br />

Das heißt, es wird Veränderungen<br />

geben müssen mit Blick auf die – wie<br />

ich sie genannt habe – thematisch<br />

organisatorische und kommunikative<br />

Öffnung. Aber ich war stehengeblieben,<br />

dass ich Anhänger dieser Parteiendemokratie<br />

bin.<br />

Eine ganz einfache Frage an Sie:<br />

Wer anstelle demokratisch verfasster<br />

Parteien soll denn in Deutschland demokratisch<br />

legitimierte Mehrheitsentscheidungen<br />

unter Wahrung eines Minder-<br />

| 20 | Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong>


heitsschutzes organisieren? Solange<br />

Sie mir diese Frage nicht beantworten<br />

können, bekommen Sie mich an den<br />

Hals mit Blick auf ein Überkippen Ihrer<br />

verständlichen Kritik an den Parteien<br />

in eine Art Verachtung. Sie können mir<br />

diese Frage nicht beantworten. Sollen<br />

es Bürgerinitiativen sein, hoch volatil,<br />

sehr stark auf ein spezifisches Thema<br />

fokussiert? Sollen es Meinungsumfragen<br />

mit Ergebnissen sein, deren Ergebnisse<br />

davon abhängig sind? Soll es ein Ältestenrat<br />

sein, natürlich nur bestehend aus<br />

alten Männern? Soll es eines Tages vielleicht<br />

Ihre Fernsehbedienung machen,<br />

wo Ihnen gesagt wird, für die Lösung A<br />

drücken Sie bitte die Taste 1 und auf die<br />

Lösung B drücken Sie bitte die Taste 8?<br />

Solange Sie mir nicht sagen können,<br />

wer demokratisch legitimierte Mehrheitsentscheidungen<br />

in einer offen und<br />

hoch ausdifferenzierten Gesellschaft mit<br />

80 Millionen Einwohnern herbeiführen<br />

kann, sodass wir uns nicht die innere<br />

Friedfertigkeit dabei beschädigen, bitte<br />

ich Ihre Distanz und Kritik gegenüber<br />

diesem Parteienwesen in Grenzen zu<br />

halten.<br />

Ich glaube, dass Parteien sich werden<br />

ändern müssen, aber dass die demo -<br />

kratische Substanz dieser Gesellschaft<br />

maßgeblich beschädigt würde, wenn<br />

eine Distanzierung gegenüber Parteien<br />

in Verachtung umschlagen würde,<br />

so wie ich es eingangs skizziert habe.<br />

In dem Zusammenhang bin ich ein<br />

deutlicher Anhänger des repräsentativen<br />

Systems und teile nicht die Auffassung,<br />

die im Augenblick von den Piraten am<br />

deutlichsten mit Blick auf eine sogenannte<br />

Liquid Democracy vertreten wird.<br />

Das Ergebnis einer solchen Liquid<br />

Democracy ist, dass die Zeitreichen die<br />

Entscheidung treffen. Das sind nämlich<br />

diejenigen, die computer- oder internet -<br />

affin sechs Stunden lang am Tag am<br />

Computer sitzen, während all die Zeit -<br />

armen, auch der arme Malocher, der<br />

irgendwo im Stahlwerk den Stahlabguss<br />

sticht, nicht in der Lage sind, sich daran<br />

zu beteiligen. Es würde eine elitäre<br />

Herausbildung von Leuten geben,<br />

die über dies, was Liquid Democracy<br />

genannt wird, die Entscheidungen<br />

prägen würden.<br />

Ich glaube, dass die Fehlerorientierung<br />

eines solchen Musters viel größer<br />

ist als die Fehlerorientierung einer<br />

repräsentativ parlamentarisch verfassten<br />

Demokratie. Deshalb sage ich:<br />

Vorsicht an der Bahnsteigkante! Das,<br />

was Ihnen dort als Partizipation, als<br />

Beteiligung »vorgegaukelt« wird, reduziert<br />

sich nachher auf einige Wenige, die<br />

einen unverhältnismäßig hohen Einfluss<br />

ausüben können, insbesondere, wenn<br />

die Abstimmungsrechte, die Sie bekommen<br />

haben, auch noch von anderen an<br />

Sie adressiert werden. Das bitte ich ge -<br />

legentlich sehr kritisch zu hinterfragen.<br />

Dieses parlamentarische, von Parteien<br />

geprägte System hat über die letzten<br />

sechzig Jahre in der Bundesrepublik und<br />

seit zwanzig Jahren auch hier in Dresden<br />

ein enormes Ausmaß an Frieden, Freiheit,<br />

unternehmerischen Möglichkeiten,<br />

sozialem Ausgleich gebracht, sodass<br />

ich derselben Auffassung bin, die sinngemäß<br />

– glaube ich – Churchill mal<br />

artikuliert hat: »Die Demokratie ist das<br />

zweitbeste System, das ich kenne.<br />

Das Beste habe ich nie kennengelernt.«<br />

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.<br />

Impulsreferat von Peer <strong>Steinbrück</strong> | 21 |


Vorstellung der Teilnehmer<br />

an der Podiumsdiskussion<br />

Dr. Martin Doerry,<br />

stellv. Chefredakteur »DER SPIEGEL«<br />

Dr. Martin Doerry wurde am 21. Juni 1955 in<br />

Veerßen bei Uelzen geboren. Im Anschluss an das<br />

Abitur studierte er Germanistik und Geschichte in<br />

Tübingen. Nach einem Aufenthalt als Stipendiat<br />

an der Universität Zürich im Jahre 1978 und dem<br />

Ersten Staatsexamen erhielt er 1983 ein Promotionsstipendium<br />

der Friedrich-Ebert-Stiftung.<br />

1985 promovierte er in Geschichte.<br />

Von 1985 bis 1987 arbeitete Doerry als Reporter<br />

im SDR-Studio Karlsruhe und wechselte Ende 1987<br />

zum SPIEGEL-Verlag als Redakteur im Ressort<br />

Deutschland II, Bereich Bildungspolitik. Im Oktober<br />

1991 übernahm er zusammen mit Dr. Mathias<br />

Schreiber die Leitung des Ressorts Kultur II (Feuilleton).<br />

Seit November 1996 leitete er zusammen<br />

mit Dr. Gerhard Spörl das Ressort Deutsche Politik.<br />

Am 1. August 1998 wurde Martin Doerry zum<br />

stellvertretenden Chefredakteur der Zeitschrift<br />

DER SPIEGEL ernannt.<br />

Dr. Matthias Rößler, Landtagspräsident<br />

Geboren am 14. Januar 1955 in Dresden.<br />

Matthias Rößler ist promovierter Ingenieur und<br />

kam durch die Friedliche Revolution in die Politik.<br />

Als Mitglied der Partei »Demokratischer Aufbruch«<br />

wirkte er 1989/90 am Runden Tisch und im Koordinierungsausschuss<br />

zur Wiedererrichtung des<br />

Freistaates Sachsen mit. Er gehört seit 1990 für die<br />

CDU dem Sächsischen Landtag an und war von<br />

1994 bis 2002 Kultusminister und anschließend<br />

von 2002 bis 2004 Staatsminister für Wissenschaft<br />

und Kunst. Seit 2009 ist er Präsident des Sächsischen<br />

Landtags.<br />

Er ist Herausgeber des Sammelbandes »Einigkeit<br />

und Recht und Freiheit – Deutscher Patriotismus<br />

in Europa« und einer Reihe von Veröffentlichungen<br />

insbesondere zur Friedlichen Revolution<br />

und zur Bilanz der Deutschen Einheit.<br />

| 22 | Podiumsteilnehmer


Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB<br />

Petra Köpping, MdL<br />

Wolfgang Donsbach ist Professor für Kommuni -<br />

kationswissenschaft an der TU Dresden, Gründungsdirektor<br />

sowie amtierender Direktor des<br />

dortigen Instituts.<br />

Geboren wurde er am 9. November 1949 in<br />

Bad Kreuznach. Nach dem Abitur 1968 in Bad<br />

Kreuznach folgte ein Studium an der Johannes-<br />

Gutenberg-Universität Mainz. Promotion (1981)<br />

und Habilitation (1989) erfolgten ebenso an der<br />

Universität Mainz.<br />

Nach Dresden führten ihn berufliche Stationen<br />

an den Universitäten Dortmund, Mainz und FU<br />

Berlin. Seine Forschungsschwerpunkte sind Journalismus,<br />

öffentliche Meinung, politische Kommunikation<br />

und Rezeptionsforschung. Er ist dauer -<br />

hafter Gastprofessor an der Universidad de<br />

Navarra in Pamplona, Spanien.<br />

Wolfgang Donsbach ist außerdem Kultursenator<br />

des Freistaats Sachsen. Er hat neun Monographien<br />

verfasst und fünf Buchpublikationen herausgegeben.<br />

Daneben zeichnet er als Autor von rund<br />

150 Beiträgen in Fachzeitschriften und Büchern.<br />

Geboren am 10. Januar 1947 in Hamburg. Von 1970<br />

bis 1974 Studium der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft<br />

in Kiel; Abschluss als Diplom-Volkswirt.<br />

Von 1974 bis 1982 war Peer <strong>Steinbrück</strong> in verschiedenen<br />

Funktionen für das Bundesbauministerium,<br />

Bundesministerium für Forschung und Technologie,<br />

Bundeskanzleramt und die Ständige<br />

Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in<br />

Ost-Berlin tätig.<br />

Für die SPD-Bundestagsfraktion war er von 1983<br />

bis 1985 tätig, ehe er 1985 in das Ministerium für<br />

Umwelt, Raumordnung und Landwirtschaft nach<br />

Nordrhein-Westfalen wechselte und dort schließlich<br />

von 1986 bis 1990 Leiter des Büros des Ministerpräsidenten<br />

Johannes Rau war.<br />

Zunächst als Staatssekretär und ab Mai 1993 als<br />

Minister war Peer Steinbück von 1990 bis 1998 in<br />

Schleswig-Holstein. Er kehrte zurück nach Nordrhein-Westfalen<br />

und wurde Minister für Wirtschaft<br />

und Mittelstand, Technologie und Verkehr und ab<br />

2000 Finanzminister. Das Amt des Ministerpräsidenten<br />

des Landes Nordrhein-Westfalen bekleitete<br />

er von 2002 bis 2005. Dem Landtag gehörte er von<br />

2000 bis 2005 an.<br />

Von 2005 bis 2009 war er stellvertretender<br />

Vorsitzender der SPD und Bundesminister der<br />

Finanzen. Er ist seit Oktober 2009 Mitglied des<br />

Deutschen Bundestages.<br />

Geboren am 12. Juni 1958 in Nordhausen. Nach<br />

ihrem Abitur 1977 in Grimma begann sie ein<br />

Studium der Staats- und Rechtswissenschaften,<br />

das sie 1985 mit dem Diplom abschloss.<br />

Von 1989 bis 1990 war Petra Köpping Bürgermeisterin<br />

der Gemeinde Großpösna. Darauf folgte<br />

eine vierjährige Tätigkeit als Außendienstmitarbeiterin<br />

der Deutschen Angestellten-Krankenkasse.<br />

Von 1994 bis 2001 bekleidete sie erneut das Amt<br />

der Bürgermeisterin der Gemeinde Großpösna<br />

und war danach von 2001 bis 2008 Landrätin des<br />

Landkreises Leipziger Land. Im Jahr 2009 war die<br />

Markkleebergerin bis zum 30. August 2009 als<br />

Kommunalberaterin der Sächsischen Aufbaubank<br />

in Dresden tätig.<br />

Zur Landtagswahl 2009 zog sie über die Landesliste<br />

für die SPD in den Sächsischen Landtag ein<br />

und gehört diesem in der 5. Legislaturperiode<br />

zum ersten Mal an. Seit 2006 ist sie Mitglied der<br />

SPD und derzeit stellvertretende Landesvorsitzende<br />

der SPD Sachsen.<br />

Sie ist stellvertretende Fraktionsvorsitzende<br />

und Sprecherin für Wirtschaft, Kommunalpolitik<br />

sowie für Wohnungsbau und Stadtentwicklung<br />

der SPD-Fraktion im Sächsischen Landtag sowie<br />

Mitglied im Ausschuss für Wirtschaft, Arbeit und<br />

Verkehr und im Innenausschuss.<br />

Podiumsteilnehmer | 23 |


Podiumsdiskussion<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Vielen Dank. Ich glaube, bei einem kann<br />

ich Sie beruhigen. Wir haben einen guten<br />

Start gemacht. 99 % SPD-Mitglieder<br />

haben Sie in diesem Saal nicht. Das liegt<br />

auch ein bisschen an Sachsen. Also, Sie<br />

haben einen ersten Aufschlag gemacht,<br />

um sozusagen Politik zu verändern.<br />

Ein paar Worte noch zu Herrn <strong>Steinbrück</strong>.<br />

Die werde ich dann auch noch zu den<br />

anderen Diskutanten machen. Er hat ja<br />

angefangen in der Politik als Referent<br />

für verschiedene Bundesministerien, hat<br />

das Büro von Ministerpräsident Johannes<br />

Rau in Nordrhein-Westfalen geleitet,<br />

war dann in Schleswig-Holstein als<br />

Staatssekretär, als Minister und kam<br />

zurück nach Nordrhein-Westfalen und<br />

war dort zunächst Finanzminister und<br />

dann Ministerpräsident.<br />

Als er die Wahl verloren hatte, nämlich<br />

2005, ging er dann in den Bund als<br />

Bundesminister der Finanzen. Das ist<br />

ja auch gar nicht so ein untypischer<br />

Karriereweg, wenn man eine Wahl in<br />

einem Land verliert, dass man dann<br />

zum Bundesminister avanciert.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: War da eine<br />

gewisse Ironie zu spüren?<br />

Prof: Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Nein, gar nicht. Das ist eine gewisse<br />

Anerkennung. Sie sind stellvertretender<br />

Vorsitzender der SPD gewesen und sind<br />

seit 2009 Mitglied des Deutschen Bundestages.<br />

Das Buch wurde erwähnt.<br />

»Unterm Strich« heißt es. Es ist sehr<br />

lesenswert – und wie ich im Vorwort<br />

gelesen habe, ist jedes Wort selbst<br />

geschrieben. Darauf legen Sie Wert.<br />

Darauf muss man ja heute Wert legen,<br />

wenn Politiker …<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich wusste nicht,<br />

wie aktuell das werden könnte.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Genau. Das war noch vor dem Herrn, bei<br />

dem das nicht so der Fall war.<br />

Ich darf Frau Petra Köpping nach vorn<br />

bitten. Sie ist ja auch schon angesprochen<br />

worden. Sie war 7 Jahre Bürgermeisterin<br />

in Großpösna – das liegt so südöstlich von<br />

Leipzig – und 7 Jahre Landrätin im Landkreis<br />

Leipziger Land und sitzt seit 2009<br />

für die SPD im Sächsischen Landtag.<br />

Sie ist Mitglied des Innenausschusses<br />

und des Ausschusses für Wirtschaft,<br />

Arbeit und Verkehr. Sie schreibt auf ihrer<br />

Homepage: »Ich stehe für soziale Ge -<br />

rechtigkeit, für alle Kinder und Jugendlichen,<br />

für eine tatkräftige Unterstützung<br />

der Entwicklung der mittelständischen<br />

Wirtschaft, für die Stärkung der ländlichen<br />

Räume und dafür, dass der Lohn<br />

für den Lebensunterhalt ausreicht.«<br />

Das sind also relativ konkrete Aussagen,<br />

die nicht dem entsprechen, was Sie<br />

gesagt haben über die Grundlagen,<br />

die Basis usw., sondern die konkrete<br />

politische Ziele vorgeben.<br />

Unser Nächster in der Runde ist Dr.<br />

Martin Doerry. Er ist einer von zwei<br />

| 24 | Podiumsdiskussion


stellvertretenden Chefredakteuren<br />

des »SPIEGEL«. Dessen früherer Herausgeber<br />

Augstein hat ihn einmal »das<br />

Sturm geschütz der Demokratie«<br />

genannt. Dr. Doerry ist promovierter<br />

Historiker, war zunächst beim Süddeutschen<br />

Rundfunk und wechselte bereits<br />

1987 zum »SPIEGEL«. Er war zunächst<br />

für Bildungspolitik zuständig, dann<br />

Leiter des Feuilletons, Ressortleiter<br />

für deutsche Politik und ist bereits<br />

seit 14 Jahren stellvertretender Chef -<br />

redakteur.<br />

Einige von Ihnen werden ihn vielleicht<br />

auch kennen. Er hat ein Buch herausgegeben<br />

und das heißt »Mein verwundetes<br />

Herz. Das Leben der Lilli Jahn«. Das<br />

sind 250 Briefe aus dem Briefwechsel<br />

zwischen der jüdischen Großmutter Lilli<br />

Jahn und ihren Kindern. Diese Briefe<br />

stammen aus dem Nachlass von Gerhard<br />

Jahn. Gerhard Jahn ist der ehemalige<br />

Justizminister in der Regierung Brandt-<br />

Scheel und das ist sein Onkel, wenn ich<br />

das richtig gelesen habe. 2006 erschien<br />

ein weiteres Buch »Nirgendwo und überall<br />

zu Hause. Gespräche mit Überlebenden<br />

des Holocaust«.<br />

Der Hausherr, Dr. Matthias Rößler – es<br />

wurde schon erwähnt, dass er an einer<br />

Universität studiert hat, welche damals<br />

noch nicht, aber heute Exzellenzuniversität<br />

ist – wurde promoviert zum Dr. Ing.<br />

an der Hochschule für Verkehrswesen.<br />

Er war Mitglied des Demokratischen Aufbruchs<br />

und seit 1990 hat er ein Direktmandat<br />

im Landtag. So viel zu Mehrheiten,<br />

die Politiker haben können.<br />

Er war Kultusminister und danach<br />

Minister für Wissenschaft und Kunst<br />

und damit eine Zeit lang auch mein<br />

Vorgesetzter, mein Dienstherr als<br />

Universitätsprofessor. Seit 2004 ist<br />

er finanzpolitischer Sprecher der CDU<br />

und Mitglied der Grundsatzkommission<br />

der CDU Deutschland, Vertreter der<br />

deutschen Landtage in der Föderalismuskommission<br />

und seit 2009 ist er<br />

Präsident des Sächsischen Landtags,<br />

und das kann man ja eine Zeit lang<br />

sein, wie man an dem Vorgänger<br />

gesehen hat.<br />

Es haben alle ihr Fett wegbekommen!<br />

Den Vortrag von Herrn <strong>Steinbrück</strong> fand<br />

ich übrigens beeindruckend. Er hat nicht<br />

einmal auf sein Blatt schauen müssen.<br />

Ich mache das ständig. Das zeigt vielleicht<br />

schon gewisse Unterschiede. Sie<br />

haben gesagt, Sie haben alles vergessen.<br />

Ihre Reden gehören offensichtlich<br />

nicht dazu, sondern das, was Sie in<br />

bestimmten Sachbereichen der Politik<br />

vergessen wollen. Alle haben ihr Fett<br />

wegbekommen. Eine Kollegin von mir,<br />

eine amerikanische Kommunikationswissenschaftlerin,<br />

hat einmal gesagt:<br />

Die drei Hauptelemente der Demokratie,<br />

die schaffen es jeweils, das Schlechteste<br />

herauszuholen.<br />

Die Bürger, die Parteien und die Medien<br />

treiben sich sozusagen zu negativen<br />

Höchstleistungen nach vorn. Ich möchte<br />

mal anfangen mit der Politik, Frau<br />

Podiumsdiskussion | 25 |


Köpping. Sie haben mir vorhin schon<br />

mehr so zugeraunt, dazu möchten Sie<br />

etwas sagen, und das betraf – glaube<br />

ich – das Innerparteiliche.<br />

Was Herr <strong>Steinbrück</strong> über die Vorgänge<br />

innerhalb der Parteien gesagt hat, über<br />

die Fehler, die Sie machen – ich denke,<br />

wir sollten vor allem über die Fehler, die<br />

alle drei Hauptbeteiligten machen,<br />

reden, um dann nach Lösungen zu<br />

suchen. Sie haben ja einige angedeutet.<br />

Stimmt das? Ist das das Bild, welches<br />

Sie auch haben, als jemand, der in der<br />

Landes politik aktiv ist?<br />

Petra Köpping, MdL: Das würde ich auf<br />

jeden Fall unterschreiben und bestätigen,<br />

zumal ich jemand bin, der nicht über die<br />

Parteischiene zu dieser Landtagsabge -<br />

ordnetentätigkeit gekommen ist, sondern<br />

eben ganz klassisch außerhalb der Partei.<br />

Ich war viele Jahre parteilos als Bürgermeisterin<br />

und Landrätin tätig. Ich war<br />

schon sehr verwundert. Ich stand in dem<br />

Parteikram und erlebte die Mechanismen.<br />

Ich wurde das erste Mal stellvertretende<br />

Landesvorsitzende und als diese Wahlveranstaltung<br />

war, da wurde ich vorher<br />

gefragt: Hast du denn mit allen mal<br />

gesprochen? Ich sagte: Nein. Ich stelle<br />

mich doch vor. Ich stelle mich doch da<br />

vorn hin und erzähle den Leuten, was<br />

ich gerne möchte – und dann können sie<br />

mich wählen oder eben nicht. Also diese<br />

Mechanismen, dass man in der Partei<br />

Karriere macht, über eine Partei Karriere<br />

macht, kannte ich nicht und das war<br />

eine neue Erfahrung, die ich auch nicht<br />

für sonderlich gut halte.<br />

Weshalb ich mich ein bisschen gemeldet<br />

habe, war diese Art der Kommunalpolitik,<br />

die Herr <strong>Steinbrück</strong> angesprochen<br />

hat. Ich glaube, da fehlt ein großer Fakt,<br />

warum das Interesse auf kommu naler<br />

Ebene nicht mehr vorhanden ist. Dass<br />

man sich in Gemeinderäten, in Stadt -<br />

räten, auch Kreistagen engagiert, das<br />

ist für mich eine ganz klassische Aus -<br />

sage, die Leute haben aber nichts<br />

mehr zu entscheiden. Die Städte und<br />

Gemeinden haben ihre Pflichtaufgaben,<br />

die sie entscheiden. Da muss ich die<br />

Hand heben. Wenn ich es nicht tue –<br />

hier sitzt ja auch ein Landrat –, da muss<br />

ich als Landrat in den Widerspruch<br />

gehen und die Freiwilligkeitsleistungen,<br />

– ich kenne das aus meinem alten<br />

Landkreis, dem Leipziger Landkreis –<br />

liegen bei 0,2 %. Das ist eine Entscheidungshoheit,<br />

wo einfach nichts mehr<br />

zu entscheiden ist. Wohin soll ich da<br />

setzen?<br />

All die Nachteile, die Sie gut beschrieben<br />

haben, Familie, berufliche Karriere,<br />

andere Dinge, wie soll ich diese denn<br />

eigentlich verteidigen, wenn ich sowieso<br />

nichts zu entscheiden habe und mir ein<br />

Stück vorkomme – bitte entschuldigen<br />

Sie das Wort – wie ein Stimmvieh?<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ist das denn dann auf den darüber liegenden<br />

Ebenen anders, Herr <strong>Steinbrück</strong>,<br />

also im Land, im Bund?<br />

| 26 | Podiumsdiskussion


Frau Köpping hat von der Fast-Unmöglichkeit<br />

gesprochen, politischen Nachwuchs<br />

überhaupt zu rekrutieren, weil<br />

viele sich das nicht mehr antun wollen.<br />

Hat man dort noch den Nachwuchs, der<br />

sozusagen mit den Hufen scharrt und<br />

in die Politik will, weil es dort ja noch<br />

etwas zu entscheiden gibt, anders, als<br />

Frau Köpping das für die Gemeinden<br />

beschreibt?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Das ist abhän gig<br />

von der Finanzausstattung. Ich gebe<br />

Frau Köpping recht. Die Finanzausstattung<br />

der Kommunen überall in Deutschland<br />

– Ost, West, Nord, Süd, große<br />

Länder, kleine Länder – ist so angespannt,<br />

dass es kaum noch Entscheidungs-<br />

und Gestaltungsmöglichkeiten<br />

gibt. Die Gestaltungsmöglichkeiten<br />

sind auf der Landtags- und Bundestagsebene<br />

sicher größer. Wahrscheinlich<br />

sind sie auf Bundesebene noch etwas<br />

größer, weil die Haushalte der Länder<br />

stärker verkarstet sind als der Bundesetat.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Kommen wir mal zu den anderen, den<br />

Bürgern und den Medien. Ich fange mal<br />

mit den Medien an. Diese haben ja das<br />

meiste Fett abbekommen. Es gibt ja ein<br />

eigenes Kapitel über die Medien in dem<br />

Buch. Man merkt auch in der Verve, mit<br />

der Herr <strong>Steinbrück</strong> über die Medien<br />

spricht, dass da wohl auch einiges hängengeblieben<br />

ist in der Auseinandersetzung<br />

in vielen, vielen Jahren.<br />

Ziehen Sie sich den Schuh an zu dem,<br />

was er gesagt hat, oder wo würden Sie<br />

Abstriche machen?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das waren ziemlich viele<br />

Schuhe. Ich weiß gar nicht, welchen<br />

ich nehmen soll.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Wir kommen ja auch bei diesem Thema<br />

noch auf die Details zu sprechen. Ich<br />

meine jetzt im Hinblick darauf, dass die<br />

Medien mit dazu beigetragen haben, wo<br />

wir heute stehen, zusammengefasst –<br />

ich sage mal – mit relativ hohem<br />

Desinteresse und Politikverdrossenheit.<br />

Haben die Medien dazu beigetragen?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das kann man gar nicht<br />

so einfach beantworten, denn ich komme<br />

mit einer ganz anderen Analyse als<br />

Herr <strong>Steinbrück</strong>. Ich sehe die Welt nicht<br />

so finster und auch unsere politische<br />

Verfassung nicht so düster. Ich fange<br />

mal bei den Medien an. Wir haben die<br />

beste und vielfältigste Medienlandschaft,<br />

die wir je in Deutschland hatten.<br />

Wir haben eine Vielfalt von Meinungen<br />

und auch von Meinungen, die unab -<br />

hängig sind von Verlegern und ihren<br />

Positionen, in deutschen Zeitungen,<br />

Magazinen und in den Medien, die so<br />

groß noch nie war.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Darf ich gleich mal dazwischen etwas<br />

dazu sagen: Er hat ja gesagt, früher<br />

waren es Verlagshäuser, und da meinte<br />

Podiumsdiskussion | 27 |


er wahrscheinlich: Dahinter standen<br />

auch die Verlegerpersönlichkeiten. Diese<br />

standen für eine redaktionelle Tendenz.<br />

Sie halten das für einen Fortschritt.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich halte das für einen<br />

großen Fortschritt, dass sich die Redaktionen<br />

heute weitgehend emanzipieren<br />

von Verlegern, die Kurse vorgeben. Es<br />

gibt Chefredakteure, die bestimmte<br />

Kampagnen fahren. Das will ich gar<br />

nicht bestreiten. Aber Chefredakteure<br />

wechseln viel häufiger als Verleger. Ich<br />

glaube, das hat auch mit zu einer Vielfalt<br />

unseres Pressewesens beigetragen.<br />

Die Zeitungen, insbesondere die Tagesund<br />

Regionalzeitung, die überregionalen<br />

und regionalen haben einen Qualitätsschub<br />

erlebt in den letzten Jahrzehnten,<br />

der gewaltig ist. Wenn Sie sich mal eine<br />

»FAZ« aus den Fünfzigerjahren anschauen,<br />

das war Verlautbarungsjournalismus<br />

und äußerst langweilig. Heute ist das<br />

eine lebendige, aggressive Zeitung,<br />

die ständig Meinungen und Analysen<br />

produziert, die es so früher nicht ge -<br />

geben hat. Dasselbe gilt für die Süddeutsche<br />

Zeitung und für viele andere<br />

Zeitungen. Das gilt auch für die Regionalzeitungen.<br />

Ich spreche jetzt nicht nur von den<br />

Zeitungen im Osten, die sich in den<br />

letzten zwanzig Jahren natürlich enorm<br />

verbessert haben. Das ist ein riesiger<br />

Qualitätssprung. Ich spreche auch von<br />

den Zeitungen im Westen. Also, ich bin<br />

gar nicht so pessimistisch. Ich glaube,<br />

die Zeitungen, die Medien – ich spreche<br />

jetzt vor allem von Printmedien – haben<br />

erheblich dazu beigetragen, dass wir<br />

eine lebendige Demokratie sind.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Darauf kommen wir auch noch mal<br />

zurück. Der Landtagspräsident als Vertreter<br />

des dritten Bereiches der Bürger,<br />

das passt ja sozusagen. Die Abgeordneten<br />

vertreten uns Bürger und Sie sitzen<br />

dem Landtag vor als Präsident. Beobach -<br />

ten Sie eine Veränderung im Interesse<br />

für Politik? Beobachten Sie, dass es<br />

weniger Interesse gibt, dass sich die<br />

Menschen über Politik weniger informieren?<br />

Wie ist Ihre Erfahrung? Auch das<br />

spielte hier eine Rolle in dem Vortrag.<br />

Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />

Es ist ja so gewesen, dass wir in der Zeit<br />

des großen Aufbruchs nach 1990 auf<br />

jeden Fall mehr Interesse an Politik<br />

hatten. Es gab mehr Leute, die sich auf<br />

kommunaler Ebene engagiert haben.<br />

Das Interesse an Landespolitik war<br />

eindeutig größer.<br />

Jetzt kann man sagen, es hat sich vielleicht<br />

nach der letzten Legislaturperiode<br />

etwas normalisiert und es ist schon so,<br />

dass das Interesse nach dieser Normalisierung<br />

nicht gestiegen ist. Ich denke,<br />

das liegt vor allem daran, dass es<br />

schwierig ist, den Unterhaltungswert –<br />

das hat Herr <strong>Steinbrück</strong> richtig gesagt –<br />

von Politik so zu gestalten, dass die Leute<br />

sagen: Das ist interessant, was die im<br />

Landtag machen. Das sind die Themen,<br />

| 28 | Podiumsdiskussion


die uns bewegen. Das sind Leute, die<br />

das auch sehr überzeugend darstellen<br />

können.<br />

Wir bemühen uns da auch sehr. Wir be -<br />

mühen uns sehr um die freie Rede in den<br />

aktuellen Debatten. Ich denke, da gibt<br />

es durchaus einen Fortschritt. Das ist<br />

für uns eben sehr wichtig. Wir brauchen<br />

einfach das unmittelbare Sich-Kümmern<br />

vor Ort. Da bin ich eigentlich beim Thema.<br />

Was muss ein Abgeordneter tun? Er muss<br />

sich klassisch kümmern um die Probleme<br />

der Leute vor Ort und natürlich damit<br />

auch um seine Wiederwahl. Ich bin im -<br />

mer – das ist ja sehr richtig gesagt worden<br />

– als direkt gewählter Abgeordneter<br />

in den Landtag eingezogen. Ich bin<br />

schon fünfmal nominiert worden. Was<br />

muss ich dafür tun? Ich muss mich zum<br />

Beispiel um jedes einzelne Parteimitglied<br />

in meinem Wahlkreis kümmern,<br />

damit möglichst viele merken, er engagiert<br />

sich. Die Leute kommen dann auch<br />

zu meiner Nominierungsveranstaltung.<br />

Damit ich aber auch mit Mehrheit im<br />

Wahlkreis gewählt werde, muss man<br />

überall sein, muss sich kümmern, muss<br />

sich vor allem mit den Leuten unterhalten<br />

und wenn es auf Volksfesten ist.<br />

Manche reden ja sogar von einer Kultur<br />

des Kümmerns, und diese brauchen<br />

wir. Ich denke, dann wird Landespolitik,<br />

Kommunalpolitik auch greifbar und<br />

die Leute sagen: Okay, die machen ihren<br />

Job gut.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Jetzt sehe ich aber einen Widerspruch<br />

zu dem, was Herr <strong>Steinbrück</strong> gesagt hat.<br />

Er hat ja von diesem Gegensatz gesprochen.<br />

Die Politiker kümmern sich vielmehr<br />

um ihre Ortsvereine und um ihre<br />

Mehrheiten in der Partei, in den Parteiversammlungen<br />

und kümmern sich nicht<br />

so sehr um das, was die Bevölkerung will.<br />

Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />

Ich habe immer direkt kandidiert und<br />

brauchte die Mehrheit erst bei der<br />

Nominierungsveranstaltung und dann<br />

die Mehrheit in meinem Wahlkreis,<br />

jedenfalls die letzten fünf Mal.<br />

Da muss man sich auch um jedes Ein -<br />

zelmitglied kümmern, das ist klar. Wir<br />

haben zum Beispiel das Basisprinzip,<br />

alle Parteimitglieder im Wahlkreis<br />

nominieren und dann müssen sie sich<br />

auch um diese kümmern.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Kommen wir noch einmal zurück in den<br />

politischen Bereich. Die Möglichkeiten,<br />

die Parteien, die Politiker haben, um<br />

sich anders darzustellen – was machen<br />

Sie konkret als eine Abgeordnete,<br />

die auch früher politische Ämter hatte,<br />

jetzt Abgeordnete ist, um Ihre Politik<br />

besser an Mann und Frau zu bringen?<br />

Werden Sie geschult, leben Sie von<br />

Vorschlägen, wie sie Herr <strong>Steinbrück</strong><br />

in seinem Buch entwickelt hat, um das<br />

voranzubringen?<br />

Podiumsdiskussion | 29 |


| 30 |


| 31 |


Petra Köpping, MdL: Also, erst einmal<br />

ist man ja selber politisch interessiert<br />

und sucht natürlich nach Themen, bei<br />

denen man sagt, da kann man sich weiterbilden<br />

und schulen. Vielleicht würde<br />

ich zwei Themen noch einmal aufgreifen.<br />

Das eine, was Herr Rößler sagt, ist das<br />

Sich-Kümmern des Abgeordneten vor Ort.<br />

Ich glaube nicht, dass das das einzig<br />

ausschlaggebende Kriterium ist. Da<br />

wären ja alle SPD-Abgeordneten, die<br />

nicht direkt gewählt werden, nicht vor<br />

Ort und würden sich nicht kümmern.<br />

Vielleicht anhand meines Beispiels: Ich<br />

habe die Landratswahl – in meinem<br />

Landkreis gab es eine Fusion – aber in<br />

meinem Landkreis, wo ich tätig war, mit<br />

75 % gewonnen. Ein Jahr später war die<br />

Landtagswahl. Dort bekam ich 23 %.<br />

Das war auch das zweitbeste Ergebnis<br />

der SPD. Da sieht man den Unterschied,<br />

dass es also nicht nur darum geht, dass<br />

man sich kümmert. Es gibt auch eine<br />

politische Kultur in Sachsen, die eben<br />

sehr CDU-geprägt ist. Die SPD hat einen<br />

schweren Nachholbedarf und das, was<br />

Herr Rößler in seinem Wahlkreis tut,<br />

muss ich fast sachsenweit machen.<br />

Damit ist natürlich der Wirkungsgrad<br />

auch wesentlich geringer.<br />

Als Landtagsabgeordneter wird man<br />

wesentlich besser geschult als als<br />

Bürgermeister oder Landrat. Das muss<br />

man auch klar sagen. Als Bürgermeister<br />

ist man Einzelkämpfer. Da steht man<br />

irgendwo und muss ein Problem lösen,<br />

egal, ob das der Rechtsextremismus<br />

oder eine Straße ist, die plötzlich<br />

lauter Umweltgegner hat oder eine<br />

Bürgerinitiative, die sich um ein einziges<br />

Themenfeld kümmert. Dort ist eine politische<br />

Bildung weitaus mehr vonnöten.<br />

Dort hat man mehr Unterstützungsmöglichkeiten<br />

als zum Beispiel als Landtagsabgeordneter.<br />

Das, was mir auffällt,<br />

ist Folgendes:<br />

Ich bekomme immer dann eine Presse<br />

in meinem Wahlkreis – das ist mein<br />

Hauptthema, dass ich öffentlich werben<br />

kann, weil ich eben nicht so präsent sein<br />

kann wie vielleicht andere –, wenn alle<br />

Themen, die im Land besprochen werden,<br />

auf die kommunale Ebene herunterzubrechen<br />

sind. Ich versuche eine<br />

Sprache zu finden, die die Bürger vor<br />

Ort verstehen. Wenn ich über den Fiskalpakt<br />

spreche, versteht den da unten<br />

kein Mensch. Ich kann den Bürgern nur<br />

sagen, was für ihn unmittelbar passiert,<br />

wenn wir in Dresden speziell etwas<br />

beschließen, um dann zu mobilisieren.<br />

Entweder ist es falsch oder auch<br />

richtig.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Herr <strong>Steinbrück</strong>, wie ist das auf der Bundesebene?<br />

Sie haben sehr viel über<br />

Sprache gesprochen und auch in dem<br />

Buch ge schrieben, die Sprache der Politiker.<br />

Wie bringt man die Politiker dazu,<br />

so zu sprechen, dass sie verstanden<br />

werden? Ist das Programm oder überlässt<br />

man das dem einzelnen Naturtalent,<br />

dass das so kommt?<br />

| 32 | Podiumsdiskussion


Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sind offensichtlich<br />

ein Naturtalent. Das haben<br />

wir ja gemerkt. Aber das ist nicht jedem<br />

ge geben.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Das wäre etwas, wo man zunächst einmal<br />

ansetzen müsste, um Politik besser<br />

zu verkaufen – und das nicht nur gegenüber<br />

den Medien. Das können inzwischen<br />

viele, aber eben auch gegenüber der<br />

Bevölkerung.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Jeder muss<br />

selbst merken, wenn er nicht ankommt<br />

und durchdringt, wenn er feststellt,<br />

dass er mit all diesen geschwurbelten<br />

Fremdwörtern, mit vielen Anglizismen<br />

schlicht und einfach nicht mehr das<br />

Gehör der Menschen erreicht. Dann<br />

wird er oder sie sich selbstkritisch mit<br />

der Frage beschäftigen müssen: Wie<br />

breche ich das herunter auf Normal -<br />

sprache. Dazu sind manchmal auch<br />

Bilder ganz dienlich, selbst wenn sie<br />

überzeichnet sind.<br />

Nie hatte ich ein besseres Bild als<br />

das mit der Kavallerie gegenüber der<br />

Schweiz im Zuge der Auseinandersetzung<br />

um eine bessere Bekämpfung von<br />

Steuerbetrug. Dieses Bild hat gesessen.<br />

Das meine ich nicht kokett, sondern<br />

möchte darauf hinweisen, dass ein<br />

Sprachmodus mit Beispielen, Bildern,<br />

von mir aus gelegentlich auch in einem<br />

humorvollen Ton deutlicher machen<br />

kann, worum es geht.<br />

Aber das können Sie sich und anderen<br />

nicht verordnen, das können Sie auch<br />

nicht durch einen Parteitagsbeschluss<br />

herbeiführen, sondern es wird jeder<br />

individuell selber für sich lösen müssen.<br />

Erlauben Sie mir zwei oder drei Sätze<br />

zu dem, was Herr Doerry gesagt hat.<br />

Nicht nur aus Höflichkeit bestätige ich,<br />

dass ich mich darüber freue, dass es in<br />

Deutschland nach wie vor einen fantastischen<br />

Qualitätsjournalismus gibt. Von<br />

jeder Auslandsreise komme ich begeistert<br />

wieder zurück und sage: Mensch,<br />

wir haben es besser. Aber der Tendenz,<br />

die Sie so beschrieben haben, würde ich<br />

gern drei oder vier Entwicklungen entgegensetzen.<br />

Viele Redaktionen bauen ihre Redak -<br />

tionen ab, und zwar dramatisch. Viele<br />

gehen dazu über, 20- bis 25-jährige<br />

Praktikantinnen und Praktikanten zu<br />

beschäftigen, die zunächst gar kein Geld<br />

für ihre Arbeit bekommen.<br />

Ich kann Ihnen Beispiele aus der Berliner<br />

Käseglocke, insbesondere von privaten<br />

Sendern oder elektronischen Medien,<br />

auflisten, die kabarettreif sind. Viele<br />

Redaktionen sind inzwischen unter dem<br />

ökonomischen Druck, den ich vorhin<br />

beschrieben habe, dazu übergegangen,<br />

sich nicht mehr der Agenturen zu be -<br />

dienen. Dies führt dazu, dass viele Journalisten<br />

gar nicht mehr die Zeit haben<br />

zu recherchieren. Insbesondere stehen<br />

sie auch unter dem Druck einer wahnsinnigen<br />

Beschleunigung, die zulasten<br />

der Qualität der Recherche geht.<br />

Podiumsdiskussion | 33 |


Damit will ich nicht völlig quer zu dem<br />

liegen, was Herr Doerry sagte. Ich will<br />

nur darauf hinweisen, dass mein Bild<br />

von Medienunternehmen, die mehr<br />

denn je auf Betriebswirtschaft zu achten<br />

haben im Vergleich zu denjenigen, die<br />

sich als Verlagshäuser in den 60er-,<br />

70er- und 80er-Jahren definiert haben,<br />

in meinen Augen nicht ganz falsch ist.<br />

Unter dem Druck der Klicks, der Quote<br />

und der Auflage findet etwas im deutschen<br />

Journalismus statt, was ich nicht<br />

so positiv sehe wie vielleicht einige<br />

andere. Was meine kritische Haltung<br />

betrifft, ist diese bitte nicht misszuverstehen.<br />

Ich bin froh darüber, dass es<br />

einen solchen Journalismus gibt, der<br />

Politik hinterfragt. Gelegentlich beklage<br />

ich ein bisschen: Wenn Politiker an dem<br />

Journalismus Kritik üben, dann haben<br />

die sehr schnell ein Glaskinn. Wenn ich<br />

umgekehrt so ein Glaskinn – bezogen<br />

auf die journalistische Charakterisierung<br />

von mir – hätte, dann müsste ich morgens<br />

im Bett bleiben.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ich will nur auf diese Auseinandersetzung<br />

über die politischen Tendenzen<br />

kommen. Ich glaube, das ist etwas Zentrales,<br />

das etwas über das Verhältnis<br />

zwischen Medien und Politik aussagt.<br />

Da haben wir immer noch beide Positionen.<br />

Herr Doerry sagt: Das ist doch toll,<br />

dass wir heute keine vorgefertigten<br />

redaktionellen Tendenzen mehr haben<br />

und dass es dann vielleicht eine »FAZ«<br />

ist und eine »Welt«, die letztlich konservative<br />

Politiker zu Fall bringen. Das wäre<br />

früher nicht passiert, weil dann der Verleger<br />

sozusagen die Richtung vorgegeben<br />

hat. Nun, die »FAZ« hat keine Verleger<br />

– das ist ein schlechtes Beispiel –,<br />

aber sie hatte eine sehr viel ausgeprägtere<br />

Tendenz als heute.<br />

Sie bedauern das. Ist Ihnen eine<br />

Medien landschaft lieber, bei der Sie<br />

genau wissen, wo sie auch partei -<br />

politisch steht?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich weiß schon, was<br />

er meint. Natürlich ist es so, dass in<br />

vielen Redaktionen Personal abgebaut<br />

wird, dass in den elektronischen Medien<br />

nicht immer die Qualität gebracht<br />

wird, die man sich als journalistischer<br />

Kolle -ge wünscht; das ist ganz klar.<br />

Auch die Arbeitsverhältnisse sind bei<br />

vielen Redaktionen im Journalismus<br />

prekärer.<br />

Darin gebe ich Ihnen völlig recht, das ist<br />

beklagenswert. Ich glaube nur, wenn<br />

man da einen Strich darunter setzt, ar -<br />

beiten – so glaube ich – in der Bundeshauptstadt<br />

so viele Journalisten, wie sie<br />

noch nie in einer deutschen Hauptstadt<br />

gearbeitet haben. Die pure Kopfzahl ist<br />

immer noch gewaltig, zumindest noch<br />

viel größer als früher. Es gibt schon ein<br />

journalistisches Bemühen, das zu schildern<br />

und zu beschreiben, was da in Berlin<br />

passiert, und das gelingt mal besser<br />

und mal schlechter. Es gibt gute und<br />

schlechte Politiker und es gibt eine<br />

| 34 | Podiumsdiskussion


Menge schlechte Journalisten und gute,<br />

die gibt es auch. Also so ist die Welt.<br />

Ich glaube nicht, dass wir da sehr viel<br />

weiter kommen, wenn wir unsere Be -<br />

rufsgruppen so gegeneinander aufrechnen.<br />

Natürlich wird Politikern von Journalisten<br />

übel mitgespielt und Politiker<br />

spielen dem Publikum und ihren Wählern<br />

übel mit. Das ist eine Geschichte,<br />

die – so glaube ich – menschlich ist und<br />

über die wir nicht lange klagen sollten.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Da gibt es das schöne Bild in dem Buch<br />

von Braut und Bräutigam – das haben<br />

Sie, glaube ich, geschrieben, – also Me -<br />

dien und Politiker. Sie verhalten sich so<br />

wie Braut und Bräutigam, die versuchen<br />

immer das Niederträchtige herauszu -<br />

bekommen. Das Bild habe ich nicht<br />

verstanden. Ich dachte, Sie meinten<br />

vielleicht ein altes Ehepaar statt Braut<br />

und Bräutigam, denn am Anfang ist ja<br />

noch der Honeymoon, da geht ja alles<br />

wunderbar.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Braut und Bräutigam,<br />

ich weiß nicht, ob ich das erwähnt<br />

habe, aber ich wollte Herrn Doerry nicht<br />

unterbrechen.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ich habe ja Herrn Doerry unterbrochen.<br />

Die Frage ist ja, hat sich das Verhältnis<br />

zwischen Journalisten und den Medien<br />

verbessert, nämlich dadurch, dass die<br />

Medien in der Tat bei uns neutraler<br />

geworden sind.<br />

Wir versuchen das ja auch mit unseren<br />

Inhaltsanalysen. Wir finden, dass sie<br />

dieses klassische politisch-publizistische<br />

Spektrum nicht mehr haben, sondern<br />

die sind alle etwas in die Mitte gerückt,<br />

und ich beobachte es auch nicht wie Sie,<br />

was Sie jetzt geschildert haben, dass es<br />

mehr von Kommentaren und Meinungen<br />

gibt, sondern das ist eher weniger der<br />

Fall als früher.<br />

Gleichwohl, die Boulevardisierungstendenzen<br />

sind ja da und man kann jetzt<br />

wahrscheinlich nicht den »SPIEGEL« und<br />

die »FAZ« als Beispiel nehmen, sondern<br />

man muss sich mit dem auseinandersetzen,<br />

was die breite Bevölkerung nutzt –<br />

und da sieht es anders aus.<br />

Da komme ich noch einmal zurück auf<br />

die Frage der politischen Bildung. Das war<br />

ja auch mal, als Sie noch Kultusminister<br />

waren, Ihr Thema. Müssen wir da mehr<br />

tun? Müssen wir die Menschen mehr für<br />

die Politik interessieren? Läuft da vielleicht<br />

auch in den Schulen etwas schief?<br />

Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />

Vielleicht noch mal zu den Medien. Die<br />

Medien stehen ja auch unter einem ge -<br />

wissen Druck. Warum bauen die Medien<br />

Personal ab, warum kommt es zur Prekarisierung<br />

der Beschäftigungsverhältnisse?<br />

Denen gehen die Abonnenten<br />

aus. Hier in Sachsen haben nur noch ein<br />

Drittel der Haushalte eine Zeitung abonniert.<br />

Die meisten haben diese kosten -<br />

losen Wochenblätter. Das haben wir bei<br />

Untersuchungen festgestellt.<br />

Podiumsdiskussion | 35 |


Zu 96 % lesen die Leute sie auch wirklich<br />

durch. Sie sind auf die elektronischen<br />

Medien festgelegt. Das bedeutet eigentlich<br />

– eine Feststellung, die muss ich<br />

hier bringen – immer weniger Abonnenten<br />

für Zeitungen. Wenn sich Qualitätsjournalismus<br />

vom Konsumenten her<br />

immer weniger lohnt, dann stellen sie<br />

sich natürlich entsprechend darauf ein.<br />

Dann bricht ihnen noch das Anzeigengeschäft<br />

zusammen. Da gab es Zeitungen<br />

– das habe ich mir erzählen lassen –, bei<br />

denen die Anzeigen 2008 um 40 % bis<br />

50 % und mehr zu rückgegangen sind.<br />

Der »SPIEGEL« – das ist klar – der kann<br />

sich den Qualitätsjournalismus nach wie<br />

vor leisten, aber andere kämpfen hier<br />

um ihre Existenz. Ich will jetzt überhaupt<br />

keine sächsischen Zeitungen nennen,<br />

die das ganz konkret betrifft, aber das<br />

wissen wir ja alle.<br />

Woran liegt das, warum abonnieren junge<br />

Menschen keine Zeitungen mehr,<br />

warum ist jeder froh, auch jeder Verlag,<br />

wenn Studentenschnupper-Abos möglichst<br />

lange laufen? Die Studenten sind<br />

schon 32 und keine Studenten mehr,<br />

aber das Schnupper-Abo läuft immer<br />

noch. Ich will nur deutlich machen: Das<br />

Kon su mentenverhalten, zumindest im<br />

Medienbereich, verändert sich.<br />

Jetzt müssen wir überlegen, was wir<br />

da tun können. Da rufen alle nach poli -<br />

tischer Bildung. Die große Frage ist:<br />

Informieren sich politisch gebildete<br />

junge Menschen dann aus der Zeitung,<br />

nehmen diese dann ein Abo oder schauen<br />

sie in irgendwelche Internetangebote?<br />

Da bleibt irgendwann nur, dass<br />

na türlich dann die Information im Internet<br />

– »Washington Post« nimmt ja jetzt<br />

auch schon Geld – gebührenpflichtig<br />

wird. Das ist die logische Konsequenz.<br />

Ich könnte jetzt sagen, wir müssen<br />

mehr in der politischen Bildung machen,<br />

wir müssen noch mehr Schulklassen<br />

durch den Landtag schleusen. Wir müssen<br />

an die nachwachsende Generation<br />

heran.<br />

Übrigens, hier in Sachsen wird jede<br />

Wahl über 50 entschieden. Das muss<br />

man mal so deutlich sagen. Das Reden<br />

von den Jungen bringt uns Politiker nicht<br />

weiter. Wir müssen an alle Generationen<br />

heran und müssen denen natürlich ein<br />

Angebot unterbreiten.<br />

Politische Bildung läuft bei uns über die<br />

Landeszentrale für politische Bildung,<br />

über die Schulen. Sie bemühen sich ja<br />

auch, aber natürlich die Breite, die sie<br />

erreichen, ist nicht so, wie wir uns das<br />

vorstellen.<br />

Wir Politiker leben in einer Symbiose,<br />

in einer Lebensgemeinschaft zum<br />

gegenseitigen Vorteil, mit den Medien.<br />

Am Schluss wird es so sein: Der eine<br />

braucht den anderen. Das Verhältnis<br />

muss kritisch sein, aber es muss immer<br />

konstruktiv sein. Ich sehe das genauso<br />

wie Kollege <strong>Steinbrück</strong>. Am Schluss<br />

funktioniert unser Staatswesen als<br />

Parteiendemokratie. Was sind denn die<br />

Alternativmodelle zu unserem System?<br />

| 36 | Podiumsdiskussion


Da sehe ich zwei. Das sind die asiatischen<br />

Entwicklungsdiktaturen, die ich<br />

so schön mit der Dialektik von Basis und<br />

Überbau beschrieben habe. Die kennen<br />

wir hier schon, haben wir alles schon<br />

gehabt. Das kann für uns kein Modell<br />

sein. Das andere ist der islamistische<br />

Gottesstaat. Ein weiteres Staatsmodell<br />

sehe ich nicht.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Außerdem müsste man erst einmal das<br />

Grundgesetz ändern, denn dort steht ja<br />

drin, wie man in den Bundestag kommt.<br />

Das geht nur, indem man sich zunächst<br />

einmal als Partei aufstellt und dann wäh -<br />

len lässt. Das sorgt ja dafür, dass wir von<br />

der Parteiendemokratie noch einiges<br />

haben. Es will ja auch – glaube ich –<br />

niemand die Parteiendemokratie ab -<br />

schaffen. Die Frage ist nur: Welche<br />

Parteien kommen in das politische<br />

Geschäft hinein? Sie haben über die<br />

Piraten gesprochen, Liquid Democracy<br />

als eine Alternative.<br />

Wir müssen also mehr in diese Richtung<br />

gehen, müssen also die Bedürfnisse<br />

der nachwachsenden Generation stärker<br />

ansprechen. Die Parteien müssen das<br />

sozusagen mitmachen, sie müssen<br />

sich darauf einlassen, sie müssen<br />

stärker interaktiv werden. Ist das eine<br />

Lösung?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Eindeutig ja.<br />

Wenn die Piraten eine Funktion erfüllen,<br />

dann ist es jene, den etablierten Parteien<br />

kritisch vorzuhalten, dass sie sich<br />

verändern müssen. Das erstreckt sich<br />

auf eine größere Interaktivität. Das<br />

erstreckt sich darauf, im Internet in der<br />

Tat zu anderen Kommunikationsformen<br />

zu gelangen. Da geht es um den vorhin<br />

erwähnten Frontalunterricht. Zu einem<br />

Wandel gehört es, Angebote zu machen,<br />

aber die Menschen nicht gleich zu<br />

instrumentalisieren, zu verhaften.<br />

Das ist es, was die Piraten uns kritisch<br />

und sehr deutlich unter die Nase reiben,<br />

und darauf wird man eingehen müssen.<br />

Das Anliegen nach Partizipation, nach<br />

Teilhabe ist ja nicht falsch. Das will<br />

ich nicht diskreditiert sehen mit meiner<br />

kritischen Haltung zu Liquid Democracy,<br />

sondern die Parteien werden Angebote<br />

auf allen Ebenen machen müssen,<br />

stärker plebiszitäre Elemente einzu -<br />

führen.<br />

In vielen Landesverfassungen haben<br />

wir inzwischen starke plebiszitäre<br />

Elemente. Auf der Bundesebene ist es<br />

etwas schwieriger. Ich behaupte, es<br />

wird auf die Bundesebene irgendwann<br />

eine große plebiszitäre Herausforderung<br />

zukommen, nämlich die Frage über<br />

die weitere Integration Europas, die<br />

verbunden sein könnte mit einer Änderung<br />

des Grundge setzes. Das wird an -<br />

gesichts der Verfassungsgerichtsurteile<br />

und lesens werter Einlassungen des<br />

Bundesverfassungsgerichtspräsidenten<br />

Voß kuhle virulent. Zum ersten Mal könnte<br />

sich in Deutschland den Menschen<br />

die Frage stellen, wie die weitere Wegstrecke<br />

Europas aussehen soll.<br />

Podiumsdiskussion | 37 |


Ich glaube, plebiszitäre Elemente wird<br />

es vor allem auf kommunaler Ebene sehr<br />

viel stärker geben müssen, ohne damit<br />

den Entscheidungs prozess demokratisch<br />

mandatierter Volksvertreter aus -<br />

zuhebeln.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das geringe Interesse –<br />

wenn ich das noch mal hinzufügen<br />

darf – der Medien oder der Wähler –<br />

damit fange ich mal an – an diesen<br />

existenziellen Fragen, dafür sind<br />

Politiker und Medien verantwortlich,<br />

aber natürlich auch die Wähler selbst.<br />

Da bin ich auch bei Ihnen.<br />

Die Wähler bekunden wenig Interesse<br />

und denken, Politik würde ihnen gewissermaßen<br />

in den Schoß fallen. Aber<br />

nein, das ist mit Interesse und Arbeit<br />

verbunden. Darin sehe ich das große<br />

Problem unserer Zeit, dass wir es alle<br />

zu sammen – Politiker wie Medien – nicht<br />

schaffen, diese furchtbar komplexen<br />

Dinge, die heute Politik ausmachen, den<br />

Menschen zu vermitteln, die nachher<br />

zur Wahlurne gehen und sich politisch<br />

engagieren sollen. Das ist eine Überforderung<br />

der Politik und der Medien,<br />

die so groß ist, wie sie vielleicht in<br />

der Geschichte der letzten 100 Jahre<br />

noch nicht war.<br />

Es ist so kompliziert. Ich meine, wenn<br />

Sie da draußen auf die Straße gehen<br />

und die Leute fragen, was ist denn das<br />

mit diesem Rettungsschirm usw., dann<br />

die heben alle sofort die Hände und<br />

sagen: Das weiß ich nicht, um Himmels<br />

willen. Aber gut, dass Angela den Griechen<br />

nichts geben will. Also auf dem<br />

Niveau wird das doch diskutiert.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Die Frage ist doch: Machen es die Me -<br />

dien und auch die Politiker noch nicht<br />

gut genug? Aber man kann es machen,<br />

oder kann man es grundsätzlich nicht<br />

machen bei der Komplexität der Themen,<br />

mit denen sich Politik heute in unserer<br />

Gesellschaft beschäftigen muss?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sind doch der<br />

Kommunikationswissenschaftler!<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Da ist meine Antwort eher pessimistisch,<br />

Herr <strong>Steinbrück</strong>.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Wir versuchen es mal<br />

mehr, mal weniger erfolgreich, wenn<br />

wir Titelgeschichten machen über europäische<br />

Probleme, über den Euro, dann<br />

wis sen wir genau, die verkaufen sich<br />

nicht so gut wie andere, weil die Leute<br />

denken, ach nicht schon wieder, um<br />

Himmels Willen, dieses dröge Zeug. Da<br />

muss schon jemand wie Herr <strong>Steinbrück</strong><br />

kommen, der das Ganze sehr lebendig<br />

und eloquent vorträgt, dass die Leute<br />

überhaupt zu hö ren. Wenn es ein normal<br />

sterblicher Politiker macht, da hört<br />

kaum noch jemand zu.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Das war ein<br />

Kompliment, glaube ich.<br />

| 38 | Podiumsdiskussion


Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Absolut. Die meisten besitzen einfach<br />

nicht dieses rhetorische Temperament<br />

und das ist etwas, das hilft.<br />

Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />

Wobei es Züge von Vergöttlichung von<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong> (lautes Lachen), von<br />

Kaiserkult gibt.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Also, die Frage ist: Lassen sich denn<br />

die komplexen Phänomene – Sie haben<br />

den Rettungsschirm genannt, Sie könnten<br />

auch außenpolitische Phänomene<br />

nehmen – herunterbrechen auf einfache<br />

Sprachbilder, die eher, wie wir gemerkt<br />

haben, in der Lage sind, sie zu vermitteln?<br />

Aber selbst beim Rettungsschirm –<br />

glaube ich – hätten Sie Schwierigkeiten,<br />

in fünf Minuten das so darzulegen,<br />

was denn die Alternativen und was<br />

die damit verbundenen Konsequenzen<br />

sind, weil es einfach zu komplex ist<br />

und weil selbst die Experten sich nicht<br />

einig sind und sie sozusagen für jede<br />

Option mindestens 200 verschiedene<br />

Experten heranziehen könnten. Also<br />

liegt es doch mehr an der Natur der<br />

Dinge, mit denen sich Politik heute<br />

beschäftigen muss, dass das so schwer<br />

zu vermitteln ist?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Es ändert nichts<br />

daran, dass Politik sich der Aufgabe an -<br />

nehmen muss, Komplexität zu reduzieren.<br />

Das ist ihre originäre Aufgabe, und zwar<br />

in einer Sprache, die verständlich ist.<br />

Das ist die Verantwortung und Verpflichtung,<br />

die Politik erfüllen muss.<br />

Wenn uns noch etwas Zeit bleibt, dann<br />

erzähle ich Ihnen eine Anekdote, wie man<br />

am besten die Finanzkrise in Europa<br />

erklären kann.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Das sollten wir uns dann gönnen angesichts<br />

dessen, was ansteht. Das, was<br />

Sie gesagt haben, erinnert mich an – ich<br />

weiß nicht, war es gestern oder vorgestern<br />

– das »Heute-Journal«. Ich nenne<br />

jetzt einmal den Sender, der also die<br />

Sendung aufmachte.<br />

Es war gerade Halbzeit eines Fußballspiels,<br />

wo die Fußballeuropameisterschaft<br />

und die Rolle Griechenlands<br />

und die Tatsache, dass Griechenland<br />

gegen Deutschland spielt, in dem Ein -<br />

leitungssatz vermischt worden sind<br />

mit der Eurokrise und mit der Griechenlandkrise.<br />

Das heißt also, man hat das,<br />

was sie die Unterhaltungsdarstellung,<br />

die Entertainisierung der Politik nannten,<br />

überhaupt im öffentlich-rechtlichen<br />

Fern sehen mal gleich am Anfang be -<br />

trieben.<br />

Meine These ist nun – je nachdem, ob<br />

Sie das auch so sehen –, dass durch<br />

solche Darstellungen, die Art und Weise,<br />

wie Politik präsentiert wird, natürlich<br />

genau das geschieht. Sie wird banalisiert,<br />

und es ist dann sozusagen auf<br />

der gleichen Ebene, auf der gleichen<br />

Dringlichkeits- und Ernsthaftigkeits -<br />

ebene wie Fußball.<br />

Podiumsdiskussion | 39 |


Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ja, schlimmer<br />

noch. Sie wird nicht nur banalisiert,<br />

sondern dieses Fußballspiel bekommt<br />

plötzlich einen Symbolwert, über den<br />

Vorteilstrukturen aufbrechen so nach<br />

dem Motto: Jetzt zeigen wir mal den<br />

Griechen, was eine Harke ist. Die hätten<br />

sowieso schon vorher ihre Inseln verkaufen<br />

müssen, die Akropolis hätten<br />

wir nicht genommen, weil sie kaputt ist,<br />

und jetzt machen wir sie auf dem Fußballplatz<br />

fertig. Bei den Griechen werden<br />

alte Ressentiments geweckt, nach<br />

dem Motto: Jetzt zeigen wir mal diesen<br />

arroganten Deutschen, diesen Schulmeistern<br />

Europas, was eine Harke ist.<br />

Das heißt, es wird etwas in dieses Spiel<br />

hineingemischt, das zu einem sehr<br />

giftigen Cocktail führen könnte.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Aber es ist jetzt hier<br />

die Frage, wie das medial dargestellt<br />

wird. Also wenn es nur so dargestellt<br />

wird, wie Sie es jetzt getan haben,<br />

dann kann man nichts dagegen haben.<br />

So ist es nämlich. So wird es auch<br />

von vielen Menschen empfunden.<br />

Wenn es jetzt geschürt wird, so eine<br />

Emotion, dann würde ich das natürlich<br />

auch kritisieren. Aber den Eindruck<br />

habe ich im »Heute-Journal« nicht<br />

gehabt.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Jetzt haben wir Vertreter des öffentlichrechtlichen<br />

Rundfunks hier, die das gut<br />

finden, was Sie sagen; unsere Studien<br />

zeigen aber doch auch wieder eine ge -<br />

wisse Konvergenz. Und das war ja hier<br />

auch nur ein Einzelbeispiel – und meine<br />

persönliche Wahrnehmung ist alles<br />

andere als eine wissenschaftliche<br />

systematische Betrachtung. Aber es<br />

gibt eben auch die, und die zeigt, dass<br />

Verflachung der Politik auch dort stattfindet,<br />

wo man sie eigentlich noch am<br />

ehesten vermeiden sollte und wo man<br />

eben nicht abhängig ist von der Kommerzialisierung,<br />

die Matthias Rößler<br />

angesprochen hat.<br />

Da würde ich gern noch einmal ein Wort<br />

aus Ihrem Munde hören, jetzt mal un -<br />

abhängig vom »SPIEGEL«. Das ist ja<br />

vielleicht in der Tat untypisch von der<br />

Marktposition her, wenngleich Sie auch<br />

wirtschaftlich zu kämpfen haben. Aber<br />

stimmt es, dass die Journalisten weniger<br />

Möglichkeiten haben, ihren Job zu<br />

machen, weil der wirtschaftliche Druck<br />

einfach stärker ist, dass man sie nicht<br />

das machen lässt, was sie eigentlich<br />

gern machen würden, es in der Qualität<br />

abzuliefern?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Also das stimmt sicherlich<br />

für große Teile des Journalismus, nur<br />

nicht für alle. Den sogenannten Qualitätsmedien<br />

geht es noch relativ gut,<br />

obwohl die auch schon sparen müssen<br />

und Personal eingespart haben. Ich nenne<br />

als Beispiel mal die »Süddeutsche Zeitung«.<br />

Aber ich finde, das Ergebnis, welches<br />

Sie jeden Morgen gedruckt sehen,<br />

kann sich immer noch sehen lassen.<br />

Es ist höchste Qualität. Auch dem<br />

| 40 | Podiumsdiskussion


»SPIEGEL« geht es noch relativ gut.<br />

Wir müssen nicht klagen, aber ich weiß,<br />

dass andere klagen müssen, und das<br />

heißt natürlich auch, dass die Redak -<br />

tionen kleiner werden.<br />

Andererseits werden neue Redaktionen<br />

aufgebaut, die nach anderen Spielregeln<br />

funktionieren, die wir nicht so schön<br />

finden. Das gebe ich zu. Die neuen<br />

Online-Redaktionen stehen unter<br />

einem erheblichen Druck; das haben<br />

Sie richtig beschrieben, das sehe ich<br />

genauso. Da geht es wirklich um Quote<br />

und da wird die Qualität dann schnell<br />

einmal fallen gelassen, aber das wird<br />

sich ändern.<br />

Wir erleben gerade die Geburtsstunde<br />

eines ganz neuen Mediums, das<br />

heißt, dieser Online-Journalismus<br />

wird der Zukunfts-Journalismus werden.<br />

Die Auflagen der Zeitung werden zu -<br />

rückgehen, sie werden weiter zurück -<br />

gehen. Wir und unsere Kinder und Enkel<br />

werden in Zukunft immer mehr online<br />

informiert werden. Das möchte ich<br />

noch hinzufügen: Dieses wird hoffentlich<br />

dazu führen – da bin ich ganz bei<br />

Matthias Rößler –, dass für die Infor -<br />

mationen im Internet irgendwann auch<br />

Geld bezahlt werden muss, denn nur<br />

dann können wir alle die Hoffnung<br />

haben, dass es auch guten Journalismus<br />

im Internet gibt.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Das war meine Frage. Machen Sie<br />

denn einen Unterschied oder haben<br />

Sie eine klare Definition, was Journalismus<br />

ist? Journalismus ist ja zunächst<br />

mal unabhängig von der Plattform,<br />

ob ich das gedruckt in einer Zeitung<br />

finde oder im Internet. Die Frage ist<br />

doch, welche Qualität das hat, was<br />

dort ist, und mit welcher Intention es<br />

dem Kunden, dem Leser, angeboten<br />

wird.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Die finanzielle Aus -<br />

stattung, die ein Journalist hat oder<br />

sein Verlag oder sein Medium, ist na -<br />

türlich ganz wesentlich entscheidend<br />

dafür, ob es sich am Ende um Qualitätsjournalismus<br />

handelt. Wenn ich keine<br />

Zeit und kein Geld habe, dann mache<br />

ich nicht unbedingt das, was ich als<br />

Journalist tun sollte. Wenn ich aber<br />

etwas mehr Zeit und Möglichkeiten<br />

habe zu recherchieren, wenn ich reisen<br />

kann, wenn ich nach Berlin, nach<br />

München oder Dresden fahren kann,<br />

dann kann ich mir natürlich ein viel<br />

besseres Bild von den Dingen machen,<br />

als wenn ich nur an meinem Schreibtisch<br />

vor meinem Computer sitze und<br />

Agenturen abpinsle. Das heißt, die<br />

finanzielle Ausstattung der Medien<br />

und insbe sondere der Online-Medien<br />

wird am Ende dafür verantwortlich<br />

sein, ob wir in Zukunft Qualitätsjour -<br />

nalismus haben oder nicht.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Also ein klares Bild. Ein Blogger ist<br />

dann für Sie kein Journalist, es sei<br />

denn, hinter ihm oder ihr steht sozu -<br />

Podiumsdiskussion | 41 |


sagen die Ressource, die man braucht,<br />

um eine Story ordentlich zu recher -<br />

chieren.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich will mich nicht<br />

von Bloggern distanzieren. Das ist eine<br />

neue Welt. Das ist aber eine andere<br />

Form der Meinungsvervielfältigung –<br />

kein Journalismus.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Kommen wir noch einmal auf die Politik<br />

zurück. Herr <strong>Steinbrück</strong> hat von der<br />

ereignisorientierten statt von der prozessorientierten<br />

Politik gesprochen.<br />

Politik ist ein Prozess, der nie zu Ende<br />

ist. Die Themen werden ja nie oder<br />

in den seltensten Fällen endgültig einer<br />

Lösung zugeführt. Vielleicht ist die<br />

Kernenergie bei uns so ein Thema.<br />

Sie ist jetzt endgültig einer Lösung<br />

zugeführt, weil wir ausgestiegen<br />

sind. Aber auch das kann sich wieder<br />

ändern. Das haben die Schweden<br />

vorgemacht.<br />

Haben Sie die Möglichkeit, politische<br />

Themen auf Dauer in die Öffentlichkeit<br />

zu vermitteln oder können Sie es nur<br />

dann, wenn irgendetwas passiert ist?<br />

Sie haben gewonnen oder verloren. Sie<br />

haben es erreicht oder nicht erreicht.<br />

Wie können Sie das an Medien und<br />

Ihren Wahlkreis vermitteln?<br />

Petra Köpping, MdL: Also oftmals ist es<br />

tatsächlich an ein bestimmtes Ereignis<br />

gekoppelt, wo man sagt, das ist gerade<br />

für die Medien interessant. Das nehmen<br />

sie gerne. Wir arbeiten natürlich auch<br />

im Landtag danach. Was interessiert die<br />

Medien im Moment, was kommt nach<br />

vorn, obwohl manchmal ganz andere<br />

Dinge, die diskutiert werden, für die<br />

Entwicklung bestimmter Regionen oder<br />

des Freistaates oder des Bundes oder<br />

auch Europas viel wichtiger sind?<br />

Das ist eine ganz klare Sache, aber<br />

ich würde gern noch einmal zurückkommen<br />

auf die politische Bildung. Was<br />

mir auffällt: Ich betreibe nach wie vor<br />

sehr viel Schulunterricht, und da ist<br />

es einfach so, dass Schulklassen –<br />

zehnte Klassen, manchmal auch Abiturienten<br />

– nicht mal vor Ort ihren Bürgermeister<br />

kennen. Das heißt also, die<br />

politische Kultur ist teilweise wirklich<br />

sehr weit unten. Das ist schulmäßig<br />

sehr unterschiedlich. Es gibt Schulen,<br />

die sind sehr aktiv und machen sehr<br />

viel. Da ist das einfach vorhanden.<br />

Wenn ich in der Kommune noch nicht<br />

einmal Bescheid weiß, was für ge -<br />

sell schaftliche Spielregeln, für demo -<br />

kratische Möglichkeiten für junge<br />

Menschen da sind, da bekomme ich<br />

die auch mit 50, weil das ja das wahl -<br />

entschei dende Alter vielleicht für<br />

uns ist, nicht mehr zu politischen<br />

Interessen ten vermittelt.<br />

Wir haben eine sehr günstige Situation<br />

in Sachsen, dass wir sieben Jahre Zeit<br />

haben für ein politisches Amt als Bürgermeister<br />

oder als Landrat. Im Landtag<br />

sind das fünf Jahre. Das ist eine relativ<br />

lange Zeit.<br />

| 42 | Podiumsdiskussion


Ich sage es immer so herum: Wenn wir<br />

einen schlechten Bürgermeister haben,<br />

da hat man Pech gehabt, da kann man<br />

viel verpassen, aber wenn man einen<br />

guten Bürgermeister hat, da kann man<br />

richtig etwas entwickeln, Strategien entwickeln,<br />

umsetzen – und nicht nur auf<br />

dem Papier, sondern man kann sie dann<br />

am Ende auch umsetzen. Das ist eine<br />

tolle Ge schichte. Das ist so ein Thema,<br />

das mir hier so bei allen schwarz gekleideten<br />

Herren auffiel.<br />

Politik macht Spaß. Das ist einfach ein<br />

Thema, wo ich unheimlich viele Menschen,<br />

wenn ich es gut aufziehe, begeistern<br />

kann. Ich habe immer gesagt: Wenn<br />

ich eine Entscheidung nicht durchbekommen<br />

habe, dann war ich schlecht<br />

und nicht der, der da vorn gesessen hat<br />

und mit entscheiden musste.<br />

Das ist eine Geschichte, welche man<br />

sehr positiv vermitteln kann. Wenn<br />

jetzt wieder vielleicht auch bei Bürgermeistern<br />

und Landräten die politische<br />

Bildung ein Stück weiter angesetzt<br />

werden könnte, können die unheimlich<br />

viel vermitteln, was eben jemand, der<br />

im Bundestag oder Landtag sitzt,<br />

manchmal nicht mehr kann.<br />

Ich habe es ja eingangs gesagt: Ich<br />

versuche immer, Landtagsthemen auf<br />

die Kommune, auf die Region herunterzubrechen,<br />

um immer klar zu sagen:<br />

Dort ist das entschieden worden und<br />

hier passiert die und das damit.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Was macht man so als Landtagspräsident,<br />

um zu zeigen, dass Politik Spaß<br />

machen kann?<br />

Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />

Man macht zum Beispiel solche Veranstaltungen<br />

wie hier.<br />

Ich denke, man muss jede Gelegenheit<br />

nutzen. Das ist nur ein Beispiel: Der<br />

»Tag der Sachsen«. Da haben wir dann<br />

wenigstens 400.000 Besucher, wo wir<br />

beispielsweise auch Politik in einer<br />

lockeren Form erlebbar machen können,<br />

und da sage ich dann immer: Die Parteien,<br />

die Fraktionen im Landtag müssen<br />

sich dort präsentieren. Ich würde auch<br />

gern noch etwas zur direkten Demo -<br />

kratie sagen. Darüber sollte man nachdenken.<br />

Wir haben hier in Dresden viel Erfahrung<br />

mit direkter Demokratie. Heinrich Heine<br />

hat mal in seinem Wintermärchen ge sagt:<br />

Wenn das Volk »der große Lümmel«<br />

spricht, kann man nie vorher sicher sein,<br />

was für ein Ergebnis kommt.<br />

Da gab es die Diskussion um eine Brücke<br />

in Dresden. Ich war damals Staatsminister<br />

für Wissenschaft und Kunst.<br />

Dann hat man wirklich das Volk befragt<br />

und jetzt kommt es. Die wollten ihre<br />

Brücke. Die wollten nicht mehr im Stau<br />

stehen. Gerade die meinungsbildenden<br />

Eliten oben im Goldstaubviertel hatten<br />

das ganz anders erwartet. Auf einmal<br />

war der Weltkultur erbe-Titel weg.<br />

Podiumsdiskussion | 43 |


Vielleicht haben die das gar nicht überblickt.<br />

Vielleicht hätte man die gar nicht<br />

befragen dürfen. Vielleicht mangelte es<br />

an politischer Bildung. Ich sage nur eines:<br />

Wer das Volk befragt, der muss dann<br />

auch das Votum des Volkes akzeptieren,<br />

auch wenn es einem nicht passt. Das ist<br />

die Kehrseite von direkter Demokratie.<br />

Das ist – so denke ich – ein Problem,<br />

welches gerade für die sogenannten<br />

Eliten steht. Sie müssen das Ergebnis<br />

von direkter Demokratie auch akzeptieren<br />

können. Das fällt ihnen – das haben<br />

wir damals in Dresden gesehen – ziemlich<br />

schwer.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Das haben sie im Endeffekt deshalb<br />

ge macht, weil die von ihnen so gescholtene<br />

Demoskopie – das haben wir<br />

gemacht – regelmäßig Zahlen geliefert<br />

hat, dass die Dresdner trotz allem immer<br />

noch zu zwei Drittel hinter der Brücke<br />

stehen. Dann war irgendwann – glaube<br />

ich – bei den Gegnern ein wenig der<br />

Ofen aus.<br />

Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />

Das habe ich jetzt einfach nur festgestellt.<br />

Das ist die direkte Demokratie.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Nur vier kon -<br />

krete Beispiele: Stuttgart 21. Dann<br />

haben wir gerade in München die<br />

Debatte um die dritte Startbahn beim<br />

Flughafen, in Hamburg geht es um<br />

eine Bildungs reform, bei der viele von<br />

einem anderen Ergebnis ausgegangen<br />

sind. Und bei Ihnen in Dresden geht<br />

es um die Waldschlößchen-Brücke.<br />

Ich habe das überregional alles mit -<br />

bekommen.<br />

Ich finde, dass sich Herr Kretschmann<br />

in Baden-Württemberg diesbezüglich<br />

vorbildlich verhalten hat. Er hat gesagt:<br />

Ich bin Demokrat, ich muss anerkennen,<br />

was nach einer gemeinsamen Initiative<br />

als Ergebnis zustande gekommen ist.<br />

Damit hat er dieser plebiszitären Befragung<br />

– wie ich glaube – durchaus den<br />

richtigen demokratischen Rückenwind<br />

gegeben.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das zeigt, dass es<br />

durchaus ein politisches Interesse<br />

gibt. Unser Lamento – sage ich jetzt mal<br />

etwas abwertend –, dass die Menschen<br />

sich nicht mehr für Politik interessieren,<br />

stimmt dann nicht mehr, wenn es<br />

bestimmte Themen gibt, die die Leute<br />

aufregen. Ich bin zwar häufig mit diesen<br />

Bewegungen nicht einverstanden, also<br />

mit den Zielen, die diese Bewegungen<br />

verfolgen, aber ich habe großen Respekt<br />

dafür, dass sich Menschen dann so<br />

engagieren, jeden Montag zu irgendeiner<br />

Demonstration marschieren und einfach<br />

Politik von unten machen. Parteien<br />

tun sich damit ein bisschen schwer.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ist es Politik, wenn man sich für<br />

einen »single issue«, sagen wir mal,<br />

interessiert?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Warum nicht? Warum<br />

muss Politik immer das Ganze machen?<br />

| 44 | Podiumsdiskussion


Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Darf ich ein<br />

anderes Beispiel geben? Wir haben es<br />

nach demoskopischen Befragungen<br />

mit einer breiten Ablehnung der Kernenergie<br />

in Deutschland zu tun. Trotzdem<br />

organisieren wir gerade den Ausstieg<br />

aus dem Ausstieg des Ausstiegs. Das<br />

heißt, wir werden regenerative Energiequellen<br />

in Zukunft stärker nutzen müssen,<br />

und jetzt ist die Frage: Ist denn<br />

das breite Publikum auch bereit, die<br />

dafür notwendige Infrastruktur in Form<br />

von Leitungsnetzen zu akzeptieren<br />

oder gerät das in einen massiven Widerspruch<br />

zu ihrer ablehnenden Haltung<br />

gegenüber der Kernenergie?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: So ist der Mensch.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ja, das mag<br />

sein. Nur, bei der Beantwortung der<br />

konkreten Frage kommen wir natürlich<br />

irgendwann an die weitere Handlungsund<br />

Zukunftsfähigkeit eines Industriestandortes<br />

Bundesrepublik Deutschland,<br />

der weiter in der Champions<br />

League spielen will.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich weiß, das ist ein<br />

Problem, aber so ist der Mensch.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Aha. Sie können<br />

das Problem beschreiben, ich muss es<br />

gegebenenfalls mit anderen lösen.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Bei uns gibt es natürlich<br />

immer wieder Anlass für viele Ge schich -<br />

ten, die tatsächlich diesen Widerspruch<br />

ausarbeiten. Und ich glaube, das ist tatsächlich<br />

unsere Aufgabe. Wir müssen<br />

diese Widersprüche aufzeigen und damit<br />

auch unseren Lesern oder Fernsehzuschauern<br />

oder Radiohörern oder Internet-<br />

Usern deutlich machen: Ihr müsst noch<br />

einmal darüber nach denken, so geht es<br />

nicht weiter mit dieser Kirchturmpolitik.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Gelegentlich<br />

habe ich auch im öffentlich-rechtlichen<br />

Fernsehen merkwürdige Berichterstattungen<br />

über Demonstrationen erlebt.<br />

Manchmal gab es maximal 200 Demonstrantinnen<br />

und Demonstranten vor dem<br />

Kanzleramt und es wurde trotzdem der<br />

Eindruck erweckt, als würde eine überwiegende<br />

Mehrheit gegen das ein oder<br />

andere demonstrieren. Es wurde also<br />

über mediale Aufmerksamkeit ein Eindruck<br />

vermittelt, der mit den wahren<br />

Mehrheitsverhältnissen in einer breiten<br />

Bevölkerung rein gar nichts zu tun hat.<br />

Oft handelt es sich um reine Single-<br />

Issue-Bewegungen, die sich auf ein<br />

Thema konzentrieren, und wenn die<br />

eine Vetoposition erreichen können,<br />

dann stellt sich allerdings die Frage:<br />

Was hat das mit Demokratie zu tun?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das hat eine ganze<br />

Menge mit Demokratie zu tun, aber<br />

auch mit den Problemen der Demokratie.<br />

Ich finde es jedenfalls wunderbar,<br />

dass es diese Initiativen gibt. Es wäre<br />

Podiumsdiskussion | 45 |


ganz schrecklich, wenn die Leute alles<br />

hinnehmen und gegen nichts protestieren<br />

würden, was ihnen missfällt. Es<br />

ist sicherlich sehr schlicht und sehr<br />

einfach, aber es ist immer noch besser<br />

als einfach nur Desinteresse.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ich glaube, es ging ja auch nicht darum,<br />

ob es diese Initiative nicht geben sollte.<br />

Das ist ja ein lebendiger Teil der Demokratie<br />

oder – besser gesagt – ein Teil<br />

der lebendigen Demokratie. Die Frage<br />

ist nur, ob es hinreichend ist, wenn<br />

sich Menschen eben für solche einzelnen<br />

Themen einsetzen, die vielleicht<br />

noch vor ihrer Haustür passieren, ob -<br />

wohl es ja auch diesen Tourismus<br />

der jenigen gibt, die dann vor den<br />

Zäunen stehen, aber sonst eben nicht<br />

kontinuierlich am politischen Prozess<br />

teilnehmen.<br />

Wir haben eine große Studie gemacht.<br />

Da haben wir über einen Monat lang<br />

immer danach gefragt, ob man die beiden<br />

wichtigsten Themen des Vortages<br />

mitbekommen hat.<br />

Welche sind das, hat übrigens eine<br />

Gruppe von Chefredakteuren und Wissenschaftlern<br />

entschieden. Da kommen<br />

sie im Durchschnitt der Bevölkerung auf<br />

18 %, die sich über diese beiden Themen<br />

informiert haben. Mitbekommen haben<br />

es so um die 50 %. Das sind Themen,<br />

die mit der Griechenlandkrise zu tun<br />

haben, der Rücktritt des Bundespräsidenten<br />

usw.<br />

Das, was an Plafonds da ist, an dauerhafter<br />

und kontinuierlicher Informiertheit<br />

und Information über den politischen<br />

Prozess, ist wahrscheinlich<br />

sehr viel weniger, als wir uns immer<br />

vorgestellt haben, und es wird auch<br />

weniger, denn es gibt da eine deutliche<br />

Alterskurve.<br />

Da sind wir wieder bei der politischen<br />

Bildung, von der ich nach wie vor der<br />

Ansicht bin, Matthias Rößler, dass das<br />

stärker als nur über eine Landeszentrale<br />

für politische Bildung geht, die sicherlich<br />

eine hervorragende Arbeit macht<br />

und einen tollen Direktor hat, aber eben<br />

gar nicht so ausgestattet ist, um in der<br />

Breite sozusagen von unten heraus ein<br />

Interesse für den politischen Prozess zu<br />

wecken und auch das Spannende am<br />

Prozess – wie Sie, Frau Köpping, es<br />

beschrieben haben – deutlich zu<br />

machen. Müssen wir da nicht mehr<br />

investieren?<br />

Landtagspräsident, Dr. Matthias Rößler:<br />

Klar müssen wir mehr investieren, vor<br />

allem müssen das die Schulen voran -<br />

treiben. Es gibt ja auch eine gewisse<br />

Distanz bei vielen Lehrern gegenüber<br />

politischer Bildung. Ich habe früher<br />

immer gedacht, es wäre ein Ostphänomen,<br />

aber jetzt, nach 20 Jahren, kann<br />

das ja nicht mehr ganz so sein. Ich<br />

bekomme natürlich mit, dass das in<br />

Nordrhein-Westfalen oder Baden-Württemberg<br />

nicht viel anders ist. Dort weiß<br />

man ähnlich wenig über Kommunalpoli-<br />

| 46 | Podiumsdiskussion


tik, ähnlich wenig über Landespolitik.<br />

Ich denke, es liegt auch daran, wie wir<br />

das verpacken.<br />

Wir haben Gemeinschaftskundeunterricht<br />

und vieles andere mehr. Vielleicht<br />

muss man es noch spannender gestalten,<br />

vielleicht liegt es an den Lehrplänen<br />

oder auch daran, dass viele Lehrerinnen<br />

und Lehrer gerade sagen – wir haben es<br />

ja vorhin diskutiert –: »Lasst mich mit<br />

diesen Sachen in Ruhe!« Dass es auch<br />

dort eine gewisse Distanz wie beim<br />

Großteil der Bevölkerung gibt. Da müssen<br />

wir dicke Bretter bohren. Dafür habe<br />

ich jetzt kein Patentrezept. Ich glaube<br />

nicht, dass es bloß am Geld liegt. Da<br />

wird viel eingesetzt, wir setzen ja<br />

unglaublich viel Geld in unser Bildungssystem,<br />

überall in Deutschland.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Gemessen am<br />

Durchschnitt der OECD-Länder gibt<br />

Deutschland 1 % seines Bruttoinlandsproduktes<br />

zu wenig für Bildung aus. 1 %<br />

sind 25 Milliarden. Gemessen am skandi -<br />

navischen Bildungssystem geben wir 2 %<br />

zu wenig aus, und ich meine es von der<br />

Kinderbetreuung über die schulische Bildung,<br />

berufliche Bildung, akademische bis<br />

hin zur Qualifizierung für Erwachsene. Wir<br />

sind unterfinanziert im Bereich Bildung.<br />

Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />

Aber wenn wir das eine Prozent mehr<br />

einsetzen, können wir nicht die 25 Milliarden<br />

komplett für politische Bildung<br />

ausgeben. Darüber sind wir uns einig.<br />

Wir müssen das, so denke ich, auf<br />

andere Weise transportieren.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich würde die<br />

sonst für Parteiagitationen ausgeben!<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Ich würde gern mal beim Bürger bleiben.<br />

Das ist jetzt meine subjektive Meinung,<br />

die ich hier eigentlich als Moderator gar<br />

nicht haben sollte, aber ich glaube, dass<br />

da der Kern des Problems liegt: dass es<br />

da ein Nachfrageproblem viel mehr gibt<br />

als ein Angebotsproblem. Sie haben in<br />

Ihrem Buch geschrieben: Es gibt heute<br />

weniger Idealismus als früher. Das ist<br />

natürlich auf die Gesellschaft und nicht<br />

auf die Politiker bezogen.<br />

Beobachten Sie so etwas wie einen<br />

Wertewandel? Ein Mainzer Kollege hat<br />

mal von der Privatisierung der Demo -<br />

kratie ge sprochen. Die Menschen<br />

ziehen sich mehr zurück in ihren eigenen<br />

Lebensraum. Es ist ihnen wichtig,<br />

dass es ihnen selbst ganz toll geht,<br />

aber das, was im anonymen, im öffentlichen<br />

Bereich spielt, ist weniger wichtig.<br />

Beobachten Sie so etwas?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich sehe einen<br />

Rückzug ins Private, ich sehe auch einen<br />

Rückzug in Parallelgesellschaften, die<br />

sich längst abgekoppelt haben vom<br />

öffentlichen Raum. Ich sehe aber gleichzeitig<br />

ganz merkwürdigerweise eine<br />

Sehnsucht nach Werten.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Irgendwelche oder bestimmte Werte?<br />

Podiumsdiskussion | 47 |


Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Schon sehr<br />

bestimmte. Es geht um die Einhaltung<br />

von Fairness, von Spielregeln. Man kann<br />

durchaus von einem moralischen Verhalten<br />

sprechen, von der Wahrnehmung<br />

einer Vorbildfunktion von Eliten. Es geht<br />

in der Tat um eine stärkere Gemeinwohlorientierung<br />

derjenigen, die die Eliten<br />

in Deutschland darstellen.<br />

Das Gebot zur Einhaltung von Fairness<br />

spielt – wie ich glaube – zunehmend<br />

eine Rolle, auch für Menschen, die sagen:<br />

Ich bin bereit, Belastungen auf mich zu<br />

nehmen, meinen Beitrag zu leisten dafür,<br />

dass wir uns anstrengen müssen, aber<br />

ich möchte, dass die damit verbundenen<br />

Lasten fair verteilt werden und ich nicht<br />

der Dumme bin. Das spielt eine enorme<br />

Rolle in der Beurteilung von Politik.<br />

Ich habe noch einen weiteren Aspekt,<br />

bezogen auf Demokratie, wenn ich den<br />

kurz darstellen darf. Unter dem Druck der<br />

Demografie stellen wir fest, dass meine<br />

Alterskohorte der über 60-Jährigen deutlich<br />

zunimmt, während die Alterskohorte<br />

der unter 30-Jährigen, meiner Kinder und<br />

eines Tages hoffentlich meiner Enkelkinder,<br />

deutlich abnimmt. Dies bedeutet,<br />

dass ich mit einer Mehrheit meine Ge gen -<br />

wartsinteressen durchsetzen kann und<br />

dass diejenigen, die Zukunftsinteressen<br />

vertreten, immer größere Schwierigkeiten<br />

haben, sich durchzusetzen.<br />

Das wird zu einem Demokratieproblem,<br />

das man übrigens bei Abstimmungen<br />

über bestimmte Infrastrukturvorhaben<br />

schon bemerken kann. Das Politikfeld,<br />

bei dem das Problem besonders gut zu<br />

beobachten ist, ist die Debatte um die<br />

Zukunft der Altersversorgung in der<br />

Bundesrepublik Deutschland. Da werden<br />

sie diese Auseinandersetzung in<br />

den nächsten Jahren bemerken, bei<br />

der meine Generation mit Mehrheiten<br />

Einfluss nimmt auf die Organisation<br />

der Altersversorgung, die eines Tages<br />

zu mehr Belastungen meiner Kinder<br />

und Enkelkinder führt, wenn die in<br />

ein Pensionsalter kommen.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Wir haben hier drei Mikrofone im Saal<br />

und ich würde gern jetzt zum Ende auch<br />

Ihnen die Möglichkeit geben, dass Sie<br />

sich mit Fragen oder Kommentaren zu<br />

Wort melden. Die Mikrofone sind auch<br />

schon freigeschaltet. Da gibt es rote<br />

Lichtlein. Wenn es Sie danach gelüstet,<br />

es sollte ja Spaß machen, dann bitte<br />

melden Sie sich.<br />

Wir kommen noch einmal zurück auf die<br />

Frage der drei Gruppen, die sozusagen<br />

das Schlechte aus sich herausholen. Wir<br />

haben jetzt sehr viel über die Medien<br />

und die Bürger gesprochen. Wir haben<br />

eigentlich am wenigsten über die Parteien<br />

gesprochen, obwohl das eigentlich<br />

Ihr Thema war.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Da habe ich ja<br />

systematisch ablenken können.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Sie haben das eigentlich alles schon ab -<br />

gehandelt. In Ihrem Vortrag haben Sie<br />

| 48 | Podiumsdiskussion


es schon getan. Herr <strong>Steinbrück</strong>, ist es<br />

so, dass heutzutage andere Typen von<br />

Politikern in die Politik – andere Typen<br />

von Menschen sollte ich sagen, andere<br />

Persönlichkeiten – drängen? Mir hatte<br />

ein Kollege mal gesagt – das hat er, so<br />

glaube ich, auch veröffentlicht –, dass es<br />

heute ein narzisstischerer Typ sei, weil<br />

eben diese Mediengesellschaft, diese<br />

ständige Aufmerksamkeit von Kameras<br />

und Mikro fonen, eine gewisse Selbstverliebtheit<br />

braucht. Ist das eine Typveränderung?<br />

Hätte – mal anders gesagt – ein<br />

Adenauer heute noch eine Chance?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Eindeutig ja.<br />

Heute hätte, wie ich glaube, eine ganze<br />

Nachkriegsgeneration von Politikern<br />

eine glänzende Chance. Das liegt aber<br />

daran, dass sie oftmals gebrochene und<br />

damit interessante Biografien hatten.<br />

Entweder, weil sie Mitläufer gewesen<br />

sind und mitbekommen haben, was sie<br />

da getan haben, oder weil sie im Exil<br />

oder im Widerstand gewesen sind und<br />

teilweise in Gefängnissen saßen.<br />

Das heißt, diese Nachkriegsgeneration,<br />

die übrigens mit dem wahnsinnigen<br />

Impetus angetreten ist, dieses Deutschland<br />

wieder aufzubauen, hat eine Vielfalt<br />

von Persönlichkeiten in allen Parteien<br />

hervorgebracht, die heute vermisst<br />

wird. Demgegenüber wird die heutige<br />

Politikergeneration als sehr angepasst,<br />

eher fade, wahrgenommen.<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Das ist unfair, weil sie<br />

diese Biografien gar nicht haben können.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Sie sagen es.<br />

Und trotzdem ist diese Nachkriegsgeneration<br />

von Politikern zeitgeschichtlich<br />

einfach vielfältiger geprägt gewesen.<br />

Einen gewissen Narzissmus – um darauf<br />

zurückzukommen –, ein etwas hypertrophes<br />

Selbstbewusstsein müssen die<br />

schon mitbringen, sonst gehen sie unter.<br />

Am gefährlichsten ist die Vorstellung,<br />

ich werde Berufspolitiker, und zwar bei<br />

jungen Leuten, die schon mit 20 in die<br />

Junge Union, bei den Jusos, bei den<br />

Jungen Liberalen oder bei der Grünen<br />

Jugend aktiv sind und die Vorstellung<br />

haben, diese Politik sei ihr Leben. Deshalb<br />

haben sie die Vorstellung, sich in<br />

ihren Jugendorganisationen durchsetzen<br />

zu müssen. Da passen sie sich immer<br />

etwas an, sodass ihre Karriere nicht<br />

unterbrochen wird. Und sie sind immer<br />

beim Mainstream, obwohl der Mainstream<br />

nicht immer richtig liegen muss.<br />

Am Ende machen sie sich gut Kind,<br />

um das Mandat zu bekommen.<br />

Oft fehlt ein beruflicher Erfahrungshintergrund.<br />

Berufspolitiker müssen alles<br />

tun, um im Boot zu bleiben. Das heißt,<br />

sie werden nie gegen den Strich bürsten,<br />

sie werden nie etwas tun, was ihnen<br />

diese Karriere als Berufspolitiker kaputt<br />

machen kann – und darin liegt die<br />

eigentliche Gefahr. Ich komme inzwischen<br />

fast zu dem Ergebnis, dass man<br />

durchsetzen sollte, dass keiner länger<br />

als zwei Legislaturperioden in einem<br />

Parlament sitzen sollte.<br />

Podiumsdiskussion | 49 |


Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Kann man sich die Kompetenz denn in<br />

einer so kurzen Zeit aneignen, also führt<br />

nicht die Diskussion wieder bei<br />

der Komplexität, über die wir vorhin<br />

gesprochen haben, dazu, dass man<br />

zwangsläufig zum Experten werden<br />

muss und man nicht nebenbei noch ein<br />

Unternehmen oder eine Anwaltskanzlei<br />

führen kann?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Es hat einen<br />

Grund, weshalb viele Politikerinnen und<br />

Politiker aus dem öffentlichen Dienst<br />

kommen. Das ist ein kleiner, etwas<br />

frecher, Seitenausschnitt.<br />

Ich glaube, Sie müssen von den Politikern<br />

sehr viel mehr einen methodischen<br />

Zugang zu Themen erwarten, als nur<br />

unbedingt ein Fachpolitiker zu sein. Es<br />

gibt ja die Kritik nach dem Motto: Wie<br />

kann es sein, dass er erst das Ressort A,<br />

dann das Ressort B und dann das Ressort<br />

C führt? Ich sage: Selbstverständlich,<br />

das kann sogar sehr gut sein, weil<br />

er in diesen Ministerien einer geballten,<br />

sachfixierten Ministerialbürokratie<br />

gegenübersteht, die sich gelegentlich<br />

sogar einbildet, das Primat zu haben<br />

gegenüber dem gewählten Politiker.<br />

Diese Apparate entwickeln ein erstaun -<br />

liches Eigenleben.<br />

Als ich 1974 oder 1975 das erste Mal in<br />

ein Ministerium kam, sagte mir ein Referent:<br />

»Das ist der fünfte Minister, der<br />

unter mir dient.« Das war eine verbreitete<br />

Einstellung – und dann als Minister zu<br />

sagen: »Wissen Sie, was Sie in den letzten<br />

zehn Jahren alles vorgelegt haben,<br />

das ist etwas, was ich nicht akzeptiere.<br />

Wir denken jetzt mal neu oder wir denken<br />

mal von der Ecke des Raumes, und<br />

das kann zu anderen Ergebnisen führen<br />

als die bisherigen Überlegungen.«<br />

Aber dafür benötigen Sie natürlich das<br />

methodische Rüstzeug.<br />

Das erhalten Sie, wenn Sie kommunalpolitisch<br />

als Bürgermeister oder Landrat<br />

tätig waren oder wenn Sie mal Parlamentarischer<br />

Staatssekretär gewesen<br />

sind, also langsam an solche Funktionen<br />

auch herangeführt worden sind. Dies<br />

führt allerdings bei mir zur Ansicht,<br />

dass ein 32-jähriger Mann oder eine<br />

32-jährige Frau definitiv nicht geeignet<br />

ist, ein Bundesministerium zu führen.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Es fällt mir jetzt niemand ein. Frau<br />

Köpping, haben Sie manchmal das Ge -<br />

fühl – verstehen Sie mich nicht falsch –<br />

der Überforderung? Sie sind in den<br />

beiden Ausschüssen Wirtschaft, Arbeit<br />

und Verkehr sowie im Innenausschuss –<br />

also ganz unterschiedliche Dinge, wahr -<br />

schein lich auch auf der Landesebene<br />

sehr kom plexe Dinge. Haben Sie die<br />

Zeit, sich da immer reinzufuchsen?<br />

Petra Köpping, MdL: Also erst einmal<br />

fühle ich mich nicht überfordert, sondern<br />

eher unterfordert. Da war eine<br />

Aufgabe als Bürgermeisterin oder als<br />

Landrat wesentlich anspruchsvoller –<br />

und ich würde es gern noch einmal<br />

| 50 | Podiumsdiskussion


von dieser Seite her beleuchten. Ich<br />

finde das ganz gut. Bei Bürgermeistern,<br />

Landräten, Ministern ist keine berufliche<br />

Qualifikation erforderlich. Das<br />

kann jeder werden. Das ist ein Vorteil<br />

und das ist ein Nachteil. Ich habe ja vorhin<br />

gesagt, wenn man sieben Jahre lang<br />

eine Plinse als Bürgermeister da sitzen<br />

hat, kann das schon eine lange Zeit sein,<br />

die die Ge meinde sehr nach hinten wirft.<br />

Aber auf der anderen Seite finde ich es<br />

gerade in solchen Positionen sehr gut,<br />

seinen ge sunden Menschenverstand zu<br />

be nutzen.<br />

Ich habe eine Verwaltung, die eben ar bei -<br />

tet, die die Rechte und Grundlagen dafür<br />

legt, insofern dort Entscheidungen mit<br />

den Gremien zu fassen, die wirklich<br />

auch den Menschen entsprechen und die<br />

das auch wollen. Das halte ich für eine<br />

wichtige Geschichte, und ich kann nur<br />

be grüßen, dass man solche Amts zeiten<br />

vielleicht auf zwei nacheinander begrenzt.<br />

Wenn man vierzehn Jahre – das sind<br />

zwei Amtszeiten – Bürgermeister war,<br />

dann ist man einfach ausgelaugt und<br />

man hat keine neuen Ideen. Die Freude<br />

geht vielleicht auch ein Stück ver loren.<br />

Insofern kann ich das nur be grüßen,<br />

politische Ein stiege nicht als berufliche<br />

Karriere fürs Leben zu betrachten.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Die Frage stellt sich auch bei Journalisten.<br />

Mir hat ein befreundeter Journalist<br />

von der »FAZ« einmal gesagt, als es um<br />

die Rentenreform vor ein paar Jahren<br />

ging: Diese Rentenreform verstehen in<br />

Deutschland noch drei Journalisten. Er<br />

sei einer davon, okay. Das ist eine ge -<br />

wisse Selbstüberschätzung, sie passte<br />

auch zur Zeitung. Ist das so? Sind das so<br />

komplexe Dinge, zum Beispiel mit der<br />

Wirtschafts-, mit der Finanzkrise? Ist das<br />

denn noch etwas, worüber die Leute<br />

dann schreiben? Ich meine jetzt nicht<br />

beim Privatradio, die anderthalb Minuten<br />

Nachrichten machen, sondern auch bei<br />

einer seriösen, sagen wir mal bei einer<br />

regionalen Abonnementzeitung. Wissen<br />

die noch, um was es geht?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich glaube, es gibt eine<br />

Reihe von Journalisten in den überregionalen<br />

Zeitungen und Fernsehen, die wissen,<br />

worum es geht, die eine Menge<br />

davon verstehen. Es gibt aber noch<br />

mehr Journalisten, die darüber berichten<br />

müssen und davon vielleicht nicht ganz<br />

so viel verstehen. So ist das. Es gibt<br />

Politiker, die im Bundestag mitentscheiden<br />

müssen über die nächsten Kredite<br />

und auch nicht so viel davon verstehen.<br />

Es hat mal einen sehr denkwürdigen<br />

ARD-Bericht gegeben. Das war, glaube<br />

ich, kurz vor einer Griechenlandabstimmung.<br />

Da wurden die Einzelnen gefragt,<br />

um welche Summe es sich handelt. Also<br />

das war eine Kapitulation.<br />

Das heißt, wir haben ein Problem auf<br />

beiden Seiten, nämlich bei den Politikern<br />

wie auch bei den Journalisten, dass nicht<br />

immer die Kompetenz da ist, die vorhanden<br />

sein müsste.<br />

Podiumsdiskussion | 51 |


Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Es meldet sich ein kompetenter Journalist<br />

zu Wort. Wenn Sie bitte ein Mikrofon<br />

nehmen, weil es aufgezeichnet wird.<br />

Fragesteller: Schönen Dank. Ich habe<br />

gerade noch im Ohr, dass Herr <strong>Steinbrück</strong><br />

uns herausgefordert hat, einen Dreiminutenvortrag<br />

zu halten, um uns das Problem<br />

der europäischen Schuldenkrise zu<br />

erklären. Da das sonst in Vergessenheit<br />

geraten würde und jetzt genau das Thema<br />

»Komplexität« an stand, meine ich,<br />

wäre das genau der richtige Zeitpunkt.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Okay. Wir haben jetzt noch zwei Wortmeldungen.<br />

Dann würde ich sagen, dass<br />

die beiden hintereinanderweg sprechen<br />

und dann machen wir hier vorn die<br />

Schlussrunde.<br />

Fragesteller (Nr. 1): Einen schönen<br />

guten Tag. Mein Name ist Mirtschink,<br />

Obermeister, Dresden. Das letzte Mal<br />

durfte ich Herrn <strong>Steinbrück</strong> noch mit<br />

Minister ansprechen. Vielleicht klappt<br />

es 2013 wieder.<br />

Die erste Frage lautet: Wieso spricht<br />

man bei der Politik von handwerklichen<br />

Fehlern?<br />

Die zweite Frage lautet: Die Vereinigten<br />

Staaten von Europa – ist das ein Hirngespinst,<br />

eine Vision oder ist das eine notwendige<br />

Realität? Das waren meine zwei<br />

Fragen. Vielen Dank.<br />

Fragesteller (Nr. 2): Mein Name ist<br />

Harald Köpping und meine Frage geht<br />

natürlich auch an Sie, Herr <strong>Steinbrück</strong>.<br />

Die erste Frage bezieht sich auf Ihren<br />

Vortrag, und zwar hat es mich ein bisschen<br />

gestört, dass Sie nicht erwähnt<br />

haben, dass die Ideologie der Partei<br />

eigentlich keine Rolle mehr spielt, und<br />

ich denke, dass besonders junge Leute<br />

das eben auch in den Parteien vermissen.<br />

Die Ideologie der Sozialdemokratie<br />

spielt bei der SPD keine so große Rolle<br />

mehr. Ich denke, bei den anderen Parteien<br />

ist das ähnlich. Das ist auch ein größeres<br />

Problem, das die Parteien haben.<br />

Die zweite Frage geht natürlich auch in<br />

die Richtung der Schuldenkrise. Das be -<br />

zieht sich auch auf Sie, Herr Rößler. Ich<br />

denke schon, wir bauen im Moment ein<br />

anderes Staatskonzept auf, und zwar<br />

das der Supranationalität und was Europäische<br />

Union überhaupt heißt. Kann das<br />

aber funktionieren, wenn Institutionen<br />

nicht gewählt sind, wenn die nicht<br />

demokratisch sind, wenn wir eine politische<br />

Kultur haben, die eigentlich nicht<br />

europäisch ist, wenn bei Europawahlen<br />

eigentlich nur nationale Themen eine<br />

Rolle spielen? Wenn europäische Integration<br />

nicht demokratisch wird, wie<br />

können wir dann über die Zukunft – und<br />

das sind ja meine Themen, die Zukunftsthemen<br />

– nachdenken?<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich versuche eine<br />

Antwort im Telegrammstil. Das nehmen<br />

Sie bitte nicht als Diskreditierung des<br />

| 52 | Podiumsdiskussion


goldenen Handwerks, dass wir von<br />

handwerklichen Fehlern der Politik<br />

reden. Politik ist teilweise Handwerk.<br />

Da machen wir uns nichts vor.<br />

Politik ist eine Methode. Und zu dieser<br />

Methode gehört eine Art Rüstzeug,<br />

welches man bedienen können muss.<br />

Gelegentlich ist die Beherrschung dieses<br />

Werkzeugs nicht gut ausgeprägt und<br />

deshalb gibt es handwerkliche Fehler.<br />

Die Vereinigten Staaten von Europa sind<br />

eine Anlehnung an die Vereinigten Staaten<br />

von Amerika und da sollte man vorsichtig<br />

sein. Die USA haben eine andere Historie,<br />

eine andere Tradition, eine andere<br />

Verfassungsgeschichte. Wir haben es<br />

in Europa nach wie vor mit National -<br />

staaten mit eigenen Sprachen, eigenen<br />

Territorien, einer eigenen Gesetzgebung<br />

und eigenen kulturellen Hintergründen<br />

zu tun.<br />

Deshalb glaube ich nicht, dass wir eines<br />

Tages in einem Bundesstaat Europa landen.<br />

Dies ist kein Plädoyer gegen eine<br />

weitere Integration. Eine weitergehende<br />

europäische Integration halte ich für<br />

möglich, aber ich glaube nicht, dass wir<br />

in einem europäischen Bundesstaat landen,<br />

jedenfalls nicht in überschaubaren<br />

Jahrzehnten.<br />

Was die Demokratisierung betrifft, teile<br />

ich voll und ganz Ihre Kritik. Jede weitere<br />

europäische Integration wird sich nur<br />

mit einer stärkeren Demokratisierung<br />

vollziehen können, in der das Europäische<br />

Parlament mehr Rechte bekommt.<br />

Vielleicht wird sogar eine zweite Kammer<br />

eingeführt, ähnlich dem amerikanischen<br />

Kongress mit einem Repräsentantenhaus<br />

und einem Senat, wo im Senat die einzelnen<br />

Nationalstaaten eine Rolle spielen.<br />

Die Europäische Kommission wird<br />

eines Tages vielleicht eine Art europäische<br />

Regierung, die gewählt wird, mit<br />

einem Spitzenkandidaten, der sich zur<br />

Wahl direkt stellen muss. Das wäre die<br />

Auflösung der aktuellen Situation, dass<br />

die Kommission etwas ist, was in der<br />

Montesquienschen Gewaltenteilung<br />

gar nicht vorkommt. Sie ist nämlich<br />

Legislative und Exekutive zur gleichen<br />

Zeit. Es bedarf einer deutlichen Korrektur<br />

des jetzigen Fehlers, der Europa in<br />

seinen Institutionen reduziert auf eine<br />

intergouvernementale Veranstaltung<br />

von 25 Männern und zwei Frauen. Das<br />

ist der Europäische Rat.<br />

Das heißt, wenn über die europäische<br />

Integration geredet wird, muss dies<br />

zwingend verbunden sein mit einem<br />

Demokratisierungsprozess, der dann<br />

vielleicht auch jüngere Menschen wieder<br />

faszinieren kann.<br />

Letzter Punkt: Wir haben es mit einer<br />

klaren Entideologisierung der Parteiensysteme<br />

in Europa zu tun – mit Aus -<br />

nahme einiger sehr rechtsorientierter<br />

Parteien und nur noch einiger weniger<br />

linker Parteien. Das spiegelt sich auch<br />

in Deutschland wider, weil die Wahlen<br />

in der Mitte der Gesellschaft entschieden<br />

werden. Ich weiß, dass die Mitte<br />

Podiumsdiskussion | 53 |


kein fester Ort ist. Die Mitte ist sehr<br />

volatil. Sie unterliegt auch einer gewissen<br />

Deutungshoheit, aber Wahlen werden<br />

in Deutschland nach wie vor in der<br />

großen, breiten politischen Mitte entschieden.<br />

Das bedeutet, dass Sie mit stramm<br />

ideologischen Vorstellungen nicht an -<br />

treten brauchen. Das bedeutet jedoch<br />

nicht, dass Sie grundsatzlos sein dürfen.<br />

Sie dürfen allerdings schon auf Unterscheidung<br />

Wert legen, aber die Vorstellung,<br />

dass die SPD in eine ideologische<br />

Phase zurückfällt, geht mir nicht durch<br />

den Kopf.<br />

Sie erleben gerade in einem anderen<br />

Teil der Welt eine Reideologisierung<br />

mindestens einer Partei, mit fatalen<br />

Konsequenzen. Das ist die Republikanische<br />

Partei in den USA. Diese Reideologisierung<br />

führt zu einer Disfunktionalität<br />

des Verfassungsprinzips der USA von<br />

Thomas Jefferson, weil sie sich sehr<br />

massiv der Kompromissfindung, der<br />

Orientierung auf eine Gemeinsamkeit<br />

entzieht. Das wird inzwischen von<br />

Politikwissenschaftlern und von Be -<br />

obachtern in den USA in der Tat als eine<br />

Infragestellung des Systems angesehen.<br />

Übrigens, ich fand dies sehr gut be -<br />

schrieben in einer glänzenden Titelgeschichte<br />

des »SPIEGEL«, in der es um<br />

Präsident Obama geht und die genau<br />

diesen Punkt aufgreift. Die Darstellung<br />

entspricht vollständig den Erfahrungen,<br />

die ich bei einem längeren USA-Besuch<br />

Ende Februar gemacht habe.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Lösen Sie das Versprechen noch ein, uns<br />

in drei Minuten …<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Also, das ist eine<br />

Anekdote, nicht, dass Sie sie total ernst<br />

nehmen. Das ist die Erklärung der<br />

Finanzkrise in Europa: Ein russischer<br />

Oligarch besucht ein kleines schnuck -<br />

liges Hotel an der Côte d’Azur. Er sieht<br />

es an und sagt zu dem Hotelbesitzer:<br />

Wissen Sie, das gefällt mir ganz gut.<br />

Er legt 500 Euro auf den Tisch und sagt:<br />

Bevor ich das Hotel aber mit meiner Frau<br />

miete, möchte ich mir die Räume oben<br />

noch einmal anschauen. Der Hotelbesitzer<br />

hat wiederum exakt 500 Euro Schulden<br />

bei einem Caterer.<br />

Er geht zu dem Caterer und sagt: Hier<br />

sind die 500 Euro, die ich dir schulde.<br />

Der Caterer hat 500 Euro Schulden bei<br />

einem Lebens mittelhändler und rast mit<br />

den 500 Euro zu dem Lebensmittelhändler<br />

und sagt: Hier sind die 500 Euro, die<br />

ich dir schulde. Der Lebensmittelhändler<br />

rast mit den 500 Euro zu einem Fleischer<br />

und sagt: Hier sind die 500 Euro, die ich<br />

dir schulde und sagt: Jetzt bin ich frei<br />

von den Schulden.<br />

Der Fleischer rast zu einer Dame, die<br />

sehr einseitige Dienstleistungen anbietet,<br />

der er auch 500 Euro schuldet und<br />

sagt: Hier sind die Schulden, die ich<br />

dir seit zwei Monaten eigentlich zurückzahlen<br />

müsste. Sie ist froh und sagt: Die<br />

| 54 | Podiumsdiskussion


500 Euro kann ich sehr gut gebrauchen.<br />

Sie rast mit den 500 Euro zu dem Hotelbesitzer<br />

und sagt: Hier sind die 500 Euro,<br />

die ich dir noch schulde wegen der Miete<br />

des Zimmers, welches ich gelegentlich<br />

bei dir im Hotel brauche.<br />

In dem Augenblick kommt der russische<br />

Oligarch die Treppe herunter, nimmt die<br />

500 Euro vom Tisch und sagt: Mir gefallen<br />

diese Zimmer dann doch nicht und<br />

haut ab.<br />

Alle sind entschuldet, alle sind froh. Die<br />

ganze Gemeinde lacht. Es ist wunderbar,<br />

nur einer unter uns ist der Gelackmeierte,<br />

und Sie müssen herausfinden, wer es ist.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Vielleicht kann man das noch kurz mit<br />

auf den Weg geben nach Mexiko, wo die<br />

Verhandlungen gerade stattfinden.<br />

Jetzt die Schlussrunde. Vielleicht möchte<br />

jeder noch mal einen Satz sagen. Was ist<br />

die Lösung? In welche Richtung sollten<br />

wir in unserem Gemeinwesen gehen,<br />

wenn wir es ein wenig besser haben<br />

wollen, als es ist. Es ist ja schon – das<br />

haben wir ja auch schon gesagt – viel<br />

besser als in den meisten anderen<br />

Ländern. Wenn wir uns noch mehr in<br />

die Richtung des Ideals entwickeln<br />

wollen, wo sollten wir anfangen?<br />

Dr. Martin Doerry, stellv. Chefredakteur<br />

»DER SPIEGEL«: Ich bin nicht ganz so<br />

pessimistisch. Ich habe den Eindruck,<br />

dass diese Gesellschaft immer dann,<br />

wenn es wirklich um die Wurst geht,<br />

wenn entscheidende Fragen anstehen,<br />

auch wieder den Grad an Politisierung<br />

an nimmt, der notwendig ist, um diese<br />

Entscheidung dann voranzutreiben. Es<br />

gibt allerdings die Schwierigkeit, dass<br />

es manchmal Probleme gibt – und das<br />

haben wir gerade mit der Finanzkrise –,<br />

die so kompliziert sind, dass Medien<br />

und Politiker besondere Höchstleistungen<br />

vollbringen müssen. Dass sie das<br />

zurzeit nicht tun, glaube ich, das gilt für<br />

beide Seiten.<br />

Landtagspräsident Dr. Matthias Rößler:<br />

Wir hatten ja 2002 ein großes Hochwasser.<br />

Ich habe die gesamte Gesellschaft<br />

noch nie so engagiert und solidarisch<br />

erlebt. Da habe ich mir gesagt: Es gibt<br />

kein Land – denke ich –, wo man noch<br />

solidarischer hätte sein können, und alle<br />

haben gemeinsam an der Lösung gearbeitet<br />

und es hat auch funktioniert. Nun<br />

wünsche ich mir kein neues Hochwasser,<br />

aber ich bin mir ganz sicher, wenn große<br />

Herausforderungen vor diesem Land<br />

stehen, dann werden wir diese meistern.<br />

Die Leute treibt es dann aus ihrer Sattheit<br />

heraus. Sie müssen sich engagieren.<br />

Die Politiker müssen bei Strafe ihres<br />

Untergangs natürlich Problemlösungen<br />

anbieten und die anderen müssen einfach<br />

mitmachen, sie müssen sich wieder<br />

auf Politik und auf das Gemeinwesen<br />

konzentrieren, und ich denke, wir schaffen<br />

das. Wir haben auch die letzten zehn<br />

Jahre – das muss ich sagen, Herr <strong>Steinbrück</strong><br />

– keine schlechte Politik in Deutsch -<br />

land gemacht, ganz im Gegenteil.<br />

Podiumsdiskussion | 55 |


Petra Köpping, MdL: Ich wünsche mir,<br />

dass Wissen und Kompetenz parteienübergreifend<br />

eingesetzt werden. Ich<br />

denke, dass es die Menschen sehr nervt,<br />

wenn man sich streitet, wenn man die<br />

Meinung des anderen nicht akzeptiert.<br />

Das gehört auch zur Demokratie, dass<br />

man einfach alles kluge Wissen, das<br />

man in dem Land hat, bündelt und in<br />

die Entscheidungsfindung einbindet.<br />

Peer <strong>Steinbrück</strong>, MdB: Ich würde mir<br />

größere Anstrengungen für eine Art<br />

Renaissance der sozialen Marktwirtschaft<br />

wünschen, in der es etwas mehr<br />

Balance gibt als heute. Ich wünschte mir<br />

einen sehr viel breiteren Diskurs über<br />

Gemeinwohlorientierung und über den<br />

Wert des öffentlichen Wohls, dem sich<br />

Staatsbürger aus unterschiedlicher persönlicher<br />

Interessenlage stärker widmen<br />

sollten.<br />

Der Politik wünsche ich – jedenfalls den<br />

Parteien – dass sie in der Tat sehr neue<br />

Wege gehen und sich kulturell und<br />

strukturell reorganisieren, um wieder<br />

interessanter zu werden für Menschen,<br />

die entweder zeitweise mitmachen wollen<br />

oder sogar sagen: Ich engagiere<br />

mich politisch. Dafür haben wir bisher<br />

zu wenige Angebote.<br />

Prof. Dr. Wolfgang Donsbach, Moderator:<br />

Wir brauchen noch mehr Menschen, die<br />

sich nicht nur einbringen, weil es ein<br />

Thema ist, das sie vielleicht selbst gerade<br />

interessiert, weil es vor ihrer Haustür<br />

passiert, sondern weil es alle angeht.<br />

Wir brauchen also die Öffentlichkeit und<br />

natürlich Bürger und Medien, die das<br />

bewerkstelligen.<br />

Insofern, glaube ich, sind wir uns in<br />

dieser Hinsicht alle einig – und wir<br />

wollten ja auch keine Talkshow machen,<br />

bei der wir die Konflikte schüren, die<br />

gar nicht vorhanden sind, sondern ich<br />

finde das auch manchmal gut, wenn<br />

man eine gemeinsame Perspektive<br />

hat und von gemeinsamen Grundlagen<br />

ausgeht.<br />

Ich darf mich ganz herzlich bei Ihnen<br />

fürs Zuhören bedanken, insbesondere<br />

bei Ihnen, Herr <strong>Steinbrück</strong>, für den Vortrag.<br />

| 56 | Podiumsdiskussion


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Bernhard-von-Lindenau-Platz 1 | 01067 Dresden | Tel. 0351 493-50 | info@slt.sachsen.de | www.landtag.sachsen.de

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